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Berliner Zeitung 08.12.2018

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 287 · 8 ./9. Dezember 2018 – S eite 27<br />

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Feuilleton<br />

Claus Löser empfiehlt,<br />

die Vorweihnachtszeit<br />

im Kino zu verbringen<br />

Seite 31<br />

„Ich will aber nicht auf den Mars.“<br />

Und deswegen denkt der Architekt VanBoLe-Mentzel das Wohnen auf der Erde kleiner Seiten 28 und 29<br />

Vögel, Chimären, bizarre Landschaften ziehen sich durch die frühe bis späte Bildwelt Max Ernsts: „Die Erwählte des Bösen“ von 1928, Öl/Leinwand. SMB/NATIONALGALERIE BERLIN/VG BILDKUNST BONN 2018<br />

Mondgestalten? Planetarisches Zeichen?<br />

Max Ernst lithografierte die Szene oben 1971,<br />

gab ihr aber keinen Titel. Unten „Capricorn“,<br />

mystischer Steinbock-Herrscher,1948, getönter<br />

Gips ERNST MUS.BRÜHL//H.BLONDAU/SMB/VG BILDKUNST 2018<br />

Der Oberste aller Vögel<br />

Dada-Max und Surrealist: Max Ernst als „Zeichendieb“ im Charlottenburger Nationalgalerie-Haus der Sammlung Scharf-Gerstenberg<br />

VonIngeborg Ruthe<br />

Die Hieroglyphen auf dem<br />

Kalabscha-Tor am Eingang<br />

der Sammlung<br />

Scharf-Gerstenberg im<br />

östlichen Stülerbau sind schuld an<br />

dieser Ausstellung. Sie überführen<br />

Max Ernst, diese Berühmtheit der<br />

Moderne, witzig als „Zeichendieb“.<br />

Ein dadaistischer Anwurf, der es<br />

wert ist, ihn zu untersuchen. Unddabei<br />

lässt sich das Werk des deutschen<br />

Surrealisten, dessen Schaffen und<br />

wechselhaftes Leben völlig ausgeleuchtet<br />

und aus-interpretiertschien,<br />

aus neuem Blickwinkel betrachten.<br />

1964 taucht im Spätwerk des damals<br />

noch in US-amerikanischer<br />

Emigration lebenden, vonden Nazis<br />

als „entartet“ verfemten und aus Paris<br />

vor der Internierung geflohenen<br />

Künstlers eine Geheimschrift auf.<br />

Diehatte er auf eine ganzeSerie grafischer<br />

Blätter gesetzt, die dem Amateur-Astronomen<br />

Ernst Wilhelm Leberecht<br />

Tempel (1821–1889) gewidmet<br />

sind. Die Zeichen erinnern an<br />

frühe Experimente der Pariser Surrealisten,<br />

genannt „écritureautomatique“<br />

(automatisches Schreiben).<br />

Und die Ähnlichkeit mit den Hieroglyphen<br />

auf dem uralten Tempeltor,<br />

das vor dem Mauerfall das Ägyptische<br />

Museum in der Charlottenburger<br />

Schloßstraße zierte und nun bald<br />

auf die Museumsinsel umziehen<br />

soll, ist frappierend.<br />

Was man auf den nachtblau gestrichenen<br />

Wänden des Museums<br />

sieht, ist die so poetische wie auch<br />

ironische, sinnliche wie vertrackte<br />

Bildsprache der Zeichen. Max Ernst<br />

hat sie sich für seine Ölbilder,Grattagen,<br />

Frottagen, Collagen und Reliefs<br />

aus der Kulturgeschichte „geborgt“.<br />

Er hat sie sich bewusst oder unbekümmert<br />

einfach genommen. Aber<br />

zugleich alles neu erfunden und<br />

dem Vorhandenem mit „diebischer<br />

Freude“ (so Ausstellungskuratorin<br />

Kyllikki Zacharias) neue, surreale<br />

Botschaften untergeschoben. Auf<br />

Schritt und Tritt ist in Max Ernsts<br />

Bildwelt –aufgetan aus Sammlungen<br />

der Staatlichen Museen und teils<br />

selten ausgestellter Leihgaben aus<br />

Brühl und Paris –zulesen, wie der<br />

Künstler mit dem Erhabenen und<br />

mit einer visionären Kosmologie<br />

spielt. Undimmer auch mit einer jähen<br />

Perspektive.<br />

Die poetischen Titel holte sich<br />

Ernst schon in frühen Arbeiten aus<br />

der Mythologie. Ihm lag unübersehbar<br />

an den Elementen des Unerklärlichen:<br />

Da sind rätselhafte Bildkombinationen<br />

bizarrer Wesen, die häufig<br />

Vögel darstellen, Chimären und<br />

fantastischen Landschaften. Sichtbar<br />

ist seine Lust am Überraschenden<br />

schon seit seiner ironischen<br />

Phase als Dada-Max um 1920<br />

Der Surrealistenkreis um André<br />

Breton hatte den Maler, der 1922<br />

nach Parisgezogen war,tief geprägt –<br />

diese kryptische bis absurdwirkende<br />

Literatur der wie auf einer Nadelspitze<br />

ekstatisch tanzenden Wortakrobaten.<br />

In Ernsts kosmologischen<br />

Lichtdruckserien der „Maximiliana“<br />

etwa oder den monochromen<br />

Blättern „Im Stall der Sphinx“<br />

(1926), auch in einer späten Farblithografie,<br />

inder zwei herrlich groteske<br />

Liniengestalten auf dem Mond<br />

spazierengehen, hallt das Echo der<br />

surrealistischen Poesie wider. Und<br />

Migration der Zeichen: Max Ernst arbeitet im Sommer 1952 am großen „ägyptischen“<br />

Fries seines Atelierhauses in Sedona, Arizona.<br />

SMB/BOB TOWERS<br />

NEUE BILDWELTEN AUS ALTÄGYPTISCHEM ZEICHENRESERVOIR<br />

Max Ernst, geboren 1891 in Brühl, gestorben 1976 in Paris, zählte zur künstlerischen Avantgarde<br />

des 20. Jahrhunderts. Sein Werk besteht aus rätselhaften Bildkombinationen bizarrer<br />

Wesen, die häufig Vögel darstellen, und fantastischen Landschaften. Nach dem Militärdienst<br />

im Ersten Weltkrieg gründete er 1919 mit Johannes Baargeld und Hans Arp die Kölner Dada-<br />

Gruppe. 1922 zog er nach Paris und gehörte dortzum Kreis der Surrealisten um André Breton.<br />

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er ab 1939 mehrfach interniert, konnte zusammen<br />

mit der Kunstmäzenin PeggyGuggenheim, seiner späteren dritten Ehefrau, fliehen und wählte,<br />

wie viele andere europäische Künstler,1941 als Exil die USA. 1953 kehrte er mit seiner vierten<br />

Ehefrau, der Malerin Dorothea Tanning,nachFrankreich zurück.<br />

Die Nationalgalerie zeigt in der Sammlung Scharf-Gerstenberg: „Max Ernst, Zeichendieb“.<br />

Bis 28. April, Di–Fr 10–18/Sa+So 11–18 Uhr,Schloßstr.70.<br />

dann ist da auch immer dieses seltsame<br />

Spiel mit der Luftperspektive<br />

und mit einer exzentrischen Natur:<br />

Wald, Wasser.Himmel, Gestirne.Die<br />

Szenerien wirken planetarisch und<br />

zugleich im nietzscheanischen<br />

Sinne düster oder wie in Brand gesteckt,<br />

einsam, fremd, fragwürdig.<br />

Die Hintergründe scheinen unerreichbar.Die<br />

Szenen imVordergrund<br />

schieben sich uns entgegen. Das Erscheinungshafte<br />

wirkt eingefroren.<br />

Bildteile, zerschnitten, aus Skizzenblättern<br />

zusammengeklebt, erscheinen<br />

hintergründig. Da sind<br />

klaustrophobische Situationen,<br />

auch Fesselungen, Amputationen,<br />

Attacken mit spitzen Gegenständen:<br />

Ernst probte die Zerschneidung der<br />

Welt. ManassoziiertZwangssituationen,<br />

aber die Bildfindung dafür ist<br />

nachgerade genussvoll ikonisch verballhornt.<br />

In seinen Fotografiken<br />

wirddieVerwirrung auf die Spitzegetrieben:<br />

Er manipuliertdas objektive<br />

Medium, macht es zum Vexierspiel.<br />

Und er monumentalisiert. Gerade<br />

in Reliefs, wodie Formen der<br />

Totenstarre der Dingwelt verpflichtet<br />

scheinen. Oder mit der altarhaften<br />

Gips-Plastik „Capricorn“ (1948).<br />

Der Steinbock stammt aus der Zeit,<br />

als Ernst wegen den Nazi-Invasoren<br />

aus Paris indie USA emigriert war<br />

und sich auf das mythologische Tierkreiszeichen<br />

Steinbock und die<br />

wüste Landschaft Arizonas bezog,<br />

als animalisches Sinnbild der Wiedergeburtund<br />

der Fruchtbarkeit.<br />

Die kultische Gruppe besteht aus<br />

zwei grotesken, sitzenden Figuren.<br />

Der Herrscher mit dem Bockskopf<br />

thront mit Zepterstock und Reichsapfel,<br />

in der Linken ein fischartiges<br />

Baby.Daneben sitzt eine ziegenhafte<br />

Meerfrau. Darüber hängt „Die Erwählte<br />

des Bösen“ von 1928. Ernst,<br />

der sich als „Loplop“ selbstironisch<br />

mit dem „Obersten aller Vögel“ verglich,<br />

macht die unzähmbare Lust<br />

am Bösen bildhaft: Eindoppelköpfiger<br />

grüner Vogel mit Metallbrüsten<br />

und greller Kopfmarkierung vor<br />

nachtblauem Himmel über einer<br />

rotsandigen Wüste. Der winzige<br />

Mond leuchtet dämonisch.<br />

Als Welt in der Welt sind die Blätter<br />

auch durch astronomische Themen<br />

bestimmt. Mit der aktuellen<br />

Zeitgeschichte, Politik, Sozialtehemen<br />

scheint es bei Max Ernst indessen<br />

keine direkte Auseinandersetzung<br />

zu geben, allenfalls emblematische<br />

Chiffrierungen. Seine Zeitkritik<br />

fiel umfassender,zugleich verschlüsselter<br />

aus: Aus Bildtiteln wie „Rechtzeitig<br />

erkannte Angriffspläne“, Collage,Feder,Tusche<br />

von1920, können<br />

wir eine Kunst-Festung herauslesen,<br />

die sich gängigen Normen verweigert.<br />

Darum wird sie von dicken,<br />

schwarzen Pfeilen attackiert. Max<br />

Ernst sprach über seine Kunst gern<br />

als die „Versenkung der Welt tief unter<br />

den Meeresspiegel“, ins Reich des<br />

Unbekannten, Unbewussten. Under<br />

trieb seine Bildsprache übers Bizarr-<br />

Poetische auch ins Blasphemische.<br />

Es ging ihm nicht ums Böse,sondern<br />

um die Umwertung, ja die Bestrafung<br />

alles Kanonisierten, Erstarrten,<br />

Heiliggesprochenen in der Kunst.<br />

Ingeborg Ruthe hatte als<br />

15-Jährigedas Foto einer<br />

Ernst-CollageübermBett.

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