Berliner Zeitung 08.12.2018
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
22 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 287 · 8 ./9. Dezember 2018<br />
·························································································································································································································································································<br />
Berlin bewegt sich<br />
Tanz dich glücklich<br />
Ist Ecstatic Dance das neue Yoga?<br />
Zumindest ist es ein richtig gutes Gefühl,<br />
sich hemmungslos zu Musik zu bewegen<br />
VonAnne Lena Mösken<br />
Ekstatisch tanzen –kenn ich, kann ich. Oder doch nicht? Die Autorin mit den Veranstalternvon Ecstatic Dance, Pascal de Lacaze (rechts) und Marius Beyer vor dem Tanz, währenddessen herrscht striktes Fotoverbot.<br />
BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK<br />
Zwei Dinge kann ich an dieser<br />
Stelle schon verraten:<br />
DerKörper,das Tanzen, die<br />
Bewegung also, werden<br />
nicht das Problem sein. DasProblem<br />
ist der Kopf. Und: Ohne Schweiß<br />
kommt hier keiner raus, auch nicht<br />
ohne ein Lächeln im Gesicht, bei<br />
manchen ist es sogar ein Grinsen.<br />
Es ist ein Donnerstagabend, kurz<br />
vor sieben. Der Hochhausriegel am<br />
Franz-Mehring-Platz in Friedrichshain<br />
liegt im Dunkeln, nur aus dem<br />
Foyer fällt Licht. Kurz frage ich mich,<br />
ob ich hier richtig bin. Ich will zum<br />
Ecstatic Dance,worüber ich nicht viel<br />
mehr weiß, als der Name verrät: ekstatisches<br />
Tanzen. Kenne ich, habe<br />
ich mir gedacht, kann ich. Habe ich<br />
doch schon oft gemacht. Dann aber<br />
hundert Meter Luftlinie weiter, im<br />
Berghain.Tanzekstase,dazu gehörtin<br />
Berlin die Nacht, der Rausch.<br />
VomKopf in den Körper kommen<br />
Wobei ich, seit ich ein Kind habe,das<br />
Berghain nicht mehr voninnen gesehen<br />
habe, dafür Clubs, in denen<br />
sonntags und tagsüber getanzt wird,<br />
durchwachte Nächte habe ich als<br />
Mutter genug. Und immer fühle ich<br />
mich nach diesen Stunden, in denen<br />
jeder Gedanke von der Musik verdrängt,<br />
jeder verspannte Muskel<br />
durchgeschüttelt wird, wie nach einem<br />
dreitägigen Spa-Aufenthalt. Als<br />
ich also davon hörte,dass man dieses<br />
Gefühl in Berlin auch ohne Türsteher<br />
bekommen kann, ohne Alkohol und<br />
Zigarettenrauch und den Kater danach,<br />
war ich begeistert.<br />
Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.<br />
Der Tagwar lang, das Einzige,<br />
was ich gerade verlockend fände, ist<br />
mein Sofa und Netflix. Nicht aber,mit<br />
einem Haufen Fremder hemmungslos<br />
zu tanzen. Undeswirdnicht besser,<br />
als ich aus dem neonbeleuchteten<br />
Flur ins sanfte Licht des Saals<br />
trete, indem Ecstatic Dance einmal<br />
dieWoche gastiert. DerRaum, in dem<br />
es vor ein paar Jahren anfing, ist<br />
längst zu klein für die vielen, die tanzen<br />
wollen. Marius Beyer, der das<br />
Ganze mit Pascal de Lacaze, dem<br />
Gründer des <strong>Berliner</strong> Ecstatic Dance,<br />
veranstaltet, ignoriert meine ausgestreckte<br />
Hand und umarmt mich zur<br />
Begrüßung –nett, aber für jemanden,<br />
der wie ich norddeutsche Wurzeln<br />
hat, definitiv zu viel Körperkontakt<br />
für eine erste Begegnung. Das hier<br />
wird kein Abend, der sich in meiner<br />
Komfortzone abspielt, so viel ist sicher.<br />
Eine Frau läuft vorbei, rote Kriegsbemalung<br />
im Gesicht, Knieschoner<br />
an den Beinen. Ansonsten sehen hier<br />
alle nicht anders aus als im Yogakurs,<br />
mit bunten Leggins und weiten<br />
Shirts, barfuß oder auf Socken;<br />
Schuhe sind nicht erlaubt.<br />
Das ist eine der Regeln, die hier<br />
gelten. Eine andere: keine Handys,<br />
nicht filmen, nicht fotografieren,<br />
nicht sprechen. Dashellt meine Stimmung<br />
auf, ich rede den ganzen Tag,<br />
Schweigen klingt nach einer Wohltat.<br />
„Wenn man spricht, ist man sofortim<br />
Kopf“, erklärtmir Marius,„wir wollen<br />
aber vom Kopf in den Körper kommen.“<br />
Ichahne,dass es beim Ecstatic<br />
Dance um mehr gehen soll als ein gepflegtesWork-out.<br />
Ichkenne das vom<br />
Yoga: Sicher, die Übungen stärken<br />
Arme,Bauch, Rücken, das ist ja schon<br />
Pascal de Lacaze veranstaltet<br />
Ecstatic Dance seit acht<br />
Jahren in Berlin. VorzweiJahren<br />
kam Marius Beyerdazu,<br />
seitdem hat sich die Zahl der<br />
Teilnehmer verdoppelt. Ablegergibt<br />
es unter anderem in<br />
Hamburg.<br />
viel wert. Aber wenn man sich drauf<br />
einlässt, kann dabei auch etwas mit<br />
einem passieren, was man psychisch,<br />
geistig, seelisch nennen könnte.<br />
„Manche von euch werden vielleicht<br />
eine transformative Erfahrung<br />
machen“, sagt Pascal, als es losgeht,<br />
„für anderewirdeseinfach eine richtig<br />
gute Party.“Umihn herum stehen<br />
jetzt sechzig, siebzig Menschen, von<br />
Mitte zwanzig bis jenseits der sechzig,<br />
sie halten sich an den Händen –<br />
meine sind kalt, genau wie meine<br />
Füße.Pascal erklärtnoch, dass plumpes<br />
Antanzen nicht erlaubt ist, jeder<br />
bleibt für sich, es sei denn, man ist<br />
sich unmissverständlich einig, ein<br />
Vielleicht soll hier schon als Nein verstanden<br />
werden. Auch das gefällt mir,<br />
macht mich lockerer, die Tanzfläche<br />
verspricht beim Ecstatic Dance ein sicherer<br />
Raum zu sein, den es im Club<br />
niemals geben kann.<br />
An einem Tisch, der mit rotem<br />
Samt verhängt ist, dreht der DJ die<br />
Musik auf, ruhige Klänge erfüllen den<br />
VÖLLIG LOSGELÖST<br />
Jeden Donnerstag findet<br />
Ecstatic Dance im FMP1 am<br />
Franz-Mehring-Platz in Friedrichshain<br />
statt. Einlass ist<br />
um 18.30 Uhr,der Eintritt<br />
kostet 15 Euro, ermäßigt<br />
12 Euro, Ende ist gegen<br />
22.30 Uhr.<br />
Sonntags findet Ecstatic<br />
Dance auch in der Tanzschule<br />
bebop (Pfuelstr.5,<br />
Kreuzberg) statt. Beginn<br />
11 Uhr,Ende 14.30 Uhr.<br />
Kinder dürfen mitgebracht<br />
werden. Alle Termine unter<br />
www.ecstaticdance.berlin<br />
Saal. Ich setze mich auf den Boden,<br />
und weil ich nicht so richtig weiß, was<br />
ich sonst tun soll, dehne ich meine<br />
Beine. Neben mir presst ein Mann<br />
den Rücken an eine Säule, ich bin<br />
nicht die Einzige, die hier Halt sucht.<br />
Andere sind schon voll dabei, eine<br />
Frau schwebt wie eineWaldelfe durch<br />
den Raum, ein dünner Mann bewegt<br />
sich roboterhaft, hinter mir entdecke<br />
ich einen bekannten Modedesigner,<br />
der tapsig auf der Stelle spaziert.<br />
Alle Hemmungen fallen lassen<br />
Unddass ich das alles so wahrnehme,<br />
ist schon Teil meines Problems: Ich<br />
bin ein Kopfmensch. Ich beobachte,<br />
ich fälle ständig Urteile, über meine<br />
Mitmenschen, über mich selbst, wir<br />
alle tun das. Das ist nicht böse gemeint,<br />
ich kann einfach nicht anders.<br />
Dasist wie bei diesem Spiel, bei dem<br />
man nicht an einen rosafarbenen Elefanten<br />
denken soll. Sehen Sie?<br />
Vielleicht liegt es an meinem Beruf,<br />
vielleicht ist es etwas Zeittypisches<br />
–weil wir uns im Alltag so gut<br />
wie immer in Bewertungszusammenhängen<br />
bewegen. Und damit<br />
meine ich nicht nur die sozialen Netzwerke.<br />
DasganzeLeben ist ein Schaulaufen,<br />
irgendwas verkörpernwir fast<br />
immer, außer vielleicht auf der<br />
Couch, vorNetflix.<br />
Jetzt versuche ich also,ein lockerer<br />
Mensch zu sein, einer, der genau so<br />
tanzt, wie er Lust hat. WasPascal und<br />
Marius als einen der Gründe aufzählen,<br />
warum die Leute hierherkommen,<br />
warum Ecstatic Dance gerade<br />
so erfolgreich ist. Niemand soll hier<br />
schräg angeguckt werden, wenn er<br />
alle Hemmungen fallen lässt.<br />
Beimir sorgt das zunächst einmal<br />
dafür, dass ich innerlich komplett<br />
steif werde. Als wäre Entspannung<br />
einfach nur eine weitereLeistung, die<br />
ich hier bringen soll. Also trickse ich<br />
mich selbst aus. Forscher haben herausgefunden,<br />
dass Lachen glücklich<br />
macht, und dabei kommt es nicht<br />
darauf an, dass das Lachen echt ist –<br />
die Muskelbewegung allein führt<br />
über kurz oder lang dazu, dass<br />
Glückshormone ausgeschüttet werden.<br />
So ähnlich funktioniertdas beim<br />
Tanzen. Ichbewege mich also einfach<br />
zur Musik, das kann ich, kann ja jeder,<br />
ich wedele mit den Armen, wiege<br />
meine Hüften, stampfe mit den Füßen.<br />
Das fühlt sich irgendwie befreiend<br />
an.<br />
Es hilft, dass die Musik wirklich gut<br />
ist, elektronisch, aber mit erdigen<br />
Rhythmen und eingängigen Melodien,<br />
zwischendurch ein bisschen<br />
Flamenco. Ecstatic-Dance-DJs wissen,<br />
was sie tun, wirdmir Pascal später<br />
erzählen, der selbst einer ist und<br />
um die Welt tourt. In ihren Sets formen<br />
sie die Musik zu Wellen, die die<br />
Tänzer mitnehmen, sie mitreißen, bis<br />
sie einen Peak erreichen, den Höhepunkt,<br />
an dem die Ekstase beginnt.<br />
Ich habe die Augen geschlossen,<br />
ich habe jegliches Zeitgefühl verloren,<br />
meine Hände sind ganz warm,<br />
der Trick, einfach zu tanzen, hat funktioniert,<br />
mein Kopf ist leer,nein, er ist<br />
voll mit Musik, der DJ lässt die Beats<br />
immer treibender werden.<br />
Die Nackenschmerzensind weg<br />
Als der Peak kommt, öffne ich die Augen,<br />
vor mir sehe ich ein hüpfendes<br />
Knäuel aus Armen, Beinen, Haaren.<br />
Einlanger Mann springt wie Flummi<br />
durch die Menge, neben mir<br />
schmeißt ein anderer seinen langen<br />
Bart aus Dreadlocks hin und her, er<br />
trägt nur noch einen Slip aus Netzstoff,<br />
zwei Frauen umschlingen sich<br />
wie Schlangen, hinter mir tanzt ein<br />
Mann in Jeans und Karohemd, ein<br />
ungläubiges Lächeln im Gesicht.<br />
Am Ende liegen alle auf dem Boden,<br />
manche halten sich im Arm, vor<br />
dem DJ-Pult spielt ein Mann im<br />
Schneidersitz Flöte. Inmeinem Kopf<br />
arbeitet es immer noch. Habe ich<br />
mich jetzt irgendwie transformiert?<br />
Oder war das einfach nur peinlich?<br />
„Im Club verdrängen die Leute<br />
häufig den Alltag“, sagt Marius hinterher.„Hier<br />
kannst du in dich hineinspüren<br />
und freisetzen, was dich bewegt.“<br />
Ichweiß nicht, ob mir das gelungen<br />
ist. Zumindest sind meine Nackenschmerzen<br />
weg, dafür spüre<br />
meine Waden. Ich bin hungrig und<br />
müde. Indieser Nacht schlafe ich so<br />
gut wie lange nicht mehr.<br />
Gegen den Stress<br />
Abgedreht: Derwische nutzen Tanz<br />
in ihrer religiösen Praxis. IMAGO<br />
Tanzekstase<br />
Dass Menschen bis zur Ekstase<br />
tanzen, ist ein Phänomen, das<br />
sich durch die Weltgeschichte und<br />
viele Kulturen zieht: Anhänger des<br />
Dyonisus-Kultes tanzten bis zum<br />
Umfallen, im Schamanismus ist<br />
Tanz Teil von spirituellen Ritualen,<br />
im Sufismus gehört erzur religiösen<br />
Praxis der Derwische, afro-amerikanische<br />
Religionen wie Candomblé<br />
oder Voodoo integrieren ekstatischen<br />
Tanz in ihreGottesdienste.<br />
Das Wort Ekstase stammt aus<br />
dem Griechischen, lässt sich übersetzen<br />
mit„Verzückung“ oder„außer<br />
sich sein“ und beschreibt einen psychischen<br />
Ausnahmezustand ähnlich<br />
der Trance. Tanz gilt als eine Methode,sich<br />
in einen solchen Zustand<br />
zu versetzen.<br />
In westlichen Kulturen wirdTanzekstase<br />
seit den 60er-Jahren neu entdeckt,<br />
als Selbsterfahrung, zur Entspannung<br />
und als Ausdruck von<br />
Kreativität. (alm.)<br />
Verbunden: Der Kontakt zur Gruppe<br />
ist oft Teil spiritueller Tänze.GETTY<br />
5Rhythms<br />
Der moderne ekstatische Tanz<br />
hat seinen Ursprung in den<br />
70er-Jahren. Gabrielle Roth, eine<br />
Tänzerin und Musikerin aus San<br />
Francisco, stellte eine Abfolge von<br />
Rhythmen zusammen, die Tänzer<br />
dabei helfen sollte, ineinen meditativen<br />
Zustand zu gelangen.<br />
Die Idee dahinter ist, dass durch<br />
die Bewegung des Körpers Ruhe in<br />
den Geist einkehrt. Als Vehikel fungiert<br />
dabei die Musik, jeden Rhythmus<br />
hat Roth einer Lebensphase zugeordnet<br />
vonGeburtbis zum Tod, die<br />
Tänzer begeben sich auf eine Suche<br />
nach der Seele, inder die Quelle für<br />
das eigene Potenzial liege –ganz ohne<br />
esoterischen Überbau ist die Sache<br />
also nicht zu haben. Dafür heißt es,<br />
die 5Rhythms-Methode helfe dabei,<br />
Stress abzubauen und psychische<br />
Leiden zu lindern. Mittlerweile gibt es<br />
eine Dachorganisation, in der sich<br />
um die 400 Lehrer weltweit zusammengeschlossen<br />
haben. (alm.)<br />
Gehypt: Ectstatic Dances wie hier<br />
in Oakland haben viele Fans. BEN CHUN<br />
Ecstatic Dance<br />
Ecstatic Dance ist freier als<br />
5Rhythms, Biodanza und andere<br />
Tänze, denen eine therapeutische<br />
Wirkung nachgesagt werden. Entwickelt<br />
wurde er Anfang der 2000er-<br />
Jahre von Max Fathom auf Hawaii.<br />
Vondortgelangte die Tanzformunter<br />
anderem nach Kalifornien. In Europa<br />
finden die meisten Ecstatic Dances in<br />
den Niederlanden statt, in Berlin veranstalten<br />
Pascal de Lacaze und<br />
Bhavya Theissen die ersten Tänze.<br />
Die Abläufe sind immer ähnlich:<br />
Nach einem Warm-up beginnt das<br />
Tanzen, dabei wird nicht gesprochen,<br />
es gibt keinen Alkohol und<br />
keine Drogen, dieTänzer sind barfuß<br />
und bewegen sich frei zur Musik, die<br />
ihnen dabei helfen soll, in einen ekstatischen<br />
Zustand zu gleiten. In den<br />
vergangenen Jahren hat sich ein<br />
Hype um Ecstatic Dance formiert,<br />
auch weil er Trends wie Achtsamkeit<br />
und Spiritualität mit hipper Clubkultur<br />
verbindet. (alm.)