Berliner Zeitung 08.12.2018
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10 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 287 · 8 ./9. Dezember 2018<br />
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Berlin<br />
Harmsens Berlin<br />
Das große<br />
Wummern<br />
Torsten Harmsen<br />
spürtder Herkunft von<br />
Begriffen nach.<br />
Heute mache ich einen Test. Ich<br />
frage: Was ist bemerkenswert<br />
an folgender Geschichte? Los geht’s:<br />
„Jestern ahmt konnt ick lange<br />
nich einschlafen. Okay, ick lag bei<br />
meene Freundin, da schlaf ick eh<br />
nich so jut. Hinzu kam ditWummern<br />
von die Bässe nehman. Also bin ick<br />
uffjestanden und hab ma jesacht:<br />
Los, runter, ’ne Runde loofen! Hab<br />
ma den ollen Trenchcoat von meen<br />
Opa anjezoren, den ick imma trare,<br />
und ’n Schirmjegriffen, Modell Nullachtfuffzehn.<br />
Weil, die Wetterfrösche<br />
ham nämlich Rejen anjesacht.<br />
Undwie ick runta komme,seh ick<br />
uff de andre Seite meene Frau. Au<br />
Backe, denk ick, gleich jibs dicke<br />
Luft. Die gloobt nämlich, det ick uff<br />
Nachtschicht bin. Bloß weg, schnell<br />
uff Tauchstation! Doch die hatte ma<br />
schon jesehn und is hinta mir herjedüst.<br />
Ick also ’n Zahn zujelecht und<br />
ab durch de Kleinjartenanlare bis in<br />
Wald. Dorthab ick se abjehängt, mir<br />
aber ooch voll verfranzt. Und allet<br />
nur wejen die blöden Latrinenparolen,<br />
det ick wat mit ’ne andrehabe!“<br />
Also, was ist bemerkenswert an<br />
der Geschichte? Okay,esgeht um einen<br />
Fremdgänger,der zufällig seiner<br />
Frau begegnet. Aber darüber hinaus?<br />
Ich sag’s: Die Geschichte enthält<br />
neun Worte, die wir heute noch nutzen,<br />
ohne zu wissen, dass sie aus<br />
dem Ersten Weltkrieg stammen.<br />
Glaubt man, was Autor Matthias<br />
Heine in seinem Buch „Letzter<br />
Schultag in Kaiser-Wilhelmsland“<br />
schildert, haben Soldaten das Wort<br />
„wummern“ im Schützengraben erfunden,<br />
um das Geräusch fernen Geschützdonners<br />
zu beschreiben. Der<br />
„Trenchcoat“ war ein Grabenmantel,<br />
getragen von britischen Offizieren.<br />
„Nullachtfuffzehn“ stammt vom<br />
Maschinengewehr 08 aus dem Jahre<br />
1915. „Wetterfrosch“ ist Fliegerjargon<br />
für einen mit der Wetterbeobachtung<br />
betrauten Offizier. „Dicke<br />
Luft“ hieß es, wenn Geschosse und<br />
Granatsplitter so dicht flogen, dass<br />
man lieber nicht den Kopf heraussteckte.„AufTauchstation“<br />
ging man<br />
mit dem U-Boot. „Einen Zahn zulegen“<br />
stammt aus der Fliegerei. Die<br />
Geschwindigkeit der frühen Flugzeuge<br />
wurde per Zahnrad reguliert.<br />
Und„verfranzen“ hieß es,wenn man<br />
sich verirrte, denn der Navigator im<br />
Flugzeug wurde Franz genannt, der<br />
Pilot Emil. „Latrinenparolen“ muss<br />
man nicht extraerklären.<br />
Während an der Front neueWorte<br />
entstanden, entledigte man sich im<br />
Hinterland unzähliger Begriffe, vor<br />
allem französischer. Mit der Eindeutschung<br />
hatten eifrige preußische<br />
Beamte schon lange vor dem<br />
Weltkrieg begonnen. Man konnte ja<br />
nicht zulassen, dass in Eisenbahn,<br />
Wirtschaft, Militär und Post weiter<br />
die Sprache des„Erbfeindes“ genutzt<br />
wurde.Soentstanden per Erlass jene<br />
Begriffe, die wir heute noch nutzen:<br />
„Briefumschlag“ statt „Couvert“,<br />
„durch Eilboten“ statt „per express“,<br />
„per Einschreiben“ statt „recommandiert“,<br />
„postlagernd“ statt<br />
„poste restante“, „Rückfahrkarte“<br />
statt „Retourbillet“, „Schranke“ statt<br />
„Barriere“, „Bahnsteig“ statt „Perron“,<br />
„Abteil“ statt „Coupé“.<br />
Besonders eifrig agierte ein preußischer<br />
Oberbaurat und führender<br />
Vertreter des Allgemeinen Deutschen<br />
Sprachvereins. Unter seinem<br />
Druck wurden fast 1300 Termini verdeutscht.<br />
Er hieß Otto Sarrazin und<br />
war –soheißt es –ein Urgroßonkel<br />
Thilo Sarrazins,der mit Büchernwie<br />
„Deutschland schafft sich ab“ und<br />
„Feindliche Übernahme“ für Furore<br />
sorgte. Manchmal glaubt man, dass<br />
irgendwer mit unbändigem Humor<br />
an den Fäden der Geschichte zieht.<br />
Die Bauarbeiter denken<br />
nicht an die Totenruhe.<br />
Sie haben gute Laune,<br />
mögen es laut und rufen<br />
sich Kommandos zu. Aus dem Fundament<br />
ragen Stahl- und Betonteile<br />
für einen Neubau. Längst wirddieser<br />
Teil des St.-Thomas-Friedhofs an der<br />
Hermannstraße nicht mehr gebraucht.<br />
Der Friedhof ist zwar immer<br />
noch ein Ort der Stille, aber<br />
längst nicht mehr in allen Bereichen.<br />
DieBaustelle am Rand des Friedhofs<br />
schafft eine ungewöhnliche Atmosphäre:<br />
Auf der einen Seite Gräber<br />
mit Kränzen und Kerzen und gleich<br />
daneben Baustellenlärm.<br />
Bestatten und bauen –die <strong>Berliner</strong><br />
Friedhöfe sind im Wandel. Heute<br />
werden weniger Flächen für Bestattungen<br />
gebraucht. In den vergangenen<br />
Jahren sind 38 Friedhöfe geschlossen<br />
worden, auf 22 weiteren<br />
gibt es Bereiche,auf denen keine Bestattungen<br />
mehr stattfinden. Die<br />
überflüssigen Flächen bleiben meist<br />
als Grünanlagen erhalten, ein geringer<br />
Teil darfbebaut werden.<br />
An der Neuköllner Hermannstraße<br />
sieht man diesenWandel ganz<br />
deutlich. An der Straße,direkt am U-<br />
Bahnhof Leinestraße,baut der evangelische<br />
Friedhofsverband Stadtmitte<br />
ein neues Verwaltungsgebäude<br />
mit Läden und Büros. Ende<br />
2019 wirdesfertig sein. Aufder anderen<br />
Seite wurde der ehemalige St.-<br />
Thomas-II-Kirchhof zu einer Grünanlage.<br />
Sie heißt jetzt Anita-Berber-<br />
Park. Ein Stückchen weiter pflanzen<br />
Hobbygärtner der Kreuzberger Prinzessinnengärten<br />
Gemüse an. Und<br />
daneben nutzt das Jugendkulturprojekt<br />
Schlesische Straße 27 einen Teil<br />
des Jerusalem-Friedhofs für seinen<br />
Landschaftsgarten mit Insektenhotel<br />
und Gewächshaus.<br />
Schon 70 Hektar geschlossen<br />
Jürgen Quandt hat noch viel mehr<br />
Ideen, was man mit den ungenutzten<br />
Flächen der Friedhöfe alles machen<br />
könnte.Der 74-Jährige ist Pfarrerund<br />
Geschäftsführer des evangelischen<br />
Friedhofsverbandes Stadtmitte.<br />
Erverwaltet 45 Friedhöfe in<br />
Bezirken wie Mitte, Pankow, Friedrichshain-Kreuzberg<br />
und Tempelhof-Schöneberg.<br />
250 Hektar gehören<br />
dem Verband, 70 Hektar sind geschlossen,<br />
ein Teil ist entwidmet.<br />
Pfarrer Quandt würde einige dieser<br />
Flächen gern andas Land Berlin<br />
verkaufen. Dann könnte der Senat<br />
dortdringend benötigteWohnungen<br />
errichten. Bis zum Jahr 2030 fehlen<br />
etwa 194 000 Wohnungen, hat der<br />
Senat errechnet. Doch Bauland ist<br />
teuer, die Stadt hat kaum noch eigene<br />
Flächen, Investoren spekulierenmit<br />
ihren Grundstücken. Undso<br />
bietet Quandt dem Senat schon seit<br />
einigen Jahren einige Randflächen<br />
auf Friedhöfen zur Bebauung an.<br />
„Der Senat könnte diese Flächen im<br />
Sinne der Bewohner für den sozialen<br />
Wohnungsbau nutzen“, sagt<br />
63<br />
30 000<br />
25 000<br />
20 000<br />
15 000<br />
10 000<br />
5000<br />
103<br />
0<br />
32 591<br />
Friedhöfe in Berlin<br />
Anzahl nach Trägerschaft, 2016<br />
9<br />
Einäscherungen in <strong>Berliner</strong> Krematorien<br />
1991 1995 2000 2005 2010 2016<br />
Bauplatz auf<br />
dem Friedhof<br />
Berlin braucht weniger Begräbnisflächen und mehr<br />
Wohnungen. Die Kirche würde der Stadt gern Randflächen<br />
von Gräberfeldern für den Wohnungsbau anbieten.<br />
Doch der Senat zögert und beruft sich auf einen alten Plan<br />
VonStefan Strauß<br />
Nah am Grab gebaut: Die evangelische Kirche baut ein neues Verwaltungsgebäude an der<br />
Hermannstraße in Neukölln.<br />
BERND FRIEDEL<br />
7<br />
Quandt. „Im Senat fehlt die Bereitschaft,<br />
über die Bebauung dieser<br />
Flächen zu diskutieren.“<br />
Quandt kritisiert, der Senat wolle<br />
keine Bauflächen kaufen, es fehlten<br />
Konzepte, es gebe kein Interesse,<br />
sich mit diesem Thema zu beschäftigen.<br />
„Dabei müsste der Senat dankbar<br />
sein über unsere Bereitschaft,<br />
Friedhofsflächen für den sozialen<br />
Wohnungsbau zurVerfügung zu stellen“,<br />
sagt der Pfarrer.Erspürejedoch<br />
keine Unterstützung, erkenne keine<br />
einheitliche Linie. Angaben aus der<br />
Verwaltung seien sehr widersprüchlich.<br />
„Da gibt es Bauland inbester<br />
Lage,und Berlin nutzt es nicht.“<br />
Auf den 179 landeseigenen und<br />
kirchlichen Friedhöfen mit über tausend<br />
Hektar Fläche finden heute bereits<br />
auf 143 Hektar keine Beerdigungen<br />
mehr statt. Etwa 57 Hektar sind<br />
Begräbnisse<br />
in Berlin, 2016<br />
2543<br />
11 533<br />
Erdbestattungen<br />
Jürgen Quandt,<br />
Pfarrer und<br />
Geschäftsführer des<br />
evangelischen<br />
Friedhofsverbands<br />
Stadtmitte<br />
als Grabflächen entwidmet. Künftig,<br />
so Prognosen, wirdesnoch mehr ungenutzte<br />
Friedhöfe geben.<br />
Doch wie kann das sein? Es ziehen<br />
doch immer mehr Menschen<br />
nach Berlin, die Zahl der Einwohner<br />
wächst. Warum sinkt dann der Bedarf<br />
anGrabstellen? Für den „dramatischen<br />
Rückgang“, wie Pfarrer<br />
Quandt es nennt, gibt es viele Ursachen.<br />
Vorallem hat sich die Bestat-<br />
10 147<br />
2236 3398<br />
573<br />
PRIVAT<br />
Urnenbeisetzungen<br />
15 504<br />
tungskultur geändert. Traditionelle<br />
Beisetzungen mit Sarg und Grabstein,<br />
die mehr Platz in Anspruch<br />
nehmen, sind selten geworden, ein<br />
Großteil der Verstorbenen wird inzwischen<br />
in einem Gemeinschaftsurnengrab<br />
beigesetzt. Auch insgesamt<br />
sinkt die Zahl der Begräbnisse:<br />
So gab es im Jahr 1991 nach Angaben<br />
des Statistischen Jahrbuchs noch<br />
11 672 Erdbestattungen, 2016 waren<br />
es nur noch 5599. Auch die Urnenbeisetzungen<br />
gingen zurück: Von<br />
29 626 im Jahr 1991 auf 25 097 im<br />
Jahr 2016. Auffällig: In diesem Zeitraum<br />
stiegdie Anzahl der anonymen<br />
Begräbnisse von8777 auf 14 592.<br />
Den Wandel in der Bestattungskultur<br />
spürtdie Kirche in zweifacher<br />
Hinsicht. Siebraucht immer weniger<br />
Fläche für Bestattungen und sie bekommt<br />
dafür weniger Geld. Für Erdbestattungen<br />
werden etwa zwölf<br />
Quadratmeter Fläche benötigt, ein<br />
Urnengrab braucht knapp drei Quadratmeter,<br />
in einer Urnengemeinschaft<br />
sind es nur noch 0,5 Quadratmeter.<br />
Gründe für die sinkende Zahl an<br />
Begräbnissen in diesem Zeitraum in<br />
Berlin sind unter anderem die wachsende<br />
Lebenserwartung, der<br />
Wunsch vonimmer mehr Menschen<br />
nach einer Seebestattung oder einer<br />
Grabstelle in einem Friedwald außerhalb<br />
Berlins. Verstorbene, die<br />
nicht aus Berlin stammen, lassen<br />
sich in ihren Heimatstädten oder ihren<br />
Herkunftsländern beerdigen.<br />
„Diese Entwicklung führt zueinem<br />
stetigen Einnahmeverlust“, sagt<br />
Pfarrer Quandt. Eine Erdbestattung<br />
kostet im Durchschnitt etwa 1500<br />
Euro, ein Urnenplatz 500 Euro, ein<br />
Gemeinschaftsurnengrab ist noch<br />
günstiger zu haben.<br />
Und soversucht Pfarrer Quandt,<br />
die überflüssig gewordenen Flächen<br />
zu verkaufen. DieNachfrage ist groß,<br />
private Investoren erkennen lukrativesBauland<br />
für neue Wohnungen in<br />
bester Lage: meist Innenstadt und<br />
ruhiggelegen, viel Grün undein weiter<br />
Blick auf Bäume und alte Gräber.<br />
Doch Quandt verkauft nicht an<br />
die meistbietenden Investoren.Baugruppen<br />
und soziale Projekte werden<br />
bevorzugt. Kürzlich hat er zwei<br />
Grundstücke auf Friedhöfen an Baugruppen<br />
verkauft. An der Hermannstraße<br />
baut der Bund Deutscher Gartenfreunde<br />
seine Hauptgeschäftsstelle,<br />
daneben errichtet die Schöpflin<br />
Stiftung ein Haus des<br />
gemeinnützigen Journalismus. Dort<br />
werden ausländische Reporter arbeiten,<br />
in deren Ländernkeine Pressefreiheit<br />
herrscht.<br />
An der Heinrich-Roller-Straße in<br />
Prenzlauer Berg entstand schon vor<br />
siebenJahreneine öffentliche Grünanlage<br />
mit Spielgeräten und Bänken<br />
auf einem Teil des Friedhofs. Viele<br />
historische Grabanlagen blieben stehen,<br />
mit dem Einverständnis der<br />
Hinterbliebenen. Nun spielen dort<br />
Kinder.Leiseparkhaben die Anwoh-<br />
247 19<br />
Signierstunde: Torsten Harmsen: NeulichinBerlin<br />
–Kuriosesaus dem Hauptstadt-Kaff, 12. Dezember,17Uhr,ThaliaimForum<br />
Köpenick.<br />
Städtisch<br />
Evangelisch<br />
Katholisch<br />
Sonstige<br />
Städtisch<br />
14 076<br />
Evangelisch<br />
12 383<br />
Katholisch<br />
3971<br />
Sonstige<br />
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