Berliner Kurier 26.11.2018
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
2 I LEBEN MIT HANDICAP<br />
MONTAG, 26. NOVEMBER 2018 I VERLAGSBEILAGE<br />
Wie genau wirkt sich eine Behinderung auf das Studium aus? Braucht derjenige mehr Zeit, technische Hilfen, eine Assistenzkraft?<br />
Handreichung auf dem Weg zum Abschluss<br />
Hochschulen sind zum individuellen „Nachteilsausgleich“ für Studierende mit Handicap verpflichtet –das erfordert Einfallsreichtum<br />
Elf Prozent der rund 2,8 Millionen<br />
Studierenden in<br />
Deutschland haben eine studienrelevante<br />
Beeinträchtigung,<br />
so die jüngsten Daten. Dabei sind<br />
nur verschwindend wenige auf<br />
den ersten Blick erkennbar, etwa<br />
am Rollstuhl oder dem Blindenstock.<br />
Gut die Hälfte der Betroffenen<br />
hat ein psychisches Leiden<br />
wie Depressionen, rund 20 Prozent<br />
eine chronische Krankheit<br />
wie Rheuma, MS oder Diabetes,<br />
andere eine Sinneseinschränkung<br />
wie Schwerhörigkeit oder eine Teilleistungsstörung<br />
wie Legasthenie<br />
oder Konzentrationsstörungen.<br />
Allen Betroffenen gemeinsam<br />
ist: Sie haben einen gesetzlichen<br />
Anspruch auf die Hilfe, die nötig<br />
ist, damit sie ihr Studium absolvieren<br />
können. Dabei unterstüt-<br />
Wohnumfeldverbessernde Maßnahmen<br />
• Umbau &Modernisierung<br />
• Gezielt Ihr Leben erleichtern<br />
• Selbstständigkeit im gewohnten Umfeld<br />
• für Barrierefreies &zukunftsgerechtes Wohnen<br />
DOC-DARMER<br />
Rüdiger Darmer ·Pistoriusstr. 33·13086 Berlin<br />
zen sie Menschen wie Katja Barth<br />
oder Georg Classen. Die beiden<br />
arbeiten in der Beratung für Studierende<br />
mit Behinderungen und<br />
chronischen Erkrankungen, Katja<br />
Barth an der Beuth-Hochschule,<br />
Georg Classen an der Freien Universität<br />
Berlin.<br />
Strukturelle Barrieren<br />
Eine solche Stelle gibt es an jeder<br />
Hochschule, hier geht es um das<br />
Studium an sich. Zudem unterhält<br />
das Studierendenwerk drei Beratungsstellen<br />
in Berlin. Es ist für<br />
die sozialen Belange zuständig,<br />
bevorzugt Betroffene beispielsweise<br />
bei der Wohnungsvergabe.<br />
Während die bauliche Barrierefreiheit<br />
etwa an der FU „inzwischen<br />
bei über 90 Prozent der<br />
Gebäude gewährleistet“ ist, gibt<br />
Zuhause wohnen...<br />
...ein Leben lang<br />
Tel.: 030 516 41 330 ·Handy 0162 192 48 20 ·Fax 030 516 41 331<br />
es eine Vielzahl kommunikativer,<br />
struktureller und didaktischer<br />
Barrieren, die das Studium beeinträchtigten<br />
können. Untersuchungen<br />
zeigen: Betroffene brauchen<br />
länger bis zum Abschluss,<br />
unterbrechen öfter. „Es ist wie<br />
Studieren als Alleinerziehender<br />
oder neben einer Erwerbstätigkeit“,<br />
sagt Classen. „Es ist zeitund<br />
energieaufwändiger.“<br />
Die Hochschulen unterstützen,<br />
indem sie einen „Nachteilsausgleich“<br />
ermöglichen. Das kann<br />
mit einer erleichterten Zulassung<br />
beginnen, etwa, wenn eine fortschreitende<br />
Krankheit vorliegt:<br />
Zwei Prozent der Studienplätze<br />
sind für Härtefälle reserviert.<br />
Der Numerus Clausus greift dann<br />
nicht zwingend. Die Formalitäten<br />
sind nicht einfach, daher sollten<br />
sich Betroffene beraten lassen.<br />
Im Studium geht es weiter mit<br />
angepassten Studier- und Prüfungsbedingungen.<br />
„Nur ein kleiner<br />
Prozentsatz der Betroffenen<br />
braucht persönliche Assistenz<br />
oder technische Hilfsmittel, zum<br />
Beispiel eine FM-Anlage für Hörbehinderte<br />
–dafür gibt es beim<br />
Studierendenwerk Berlin einen<br />
Finanztopf“, berichtet Classen.<br />
Viel häufiger geht es um Schreibzeitverlängerungen<br />
in Prüfungen,<br />
die Verteilung von Skripten vorab<br />
oder die Erlaubnis für den Einsatz<br />
von Laptops in Prüfungen. „Die<br />
Herausforderung ist, den Nachteilsausgleich<br />
zu finden, der den<br />
individuellen Nachteil tatsächlich<br />
ausgleicht“, sagt Katja Barth.<br />
„Denn es geht nicht um Erleichterungen,<br />
sondern um die Herstellung<br />
gleicher Bedingungen.<br />
So bekommt ein Rollstuhlfahrer<br />
nicht automatisch eine Schreibzeitverlängerung.<br />
Aber ein Studierender<br />
mit ADHS braucht vielleicht<br />
eine Begleitperson, die ihm<br />
Stabilität vermittelt.“<br />
Gemeinsam Lösungen suchen<br />
GETTY IMAGES/WAVEBREAKMEDIA<br />
Sie berät Betroffene daher am<br />
liebsten vor Studienbeginn und<br />
bespricht, welche spezifischen<br />
Schwierigkeiten auftreten können.<br />
Einige Wochen nach Studienbeginn<br />
wird dann gemeinsam die<br />
Erfahrung beleuchtet.<br />
„Manchmal lösen sich dann<br />
Probleme in Luft auf. So hat ein<br />
Studienanfänger mit Asperger-<br />
Syndrom per Zufall gleich zu Anfang<br />
in eine Arbeitsgruppe gefunden,<br />
in der es perfekt harmoniert.<br />
Er kommt wunderbar zurecht.“<br />
In anderen Fällen treten unvorhergesehene<br />
Schwierigkeiten<br />
auf, für die dann gemeinsam<br />
Lösungen gesucht werden. Oft<br />
ist dies ein Studienhelfer, der als<br />
Assistenzkraft für den Betroffenen<br />
mitschreibt oder seine soziale Interaktion<br />
moderiert. Meist sind es<br />
Kommilitonen, die sich etwas dazuverdienen<br />
können.<br />
Georg Classen erarbeitet gemeinsam<br />
mit seinen „Klienten“<br />
über den konkreten Hilfebedarf hinaus<br />
ein Empfehlungsschreiben,<br />
in dem die Beeinträchtigung und<br />
ihre Auswirkung auf das Studium<br />
möglichst genau skizziert ist.<br />
Darin werden den Lehrenden<br />
Vorschläge macht, wie sie den<br />
Nachteil ausgleichen können.<br />
Zum Beispiel, indem Fragen aus<br />
dem Publikum stets vom Dozenten<br />
wiederholt werden, damit der<br />
Hörbehinderte sie über die FM-<br />
Anlage auch versteht.<br />
Oder indem ein Studierender<br />
mit Sozialphobie von der Aufgabe<br />
ausgenommen wird, einen<br />
Vortrag vor Publikum zu halten<br />
und stattdessen eine schriftliche<br />
Arbeit einreichen kann. „Leider<br />
gibt es in dieser Hinsicht keine<br />
systematischen Fortbildungen<br />
für die Lehrenden“, bedauert<br />
Classen. Er beobachtet aber insgesamt<br />
große Bereitschaft, sich<br />
darauf einzustellen.<br />
Er stellt ebenso wie Katja Barth<br />
fest, dass sich nur ein kleiner Teil<br />
der Betroffenen beraten lässt. Gerade<br />
Studierende mit psychischen<br />
Beeinträchtigungen hätten Hemmungen,<br />
sich zu „outen“ und Hilfe<br />
in Anspruch zu nehmen. (fwo)