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Verena Klassen: Als Oma ein Flüchtling war

Linus hat Ärger mit seinem neuen Klassenkameraden Ahmad. Nach einer gehörigen Standpauke will er den Vorfall schnell vergessen und sucht Zuflucht bei Oma in der Küche. Dort erzählt sie ihm eine Geschichte. Darin geht es um Lotte, die plötzlich kein Zuhause mehr hat. Nach dem zweiten Weltkrieg müssen sie und ihre Familie fliehen. Eine lange Reise voller Strapazen und spannender Abenteuer steht ihnen bevor, bei der Lotte neuen Mut findet und lernt, was Nächstenliebe bedeutet.

Linus hat Ärger mit seinem neuen Klassenkameraden Ahmad. Nach einer gehörigen Standpauke will er den Vorfall schnell vergessen und sucht Zuflucht bei Oma in der Küche. Dort erzählt sie ihm eine Geschichte. Darin geht es um Lotte, die plötzlich kein Zuhause mehr hat. Nach dem zweiten Weltkrieg müssen sie und ihre Familie fliehen. Eine lange Reise voller Strapazen und spannender Abenteuer steht ihnen bevor, bei der Lotte neuen Mut findet und lernt, was Nächstenliebe bedeutet.

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<strong>Verena</strong> <strong>Klassen</strong><br />

<strong>Als</strong> <strong>Oma</strong> <strong>ein</strong><br />

F lüchtling<br />

<strong>Als</strong> <strong>Oma</strong> <strong>ein</strong><br />

F lüchtling<br />

<strong>war</strong><br />

<strong>war</strong><br />

<strong>Verena</strong> <strong>Klassen</strong>


Impressum<br />

1. Auflage 2018<br />

© 2018 by <strong>Verena</strong> <strong>Klassen</strong><br />

Text, Illustrationen & Gestaltung: <strong>Verena</strong> <strong>Klassen</strong><br />

Herausgeber: Betanien Verlag<br />

Imkerweg 38 · 32832 Augustdorf<br />

betanien.de · info@betanien.de<br />

Shop: cbuch.de<br />

Die erste Version dieses Buchprojekts entstand im Rahmen<br />

<strong>ein</strong>er Bachelorarbeit an der Fachhochschule Bielefeld<br />

im Sommersemester 2018.<br />

Vielen Dank an alle, die mich unterstützt haben!<br />

Druck: drusala.cz, auf 150 g Arctic Volume Ivory Papier<br />

ISBN 978-3-945716-44-1


Für m<strong>ein</strong>e <strong>Oma</strong>


Linus <strong>war</strong> stinksauer. Wie konnten Mama und der Lehrer es wagen, ihn vor der<br />

ganzen Klasse anzuschreien? Und dann auch noch zusätzliche Hausaufgaben!<br />

Wütend trat er auf s<strong>ein</strong>en Schulranzen <strong>ein</strong>. Er hasste sie alle. Mama und den Lehrer<br />

und s<strong>ein</strong>e <strong>Klassen</strong>kameraden, die auch gelacht hatten, aber nicht bestraft worden<br />

<strong>war</strong>en. Und vor allem hasste er Ahmad. Er <strong>war</strong> an allem Schuld. Der! – mit s<strong>ein</strong>em<br />

Stottern und den hässlichen Klamotten. Heute hatte er sich in die Hose<br />

gepinkelt. Und als <strong>ein</strong>es der <strong>Klassen</strong>fenster knallend zugeschlagen <strong>war</strong>, hatte er<br />

gleich geheult. Linus schnaubte. Absolut lächerlich. Da konnte man doch gar nicht<br />

anders, als ihn auszulachen.<br />

4


Und nur weil Linus halt <strong>ein</strong> bisschen lauter gelacht hatte als alle anderen und<br />

vielleicht auch <strong>ein</strong> bisschen zugeschlagen hatte, bekam er den ganzen Ärger<br />

ab. Das <strong>war</strong> <strong>ein</strong>fach ungerecht! Dieser Ahmad sollte am besten <strong>ein</strong>fach wieder<br />

dorthin verschwinden, wo er hergekommen <strong>war</strong>. Dann hätte Linus endlich<br />

wieder Ruhe.<br />

Jetzt musste er den Rest des Tages ohne Essen in s<strong>ein</strong>em Zimmer<br />

verbringen. Das wollte er sich nicht bieten lassen. Ganz leise schlich er sich aus<br />

s<strong>ein</strong>em Zimmer. Alles <strong>war</strong> still. Flink wie <strong>ein</strong> Mäuschen flitzte er die Treppe hinunter<br />

und rüber zu <strong>Oma</strong>.<br />

5


Kurz darauf saß er bei ihr in der gemütlichen Küche auf s<strong>ein</strong>em Lieblingsplatz.<br />

»Wie <strong>war</strong> die Schule?«, fragte <strong>Oma</strong>.<br />

»Gut«, sagte Linus schnell und setzte s<strong>ein</strong> breitestes Lächeln auf. »Machst du mir<br />

was zu Essen?«, schob er hinterher, damit sie ja nicht auf den Gedanken kam,<br />

genauer nachzufragen. Er wollte jetzt nicht an die Schule und all das, was heute<br />

passiert <strong>war</strong>, denken. Außerdem hatte er echt Hunger.<br />

<strong>Oma</strong> sah ihn <strong>ein</strong> Weilchen mit leicht gerunzelten Augenbrauen an; dann machte sie<br />

ihm <strong>ein</strong>e große Schüssel mit <strong>war</strong>men Haferflocken und Kakao. Linus liebte <strong>war</strong>me<br />

Haferflocken mit Kakao. Er fühlte sich jedesmal sofort besser, wenn er sie aß.<br />

6


Sie setzte sich wieder an den Tisch und schaute ihm <strong>ein</strong> bisschen zu, wie er sie in<br />

sich hin<strong>ein</strong>schaufelte.<br />

»Mir ist gerade <strong>ein</strong>e Geschichte <strong>ein</strong>gefallen«, m<strong>ein</strong>te <strong>Oma</strong>. »Soll ich sie dir<br />

erzählen?«<br />

»Klar«, mampfte Linus. Er mochte <strong>Oma</strong>s Geschichten.<br />

7


»Die Geschichte handelt von <strong>ein</strong>em Mädchen namens Lotte«, begann <strong>Oma</strong> zu<br />

erzählen. »Sie lebte vor vielen Jahren mit ihrer Mama, ihrer <strong>Oma</strong> und ihren<br />

Geschwistern auf <strong>ein</strong>em großen Bauernhof. An ihren Papa konnte sie sich kaum<br />

noch erinnern, denn er <strong>war</strong> wie fast alle Männer damals in den Krieg gezogen.<br />

Frauen und Kinder mussten richtig hart arbeiten, damit sie etwas zu essen hatten.<br />

Felder mussten gepflügt, Unkraut gejätet, die Kühe gemolken und der Stall<br />

ausgemistet werden. Auch Lotte und ihre Geschwister mussten jeden morgen früh<br />

aufstehen und mit anpacken. Es <strong>war</strong> <strong>ein</strong>e schwere Zeit.<br />

8


Lotte hörte oft, wie die Erwachsenen leise von den schrecklichen Dingen redeten,<br />

die in der Welt geschahen. Unzählige Menschen verloren ihr Leben. Familien hatten<br />

plötzlich k<strong>ein</strong> Zuhause und Kinder k<strong>ein</strong>e Eltern mehr; ganze Landstriche<br />

<strong>war</strong>en verwüstet. Lotte verstand gar nicht so recht, was die Erwachsenen immer<br />

hatten. Sie musste z<strong>war</strong> viel arbeiten, aber sonst <strong>war</strong> in ihrem Dorf doch alles okay.<br />

Noch ahnte sie nicht, dass sich auch für sie bald alles ändern würde.<br />

9


Eines Morgens wachte Lotte von <strong>ein</strong>em seltsamen Geräusch auf. Es hörte sich an<br />

wie Donnergrollen. Doch Lotte wusste gleich, das <strong>war</strong> k<strong>ein</strong> Gewitter.<br />

Das musste etwas viel Schlimmeres s<strong>ein</strong>. Kanonenschläge! Schlagartig wurde ihr<br />

bewusst, was das zu bedeuten hatte: Sie mussten fort. So schnell wie möglich.<br />

Schon zogen erste Soldatentruppen in das Dorf <strong>ein</strong> und vertrieben alle, die dort<br />

lebten. Wer nicht rechtzeitig weg <strong>war</strong>, wurde erschossen.<br />

10


In aller Eile packten ihre Mama und ihre <strong>Oma</strong> das Nötigste auf <strong>ein</strong>en Wagen;<br />

dann ging es los. Lotte wusste nicht, ob sie ihr Zuhause jemals wiedersehen würde.<br />

Sie wusste auch nicht, wohin sie unterwegs <strong>war</strong>en. Nur, dass sie sich sehr beeilen<br />

mussten. Es ging um Leben oder Tod!<br />

11


Die Reise <strong>war</strong> sehr anstrengend und schien gar k<strong>ein</strong> Ende nehmen zu wollen.<br />

Bald hatte Lotte schreckliches Heimweh. Sie vermisste ihre Freunde, das weiche<br />

Bett und die vielen Tiere, die sie gehabt hatten. Fast jede Nacht w<strong>ein</strong>te sie<br />

beim Einschlafen und hatte furchtbare Angst. Ihren Geschwistern ging es auch<br />

nicht anders.<br />

K<strong>ein</strong>er konnte Lotte <strong>ein</strong>e Antwort darauf geben, wie lange es noch dauern würde.<br />

Es <strong>war</strong> eiskalt und nass, die Füße taten vom vielen Laufen weh und der Hunger<br />

<strong>war</strong> <strong>ein</strong> ständiger Begleiter. Überall hatten sie blaue Flecken vom Schlafen auf dem<br />

st<strong>ein</strong>igen Boden. Die löchrige Decke bot kaum Schutz vor der eisigen Kälte, und so<br />

kuschelten sich alle ganz dicht an<strong>ein</strong>ander, um wenigstens etwas Wärme zu haben.<br />

12


Ihre Mama versuchte dennoch immer, das Beste aus jeder Lage zu machen.<br />

Jeden Abend las sie ihnen etwas aus ihrer abgenutzten Bibel vor und bat Gott<br />

um s<strong>ein</strong>en Schutz und s<strong>ein</strong>e Hilfe. Sie baute aus St<strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>e Öfen gegen<br />

die Kälte und bettelte an jedem Haus, an dem sie vorbeikamen, um etwas<br />

Essbares. Doch die meisten Leute gaben ihnen nichts.<br />

Durch den Hunger und die Kälte wurden die Kinder sehr krank und Lotte dachte,<br />

dass sie bestimmt bald alle sterben würden. Ihre Mama sagte immer, dass Gott<br />

auf sie aufpasse und sie versorge, aber davon merkte Lotte gar nichts.<br />

Wenn sie zu ihrer Mama schaute, sah sie tiefe Sorgenfalten in ihrem Gesicht.<br />

Auch sie schien verzweifelt zu s<strong>ein</strong>.<br />

13


Doch dann geschah etwas Uner<strong>war</strong>tetes. Einige Soldaten kamen ihnen entgegen.<br />

Alle hatten Angst, dass sie ihnen etwas antun würden. Einer der Männer<br />

kam auf sie zu, aber anstatt <strong>ein</strong>er Pistole zog er <strong>ein</strong> großes Brot aus s<strong>ein</strong>er Tasche<br />

und übergab es mit <strong>ein</strong>em Lächeln. Das gab allen neue Kraft und neuen Mut.<br />

Lotte wusste plötzlich, dass ihre Mama recht gehabt hatte: Gott hatte<br />

sie versorgt. Genüsslich aß sie das Brot und <strong>war</strong> sich sicher, noch nie etwas so<br />

Köstliches gegessen zu haben.«<br />

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»Die haben <strong>ein</strong>fach nur Brot ohne alles gegessen? Aber das schmeckt doch gar<br />

nicht!«, rümpfte Linus die Nase. Die Haferflocken <strong>war</strong>en inzwischen kalt geworden.<br />

»Wenn du mal d<strong>ein</strong> Pausenbrot vergessen hast, hast du nach der Schule so<br />

sehr Hunger, dass du alles essen könntest, oder?«, fragte <strong>Oma</strong>. Linus nickte eifrig.<br />

»Jetzt stell dir mal vor, du hast seit Tagen nicht mehr wirklich was gegessen.<br />

Da ist <strong>ein</strong> Stück Brot <strong>ein</strong> wahres Festmahl! Aber jetzt lass mich mal weitererzählen.<br />

Es sind noch viele spannende Dinge passiert.« Und so tauchten sie immer tiefer<br />

in die Geschichte <strong>ein</strong>. Was Lotte alles erlebt hatte …<br />

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Eines Tages geschah etwas Schreckliches: Lotte und ihr kl<strong>ein</strong>er Bruder wurden<br />

entführt! Es <strong>war</strong> frühmorgens und Lotte <strong>war</strong> noch ganz müde, als <strong>ein</strong>e Frau kam und<br />

die Kinder unter ihren Decken hervorzog. Lotte dachte, es sei ihre <strong>Oma</strong> und ging<br />

<strong>ein</strong>fach mit. Doch nach <strong>ein</strong>er Weile merkte sie, dass irgendetwas nicht stimmte.<br />

Die Frau <strong>war</strong> komisch. Sie sagte k<strong>ein</strong> Wort. <strong>Oma</strong> redete doch immer mit ihnen.<br />

Und das Kleid, das sie trug, hatte Lotte noch nie gesehen. Außerdem roch die Frau<br />

nach Fisch. Fisch hatten sie seit Monaten nicht mehr gegessen.<br />

N<strong>ein</strong>, das <strong>war</strong> ganz bestimmt nicht ihre <strong>Oma</strong>. Da bekam Lotte es mit der Angst<br />

zu tun. Sie mussten irgendwie wieder zu ihrer Familie zurück. Doch sie konnten<br />

nicht <strong>ein</strong>fach weglaufen, denn die Frau hatte ihre Arme fest im Griff und zog sie<br />

hinter sich her. Lotte <strong>war</strong> völlig verzweifelt. Was sollte sie nur tun?<br />

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Plötzlich fielen ihr die Gebete ihrer Mutter <strong>ein</strong> und dass sie gesagt hatte, man<br />

könne Gott in jeder Not anrufen. Immer und immer wieder schrie sie in Gedanken:<br />

›Lieber Gott, bitte, bitte hilf uns doch!‹<br />

Auf <strong>ein</strong>mal hatte Lotte <strong>ein</strong>e Idee. Sie blieb stehen.<br />

›Wir müssen mal Pipi‹, jammerte sie und trat von <strong>ein</strong>em Fuß auf den anderen.<br />

Die Frau rümpfte die Nase, ließ sie aber tatsächlich los. Lotte nahm ihren<br />

kl<strong>ein</strong>en Bruder an die Hand und verschwand mit ihm hinter <strong>ein</strong>er großen Hecke.<br />

Dort schärfte sie ihm <strong>ein</strong>: ›Die Frau da ist nicht <strong>Oma</strong>. Wir müssen jetzt ganz schnell<br />

wegrennen. So schnell, wie wir können!‹ Und schon ging es los. Fast stolperten sie<br />

über den st<strong>ein</strong>igen Boden, so schnell liefen sie. Später überlegte sie, ob das wohl<br />

richtig <strong>war</strong>, <strong>ein</strong>e Notlüge zu gebrauchen, um der bösen Frau zu entkommen.<br />

17


Von Weitem sahen sie, wie ihre Familie dabei <strong>war</strong>, <strong>ein</strong>e Brücke zu überqueren.<br />

Sie <strong>war</strong>en die Letzten. Lotte stellte mit Schrecken fest, dass niemand mehr<br />

durchgelassen wurde. Die Soldaten begannen gerade, Barrikaden aufzustellen.<br />

Sie rannten wie noch nie in ihrem Leben. Sie mussten es schaffen!<br />

Aufgelöst und außer Atem kamen sie vor den Soldaten zum Stehen und flehten sie<br />

an, noch durchgelassen zu werden. Die Männer schauten regungslos auf sie herab<br />

und Lotte befürchtete schon das Schlimmste.<br />

Da gab sich <strong>ein</strong>er der Soldaten <strong>ein</strong>en Ruck und hob die Kinder mit Schwung<br />

über die Barrikade.<br />

18


›Jetzt aber schnell, fort mit euch!‹, rief er ihnen noch hinterher. Doch Lotte und ihr<br />

Bruder liefen schon ihrer Familie entgegen.<br />

›Mama! <strong>Oma</strong>!‹, schrien sie laut, und überglücklich schloss Mama sie in die Arme.<br />

Sie w<strong>ein</strong>te und dankte Gott, dass er die Kinder bewahrt hatte. Sie hatte schon<br />

befürchtet, sie würde ihre Kinder nie wiedersehen, denn die Soldaten hatten die<br />

Mutter gezwungen, ihre verzweifelte Suche abzubrechen.<br />

Lotte nahm sich vor, von nun an aufzupassen, dass niemand mehr verloren ging.<br />

19


Eines Tages sagte Mama, dass es jetzt nicht mehr weit sei. In dem Wald, der vor<br />

ihnen lag, <strong>war</strong> <strong>ein</strong>e Grenze, hinter der sie endlich in Sicherheit wären. Der Weg<br />

dorthin <strong>war</strong> allerdings nicht ungefährlich, denn die Grenze wurde streng bewacht.<br />

Alle gingen zügig, aber auch leise, in den Wald, doch <strong>Oma</strong> konnte bald nicht mehr<br />

mithalten. Sie <strong>war</strong> immerhin schon über siebzig Jahre alt und durch die anstrengende<br />

Flucht geschwächt. ›Geht nur schon vor‹, keuchte sie außer Atem. ›Ich komme<br />

nach, so schnell ich kann.‹<br />

›N<strong>ein</strong>!‹, entfuhr es Lotte. ›Wir müssen doch zusammen bleiben!‹ Aber schon zog<br />

Mama sie weiter. Es blieb nicht <strong>ein</strong>mal Zeit, sich zu verabschieden. Immer wieder<br />

drehte Lotte sich um. Bald konnte sie <strong>Oma</strong> im dunklen Wald nicht mehr sehen.<br />

Hoffentlich würde sie es schaffen …<br />

20


Plötzlich hielten alle an. Vor ihnen gabelte sich der Weg. Ob <strong>Oma</strong> hier wohl in die<br />

richtige Richtung gehen würde? Mama bat Lottes älteren Bruder, an der Kreuzung<br />

auf sie zu <strong>war</strong>ten, damit <strong>Oma</strong> nicht falsch abbog. Der Bruder jedoch schüttelte<br />

heftig den Kopf. Er zitterte am ganzen Körper und würde ganz sicher nicht all<strong>ein</strong> im<br />

dunklen Wald auf die anderen <strong>war</strong>ten.<br />

Lotte hatte auch Angst, große Angst sogar. Aber sie hatte sich gesagt, auf alle<br />

aufzupassen. Sie redete sich Mut zu und sagte: ›Ich <strong>war</strong>te hier. Sie darf sich nicht<br />

verlaufen.‹ Mama drückte sie kurz, gab ihr <strong>ein</strong>en Kuss auf die Stirn und flüsterte ihr<br />

ins Ohr: ›Gott schütze dich.‹ Dann <strong>war</strong> sie auch schon mit den kl<strong>ein</strong>eren Kindern<br />

verschwunden, um sie hinter der Grenze in Sicherheit zu bringen.<br />

21


Jetzt <strong>war</strong> Lotte ganz all<strong>ein</strong>. Es <strong>war</strong> unheimlich. Überall knackte und raschelte es.<br />

Bewegte sich dort hinter dem Baum <strong>ein</strong> Schatten? Vielleicht gab es hier ja Wölfe!<br />

Ganz fest umschlang sie mit ihren Armen ihren zitternden Körper. Sie musste jetzt<br />

mutig s<strong>ein</strong>. <strong>Oma</strong> würde bestimmt bald kommen.<br />

Da! Mehrere Äste zerbrachen im Gebüsch. Was <strong>war</strong> das? Lotte bewegte sich nicht<br />

und lauschte. Jetzt <strong>war</strong> es wieder still.<br />

Knack. Schon wieder! Dieses Mal etwas lauter. Irgendetwas <strong>war</strong> da. Merkwürdige<br />

Geräusche drangen zu ihr. Ein Raunen, dann <strong>ein</strong> metallisches Klicken direkt vor ihr.<br />

Da hielt es Lotte nicht mehr aus. Sie schrie, so laut sie nur konnte. Sie hielt sich<br />

die Hände auf die Ohren und presste die Augen zusammen. Sie schrie immer noch,<br />

als sie <strong>ein</strong>e bekannte Stimme hörte.<br />

22


›Lotte!‹<br />

Es <strong>war</strong> <strong>Oma</strong>s Stimme. <strong>Oma</strong> <strong>war</strong> da. Schon lag sie in ihren Armen.<br />

›Ich hatte solche Angst‹, schluchzte Lotte. <strong>Oma</strong> wiegte sie sachte hin und her.<br />

›Schsch, ist ja gut, jetzt bin ich ja da.‹ Sie drückte Lotte noch kurz an sich, dann<br />

mussten sie auch schon weiter. Was immer das s<strong>ein</strong> gewesen mag, was Lotte<br />

erschreckt hatte – sie wussten nicht, ob es noch da <strong>war</strong>. Sie durften k<strong>ein</strong> Risiko<br />

<strong>ein</strong>gehen. Die anderen <strong>war</strong>teten sicher schon.<br />

23


Bald <strong>war</strong> das Ende des Waldes und auch die Grenze erreicht – und tatsächlich,<br />

da standen sie beisammen. Alle hatten Lottes Schrei gehört und schon mit dem<br />

Schlimmsten gerechnet. Sie fragten, was passiert <strong>war</strong>, aber Lotte konnte es ihnen<br />

nicht erklären. Sie hatte ja nicht gesehen, was sie im Wald so erschreckt hatte.<br />

Lotte <strong>war</strong> jedenfalls sehr froh, nicht mehr all<strong>ein</strong> im unheimlichen Wald zu s<strong>ein</strong>,<br />

sondern gemütlich am Lagerfeuer zu sitzen. Hier fühlte sie sich sicher.<br />

Später kamen zwei Männer zu ihnen ans Feuer. Sie <strong>war</strong>en auch geflohen und hatten<br />

es gerade so über die Grenze geschafft. Mutter schöpfte ihnen etwas Mehlsuppe<br />

in ihre Schalen und dankbar schlürften sie die heiße Flüssigkeit. Dann erzählten sie,<br />

was sie erlebt hatten.<br />

24


Sie <strong>war</strong>en kurz vor der Grenze, als <strong>ein</strong>e Wachtruppe nahte. Sie konnten sich noch<br />

rechtzeitig verstecken, doch die Soldaten der Wachtruppe gingen direkt auf die<br />

Wegkreuzung zu, an der auch Lotte stand. Plötzlich zerriss <strong>ein</strong> schrecklicher Schrei<br />

die Stille. Die Soldaten blieben erst wie angewurzelt stehen, dann flohen sie Hals<br />

über Kopf. Dadurch <strong>war</strong> der Weg frei und alle kamen sicher über die Grenze.<br />

Während die Männer das erzählten, schauten alle zu Lotte.<br />

›Du hast uns alle gerettet, kl<strong>ein</strong>es Mädchen‹, nickte <strong>ein</strong>er der Männer ihr<br />

anerkennend zu. Lotte überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf und sagte:<br />

›N<strong>ein</strong>, Gott hat auf mich aufgepasst.‹ Davon <strong>war</strong> sie fest überzeugt. Mama nickte<br />

lächelnd und strich ihr liebevoll über den Kopf. ›Das hat er wirklich. Auf uns alle.<br />

Jetzt sind wir in Sicherheit und können <strong>ein</strong> neues Leben beginnen.‹«<br />

25


<strong>Oma</strong> hatte aufgehört zu erzählen. In ihrer Küche <strong>war</strong> es ganz still; nur die Uhr<br />

tickte vor sich hin. Linus hatte s<strong>ein</strong> Kinn auf die Hände gestützt und schaute<br />

gedankenverloren aus dem Fenster.<br />

»Wow«, kam es leise über s<strong>ein</strong>e Lippen. »Das <strong>war</strong> wirklich spannend. Wie ging es<br />

denn danach weiter? Hatten sie wieder <strong>ein</strong> Zuhause?«<br />

»Nicht sofort. In der Nähe <strong>war</strong> <strong>ein</strong> großer Bauernhof, wo nur <strong>ein</strong> älteres Ehepaar<br />

wohnte. Dort kamen sie erst mal unter«, erklärte <strong>Oma</strong>.<br />

»Die haben sich bestimmt gefreut, nicht mehr so all<strong>ein</strong>e zu s<strong>ein</strong>. Ich fände das ganz<br />

schön langweilig, niemanden zum Spielen zu haben«, stellte Linus fest und steckte<br />

sich entschlossen <strong>ein</strong>en Löffel kalter Haferflocken in den Mund.<br />

26


<strong>Oma</strong> zog <strong>ein</strong> wenig die Augenbrauen hoch. »Solche Senioren in m<strong>ein</strong>em Alter<br />

spielen nicht mehr. Die wollen eher ihre Ruhe haben.«<br />

»Aber <strong>Oma</strong>!« Linus <strong>war</strong> empört. »Du spielst doch immer mit mir. Was würdest du<br />

denn den ganzen Tag machen, wenn du mich nicht hättest? Nur dasitzen und lesen<br />

und stricken und Kreuzworträtsel machen. Wie langweilig.«<br />

<strong>Oma</strong> lachte, zerwuschelte ihm die Haare und fragte, ob sie die Haferflocken noch<br />

mal <strong>war</strong>m machen sollte. Linus nickte.<br />

27


»Weißt du, Linus«, sagte sie, während sie die Schüssel in die Mikrowelle schob,<br />

»nicht alle Leute freuen sich, wenn plötzlich Menschen aus <strong>ein</strong>em anderen Land<br />

ankommen. Die kennen sich nicht aus und man muss ihnen so viel erklären.<br />

Und helfen. Sie haben ja nichts mehr. Oder nur noch sehr wenig. Die meisten Leute<br />

teilen gar nicht gerne ihre Sachen.«<br />

»Der Soldat mit dem Brot schon«, <strong>war</strong>f Linus <strong>ein</strong>.<br />

»Ja, daran könnten sich viele <strong>ein</strong> Beispiel nehmen. Er hatte selber nicht viel, aber<br />

er hat gesehen, dass es Lottes Familie noch schlechter ging. <strong>Als</strong>o hat er ihnen<br />

geholfen.<br />

28


Das alte Ehepaar, bei dem Lottes Familie jetzt wohnte, <strong>war</strong> jedenfalls gar nicht froh,<br />

dass sie da <strong>war</strong>en. Lotte hatte sich so darauf gefreut, endlich wieder <strong>ein</strong> Zuhause<br />

zu haben, doch so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie durften nicht ins Haus,<br />

mussten im Stroh schlafen und ganz viel auf dem Hof arbeiten.<br />

Die Frau <strong>war</strong> sogar richtig gem<strong>ein</strong>. Sie wollte die Familie loswerden und wieder<br />

ihre Ruhe haben. <strong>Als</strong>o hat sie ihnen verdorbenes Fleisch zu essen gegeben,<br />

um sie zu vergiften. Alle wurden sehr krank. Lotte <strong>war</strong> richtig wütend auf die Frau.<br />

Wie konnte sie es wagen, ihrer Familie etwas anzutun?! Am liebsten hätte sie ihr<br />

so richtig <strong>ein</strong>s ausgewischt.«<br />

29


Linus <strong>war</strong> empört. »Das hätte ich auch!«, rief er und schlug auf den Tisch.<br />

»Lottes Mama <strong>war</strong> da anderer M<strong>ein</strong>ung«, beschwichtigte ihn <strong>Oma</strong>. »Sie wusste:<br />

Gott möchte nicht, dass wir Böses mit Bösem vergelten. Sie hatte <strong>ein</strong>e viel bessere<br />

Idee, nämlich etwas Nettes für die Frau zu tun. So würde sie <strong>ein</strong> schlechtes<br />

Gewissen bekommen und vielleicht sogar ihre M<strong>ein</strong>ung ändern. <strong>Als</strong>o gingen die<br />

Kinder am nächsten Tag los und pflückten <strong>ein</strong>en riesigen, wunderschönen<br />

Blumenstrauß. Mama hatte heimlich die löchrigen Hemden und Hosen von der<br />

L<strong>ein</strong>e genommen und alles wieder geflickt. <strong>Als</strong> sie den Blumenstrauß und die<br />

Kleidung überreichten, wurde die Frau ganz rot im Gesicht und lief schnell davon.<br />

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