CMS Magazin RADAR Nr. 5 August 2018
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Projekte<br />
WOHIN<br />
MIT ALL DER<br />
KUNST?<br />
Frau M. steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Im Atelier ihres<br />
kürzlich verstorbenen Lebenspartners lagern gegen sechshundert<br />
Gemälde und mehrere Stapel Skizzen, die er im Lauf seines Lebens<br />
geschaffen hat. Tagebücher, Ordner mit Korrespondenzen, Rechnungen<br />
und Einladungskarten zu Vernissagen sowie Ausstellungskataloge<br />
und Kunstliteratur füllen die Regale. Wohin nun mit all<br />
dem Material, wenn Museen und Archive schon bei der ersten Anfrage<br />
präventiv abwinken? Was ist wichtig, was könnte in ferner<br />
Zukunft einmal von Bedeutung sein? Wer hilft bei der Bewertung<br />
der Werke und wer bei der Entscheidung, was erhaltenswert ist oder<br />
sein könnte? Darf man Kunst entsorgen und wenn ja, nach welchen<br />
Kriterien sollte das geschehen?<br />
Bis vor Kurzem war guter Rat bei solchen Fragen teuer oder gar<br />
nicht erst erhältlich. Oftmals mit den Mechanismen des Kunstbetriebs<br />
wenig vertraut, mussten sich viele Erb/innen und Freund/<br />
innen verstorbener Kunstschaffender auf sich alleine gestellt auf die<br />
Suche nach möglichen Lösungen machen. Doch wie vorgehen? Wen<br />
kontaktieren?<br />
Um Antworten und praxisnahe Hilfestellungen auf diese und<br />
weitere Fragen zu geben, wurde 2016 am Schweizerischen Institut<br />
für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), einer gemeinnützigen Dokumentations-<br />
und Forschungseinrichtung mit Sitz in Zürich, Lausanne<br />
und Ligornetto, ein Projekt in Angriff genommen, das den Aufbau<br />
einer nationalen Beratungsstelle für Künstlernachlässe zum Ziel hat.<br />
Finanziell unterstützt wird dieses Vorhaben von der Christoph<br />
Merian Stiftung sowie von weiteren Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen<br />
aus den Regionen Basel, Zug und Zürich.<br />
Laut Roger Fayet, dem Direktor von SIK-ISEA, will die Beratungsstelle<br />
«Mut machen, anleiten, unterstützen und gleichzeitig<br />
vor Illusionen bewahren». Zu diesen Angeboten gehören kostenlose<br />
Beratungsgespräche an den jeweiligen Standorten des Instituts, die<br />
Durchführung von regionalen Workshops zum Thema Künstlernachlässe<br />
und die Bereitstellung von Informationsmaterial in gedruckter<br />
und digitaler Form. So hat die Beratungsstelle im vergangenen Jahr<br />
einen handlichen und leicht verständlichen Ratgeber zum Umgang<br />
mit Künstlernachlässen publiziert, in dem Strategien der Bewertung<br />
und Vermittlung eines Nachlasses, Vorgehensweisen bei der Dokumentation<br />
und Konservierung von Kunstwerken, Grundlagen zum<br />
Umgang mit schriftlichen Nachlässen und wichtige Aspekte des<br />
schweizerischen Rechts behandelt werden. Eine dreisprachige Website<br />
bietet zudem weitere Informationen, Materialien und Kontaktadressen<br />
an.<br />
Wichtig ist auch der direkte Kontakt und Erfahrungsaustausch<br />
mit Kunstschaffenden, deren Angehörigen und Interessenvertretern<br />
sowie mit weiteren Experten aus dem Bereich der Kunstbewahrung<br />
und der Kunstvermittlung. Zusammen mit der Christoph Merian<br />
Stiftung, der Sophie und Karl Binding Stiftung, der Firma ARTexperts<br />
und dem Berufsverband visarte.schweiz veranstaltete deshalb die<br />
Beratungsstelle im September 2017 an der Hochschule für Gestaltung<br />
und Kunst in Basel einen zweitägigen Kongress zum Thema<br />
‹Kunst erhalten? Herausforderungen und Chancen von Künstlernachlässen<br />
in der Schweiz›, der von insgesamt 290 Personen besucht<br />
wurde.<br />
Kernbestandteil der Beratung bildet jedoch das persönliche<br />
Gespräch. Mitarbeitende von SIK-ISEA versuchen im Dialog mit den<br />
Ratsuchenden, geeignete Lösungsansätze für die Selektion, die<br />
Aufbewahrung und die Vermittlung von künstlerischen Hinterlassenschaften<br />
aufzuzeigen und auch bestehende Vorstellungen zu<br />
relativieren. So ist die häufig vorherrschende Idee, dass mit der<br />
Gründung einer Stiftung ein künstlerisches Œuvre langfristig bewahrt<br />
werden könne, durchaus kritisch zu bewerten. Viele sind sich<br />
nicht darüber im Klaren, dass ein solches Unterfangen mit einem<br />
erheblichen finanziellen, organisatorischen und personellen Auf-<br />
Künstler Willy Oppliger in seinem Atelier im Dachstock der alten Gewerbeschule am Petersgraben.<br />
Aus ‹Basel und seine Atelierhäuser›, Basler Stadtbuch 1985<br />
wand verbunden ist und noch lange keine Gewähr für die dauerhafte<br />
Wahrnehmung eines gesamten Nachlasses darstellt. Zielführender<br />
ist es in vielen Fällen, individuelle und geeignete Strategien<br />
zu entwickeln, um einzelne Werke oder Werkgruppen aus einem<br />
Nachlass an geeigneten Orten wie kleineren Museen oder öffentlichen<br />
Einrichtungen platzieren zu können, an denen sie professionell<br />
aufbewahrt und von einem breiten Publikum auch wahrgenommen<br />
werden.<br />
Im Fall der eingangs erwähnten, allerdings fiktiven Frau M.<br />
würde ihr die Beratungsstelle raten, zunächst ein Inventar der<br />
Gemälde, Zeichnungen und übrigen Hinterlassenschaften zu erstellen.<br />
In Zusammenarbeit mit einer Kunsthistorikerin oder einem<br />
Galeristen sollte sie den sogenannten Kernbestand der einhundert<br />
aussagekräftigsten und wichtigsten Werke und Skizzen definieren<br />
und diesen in einem klimatisch geeigneten Depotraum unterbringen.<br />
Von dieser Auswahl wird idealerweise ein Dossier mit Abbildungen<br />
und detaillierten Beschreibungen angelegt, das als Grundlage für<br />
den Aufbau einer Website oder gar einer Publikation über das künstlerische<br />
Schaffen des Verstorbenen dienen kann. Dieses Dossier ist<br />
auch hilfreich, um potenzielle Museen für eine Ausstellung oder die<br />
Übernahme einzelner Werke zu kontaktieren. Bei einer gemeinsam<br />
mit Freunden des Künstlers organisierten Verkaufsausstellung im<br />
ehemaligen Atelier könnten einige Werke neue Besitzer finden,<br />
andere Arbeiten, Arbeitsutensilien und einen Grossteil der Bibliothek<br />
könnte Frau M. einer Schule schenken; einzelne Dokumente würden<br />
wohl Eingang in das Kunstarchiv von SIK-ISEA finden. Von anderen<br />
Werken müsste sich Frau M. wohl definitiv trennen und sie beispielsweise<br />
en bloc einem Händler verkaufen.<br />
Dr. Matthias Oberli<br />
Projektleiter Schweizerische Beratungsstelle für Künstlernachlässe<br />
www.kuenstlernachlass-beratung.ch<br />
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