20.08.2018 Aufrufe

CMS Magazin RADAR Nr. 5 August 2018

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Projekte<br />

WOHIN<br />

MIT ALL DER<br />

KUNST?<br />

Frau M. steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Im Atelier ihres<br />

kürzlich verstorbenen Lebenspartners lagern gegen sechshundert<br />

Gemälde und mehrere Stapel Skizzen, die er im Lauf seines Lebens<br />

geschaffen hat. Tagebücher, Ordner mit Korrespondenzen, Rechnungen<br />

und Einladungskarten zu Vernissagen sowie Ausstellungskataloge<br />

und Kunstliteratur füllen die Regale. Wohin nun mit all<br />

dem Material, wenn Museen und Archive schon bei der ersten Anfrage<br />

präventiv abwinken? Was ist wichtig, was könnte in ferner<br />

Zukunft einmal von Bedeutung sein? Wer hilft bei der Bewertung<br />

der Werke und wer bei der Entscheidung, was erhaltenswert ist oder<br />

sein könnte? Darf man Kunst entsorgen und wenn ja, nach welchen<br />

Kriterien sollte das geschehen?<br />

Bis vor Kurzem war guter Rat bei solchen Fragen teuer oder gar<br />

nicht erst erhältlich. Oftmals mit den Mechanismen des Kunstbetriebs<br />

wenig vertraut, mussten sich viele Erb/innen und Freund/<br />

innen verstorbener Kunstschaffender auf sich alleine gestellt auf die<br />

Suche nach möglichen Lösungen machen. Doch wie vorgehen? Wen<br />

kontaktieren?<br />

Um Antworten und praxisnahe Hilfestellungen auf diese und<br />

weitere Fragen zu geben, wurde 2016 am Schweizerischen Institut<br />

für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), einer gemeinnützigen Dokumentations-<br />

und Forschungseinrichtung mit Sitz in Zürich, Lausanne<br />

und Ligornetto, ein Projekt in Angriff genommen, das den Aufbau<br />

einer nationalen Beratungsstelle für Künstlernachlässe zum Ziel hat.<br />

Finanziell unterstützt wird dieses Vorhaben von der Christoph<br />

Merian Stiftung sowie von weiteren Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen<br />

aus den Regionen Basel, Zug und Zürich.<br />

Laut Roger Fayet, dem Direktor von SIK-ISEA, will die Beratungsstelle<br />

«Mut machen, anleiten, unterstützen und gleichzeitig<br />

vor Illusionen bewahren». Zu diesen Angeboten gehören kostenlose<br />

Beratungsgespräche an den jeweiligen Standorten des Instituts, die<br />

Durchführung von regionalen Workshops zum Thema Künstlernachlässe<br />

und die Bereitstellung von Informationsmaterial in gedruckter<br />

und digitaler Form. So hat die Beratungsstelle im vergangenen Jahr<br />

einen handlichen und leicht verständlichen Ratgeber zum Umgang<br />

mit Künstlernachlässen publiziert, in dem Strategien der Bewertung<br />

und Vermittlung eines Nachlasses, Vorgehensweisen bei der Dokumentation<br />

und Konservierung von Kunstwerken, Grundlagen zum<br />

Umgang mit schriftlichen Nachlässen und wichtige Aspekte des<br />

schweizerischen Rechts behandelt werden. Eine dreisprachige Website<br />

bietet zudem weitere Informationen, Materialien und Kontaktadressen<br />

an.<br />

Wichtig ist auch der direkte Kontakt und Erfahrungsaustausch<br />

mit Kunstschaffenden, deren Angehörigen und Interessenvertretern<br />

sowie mit weiteren Experten aus dem Bereich der Kunstbewahrung<br />

und der Kunstvermittlung. Zusammen mit der Christoph Merian<br />

Stiftung, der Sophie und Karl Binding Stiftung, der Firma ARTexperts<br />

und dem Berufsverband visarte.schweiz veranstaltete deshalb die<br />

Beratungsstelle im September 2017 an der Hochschule für Gestaltung<br />

und Kunst in Basel einen zweitägigen Kongress zum Thema<br />

‹Kunst erhalten? Herausforderungen und Chancen von Künstlernachlässen<br />

in der Schweiz›, der von insgesamt 290 Personen besucht<br />

wurde.<br />

Kernbestandteil der Beratung bildet jedoch das persönliche<br />

Gespräch. Mitarbeitende von SIK-ISEA versuchen im Dialog mit den<br />

Ratsuchenden, geeignete Lösungsansätze für die Selektion, die<br />

Aufbewahrung und die Vermittlung von künstlerischen Hinterlassenschaften<br />

aufzuzeigen und auch bestehende Vorstellungen zu<br />

relativieren. So ist die häufig vorherrschende Idee, dass mit der<br />

Gründung einer Stiftung ein künstlerisches Œuvre langfristig bewahrt<br />

werden könne, durchaus kritisch zu bewerten. Viele sind sich<br />

nicht darüber im Klaren, dass ein solches Unterfangen mit einem<br />

erheblichen finanziellen, organisatorischen und personellen Auf-<br />

Künstler Willy Oppliger in seinem Atelier im Dachstock der alten Gewerbeschule am Petersgraben.<br />

Aus ‹Basel und seine Atelierhäuser›, Basler Stadtbuch 1985<br />

wand verbunden ist und noch lange keine Gewähr für die dauerhafte<br />

Wahrnehmung eines gesamten Nachlasses darstellt. Zielführender<br />

ist es in vielen Fällen, individuelle und geeignete Strategien<br />

zu entwickeln, um einzelne Werke oder Werkgruppen aus einem<br />

Nachlass an geeigneten Orten wie kleineren Museen oder öffentlichen<br />

Einrichtungen platzieren zu können, an denen sie professionell<br />

aufbewahrt und von einem breiten Publikum auch wahrgenommen<br />

werden.<br />

Im Fall der eingangs erwähnten, allerdings fiktiven Frau M.<br />

würde ihr die Beratungsstelle raten, zunächst ein Inventar der<br />

Gemälde, Zeichnungen und übrigen Hinterlassenschaften zu erstellen.<br />

In Zusammenarbeit mit einer Kunsthistorikerin oder einem<br />

Galeristen sollte sie den sogenannten Kernbestand der einhundert<br />

aussagekräftigsten und wichtigsten Werke und Skizzen definieren<br />

und diesen in einem klimatisch geeigneten Depotraum unterbringen.<br />

Von dieser Auswahl wird idealerweise ein Dossier mit Abbildungen<br />

und detaillierten Beschreibungen angelegt, das als Grundlage für<br />

den Aufbau einer Website oder gar einer Publikation über das künstlerische<br />

Schaffen des Verstorbenen dienen kann. Dieses Dossier ist<br />

auch hilfreich, um potenzielle Museen für eine Ausstellung oder die<br />

Übernahme einzelner Werke zu kontaktieren. Bei einer gemeinsam<br />

mit Freunden des Künstlers organisierten Verkaufsausstellung im<br />

ehemaligen Atelier könnten einige Werke neue Besitzer finden,<br />

andere Arbeiten, Arbeitsutensilien und einen Grossteil der Bibliothek<br />

könnte Frau M. einer Schule schenken; einzelne Dokumente würden<br />

wohl Eingang in das Kunstarchiv von SIK-ISEA finden. Von anderen<br />

Werken müsste sich Frau M. wohl definitiv trennen und sie beispielsweise<br />

en bloc einem Händler verkaufen.<br />

Dr. Matthias Oberli<br />

Projektleiter Schweizerische Beratungsstelle für Künstlernachlässe<br />

www.kuenstlernachlass-beratung.ch<br />

13

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!