Dimitra Charamandas, aus der Dokumentation ‹Flat Sphere›, Mai 2017 Taumelnde Schritte, S. 5
Projekte WOHIN MIT ALL DER KUNST? Frau M. steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Im Atelier ihres kürzlich verstorbenen Lebenspartners lagern gegen sechshundert Gemälde und mehrere Stapel Skizzen, die er im Lauf seines Lebens geschaffen hat. Tagebücher, Ordner mit Korrespondenzen, Rechnungen und Einladungskarten zu Vernissagen sowie Ausstellungskataloge und Kunstliteratur füllen die Regale. Wohin nun mit all dem Material, wenn Museen und Archive schon bei der ersten Anfrage präventiv abwinken? Was ist wichtig, was könnte in ferner Zukunft einmal von Bedeutung sein? Wer hilft bei der Bewertung der Werke und wer bei der Entscheidung, was erhaltenswert ist oder sein könnte? Darf man Kunst entsorgen und wenn ja, nach welchen Kriterien sollte das geschehen? Bis vor Kurzem war guter Rat bei solchen Fragen teuer oder gar nicht erst erhältlich. Oftmals mit den Mechanismen des Kunstbetriebs wenig vertraut, mussten sich viele Erb/innen und Freund/ innen verstorbener Kunstschaffender auf sich alleine gestellt auf die Suche nach möglichen Lösungen machen. Doch wie vorgehen? Wen kontaktieren? Um Antworten und praxisnahe Hilfestellungen auf diese und weitere Fragen zu geben, wurde 2016 am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), einer gemeinnützigen Dokumentations- und Forschungseinrichtung mit Sitz in Zürich, Lausanne und Ligornetto, ein Projekt in Angriff genommen, das den Aufbau einer nationalen Beratungsstelle für Künstlernachlässe zum Ziel hat. Finanziell unterstützt wird dieses Vorhaben von der Christoph Merian Stiftung sowie von weiteren Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen aus den Regionen Basel, Zug und Zürich. Laut Roger Fayet, dem Direktor von SIK-ISEA, will die Beratungsstelle «Mut machen, anleiten, unterstützen und gleichzeitig vor Illusionen bewahren». Zu diesen Angeboten gehören kostenlose Beratungsgespräche an den jeweiligen Standorten des Instituts, die Durchführung von regionalen Workshops zum Thema Künstlernachlässe und die Bereitstellung von Informationsmaterial in gedruckter und digitaler Form. So hat die Beratungsstelle im vergangenen Jahr einen handlichen und leicht verständlichen Ratgeber zum Umgang mit Künstlernachlässen publiziert, in dem Strategien der Bewertung und Vermittlung eines Nachlasses, Vorgehensweisen bei der Dokumentation und Konservierung von Kunstwerken, Grundlagen zum Umgang mit schriftlichen Nachlässen und wichtige Aspekte des schweizerischen Rechts behandelt werden. Eine dreisprachige Website bietet zudem weitere Informationen, Materialien und Kontaktadressen an. Wichtig ist auch der direkte Kontakt und Erfahrungsaustausch mit Kunstschaffenden, deren Angehörigen und Interessenvertretern sowie mit weiteren Experten aus dem Bereich der Kunstbewahrung und der Kunstvermittlung. Zusammen mit der Christoph Merian Stiftung, der Sophie und Karl Binding Stiftung, der Firma ARTexperts und dem Berufsverband visarte.schweiz veranstaltete deshalb die Beratungsstelle im September 2017 an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel einen zweitägigen Kongress zum Thema ‹Kunst erhalten? Herausforderungen und Chancen von Künstlernachlässen in der Schweiz›, der von insgesamt 290 Personen besucht wurde. Kernbestandteil der Beratung bildet jedoch das persönliche Gespräch. Mitarbeitende von SIK-ISEA versuchen im Dialog mit den Ratsuchenden, geeignete Lösungsansätze für die Selektion, die Aufbewahrung und die Vermittlung von künstlerischen Hinterlassenschaften aufzuzeigen und auch bestehende Vorstellungen zu relativieren. So ist die häufig vorherrschende Idee, dass mit der Gründung einer Stiftung ein künstlerisches Œuvre langfristig bewahrt werden könne, durchaus kritisch zu bewerten. Viele sind sich nicht darüber im Klaren, dass ein solches Unterfangen mit einem erheblichen finanziellen, organisatorischen und personellen Auf- Künstler Willy Oppliger in seinem Atelier im Dachstock der alten Gewerbeschule am Petersgraben. Aus ‹Basel und seine Atelierhäuser›, Basler Stadtbuch 1985 wand verbunden ist und noch lange keine Gewähr für die dauerhafte Wahrnehmung eines gesamten Nachlasses darstellt. Zielführender ist es in vielen Fällen, individuelle und geeignete Strategien zu entwickeln, um einzelne Werke oder Werkgruppen aus einem Nachlass an geeigneten Orten wie kleineren Museen oder öffentlichen Einrichtungen platzieren zu können, an denen sie professionell aufbewahrt und von einem breiten Publikum auch wahrgenommen werden. Im Fall der eingangs erwähnten, allerdings fiktiven Frau M. würde ihr die Beratungsstelle raten, zunächst ein Inventar der Gemälde, Zeichnungen und übrigen Hinterlassenschaften zu erstellen. In Zusammenarbeit mit einer Kunsthistorikerin oder einem Galeristen sollte sie den sogenannten Kernbestand der einhundert aussagekräftigsten und wichtigsten Werke und Skizzen definieren und diesen in einem klimatisch geeigneten Depotraum unterbringen. Von dieser Auswahl wird idealerweise ein Dossier mit Abbildungen und detaillierten Beschreibungen angelegt, das als Grundlage für den Aufbau einer Website oder gar einer Publikation über das künstlerische Schaffen des Verstorbenen dienen kann. Dieses Dossier ist auch hilfreich, um potenzielle Museen für eine Ausstellung oder die Übernahme einzelner Werke zu kontaktieren. Bei einer gemeinsam mit Freunden des Künstlers organisierten Verkaufsausstellung im ehemaligen Atelier könnten einige Werke neue Besitzer finden, andere Arbeiten, Arbeitsutensilien und einen Grossteil der Bibliothek könnte Frau M. einer Schule schenken; einzelne Dokumente würden wohl Eingang in das Kunstarchiv von SIK-ISEA finden. Von anderen Werken müsste sich Frau M. wohl definitiv trennen und sie beispielsweise en bloc einem Händler verkaufen. Dr. Matthias Oberli Projektleiter Schweizerische Beratungsstelle für Künstlernachlässe www.kuenstlernachlass-beratung.ch 13