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Der Wirtschaftsdoktor - Institut für Weltwirtschaft

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<strong>Der</strong> <strong>Wirtschaftsdoktor</strong> -<br />

Herbert Giersch als Ökonom<br />

Von Nikolaus Piper<br />

T<br />

ypisch<br />

Giersch. Statt einer ausführlichen Begrüßung gleich die Frage an den Journalisten: »Welches sind <strong>für</strong> Sie die<br />

beiden<br />

wichtigsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts?« <strong>Der</strong> Besucher zögert, ehe er die Antwort wagt: »Hayek und<br />

Keynes.«<br />

<strong>Der</strong> Professor blitzt sein Gegenüber kurz aus den Augenwinkeln an, lehnt sich zurück und wiegt nachdenklich<br />

den<br />

Kopf. Ja, so könne man das sehen. Friedrich A. von Hayek, der stehe <strong>für</strong> die Analyse des Wettbewerbs als<br />

Entdeckungsverfahren, die Rehabilitation der spontanen Ordnung. John Maynard Keynes dagegen, der sei die »Rückfallposition«<br />

<strong>für</strong> den unwahrscheinlichen, aber nicht unmöglichen Fall einer neuen großen Depression.<br />

Herbert Giersch führt durch Fragen. Da<strong>für</strong> war er früher, in seinen Seminaren in Saarbrücken und Kiel, ge<strong>für</strong>chtet, berichten<br />

seine Schüler. Will er sein Gegenüber kennen lernen? Will er provozieren? Oder möchte er selbst dazulernen, einen neuen, noch<br />

unfertigen Gedanken testen? Meistens, so sei hier vermutet, vermischen sich die Motive. Und weil der Gesprächspartner alles <strong>für</strong><br />

möglich hält, ist eine Begegnung mit Giersch immer mit Ungewissheit und Spannung verbunden.<br />

Mein erstes Gespräch mit Giersch mag ein wenig symptomatisch gewesen sein. <strong>Der</strong> Professor, Mitte der neunziger Jahre<br />

schon einige Zeit im Ruhestand und angesehen als Nestor der deutschen Wirtschaftswissenschaften, sollte <strong>für</strong> eine Serie in der<br />

Zeit porträtiert werden. »Aber ich kenne Sie doch gar nicht« war die erste, etwas harsche Reaktion am Telefon. Das Kennenlernen<br />

fand dann in einem Hamburger Hotel statt und verhinderte jedenfalls nicht, dass der Reporter ein paar Tage später den<br />

gewünschten Termin bekam.<br />

Die nächste Beobachtung betrifft die Sprache. Nur wenige Ökonomen können populär und politisch relevant über ihr Fach<br />

schreiben, ohne dabei flach zu werden. Giersch kann es. Mehr noch: Er ist ein Meister der Sprache und hat mit seinem besonderen<br />

Duktus stilbildend gewirkt, auch über den engeren Kreis seiner Schüler hinaus. Auf ihn trifft die altmodische Beschreibung zu, dass<br />

er die Worte »setzt«. Ein willkürlich gewähltes Beispiel mag dies zeigen, ein Ausschnitt aus der Dankesrede, die er 2000 in<br />

Heidenheim nach seiner Auszeichnung mit dem August-Lösch-Ehrenring gehalten hat:<br />

»Preise zu kennen und zu vergleichen - jetzt mit früher, hier mit dort - gehört <strong>für</strong> Ökonomen zum täglichen Geschäft. An<br />

Preisen ist nämlich abzulesen, was die Nutzer einem Gut an Wert beimessen, verglichen mit den Kosten, die ihrerseits bekunden,<br />

was die eingesetzten Mittel anderswo an Wert erzeugt hätten - in der besten alternativen Verwendung. <strong>Der</strong> Mehrwert heißt Gewinn<br />

und sagt, wie das Grünlicht der Verkehrsampel, weiter so. Bei Verlust schaltet die Ampel auf Rot. Das Evaluieren am Markt ist ein<br />

ständiges Plebiszit, im Kontrast zur Einmaligkeit des Jüngsten Gerichts. Richter sind nicht die Priester auf dem Podest einer<br />

elitären Moral, sondern die Kunden und Lieferanten, die Preise zu bezahlen oder zu kassieren haben.«<br />

Kann man einem gebildeten Laien besser erklären, um was es in der irtschaftswissenschaft geht? Es ist beileibe keine<br />

einfache Sprache. Aber wer sich auf den Text einlässt, fndet zum Beispiel eine wunderbare Defnition des Phänomens der<br />

Opportunitätskosten - und ein fast beiläufg formuliertes Glaubensbekenntnis des überzeugten Agnostikers Herbert Giersch.<br />

Jahrelang hatte er als Präsident des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> <strong>Weltwirtschaft</strong> in Kiel und auch danach in seinen Kolumnen <strong>für</strong> die<br />

Wirtschaftswoche wirtschaftspolitische Aufklärung betrieben. Das Setzen der Worte hatte durchaus politische Folgen: Giersch<br />

erfand im Laufe der Jahre die »konzertierte Aktion«, die »Eurosklerose« und die »Standortdebatte«.Aus der Sicht eines Redigierers<br />

oder Lektors ist der Ökonom übrigens alles andere als ein einfacher Autor. In den gesetzten Worten lässt sich nicht so<br />

herumkürzen, wie man das als ein mit knappem Platz kämpfender Redakteur gerne tun würde. Ganz abgesehen vom Tadel des<br />

Autors, den man zu gewärtigen hätte, würde auch das Wesentliche der Argumentation verloren gehen.


Und dann fndet der Besucher noch etwas anderes bei Herbert Giersch: Glück. Er bekennt, ein gesegneter Mensch zu sein,<br />

unbeschreibliches Glück in seinem Leben gehabt zu haben, beruflich wie privat. Und er strahlt etwas von diesem Glück sogar noch<br />

zu einem Zeitpunkt aus, da er weiß, dass seine Gesundheit gelitten hat. Optimismus ist Pflicht <strong>für</strong> Giersch: »Liberale sind<br />

Optimisten, Konservative haben Angst vor der Zukunft, Sozialisten wollen sie planen«, sagte er mir während unseres Gespräches<br />

vor über zehn Jahren im Kieler Turmzimmer. Er habe schon so viel Glück in seinem Leben gehabt, dass er in seinem<br />

Agnostizismus zweifelnd geworden sei. So als habe ihn der liebe Gott durch die Zeitläufte geführt. Ein wenig verhält sich Giersch<br />

gegenüber seinen unzähligen Schülern wie der alte Gregory Peck, der, als er 1989 den Ehren-Oscar <strong>für</strong> sein Lebenswerk bekam,<br />

seinem Publikum in Hollywood mit den Worten dankte: »You gave me a wonderful life.«<br />

Die Suche nach Glück, nach gelingendem Leben <strong>für</strong> möglichst viele Menschen, war eines der Motive hinter Gierschs Wirken<br />

als Ökonom, gerade weil dieses Glück <strong>für</strong> ihn alles andere als selbstverständlich war. Geboren am 11. Mai 1921 im schlesischen<br />

Reichenbach, war er gerade zehn Jahre alt, als die Darmstädter- und Nationalbank zusammenbrach - das Ereignis markierte den<br />

defnitiven ökonomischen Niedergang der Weimarer Republik. Schon im Jahr zuvor hatte die <strong>Weltwirtschaft</strong>skrise die Familie<br />

Giersch mit voller Wucht getroffen.<br />

Die Erinnerung daran begleitete ihn durch sein ganzes Leben. Seine erste Jugendliebe habe ihn die Rolle des Individuums in<br />

der Familie romantisch überhöhen lassen, schrieb er später: »Wir würden es selbstverständlich besser machen als unsere Eltern;<br />

und ich würde meine intellektuellen Muskeln entwickeln, um die Fehler meines Vaters zu vermeiden. Ich wollte lieber den Neid der<br />

Leute erregen als das Mitleid, das mir einige Leute unhöflicherweise in unseren schlechtesten Zeiten entgegengebracht hatten.«<br />

Die <strong>Weltwirtschaft</strong>skrise blieb der Bezugspunkt in Gierschs wissenschaftlicher Arbeit, immer wieder kam er darauf zurück, bis<br />

in die jüngste Zeit. Er habe intuitiv das Gefühl gehabt, es müsse so etwas wie einen »<strong>Wirtschaftsdoktor</strong>« geben, schrieb er später<br />

über seine Entscheidung, Nationalökonomie zu studieren. Doch nach der Schule kam zunächst der Arbeitsdienst - eine Tortur <strong>für</strong><br />

jeden denkenden Menschen. In seiner Beurteilung durch den zuständigen Führer stand: »Giersch arbeitet langsam«, was eindeutig<br />

als ein Kompliment <strong>für</strong> den jungen Mann zu werten ist.<br />

Es folgte das Studium der Nationalökonomie an den Universitäten Breslau und Kiel. Und vielleicht wendete hier zum ersten<br />

Mal eine unsichtbare Hand das Lebensschicksal Gierschs zum Positiven. Als Marinesoldat wurde er an der Kieler Förde damit<br />

beauftragt, den Funkkontakt zu Küstenbatterien zu sichern, und zwar in genau jenem Turmzimmer, in dem er nach 1989 sein<br />

Arbeitsleben in Kiel beschloss. <strong>Der</strong> Militärdienst war nicht sonderlich streng und ließ noch Zeit <strong>für</strong>s Studium. Daher konnte der<br />

junge Soldat 1942 seine Diplomarbeit bei Walther Hoffmann über Gustav Cassels Kaufkraftparitätentheorie abschließen. Geprägt<br />

hat ihn in Kiel vor allem August Lösch, der Raumwirtschaftler, der unmittelbar nach Kriegsende 1945 verstarb. Lösch war <strong>für</strong><br />

Giersch der legitime Erbe Johann Heinrich von Thünens. Denn auch auf Thünen, den großen deutschen Ökonomen des 19.<br />

Jahrhunderts, berief sich Giersch immer wieder und brachte dessen Gedanken in die Debatte um den Standort Deutschland ein.<br />

<strong>Der</strong> junge Ökonom


Zurück in Münster, bekam der junge Ökonom - wie sich herausstellte, auf Empfehlung von Leontief - das Angebot, als<br />

Referent im Sekretariat der Organisation <strong>für</strong> wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OEEC) zu arbeiten. Die OEEC,<br />

Vorgängerin der OECD mit Sitz in Paris, hatte ursprünglich die Aufgabe, die Marshall-Plan-Hilfe in Europa zu koordinieren, und<br />

sollte im Übrigen auf Drängen der Amerikaner die Wirtschaftsgrenzen auf dem Kontinent durchlässiger machen. Die OEEC lieferte<br />

Giersch eine ordentliche Praxiserfahrung, aber auch die Einsicht, wie langweilig Behörden sein können. Trotzdem ging er nach<br />

einem Zwischenspiel als Privatdozent in Münster 1953 nochmals als Abteilungsleiter in der Handels- und Finanzabteilung zur<br />

OEEC zurück.<br />

1955 kam der Ruf an die neu gegründete Universität des Saarlandes, und damit der Durchbruch zu einer Karriere als einer der<br />

einflussreichsten Ökonomen der Bundesrepublik. Dass dies so werden würde, war damals nicht abzusehen. Die Saarbrücker<br />

Universität, eine französische Gründung, geriet in die Auseinandersetzungen um das Saar-Statut. Die pro-deutschen<br />

Parteiensahen sie als Ausdruck des französischenKulturimperialismus und hätten sie am liebsten geschlossen. Trotzdem konnte<br />

sie sich nach der <strong>für</strong> Deutschland positiv ausgefallenen Saar-Abstimmung etablieren - auch dank Professoren wie Herbert Giersch.<br />

Egon Sohmen kam ebenso nach Saarbrücken wie Wolfgang Stützel und Elisabeth Liefmann-Keil. Giersch prägte das akademische<br />

Klima in Saarbrücken: streng, aber fair. »Selbst wenn Giersch einen in den Senkel stellte, hatte das ganze Seminar etwas davon«,<br />

berichtet ein Student aus der damaligen Zeit. Er holte Leute wie Sir Karl Popper zu Seminaren ins Saarland. Viele junge Leute aus<br />

den frühen Saarbrücker Jahren brachten es weit in der Bundesrepublik: Olaf Sievert, Lutz Hoffmann, Klaus Stegemann, Manfred<br />

Streit, Gerhard Fels, Juergen B. Donges, Wolfgang Kasper. Hans D. Barbier, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung und<br />

langjähriger Chef der Wirtschaftspolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erinnert sich: »Giersch öffnete uns die Augen <strong>für</strong><br />

den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. Wenn die Politik ein Thema verkorkst hatte und der Meister nahm es in die Hand und<br />

analysierte es unter dem Aspekt des Wettbewerbs, dann war plötzlich alles klar.« 1960 erschien Gierschs Lehrbuch Allgemeine<br />

Wirtschaftspolitik (Ein zweites Lehrbuch folgte 1977 unter dem Titel Konjunktur- und Wachstumspolitik).<br />

In Saarbrücken konnte Giersch sein Talent in der Vermittlung von Ökonomie entwickeln, trotzdem zögerte er lange, als ihm<br />

1963 die Mitgliedschaft im neuen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt- wirtschaftlichen Lage angeboten wurde,<br />

unter anderem deshalb, weil ihm die Praxis zuwider war, dass je einer der »fünf Weisen« von den Gewerkschaften und den<br />

Arbeitgebern benannt wurden. Das konnte nicht gut gehen, glaubte der auf seine Unabhängigkeit pochende Professor. Auch<br />

Erich Schneider, der damalige Präsident des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> <strong>Weltwirtschaft</strong>, warnte, dass das Vorhaben ein Fehlschlag werden<br />

müsse. Trotzdem entschied Giersch sich letztlich da<strong>für</strong>. Das erste Jahresgutachten 1964/65 - im Stab des Rates saßen auch<br />

Sievert und Fels - sprach sich dezidiert <strong>für</strong> die Einführung flexibler Wechselkurse als Mittel gegen die steigende Inflation aus, die<br />

der Bundesregierung und vielen Ökonomen zunehmend Sorge bereitete. Die Empfehlung entsprang im Übrigen Saarbrücker<br />

Disputen: Es war Sohmen, der Giersch in vielen Gesprächen erst von Als der Krieg vorbei war, kam Giersch in britische<br />

Kriegsgefangenschaft - auch dies ein Glücksfall. Es gab viel zu lesen im Gefangenenlager: Wilhelm Röpkes Gesellschaftskrisis der<br />

Gegenwart, Adam Smiths Wohlstand der Nationen und die Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes von<br />

Keynes. All dies wurde Rüstzeug <strong>für</strong> ein Leben als einflussreicher akademischer Lehrer. Außerdem traf Giersch dort einen<br />

britischen Geheimdienstoffzier namens Philipp Rosenthal. <strong>Der</strong> Emigrant, der später als Unternehmer und Wirtschaftspolitiker in<br />

Deutschland bekannt werden sollte, sorgte da<strong>für</strong>, dass der junge Soldat 1946 schnell aus der Gefangenschaft entlassen wurde und<br />

seine akademische Karriere in der Heimat beginnen konnte. Die Zigaretten, die Giersch aus England mitbrachte, sicherten seinen<br />

Eltern, die als Heimatvertriebene inzwischen in Schleswig-Holstein gelandet waren, das Überleben.


Im Gespräch mit Ludwig Erhard<br />

Giersch wurde Assistent bei Walther Hoffmann in Münster. Was seine Dissertation über die Frage des deutschen<br />

Lastenausgleichs betrifft, meinte der Autor in einem autobiografschen Essay, sie habe leider die Diskussion in Deutschland nicht<br />

sonderlich beeinflusst, die Gespräche über das Thema mit seiner Kommilitonin Friederike Koppelmann hätten da<strong>für</strong> in eine lange<br />

und äußerst glückliche Ehe gemündet.<br />

Die Liste der Gelehrten, denen Giersch in den Nachkriegsjahren begegnete, lässt bei einem Jüngeren Neid aufkommen: Joan<br />

Robinson und Jan Tinbergen lasen in Münster; von beiden war der junge Ökonom enttäuscht: Robinson entpuppte sich als<br />

Vulgärkeynesianerin, Tinbergen redete über Dollar-Knappheit, ohne den Wechselkurs überhaupt nur zu erwähnen. »Meine<br />

Ausbildung war sicher nicht die beste, aber keiner meiner Lehrer hätte die relativen Preise ignoriert«, merkte Giersch dazu spitz an.<br />

In Salzburg hörte er Wassily Leontief, bei ihm überraschte die Beobachtung, dass er trotzInput-Output-Analyse ein Gleichgewichts-<br />

Ökonom war. Dann kam das Angebot, <strong>für</strong> ein akademisches Jahr an die London School of Economics zu gehen - eine einmalige<br />

Chance <strong>für</strong> einen jungen Deutschen1948.<br />

In London beeindruckten ihn Hayek, Lionel Robbins, James Meade und William Baumol. Gottfried Haberler und Friedrich A. Lutz<br />

aus den Vereinigten Staaten besuchten die LSE. Unter den jüngeren Lehrkräften ist Alan Peacock zu erwähnen, mit dem Giersch<br />

eine lebenslange Freundschaft verband. Er nahm an Meades Seminar teil, und was er über diesen schrieb, enthält viel<br />

Programmatisches: »<strong>Der</strong> Meister zeigte uns, wie strenges Denken sich paaren (kann) mit Menschlichkeit und Fairness.« Viele<br />

unter Gierschs Studenten werden sagen: Genau das haben wir von ihm gelernt.<br />

dem Konzept überzeugte. Das Echo auf das Gutachten war verheerend: Das gesamte Establishment in Politik, Wissenschaft und<br />

Medien fel über den Rat her - mit der bemerkenswerten Ausnahme des damaligen SPD-Wirtschaftsexperten Karl Schiller. Ludwig<br />

Erhard, Bundeskanzler und Erfnder des Rates, merkte unwillig an: Die Öffentlichkeit habe Brot von den Weisen erwartet,<br />

stattdessen hätten sie Steine geliefert.<br />

Damit stand Giersch plötzlich in der Mitte der politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik. Im zweiten<br />

Jahresgutachten plädierten die fünf Weisen <strong>für</strong> ein Programm der »Stabilisierung ohne Stagnation«, was im Kern auf eine Art<br />

keynesianische Einkommenspolitik hinauslief: Die »Inflationskomponente« in den nominellen Aggregaten und Preisen - Zinsen,<br />

Staatsausgaben, Löhne - sollte konzertiert um einen bestimmten Prozentsatz gesenkt werden. Gierschs Begründung zeigt<br />

besonders schön, wie sich bei ihm Markt und Makroökonomie, Hayek und Keynes begegneten: Man solle sich so verhalten, »dass<br />

die relativen Preise im Zuge der Inflationsbekämpfung einigermaßen konstant bleiben.« <strong>Der</strong> Ökonom versuchte bei einem<br />

Gespräch in Saarbrücken vergeblich, Erhard von dem Konzept zu überzeugen. <strong>Der</strong> Kanzler setzte auf eine klassische<br />

Stabilisierungskrise mit höheren Zinsen und nicht ausgelasteten Kapazitäten. 1966 kam es in der Folge zur ersten echten<br />

Rezession der Bundesrepublik, und Erhard verlor die Kanzlerschaft, die große Koalition trat an.


Mit Erich Schneider, dem Vorgänger als Präsident des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> <strong>Weltwirtschaft</strong> (Mitte), und Hans Möller,Professor an der Universität<br />

München (rechts)<br />

Es folgte eine wunderbare Zeit <strong>für</strong> Ökonomen. Die Wirtschaft stand im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussionen. Schiller als<br />

Wirtschafts- und Franz Josef Strauß als Finanzminister organisierten die Stabilisierungspolitik mit großem Erfolg und noch größerer<br />

Medienbegleitung. Im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von1967 fand sich Gierschs konzertierte Aktion wieder, mit Hilfe derer die<br />

wichtigsten Akteure der Volkswirtschaft ihre Handlungen koordinieren sollten. Ungeklärt blieb die außenwirtschaftliche Flanke der<br />

Stabilisierung. Giersch organisierte einen Professoren-Appell <strong>für</strong> die Freigabe des D-Mark-Wechselkurses, die so genannte »Mai-<br />

Revolte.« Die Gegenposition vertraten Strauß und Hermann Josef von der Deutschen Bank.Die Aufwertung der Mark wurde zum<br />

Hauptthema des Wahlkampfes 1969, aus dem Schiller und die SPD als Sieger hervorgingen.<br />

Es war in diesem spannenden Jahr 1969, als Schneider fragte, ob Giersch sich nicht <strong>für</strong> seine Nachfolge an der Spitze des<br />

<strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> <strong>Weltwirtschaft</strong> bewerben und nach Kiel zurückkehren wolle. Die Entscheidung, den Ruf zu akzeptieren, habe er nie<br />

bereut, schrieb Giersch später. Bezeichnend, wie er in seiner Antrittsrede sein Programm <strong>für</strong> Kiel formulierte:<br />

»Sehen wir im <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Weltwirtschaft</strong> eine Forschungsstätte, die durch Wissen Vorauswissen zu produzieren versucht, um<br />

dem Handelsund Wirtschaftsverkehr zwischen allen Ländern die Bahn frei zu machen. Damit dienen wir der Integration der Völker<br />

und dem wirtschaftlichen Fortschritt und durch Arbeit auf unserem engsten Fachgebiet dem Frieden in der Welt.«<br />

In Kiel spürte Giersch, wie sich das politische Klima in der Bundesrepublik polarisierte. Die Botschaften des Ökonomen<br />

erwiesen sich als zunehmend unpopulär; die Öffentlichkeit akzeptierte zwar die keynesianische Hälfte von Gierschs Botschaft - und<br />

missverstand sie oft gründlich. Die Sache mit den relativen Preisen, der Hayek'sche Teil also, stieß auf Unverständnis und Abwehr.<br />

Dabei war dieser Teil in den siebziger Jahren entscheidend, da die Wechselkurse nun frei waren und die Bundesbank eine größere<br />

Kontrolle über die Geldmenge erlangte. Es gab keine Geldillusion mehr, die kollektiven Tarifverträge waren zwar nicht mehr <strong>für</strong> die<br />

Inflation, umso mehr aber <strong>für</strong> die Nachfrage nach Arbeit, also den Beschäftigungsstand, verantwortlich. Giersch schrieb später:<br />

»Meine Beziehungen zu den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten verschlechterten sich in dem Augenblick, als ich anfng,<br />

von der ›Reprivatisierung des Beschäftigungsrisikos‹ zu reden, einem Wort, das zum Ausdruck bringen sollte, es sei nicht mehr die<br />

Regierung, die <strong>für</strong> das Beschäftigungsrisiko verantwortlich gemacht werden konnte, sondern das System der Tariflöhne.«<br />

Allerdings trage die Regierung stattdessen die volle Verantwortung <strong>für</strong> den Zuwachs des gesamtwirtschaftlichen Angebots, da sie<br />

ja Höhe und Struktur der Steuern festlege und in weiten Bereichen auch die Bedingungen des Marktzugangs <strong>für</strong> neue<br />

Unternehmen beeinflusse. Heute wird diese Kieler Formel - die Notenbank ist <strong>für</strong> den Geldwert zuständig, die Tarifparteien <strong>für</strong> die<br />

Beschäftigung und die Regierung <strong>für</strong> die Angebotsbedingungen - von der Mehrheit der Zunft nicht mehr bestritten.


Mit Karl Schiller<br />

Mit Helmut Schmidt, damals Wirtschafts- und Finanzminister, geriet Giersch 1972 in Streit, weil dieser ein öffentlich fnanziertes<br />

Gutachten über die deutsche Industriestruktur unter Verschluss hielt. Das Gutachten plädierte <strong>für</strong> einen schnellen Strukturwandel,<br />

und der Vorsitzende der Gewerkschaft Textil-Bekleidung intervenierte, weil er um die Sicherheit der Arbeitsplätze <strong>für</strong>chtete,<br />

genauer: Er scheute die Wahrheit über die Unsicherheit dieser Arbeitsplätze.<br />

Das wurde Gierschs Thema in Kiel: Wie verändert sich das Angebot, wie beeinflusst der Staat die Angebotsseite der<br />

Wirtschaft? Nicht mehr Nachfrage und Keynes bestimmen den Ton, sondern das Angebot, die relativen Preise, die<br />

Schumpeter'schen Unternehmer, die permanent »neue Kombinationen« durchsetzen. Die Mitte des 20. Jahrhunderts sei Keynes'<br />

Zeit gewesen, sagte Giersch einmal, das letzte Viertel gehöre Joseph Schumpeter. Wo die Schumpeter'schen Unternehmer<br />

behindert werden, wo die Regierungen in die relativen Preise eingreifen, da entsteht Arbeitslosigkeit, und Wohlstand wird verzehrt.<br />

Giersch nennt es »Eurosklerose«: die verkrusteten Strukturen in Europa, die den Wandel, das Entstehen neuer<br />

Kombinationen verhindert haben. Es könne als sicher gelten, so schrieb Giersch einmal dazu in der Wirtschaftswoche, »dass die<br />

hartnäckige Arbeitslosigkeit in den Industrieländern zweifach bedingt ist: Zum einen durch Wettbewerbserfolge der Neu-<br />

Industrialisierungsländer, die <strong>für</strong> unsere Wirtschaft in bestimmten Bereichen die Marktbedingungen (terms of trade) verschlechtern,<br />

und zum anderen durch Starrheiten und Trägheiten, die hier in der Alten Welt die Anpassung auf den Arbeitsmärkten und das<br />

Angebot an neuen Arbeitsplätzen beeinträchtigen.«<br />

Wichtiger noch wurde die Standortdebatte, die, angestoßen in Kiel, in den achtziger Jahren begann, aber erst in den<br />

neunziger Jahren - nach der Euphorie um die deutsche Einheit-erste politische Konsequenzen zeitigte. In der Konzeption des<br />

Wirtschaftsstandorts vereinigte sich bei Giersch das Erbe von Hayek, Schumpeter, Thünen und Lösch. Es stehen Standorte im<br />

Wettbewerb, nicht unbedingt Nationen, die Arbeitsteilung entwickelt sich in Abhängigkeit von Raum und Zeit.<br />

Giersch fasst die Aspekte auf die ihm eigene brillante Art zusammen: Ohne Innovationen wären die Kapitalrentabilität und der<br />

Zins nahe null. Erst neues Wissen schaffe einen positiven Realzins. Und da neues Wissen aus der »Arbeitsteilung der Köpfe«<br />

entstehe, dürfe man folgern, »dass die Vermehrung dieser Köpfe im Verbund der westlichen Zivilisation den Zins nach oben treibt,<br />

gedämpft natürlich durch die Zukunftsvorsorge derer, die durch ihre Zukunftsvorsorge als Sparer zur Kapitalbildung beitragen. In<br />

diesem Sinne ist der Zins der Preis <strong>für</strong> die Zeit und ein hoher Zins ein Zeichen da<strong>für</strong>, wie knapp und wertvoll im Wettlauf von<br />

Wissensproduktion und Kapitalbildung die Zeit ist.«<br />

Das wäre Gierschs Antwort auf die heute so oft gestellte Frage, warum die Renditeerwartung der Kapitalmärkte in Zeiten der<br />

Globalisierung so groß ist. Im Übrigen entwickele sich die »Arbeitsteilung der Köpfe« dort besonders gut, wo die Transport- und<br />

Kommunikationskosten sehr niedrig sind. Bei Thünen heißt dieser Standort »Stadt«, Giersch erweitert und verallgemeinert<br />

Thünens Stadt zum Standort.


Mit Gerhard Stoltenberg (links) und Tyll Necker (rechts)<br />

Nach der deutschen Einheit wurde die Frage nach dem richtigen Verständnis des Standorts besonders brisant.<br />

Gewerkschaften, Politiker und auch Arbeitgeberverbände versuchten, möglichst schnell einheitliche Le- bensverhältnisse in Ost<br />

und West herzustellen, unter anderem durch extreme Lohnerhöhungen in den neuen Bundesländern. Das Ergebnis ist bekannt.<br />

Giersch prägte <strong>für</strong> die einheitstrunkenen Politiker und Funktionäre den schönen Begriff von den »Populisten der Einheit des<br />

Raumes«.<br />

Überhaupt die Nation. Giersch lehrte, über die Grenzen hinauszudenken. Für ihn war immer die <strong>Weltwirtschaft</strong> der relevante<br />

Markt, Grenzen interessierten den überzeugten Liberalen nie. Schon das erste Jahresgutachten des Sachverständigenrates war<br />

elementar weltwirtschaftlich angelegt. Giersch lebte das Überwinden der Grenzen auch persönlich aus. Unzählige seiner Freunde<br />

wohnen in England und auf der anderen Seite des Atlantiks. In den fünfziger Jahren fand er sich umgekehrt jenseits der Grenzen<br />

schnell auch in der Rolle eines Repräsentanten des anderen, besseren Deutschlands.<br />

Giersch strukturierte das Kieler <strong>Institut</strong> nach seinenVorstellungen um. Es bekam eine Struktur- und eine<br />

Entwicklungsländerabteilung, außerdem den Sonderforschungsbereich »<strong>Weltwirtschaft</strong> und internationale<br />

Wirtschaftsbeziehungen«; die Konjunkturforschung wurde verstärkt, Kiel nahm uneingeschränkt an der Gemeinschaftsdiagnose der<br />

deutschen Forschungsinstitute teil. Gerhard Fels, der damals eng mit ihm zusammenarbeitete, schrieb, Giersch habe das <strong>Institut</strong><br />

de facto in proft centers aufgeteilt. »<strong>Der</strong> Präsident brauchte nie seine Amtsautorität einzusetzen. Er führte es, indem er seine<br />

klassisch-liberale Vision von Wirtschaft und Gesellschaft vermittelte. Er hat andere gefordert und kritisiert, sich selbst aber auch<br />

immer kritisieren lassen.« Wobei Letzteres, so berichten andere, seitens der Kritiker durchaus einen gewissen Grad an Zeit, Mut<br />

und Beharrlichkeit erforderte. Aber letztlich sei der Meister eben dann doch, wiewohl widerstrebend, <strong>für</strong> das bessere Argument zu<br />

haben gewesen.<br />

Unzählige Studentenhat Giersch in seiner Kieler Zeit geprägt;die meisten wurden überzeugte Marktwirtschaftler. Einer von<br />

ihnen, Karl-Heinz Pacqué, Finanzminister von Sachsen-Anhalt, hörte im Sommersemester 1978 seine erste Vorlesung bei Giersch.<br />

Ihn faszinierte der wissenschaftliche Ernst, mit dem in Kiel gelehrt und geforscht wurde - in einer Zeit, als anderswo die große<br />

Verbrüderung von Lernenden und Lehrenden grassierte. Gierschs Seminar, im 14-tägigen Rhythmus, begann um 16.15 Uhr, hatte<br />

kein festgesetztes Ende und dauerte mindestens drei Stunden. Bemerkenswert auch die Eröffnungsbemerkung des Professors:<br />

»Fragen Sie präzise. Hier gibt es kein trading of ignorance.« Die Kieler Disziplin sei Labsal <strong>für</strong> ihn gewesen, sagt Pacqué heute.<br />

Vor allem eines habe er in Kiel gelernt: nicht in vorhandenen Strukturen zu denken. »Wenn man mit dem Auto an den Baum fährt,<br />

muss man auch fragen, warum der Baum gerade dort gestanden ist.«


Mit Helmut Kohl<br />

Nach seiner Emeritierung 1989 war Giersch nicht untätig, er mischte sich ins öffentliche Leben der Bundesrepublik ein, als<br />

Publizist und Berater. Die deutsche Einheit forderte immer wieder den Rückbezug auf Hayek und Thünen, der Prozess der<br />

europäischen Einigung stachelte den Kritiker sklerotischer Strukturen an. Immer wieder fragte er, ob denn der EU etwas Besseres<br />

passieren könne, als eine Freihandelszone ohne allzu viel politischen Überbau zu werden. Den Euro sah er äußerst skeptisch und<br />

überlegte sich, ob man nicht besser eine Gemeinschaftswährung parallel zu den bestehenden nationalen einführen könne, auf<br />

dass das bessere Geld sich durchsetze. Oder könnte nicht der Wohlfahrtsstaat durch den »Wettbewerb sozialer Netze« abgelöst<br />

werden?<br />

Immer wieder befasst sich Giersch mit dem Beruf des Ökonomen selbst. Die Lehre von der Wirtschaft sei ein »öffentliches<br />

Gut, dessen potenzielle Nachfrage noch lange nicht befriedigt ist«, schrieb er in seinem Essay »Economics as a Public Good«. Die<br />

Formulierung überrascht, denn natürlich kann der Ertrag wirtschaftswissenschaftlicher Forschung, wie bei anderen normalen<br />

Gütern, durchaus auch privat genutzt werden, wie viele wohlhabende Meister des Faches belegen. Was Giersch damit meint,<br />

machte er an anderer Stelle deutlich: Für ihn sei der Volkswirt ein »Anwalt des öffentlichen Interesses im Blick auf die<br />

gesamtwirtschaftliche Leistungskraft«.Auch hier verliert er nie den Bezug zum Trauma der <strong>Weltwirtschaft</strong>skrise. Auch der<br />

»<strong>Wirtschaftsdoktor</strong>«, den er sich als junger Mann herbeisehnte, hätte ja eines besonderen, über den privaten Nutzen<br />

hinausweisenden Ethos bedurft.<br />

Auch sonst interessiert ihn das erweiterte gegenüber dem eng definierten Eigeninteresse. Er ist offen <strong>für</strong> Gedanken des<br />

Kommunitarismus und prägt den Begriff der »Koopkurrenz« als Übertragung des englischen Wortes »Coopetition«. Die Defnition ist<br />

ein klassischer Giersch: »Zwischen der freiwilligen Kooperation auf der einen und dem anonymen Wettbewerb auf der anderen<br />

Seite ist Raum <strong>für</strong> die Interaktion derer, die sich kennen.«<br />

Das betreffe den Privathaushalt, den Club, die Kommune, aber auch die Allianz mehrerer Unternehmen: »Die Kooperation ist<br />

akzeptabel, wenn sie durch die offene Konkurrenz kontrolliert wird, und die Konkurrenz darf durch Kooperationen ergänzt werden,<br />

wenn diese einen Fortschritt in der offenen Zukunft versprechen. Beides gestattet es, staatlichen Zwang einzusparen.«<br />

Auch über die keynesianische Rückfallposition macht sich Giersch in den neunziger Jahren wieder Gedanken. Könnte es nicht<br />

sein, dass man heute, da die Inflation besiegt ist, sich wieder stärker mit dem Risiko der Deflation auseinander setzen muss? Und<br />

damit auch mit dem Instrumentarium, das Keynes in der <strong>Weltwirtschaft</strong>skrise entwickelt hat? Er denkt darüber nach, aber zögert,<br />

das Argument in der Öffentlichkeit zu vertiefen - in der vermutlich berechtigten Annahme, dass diese Öffentlichkeit daraus die<br />

falschen, vulgärkeynesianischen Schlüsse ziehen könnte. Zu Beginn des neuen Jahrtausends erscheint ein weiterer Band mit<br />

Essays aus der Feder von Herbert Giersch unter der Überschrift: Abschied von der Nationalökonomie. Die Globalisierung bedeute<br />

auch den »Tod des Nationalen in der Ökonomie«, schreibt er darin. Und seine Schlussfolgerung: »Ein Abschied von der<br />

Nationalökonomie als Zweig der Wirtschaftswissenschaft ist an der Zeit, ja überfällig, aber er sollte sich in Würde vollziehen und<br />

von Innovationen begleitet sein.«<br />

In dem Essay führt Giersch einen Gedanken weiter, der ihn schon lange beschäftigt: Eigentlich ist es falsch, vom


»Nationalökonomen« oder dem »Volkswirt« zu sprechen. Natürlich gibt es keine geschlossenen Volkswirtschaften, das wissen alle;<br />

aber Giersch geht noch weiter: In Übereinstimmung mit seinem Lehrer August Lösch kritisiert er, dass die klassische<br />

Außenhandelstheorie Nationen wie Punkte behandle. Die Transportkosten innerhalb der Nationen würden ignoriert. Auch die<br />

Theorie der komparativen Kostenvorteile passe eigentlich nur auf Individuen, nicht auf Nationen. Ihm sei es jedenfalls noch nie<br />

gelungen, eine soziale Indifferenzkurve zu beschreiben. Was die Theorie des Außenhandels aber kann, ist, das Prinzip der<br />

Arbeitsteilung als solches zu erklären. Und daher könnte sie hinüberführen in eine »Lehre von der Selbstorganisation der<br />

produktiven Kräfte im Markt«. Die Finanzwissenschaft würde dann der Betriebswirtschaftslehre zugeordnet. Und jemand, der diese<br />

neu defnierte Lehre zu seinem Beruf macht, wäre ein »Marktwirt«.<br />

Auch hier der Bezug zu Hayek. <strong>Der</strong> kritisierte, dass Ökonomie sich eigentlich auf die Bewirtschaft von etwas Geschlossenem<br />

bezieht, ursprünglich des oikos, der antiken Gutswirtschaft. Aber die Analogie zur geschlossenen Wirtschaft, das Determinierte,<br />

Geplante, war ja gerade das, was Hayek ablehnte. Für die Lehre vom Funktionieren offener Gebilde, die spontane Ordnung schlug<br />

Hayek den Begriff »Katallaxie« vor. Bis jetzt allerdings konnten sich weder Hayeks »Katallaxie« noch Gierschs »Marktwirt«<br />

durchsetzen. Doch wer durch Gierschs Schule gegangen ist, der weiß, was gemeint ist. Er sagt vielleicht »Volkswirt«, meint aber<br />

gewiss »Marktwirt«.<br />

Nebenbei stört Giersch an dem »Volkswirt« auch das Wort »Volk«. Es erinnert ihn an Volksgemeinschaft, Volksgerichtshof<br />

und Volkssturm. Sinnvoll sei es dagegen schon, die alte DDR eine Volkswirtschaft zu nennen - mit ihrer Volkskammer, der<br />

Volkspolizei und noch mehr »Volksgebundenem«. Aber sonst? Eher könnte man von einer »Völkerwirtschaft« reden. Immer wieder<br />

kommt er auf den Satz Alfred Marshalls zurück, wonach man nicht gleichzeitig ein guter Ökonom sein und einen Ruf als guter<br />

Patriot haben könne.<br />

Und dann kommt die normative Seite dazu: <strong>Der</strong> »<strong>Wirtschaftsdoktor</strong>« hat <strong>für</strong> ihn eine bestimmte ethische Verpflichtung<br />

gegenüber der Allgemeinheit, so wie es der Arzt im medizinischen Sinne auch hat. Giersch nahm das sehr ernst. Er gründete in<br />

den neunziger Jahren seine eigene Stiftung, dem Ziel verpflichtet, jungen Ökonomen den Weg aus dem Elfenbeinturm der<br />

einfachen Modelle in die reale Welt der Wirtschaftspolitik zu weisen. »Es geht mir darum, dass relevante Ökonomie betrieben<br />

wird«, sagte Giersch einmal über den Zweck des Ganzen. Seither veranstaltet die Giersch-Stiftung regelmäßig Symposien und<br />

Seminare zu relevanten Fragen der Wirtschaftspolitik <strong>für</strong> hoffnungsvolle Jungakademiker. Sie begegnen dort Lehrenden, die zu<br />

den Besten des Faches gehören, viele davon Freunde von Herbert Giersch: Robert Solow, Otmar Issing, Roland Vaubel, Manfred<br />

E. Neumann, Peacock und vielen mehr. Die Richtung und den Geist prägt aber der Meister, wie früher in den Seminaren in<br />

Saarbrücken und Kiel. Er führt durch Fragen, und aus den Fragen ergibt sich »intellektuelle Wegzehrung«, wie ein Teilnehmer<br />

einmal sagte.<br />

Als Antrieb hinter der Giersch-Stiftung mag gelten, was der Stifter einmal in anderem Zusammenhang sagte:<br />

»Doch ist eine wissenschaftliche Disziplin - genauso wie die Wirtschaft eines Landes - alles andere als ein zentralgeleitetes<br />

Gebilde, das mit einer Stimme sprechen, wie eine Person handeln könnte. Mithin ist jeder als Ein- zelpersönlichkeit gefordert, ganz<br />

im Sinne des methodologischen Individualismus, der uns dem holistischen Begriff derVolkswirtschaftslehre entfremdet hat. Und es<br />

hat - nach meinem Da<strong>für</strong>halten - jeder, der kompetent in Freiheit lehren und forschen kann, eine Bringschuld als Teil seiner<br />

persönlichen Verantwortung, die sich aus der Wissenschaftsfreiheit ergibt.«<br />

Er habe relativ wenig »patentierbares Wissen« hinterlassen, sagte Herbert Giersch einmal. Aber er habe ja erlebt, »dass es<br />

sich auszahlt, Wissen weiterzugeben«.<br />

Gibt es eine schönere Bilanz <strong>für</strong> einen Wissenschaftler?

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