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السياسة والمجتمع -عادة جديدة Politik und Gesellschaft - Typisch neu<br />
9<br />
TYPISCH<br />
TEXT DENNIS LANGER<br />
FOTOS SANDRA TREISBACH, KOLJA MARTENS<br />
GRAFIKEN SANDRA TREISBACH, RANIA SHAMAA<br />
Eine rechtspopulistische Partei im Bundestag, Aufmärsche gegen die Islamisierung des Abendlandes und<br />
eine generelle Ablehnung von Schutzsuchenden aus Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt: In Deutschland<br />
herrscht eine allgemeine Angst vor dem Fremden, dem Neuen.<br />
Dabei war es doch nicht immer so und dabei ist es<br />
doch eigentlich typisch deutsch – zumindest seit der<br />
zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts – weltoffen,<br />
tolerant und innovativ zu sein. Oder etwa nicht? Cottbus,<br />
19. Januar 2018: Nach wochenlangen Tumulten zwischen<br />
Deutschen und Geflüchteten verkündet das Land<br />
Brandenburg, dass der Stadt keine weiteren Flüchtlinge<br />
mehr zugeteilt werden. Beschämend, wenn man<br />
in Betracht zieht, dass der Ausländeranteil der Stadt<br />
Cottbus mit 8,5 Prozent immer noch weit hinter dem Bundesdurchschnitt<br />
liegt. Oder doch nachvollziehbar, wenn<br />
man diese Zahl mit den 2,4 Prozent aus dem Jahr 2014<br />
vergleicht?<br />
Auf Bundesebene verrät ein Blick auf die vom Bundesamt<br />
für Migration und Flüchtlinge veröffentlichten<br />
Zahlen, dass seit 2015 rund 1,35 Millionen Menschen<br />
in Deutschland Schutz gesucht haben. „1.350.000! Das<br />
sind ja mehr Menschen als das Saarland Einwohner<br />
hat“, wird manch einer nun bestürzt feststellen. Das<br />
Saarland, seit jeher Platzhalter für hanebüchene Vergleiche,<br />
ist jedoch erstens nicht besonders dicht besiedelt<br />
und besitzt zweitens seine ganz eigene Migrationsgeschichte.<br />
Und genau bei solchen Vergleichen werden die<br />
Mythen und Lücken der deutschen Erinnerungskultur<br />
deutlich. Denn die 1,35 Millionen sind immer noch weniger<br />
als die 14 Millionen zum Wiederaufbau abgeworbenen,<br />
meist türkischen, italienischen und jugoslawischen<br />
Gastarbeiter*Innen (von denen drei Millionen über ihre<br />
Gastarbeit hinaus eine neue Heimat in Deutschland gefunden<br />
haben). 1,35 Millionen sind Immer noch weniger<br />
als die drei Millionen Um- und Spätaussiedler (sogenannte<br />
Russlanddeutsche), die nach dem Zerfall der<br />
Sowjetunion nach Deutschland kamen. 1,35 Millionen sind<br />
zwar mehr als die 350.000 Kriegsflüchtlinge, die während<br />
des Jugoslawienkriegs hier Zuflucht suchten, aber immer<br />
noch deutlich weniger als die 12 Millionen Vertriebenen,<br />
die nach dem zweiten Weltkrieg in ihre neue alte Heimat<br />
kamen. Aber die waren ja sowieso deutsch, oder?!<br />
Weit gefehlt. Denn so sehr Deutschland ein Einwanderungsland<br />
ist, so oft ist die erste Reaktion auf Migration<br />
schon immer Panik gewesen. So wurden die deutschen<br />
Rückkehrer, samt ihrer fremden Dialekte, nach<br />
dem zweiten Weltkrieg von den „Deutschen“, in deren<br />
Trümmerwohnungen sie einquartiert wurden, mit<br />
Argwohn und Ablehnung aufgenommen.<br />
Nicht besser erging es den zahlreichen Gastarbeitern,<br />
die nach ihnen kamen und als „Kümmeltürken“ oder<br />
„Spaghettifresser“ beschimpft wurden (und das, obwohl<br />
sie Deutschland sowohl wirtschaftlich, als auch<br />
kulinarisch zu nie dagewesenem Aufschwung verhalfen).<br />
In Lichtenhagen und Hoyerswerda hieß man die<br />
schutzsuchenden, zuvor aus Kriegsregionen geflohenen,<br />
Neuankömmlinge in einer „heißen Nacht“ gar mit<br />
Molotowcocktails willkommen – immerhin gelten beide<br />
Orte heutzutage für viele als Synonym für Schande.<br />
Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion<br />
wurde nachgesagt, dass sie zur Gewalttätigkeit neigen,<br />
kriminell sind und sich erst gar nicht in die deutsche<br />
Gesellschaft integrieren wollen. Mittlerweile gelten<br />
sie als begeisterte Unterstützer der AfD, zudem<br />
haben wir ihnen Helene Fischer zu verdanken.<br />
Zweites mag man gut finden oder auch nicht, jedoch<br />
stellt sich unter Einbeziehung der hier ausgeführten<br />
Einwanderungsgeschichte der letzten 70 Jahre<br />
unweigerlich die Frage, was (und wer) eigentlich<br />
typisch deutsch ist? Diese Frage ist alles andere als<br />
leicht zu beantworten, sollte man es trotzdem versuchen,<br />
muss man aufpassen, nicht in Anatolien „entsorgt“<br />
zu werden. Dies war zumindest der Vorschlag <strong>Al</strong>exander<br />
Gaulands in Hinblick auf die von der deutschen<br />
Integrationsbeauftragten Aydan Özuguz getätigte<br />
Aussage, dass eine „eine spezifisch deutsche Kultur<br />
jenseits der Sprache nicht identifizierbar ist“.<br />
Eine Aussage, die einen typisch deutschen Patrioten<br />
verständlicherweise schnell auf die Palme bringen<br />
<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18