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Politik und Gesellschaft - Die digitale Unverbindlichkeit<br />
DIE<br />
السياسة والمجتمع - أدوالتشفي تحكم<br />
السياسة والمجتمع - أدوالتشفي تحكم Politik und Gesellschaft - Die digitale Unverbindlichkeit<br />
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KOMMENTAR LUCAS MACHWITZ<br />
GRAFIK SANRA TREISBACH, LUCAS MACHWITZ<br />
DIGITALE<br />
Unverbindlichkeit<br />
Jede Entscheidung ist ein Massenmord an Möglichkeiten. In Zeiten, in denen alles immer und überall<br />
verfügbar ist, ist JA nicht mehr die Antwort, die wir geben wollen.<br />
Wir können alles haben und deshalb lassen<br />
wir uns auch bis zum Schluss alles offen. Wir<br />
wühlen uns durch 20 Tindermatches, weil der<br />
nächste Partner vielleicht noch besser sein kann, als<br />
der vorherige und der übernächste dann wirklich der<br />
ist, der den eigenen Erwartungen genügt. Netflix produziert<br />
so viel, dass aus Serienschauen Arbeit wird. Auf<br />
Facebook erhalten wir täglich fünf Veranstaltungseinladungen,<br />
wir sagen überall zu, aber gehen nirgendwo<br />
hin.<br />
Die analogen Bedürfnisse haben sich dabei kaum verändert.<br />
Wir suchen weiter die Nähe unserer Freunde<br />
und Familien. Wir reden mehr miteinander als jemals<br />
zuvor, aber eben anders. Nach einer Umfrage des Digitalverbandes<br />
Bitkom gaben 80 Prozent der Befragten<br />
zwischen zwölf und 18 Jahren an, dass sie sich lieber<br />
über Soziale Netzwerke mit ihren Freunden unterhalten,<br />
als im echten Leben. Sicherlich auch, weil Verabredungen<br />
häufig gar nicht erst zu Stande kommen. Wer<br />
sich alle Möglichkeiten offen halten und die Unannehmlichkeiten<br />
eine Absage ersparen möchte, der legt sich<br />
gar nicht erst fest. Die Antworten fallen genau deshalb<br />
auch so aus: „Mal sehen“, „ich melde mich nochmal“<br />
oder „muss ich spontan gucken“.<br />
Aber dieses Verhalten bringt der technische Fortschritt<br />
nicht nur mit, er erwartet ihn von uns. Denn wir müssen<br />
flexibel und erreichbar bleiben, weil es alle anderen<br />
auch sind. Und Absagen, Schluss machen und Aufgeben<br />
waren noch nie so leicht wie heute. Sie landen als<br />
Push-Nachricht auf dem Startbildschirm und sämtliche<br />
Pflicht ist erledigt.<br />
einen neuen Oberbegriff für unsere Multioptionalgesellschaft<br />
in den Raum geworfen: Beschleunigung.<br />
Globalisierung, Digitalisierung, Entfremdung, Wachstumszwang,<br />
Steigerungslogik... Rosa verwendet<br />
Punchlines aus der Kapitalismuskritik, adressiert sie<br />
aber an ein weit verbreitetes Lebensgefühl: alles wird<br />
immer schneller, aber wohin rennen wir eigentlich?<br />
Der Schlüssel zu uns selbst ist laut Hartmut Rosa die<br />
Zeit. Unsere Zeitstruktur unterliegt der Steigerungslogik.<br />
Wir entscheiden uns nicht mehr, weil da draußen<br />
noch eine bessere Möglichkeit sein kann, nein,<br />
sein muss!<br />
Aber ist die Lösung von Beschleunigung die Entschleunigung?<br />
Auch nein. Hartmut Rosas Antwort<br />
erschien 2016 unter den Titel „Resonanz“. Statt einer<br />
pessimistisch-kritischen Einsicht, liefert er uns<br />
eine lebendig-kritische Theorie: „Das Leben gelingt<br />
nicht, wenn wir reich an Ressourcen und Optionen<br />
sind, sondern wenn wir es lieben.“ Vielleicht sollten<br />
wir das bei unserer nächsten Whatsapp Verabredung<br />
kurz bedenken.<br />
Der Soziologe Hartmut Rosa hat bereits vor zehn Jahren<br />
herausgefunden, dass wir beim Blick auf diese Phänomene<br />
abstrakter werden müssen. Mit traditionellen<br />
Begriffen der Moderne wie Individualisierung und Rationalisierung<br />
kommen wir bei dieser Unverbindlichkeit<br />
nicht weiter, ihnen fehlt die Dynamik. Deshalb hat Rosa<br />
<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18<br />
<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18