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Al Ard Magazin Ausgabe 7

Das Arabisch/Deutsche Kulturmagazin

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Politik und Gesellschaft - Die digitale Unverbindlichkeit<br />

DIE<br />

السياسة والمجتمع - أدوالتشفي تحكم<br />

السياسة والمجتمع - أدوالتشفي تحكم Politik und Gesellschaft - Die digitale Unverbindlichkeit<br />

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37<br />

KOMMENTAR LUCAS MACHWITZ<br />

GRAFIK SANRA TREISBACH, LUCAS MACHWITZ<br />

DIGITALE<br />

Unverbindlichkeit<br />

Jede Entscheidung ist ein Massenmord an Möglichkeiten. In Zeiten, in denen alles immer und überall<br />

verfügbar ist, ist JA nicht mehr die Antwort, die wir geben wollen.<br />

Wir können alles haben und deshalb lassen<br />

wir uns auch bis zum Schluss alles offen. Wir<br />

wühlen uns durch 20 Tindermatches, weil der<br />

nächste Partner vielleicht noch besser sein kann, als<br />

der vorherige und der übernächste dann wirklich der<br />

ist, der den eigenen Erwartungen genügt. Netflix produziert<br />

so viel, dass aus Serienschauen Arbeit wird. Auf<br />

Facebook erhalten wir täglich fünf Veranstaltungseinladungen,<br />

wir sagen überall zu, aber gehen nirgendwo<br />

hin.<br />

Die analogen Bedürfnisse haben sich dabei kaum verändert.<br />

Wir suchen weiter die Nähe unserer Freunde<br />

und Familien. Wir reden mehr miteinander als jemals<br />

zuvor, aber eben anders. Nach einer Umfrage des Digitalverbandes<br />

Bitkom gaben 80 Prozent der Befragten<br />

zwischen zwölf und 18 Jahren an, dass sie sich lieber<br />

über Soziale Netzwerke mit ihren Freunden unterhalten,<br />

als im echten Leben. Sicherlich auch, weil Verabredungen<br />

häufig gar nicht erst zu Stande kommen. Wer<br />

sich alle Möglichkeiten offen halten und die Unannehmlichkeiten<br />

eine Absage ersparen möchte, der legt sich<br />

gar nicht erst fest. Die Antworten fallen genau deshalb<br />

auch so aus: „Mal sehen“, „ich melde mich nochmal“<br />

oder „muss ich spontan gucken“.<br />

Aber dieses Verhalten bringt der technische Fortschritt<br />

nicht nur mit, er erwartet ihn von uns. Denn wir müssen<br />

flexibel und erreichbar bleiben, weil es alle anderen<br />

auch sind. Und Absagen, Schluss machen und Aufgeben<br />

waren noch nie so leicht wie heute. Sie landen als<br />

Push-Nachricht auf dem Startbildschirm und sämtliche<br />

Pflicht ist erledigt.<br />

einen neuen Oberbegriff für unsere Multioptionalgesellschaft<br />

in den Raum geworfen: Beschleunigung.<br />

Globalisierung, Digitalisierung, Entfremdung, Wachstumszwang,<br />

Steigerungslogik... Rosa verwendet<br />

Punchlines aus der Kapitalismuskritik, adressiert sie<br />

aber an ein weit verbreitetes Lebensgefühl: alles wird<br />

immer schneller, aber wohin rennen wir eigentlich?<br />

Der Schlüssel zu uns selbst ist laut Hartmut Rosa die<br />

Zeit. Unsere Zeitstruktur unterliegt der Steigerungslogik.<br />

Wir entscheiden uns nicht mehr, weil da draußen<br />

noch eine bessere Möglichkeit sein kann, nein,<br />

sein muss!<br />

Aber ist die Lösung von Beschleunigung die Entschleunigung?<br />

Auch nein. Hartmut Rosas Antwort<br />

erschien 2016 unter den Titel „Resonanz“. Statt einer<br />

pessimistisch-kritischen Einsicht, liefert er uns<br />

eine lebendig-kritische Theorie: „Das Leben gelingt<br />

nicht, wenn wir reich an Ressourcen und Optionen<br />

sind, sondern wenn wir es lieben.“ Vielleicht sollten<br />

wir das bei unserer nächsten Whatsapp Verabredung<br />

kurz bedenken.<br />

Der Soziologe Hartmut Rosa hat bereits vor zehn Jahren<br />

herausgefunden, dass wir beim Blick auf diese Phänomene<br />

abstrakter werden müssen. Mit traditionellen<br />

Begriffen der Moderne wie Individualisierung und Rationalisierung<br />

kommen wir bei dieser Unverbindlichkeit<br />

nicht weiter, ihnen fehlt die Dynamik. Deshalb hat Rosa<br />

<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18<br />

<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18

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