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Al Ard Magazin Ausgabe 7

Das Arabisch/Deutsche Kulturmagazin

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Politik und Gesellschaft - Wiederstand & Weinbrand<br />

السياسة والمجتمع - المقاومة والبراندي<br />

السياسة والمجتمع - المقاومة والبراندي<br />

Politik und Gesellschaft - Wiederstand & Weinbrand<br />

15<br />

Raubtierkapitalismus, nie enden wollende Praktika<br />

und befristete Arbeits- sowie Mietverhältnisse ersetzt.<br />

Haben unsere Eltern und Großeltern etwa in solchen<br />

Etablissements, nachdem sie die fünf Etagen der Kaufhäuser<br />

nach den neusten modischen und technischen<br />

Errungenschaften aus aller Welt durchstöberten, ihre<br />

wohlverdienten D-Mark in Bier und Schnaps investiert?<br />

Marmor, Stein und Eisen bricht tönt es aus den Boxen.<br />

Ein Gefühl der Gemütlichkeit und Entschleunigung<br />

überkommt mich. Ich will es wissen, frage den älteren<br />

Herrn mit Vokuhila, der am Ende des Tresens neben<br />

dem Spielautomaten sitzt. Freundlich teilt er mir mit,<br />

dass er in Ruhe sein Pils zu trinken vermöge, Fotos seien<br />

aber okay. Die Dame am anderen Ende des Tresens<br />

sieht noch mehr nach <strong>Al</strong>leinseinwollen aus, sie frage<br />

ich erst gar nicht.<br />

„MANCHE STAMMGÄSTE<br />

KOMMEN JEDEN TAG, NUR<br />

SONNTAGS NICHT, WENN<br />

WIR ZU HABEN“<br />

Der Liebe wegen hat es Reza Eskafi – studierter Biologe<br />

– aus Göttingen nach Berlin verschlagen. Seit nunmehr<br />

13 Jahre betreibt er den Zapfhahn. Herr Eskafi sieht<br />

fröhlich aus, ein wenig kleiner als man es von einem<br />

echten Kneipier erwarten würde, ein wenig gemütlicher<br />

und freundlicher auch. Er war mal Biologe, bevor er<br />

nach Berlin gekommen ist, heute ist er vor allen Dingen<br />

eines: ein Gastwirt im wahrsten Sinne des Wortes. Wir<br />

haben Fragen über Fragen, diesen wunderlichen Ort<br />

betreffend. Herr Eskafi nimmt sich Zeit für uns, erzählt<br />

uns über Hochzeitsfeiern, Geburtstage, Todestage,<br />

Hackepeter und Kinderschnaps.<br />

Der Zapfhahn sei ein Ort des Kennenlernens. Ich<br />

schaue in die melancholisch anmutenden Gesichter der<br />

beiden alleinseinwollenden Gäste und kann es mir<br />

beim besten Willen nicht vorstellen. Freundschaften<br />

und selbst Hochzeiten seien schon aus den Begegnungen<br />

hier entstanden, ich schaue nochmal und zwischen<br />

Vokuhilaträger und Spielautomaten hat sich ein weiterer<br />

Gast gesellt, man kennt sich, die beiden unterhalten<br />

sich. Herr Eskafi führt eine Geburtstagsliste, an<br />

Geburtstagen kocht er für seine Gäste, an Todestagen<br />

nicht.<br />

Seine älteste Stammkundin ist vor kurzem im <strong>Al</strong>ter von<br />

95 Jahren gestorben. Sie kam jeden Tag, außer sonntags,<br />

wenn Zapfhahn und Karstadt geschlossen haben.<br />

An Weihnachten besucht er alleinstehende Gäste oft<br />

zuhause, er weiß wo sie wohnen, denn manchmal nach<br />

Feierabend, bringt er sie heim. Die Fahrstuhltür öffnet<br />

sich, eine junge Mutter mit Kind steigt aus und zieht es<br />

eilig in Richtung Feinkostabteilung – ob der kleine<br />

Junge wohl in Zukunft jemals die Gelegenheit haben<br />

wird, hier zu sitzen? Herr Eskafi erzählt weiter, deutet<br />

auf Rita, die alleinseinwollende Dame, Ende sechzig<br />

am anderen Ende des Tresens, vor der Wand mit der<br />

DM-Reklame. Auch sie hat einst ihren späteren Ehemann<br />

hier kennengelernt. Er verstarb vor drei Jahren,<br />

sie kommt seitdem immer noch jeden Tag.<br />

Kneipen sind Orte des kulturellen Gedächtnisses – ein<br />

Zitat, das mir im Rahmen der Recherche irgendwo<br />

begegnet und im Kopf geblieben ist. Der Zapfhahn<br />

ist noch viel mehr als das: Ein Ort des individuellen<br />

Gedächtnisses, eine kleine Insel, die für ihre Bewohner<br />

Sicherheit, Beständigkeit und Rückhalt inmitten<br />

dieser schnelllebigen und vom Wandel gebeutelten<br />

Gegend bedeutet, nicht zuletzt wegen der Herzlichkeit<br />

ihres Betreibers. Ich schaue zu Rita hinüber, sie<br />

erwidert meinen Blick – ein Lächeln.<br />

„VISITORS HAVE 3<br />

CHECKED IN“<br />

Die deutsche Kneipenlandschaft befindet sich im Wandel.<br />

Wer keine neuen gastronomischen Konzepte oder<br />

außergewöhnlichen, digitale Bewertungen vorzuweisen<br />

hat, kann einpacken. <strong>Al</strong>len anderen bleiben nur<br />

die ewig treuen Stammgäste. Eine Google-Rezension<br />

hat bisher noch kein Gast des Zapfhahns verfasst und<br />

auch auf foursquare haben gerade einmal drei Besucher<br />

eingecheckt. Dabei sind es jedoch neben dem<br />

Personal vor allen Dingen die Stammgäste, die diesen<br />

Laden zu etwas Besonderem machen und ihn in all seiner<br />

Skurrilität am Leben halten. Abseits von innovativen<br />

Trends und der durch Social-Media-Hypes noch weiter<br />

beschleunigten gastronomischen Schnelllebigkeit,<br />

bleibt der Zapfhahn ein rein analoges und vor allen<br />

Dingen standhaftes Phänomen. Hier gibt es keinen<br />

Cold-Drip-Fair-Trade-Coffee aus Guatemala, keine<br />

Rote-Beete-Chips vom Bio-Bauern und kein selbstgebrautes,<br />

glutenfreies Micro-Craft-Beer aus dem Kiez:<br />

keine Experimente – auch wenn Reza Eskafi nach der<br />

Übernahme die Bierauswahl von ursprünglich zwei<br />

auf acht Sorten aufgestockt hat.<br />

Hier gibt es Salzstangen, Korn und zu besonderen<br />

Anlässen ein selbstgekochtes Gulasch. Das mag Manchen,<br />

aufgrund von Multi-Optionalität, permanenter<br />

Rastlosigkeit und Individualisierungswahn zu wenig<br />

sein oder gar komisch vorkommen, doch sind es gerade<br />

echte Menschen an echten Orten, die wir auf unserer<br />

Suche nach Authentizität zwischen Backsteinwand<br />

und Industrie-Chic allzu oft übersehen. Und<br />

jetzt fällt mir ein, warum wir an einem Freitagmittag<br />

auf ein paar Bier im Zapfhahn gelandet sind – es ist<br />

herrlich gemütlich dort, ehrlich und herzlich.<br />

<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18<br />

<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18

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