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Politik und Gesellschaft - Wiederstand & Weinbrand<br />
السياسة والمجتمع - المقاومة والبراندي<br />
السياسة والمجتمع - المقاومة والبراندي<br />
Politik und Gesellschaft - Wiederstand & Weinbrand<br />
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Raubtierkapitalismus, nie enden wollende Praktika<br />
und befristete Arbeits- sowie Mietverhältnisse ersetzt.<br />
Haben unsere Eltern und Großeltern etwa in solchen<br />
Etablissements, nachdem sie die fünf Etagen der Kaufhäuser<br />
nach den neusten modischen und technischen<br />
Errungenschaften aus aller Welt durchstöberten, ihre<br />
wohlverdienten D-Mark in Bier und Schnaps investiert?<br />
Marmor, Stein und Eisen bricht tönt es aus den Boxen.<br />
Ein Gefühl der Gemütlichkeit und Entschleunigung<br />
überkommt mich. Ich will es wissen, frage den älteren<br />
Herrn mit Vokuhila, der am Ende des Tresens neben<br />
dem Spielautomaten sitzt. Freundlich teilt er mir mit,<br />
dass er in Ruhe sein Pils zu trinken vermöge, Fotos seien<br />
aber okay. Die Dame am anderen Ende des Tresens<br />
sieht noch mehr nach <strong>Al</strong>leinseinwollen aus, sie frage<br />
ich erst gar nicht.<br />
„MANCHE STAMMGÄSTE<br />
KOMMEN JEDEN TAG, NUR<br />
SONNTAGS NICHT, WENN<br />
WIR ZU HABEN“<br />
Der Liebe wegen hat es Reza Eskafi – studierter Biologe<br />
– aus Göttingen nach Berlin verschlagen. Seit nunmehr<br />
13 Jahre betreibt er den Zapfhahn. Herr Eskafi sieht<br />
fröhlich aus, ein wenig kleiner als man es von einem<br />
echten Kneipier erwarten würde, ein wenig gemütlicher<br />
und freundlicher auch. Er war mal Biologe, bevor er<br />
nach Berlin gekommen ist, heute ist er vor allen Dingen<br />
eines: ein Gastwirt im wahrsten Sinne des Wortes. Wir<br />
haben Fragen über Fragen, diesen wunderlichen Ort<br />
betreffend. Herr Eskafi nimmt sich Zeit für uns, erzählt<br />
uns über Hochzeitsfeiern, Geburtstage, Todestage,<br />
Hackepeter und Kinderschnaps.<br />
Der Zapfhahn sei ein Ort des Kennenlernens. Ich<br />
schaue in die melancholisch anmutenden Gesichter der<br />
beiden alleinseinwollenden Gäste und kann es mir<br />
beim besten Willen nicht vorstellen. Freundschaften<br />
und selbst Hochzeiten seien schon aus den Begegnungen<br />
hier entstanden, ich schaue nochmal und zwischen<br />
Vokuhilaträger und Spielautomaten hat sich ein weiterer<br />
Gast gesellt, man kennt sich, die beiden unterhalten<br />
sich. Herr Eskafi führt eine Geburtstagsliste, an<br />
Geburtstagen kocht er für seine Gäste, an Todestagen<br />
nicht.<br />
Seine älteste Stammkundin ist vor kurzem im <strong>Al</strong>ter von<br />
95 Jahren gestorben. Sie kam jeden Tag, außer sonntags,<br />
wenn Zapfhahn und Karstadt geschlossen haben.<br />
An Weihnachten besucht er alleinstehende Gäste oft<br />
zuhause, er weiß wo sie wohnen, denn manchmal nach<br />
Feierabend, bringt er sie heim. Die Fahrstuhltür öffnet<br />
sich, eine junge Mutter mit Kind steigt aus und zieht es<br />
eilig in Richtung Feinkostabteilung – ob der kleine<br />
Junge wohl in Zukunft jemals die Gelegenheit haben<br />
wird, hier zu sitzen? Herr Eskafi erzählt weiter, deutet<br />
auf Rita, die alleinseinwollende Dame, Ende sechzig<br />
am anderen Ende des Tresens, vor der Wand mit der<br />
DM-Reklame. Auch sie hat einst ihren späteren Ehemann<br />
hier kennengelernt. Er verstarb vor drei Jahren,<br />
sie kommt seitdem immer noch jeden Tag.<br />
Kneipen sind Orte des kulturellen Gedächtnisses – ein<br />
Zitat, das mir im Rahmen der Recherche irgendwo<br />
begegnet und im Kopf geblieben ist. Der Zapfhahn<br />
ist noch viel mehr als das: Ein Ort des individuellen<br />
Gedächtnisses, eine kleine Insel, die für ihre Bewohner<br />
Sicherheit, Beständigkeit und Rückhalt inmitten<br />
dieser schnelllebigen und vom Wandel gebeutelten<br />
Gegend bedeutet, nicht zuletzt wegen der Herzlichkeit<br />
ihres Betreibers. Ich schaue zu Rita hinüber, sie<br />
erwidert meinen Blick – ein Lächeln.<br />
„VISITORS HAVE 3<br />
CHECKED IN“<br />
Die deutsche Kneipenlandschaft befindet sich im Wandel.<br />
Wer keine neuen gastronomischen Konzepte oder<br />
außergewöhnlichen, digitale Bewertungen vorzuweisen<br />
hat, kann einpacken. <strong>Al</strong>len anderen bleiben nur<br />
die ewig treuen Stammgäste. Eine Google-Rezension<br />
hat bisher noch kein Gast des Zapfhahns verfasst und<br />
auch auf foursquare haben gerade einmal drei Besucher<br />
eingecheckt. Dabei sind es jedoch neben dem<br />
Personal vor allen Dingen die Stammgäste, die diesen<br />
Laden zu etwas Besonderem machen und ihn in all seiner<br />
Skurrilität am Leben halten. Abseits von innovativen<br />
Trends und der durch Social-Media-Hypes noch weiter<br />
beschleunigten gastronomischen Schnelllebigkeit,<br />
bleibt der Zapfhahn ein rein analoges und vor allen<br />
Dingen standhaftes Phänomen. Hier gibt es keinen<br />
Cold-Drip-Fair-Trade-Coffee aus Guatemala, keine<br />
Rote-Beete-Chips vom Bio-Bauern und kein selbstgebrautes,<br />
glutenfreies Micro-Craft-Beer aus dem Kiez:<br />
keine Experimente – auch wenn Reza Eskafi nach der<br />
Übernahme die Bierauswahl von ursprünglich zwei<br />
auf acht Sorten aufgestockt hat.<br />
Hier gibt es Salzstangen, Korn und zu besonderen<br />
Anlässen ein selbstgekochtes Gulasch. Das mag Manchen,<br />
aufgrund von Multi-Optionalität, permanenter<br />
Rastlosigkeit und Individualisierungswahn zu wenig<br />
sein oder gar komisch vorkommen, doch sind es gerade<br />
echte Menschen an echten Orten, die wir auf unserer<br />
Suche nach Authentizität zwischen Backsteinwand<br />
und Industrie-Chic allzu oft übersehen. Und<br />
jetzt fällt mir ein, warum wir an einem Freitagmittag<br />
auf ein paar Bier im Zapfhahn gelandet sind – es ist<br />
herrlich gemütlich dort, ehrlich und herzlich.<br />
<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18<br />
<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> 01/18