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Die Christkindlsingerin mit Deckblatt 1

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Maximilian Schmidt <strong>Die</strong> <strong>Christkindlsingerin</strong><br />

sie wöchentlich als Bötin nach dem vier Stunden entfernten Cham und hatte durch den<br />

Verkauf des beliebten Chamauerbrotes ein kleines, einträgliches Geschäft. Trotz ihrer siebzig<br />

Jahre war sie noch rüstig, verrichtete alle häuslichen Geschäfte selbst und sorgte ohne<br />

Unterlaß für das geistige und leibliche Wohl ihrer Enkelin, der Freude ihres Alters.<br />

Vermöge ihrer Erzählungen suchte sie auf das Gemüt der Kleinen einzuwirken und sie<br />

geistig anzuregen. War die Arbeit vorüber, konnte sie oft stundenlang, in ihrem Lehnstuhle<br />

ruhend, dem zu ihren Füßen auf einem Schemel sitzenden und strickenden Mädchen<br />

Märchen, Sagen und erbauliche Geschichten erzählen, von denen die Kleine kein Wort verlor<br />

und sich dieselben so tief einprägte, daß sie alles wieder nachzuerzählen vermochte. <strong>Die</strong><br />

Großmutter wollte durch ihre geschickt gewählten Erzählungen ihre Enkelin nicht allein<br />

unterhalten, vielmehr war es ihr Zweck, sie an ein richtiges Urteil, an Freude an guten Sitten<br />

und Handlungen zu gewöhnen, da sie der Ueberzeugung war, daß die Seele des Menschen nie<br />

früh genug daran gewöhnt werden könne, das Rechte zu lieben und das Unrechte zu hassen,<br />

wenn die Tugend in seiner Seele erkeimen soll. All ihr Streben war, ein tugendsames<br />

Mädchen in dem Kinde heranzuziehen, dessen Zukunft ihr keine Sorge mehr machte, hatte<br />

doch in materieller Hinsicht ihr verunglückter Sohn schon hinreichend für sein Kind gesorgt.<br />

Sie wußte zwar nicht, wie groß die Summe war, welche auf Grund des beim Pfarramte<br />

hinterlegten Testamentes an Waberls siebzehnten Geburtstag vom Mirtlschen Hause erhoben<br />

werden konnte, aber sie war überzeugt, daß sie genügen werde, die Zukunft des Mädchens zu<br />

sichern, und da<strong>mit</strong> war sie von einer der schwersten Sorgen befreit, welche das Herz<br />

sorgsamer Eltern oft so bitter berühren.<br />

<strong>Die</strong> großen und kleinen Mädchen des Dorfes hatten für Nandl eine besondere Vorliebe und<br />

gingen fleißig zu der Alten in Hoangarten (Besuch im Hause) und noch fleißiger, wie schon<br />

erwähnt in die Rockenstube.<br />

So war auch heute das kleine Stübchen <strong>mit</strong> fleißigen Spinnerinnen zahlreich besetzt. <strong>Die</strong><br />

Spinnräder schnurrten um die Wette und dazu ward gelacht, geplaudert und einzeln oder im<br />

Chor gesungen, während die Hände geschickt den Faden drehten, daß die Spule dicker und<br />

dicker ward, bis sie von den Mädchen <strong>mit</strong> zufriedener Miene aus dem Rade genommen und<br />

wieder eine neue eingesteckt werden konnte.<br />

„Nandl, erzählt’s uns a Sagmanl!“ rief es jetzt von allen Seiten.<br />

„Oes wißt’s jo scho’ alle,“ entgegnete die Alte, „und es fallt ma grad koa’ neu’s ein.“<br />

„So erzählt’s an’ alt’s!“<br />

„I woaß a neu’s!“ rief jetzt Waberl, „dös i mir hon erzähl’n lassen, wie i im Hirgst <strong>mit</strong> der<br />

Ahnl nach Deggendorf zur Gnad gangen bin. Es is dös Märl von der Rusel.“<br />

„Erzähl’s,“ sagte die Alte, „und i thua einstweiln auf an’ anders nachoahrna“ (nachsinnen).<br />

Waberl setzte sich <strong>mit</strong>ten in der Stube auf einen Schemel und begann sodann ihre<br />

Erzählung.<br />

„Auf der Rusel 1 , von der ’s G’sangl hoaßt:<br />

<strong>Die</strong> Aussicht waar prächti,<br />

Da säh ma’ weitmächti,<br />

<strong>Die</strong> Aussicht waar rar,<br />

Wenn koa Nebel nöt waar,<br />

da is unter anderen Hügeln und Gstoaner a kloa’s Bergl, und in dem stoanigen Bergl<br />

wirtschaft seit undenklichen Zeiten a kloa’s Zwergl. Still und alloa lebt’s im Felsen drin, is<br />

lusti und trotz sein’ Alter frisch und kräfti. Es hat sie <strong>mit</strong> sein’ Hammer a wundernett’s<br />

Zimmerl ausg’haut und in dem Felsen führ’n kloane Gangerl die Kreuz und die Quer, und<br />

alles is ziert <strong>mit</strong> Gold und Krystall und wunderschön beleucht’t von ara liachten Karfunkel.<br />

1 <strong>Die</strong> Rusel ist ein gegen die Donau abfallender, bewaldeter Vorberg des bayerischen Waldgebirges, 2621 Fuß<br />

hoch, berühmt durch die entzückende Fernsicht in die Donauebene bis hin zu den Alpen. Es führt hier die Straße<br />

von Regen nach Deggendorf vorüber.<br />

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