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Abiturrede 2012 - Augustinerschule Friedberg

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1/5<br />

Verabschiedung der Abiturientinnen und Abiturienten <strong>2012</strong><br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

liebe Angehörigen und Freunde, liebe Eltern,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, verehrte Gäste,<br />

liebe Abiturientinnen und Abiturienten,<br />

im Namen der gesamten Schulgemeinde der <strong>Augustinerschule</strong> <strong>Friedberg</strong> begrüße ich<br />

Sie recht herzlich und freue mich, dass Sie an dieser Verabschiedungsfeier für unseren<br />

diesjährigen Abiturjahrgang teilnehmen.<br />

Zum Bestehen Ihres Abiturs, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, gratuliere ich Ihnen<br />

ganz herzlich!<br />

Ihre Leistungen können sich wirklich sehen lassen! Mit einem Gesamtdurchschnitt von<br />

2,3 schneiden Sie im Vergleich zu den letzten Jahren besser ab. Dabei haben Sie<br />

39mal die Eins vor dem Komma erreicht!<br />

Bevor ich nun das Wort an Frau Weigl weitergebe, möchte ich die Gelegenheit nutzen,<br />

Ihnen einige Gedanken mit auf den zu Weg geben. Ich werde dabei keinen<br />

Grundsatzvortrag halten und – keine Angst - auch nicht endlos lange reden.<br />

Aber - ich möchte Fragen aufwerfen, die Sie sich selbst in den nächsten Jahren<br />

beantworten müssen.<br />

Beim Nachdenken über Ihren Jahrgang fiel mir besonders das von Ihnen gewählte<br />

Motto „ABI Rouge! Raus aus dem Rotstiftmilieu!“ auf. Dieses Motto macht neugierig.<br />

Warum?<br />

Nun - mit der Anspielung auf das Moulin Rouge in Paris haben Sie einen nicht nur für<br />

Musikliebhaber interessanten Ort ausgewählt und mit einem Milieu verbunden, welches<br />

uns allen bestens vertraut ist.<br />

Kennen Sie überhaupt das Moulin Rouge?<br />

Das Moulin Rouge wurde im Jahre 1889 erbaut und eröffnet und beheimatete damals<br />

schon ein Varieté. Der Name geht auf die bekannte Nachbildung einer roten Mühle auf<br />

dem Dach zurück.<br />

Zunächst wurde das Moulin Rouge für Bälle genutzt, bei denen Tänzerinnen vor allem<br />

den Cancan und andere zeitgemäße Tänze darboten. Hier traten die berühmtesten<br />

Pariser Stars der Zeit auf.<br />

Später wurden im Moulin Rouge Operetten und Revuen aufgeführt. Auch als Kino<br />

wurde es manchmal genutzt. Seit dem Jahre 1955 werden so genannte „dinnerspectacles“<br />

aufgeführt. In den ersten Jahren traten bei diesen auch berühmte Chanson-<br />

Interpreten wie Charles Trenet oder Charles Aznavour auf.<br />

Im Jahre 1964 wurde als Attraktion auf der Bühne ein „Aquarium“ installiert, in dem<br />

nackte Tänzerinnen auftraten bzw. schwammen.<br />

Nach einer finanziellen Krise Mitte der 1990er Jahre konnte das Haus ab dem Jahr<br />

2000 wieder Erfolge verzeichnen, wozu ab 2001 auch der bekannte Kinofilm Moulin<br />

Rouge beitrug.


Name und Stil des berühmten Pariser Vorbilds wurden von zahlreichen anderen<br />

Varietés und Diskotheken auf der ganzen Welt kopiert.<br />

2/5<br />

Was hat das aber mit Ihnen und Ihrer Schulzeit zu tun, so dass Sie es in Ihr Motto<br />

einbinden?<br />

War etwa die <strong>Augustinerschule</strong> für Sie ein lockerer Tanzsaal, eine Revue der netten<br />

Unterhaltung, eine große Operette des leichten Lebens und des soften Herzschmerzes<br />

oder nur ein Aquarium des nackten Wissens, in dem Sie als die Stars geschwommen<br />

sind?<br />

Und dazu Ihre Forderung: „Raus aus dem Rotstiftmilieu!“<br />

Was meinen Sie damit? War die <strong>Augustinerschule</strong> doch nicht so unterhaltend?<br />

Als Absolventen einer höheren Bildungseinrichtung könnten Sie vielleicht an unseren<br />

deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe gedacht haben und wollten frei<br />

nach seinem Gedicht „Nur wer die Sehnsucht kennt“ an manche Klausurerfahrung<br />

erinnern.<br />

Ich rezitiere:<br />

„Nur wer den Rotstift kennt“<br />

frei nach Johann Wolfgang von Goethe<br />

Nur wer den Rotstift kennt,<br />

weiß was ich leide.<br />

Allein morgens verpennt<br />

so gar keine Freude<br />

Seh´ ich am Klausurenend´<br />

all meine Pleite.<br />

Ach, ob der vorne mich noch liebt und kennt,<br />

lieber Gott, bleib an meiner Seite.<br />

Es schwindelt mir, es brennt,<br />

Oh! Einen Punkt, welches Leide.<br />

Nur wer den Rotstift kennt,<br />

weiß was ich leide.<br />

Diese Situation haben Sie bestimmt so oder anders in Ihrer Schulzeit erlebt – und: Sie<br />

sind daran gewachsen! Denn wir sind heute hier zusammengekommen, weil Sie die<br />

Herausforderungen der Rotstifte angenommen und erfolgreich gemeistert haben.<br />

Und nur deshalb geht es heute, wie Sie es in Ihrem Motto ausgesprochen haben, raus<br />

aus dem Rotstiftmilieu.<br />

Aber in welches Milieu werden Sie wechseln? Mit welchen Menschen werden Sie sich<br />

umgeben? Und kommen Sie wirklich raus aus dem Rotstiftmilieu?<br />

Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert übrigens die Begriffe „Milieu“ und<br />

„Sozialisation“ wie folgt:<br />

Ich zitiere:<br />

„Milieu: (franz.) Milieu bezeichnet das spezielle (in der Regel kleinräumige) soziale<br />

Umfeld, in dem eine Person aufwächst (Herkunfts-Milieu) oder in dem sie lebt (z.B.<br />

kleinbürgerliches Milieu).“


3/5<br />

Ich zitiere weiter:<br />

„Sozialisation: Soziologischer Begriff für das in unterschiedlichen Bezugsgruppen<br />

vermittelte Erlernen von Werten, Symbolen, Verhaltensweisen, Techniken etc.<br />

Unterschieden wird zwischen der primären Sozialisation, die überwiegend in der Familie<br />

stattfindet, und der sekundären Sozialisation, die beispielsweise über Medien vermittelt<br />

wird bzw. im Kindergarten, der Schule etc. stattfindet; darüber hinaus hat die berufliche<br />

Sozialisation wesentlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung junger Menschen.“<br />

Sie sehen, die Formulierung „Raus aus diesem Rotstiftmilieu“ muss also nicht allein die<br />

Überwindung einer unangenehmen Signalfarbe aus einem Schreibgerät bedeuten. Sie<br />

kann im Sinne der eben genannten Definitionen auch darüber hinausgehend<br />

verstanden werden. Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?<br />

Und haben Sie in diesem Kontext auch schon erkannt, dass der Rotstift mehr als ein<br />

Korrekturstift sein kann, der nur richtig oder falsch anzeigt?<br />

Er bietet nämlich Denkansätze, Chancen zum Hinterfragen eigener Sichtweisen sowie<br />

Anregungen für die Weiterarbeit. Und damit öffnet er verschiedene Dimensionen des<br />

Reflektierens und Wissens, Könnens und Handelns – vorausgesetzt, man begegnet<br />

den roten Anmerkungen mit Offenheit und Interesse und tauscht sich mit anderen<br />

darüber aus. Dafür braucht man allerdings das passende Milieu.<br />

Wie auch immer, eins ist sicher: Sie wechseln demnächst in ein Milieu, in dem Sie sich<br />

wieder Anforderungen und Bewertungen stellen müssen. Und dabei werden sie<br />

merken, dass Ihnen nicht immer ein Stift in klarer Signalfarbe zeigt, wie ihre Arbeit<br />

bewertet wird. Denn Bewertung geschieht oft auch im Verborgenen und im<br />

Verklausulierten. Der Rotstift bot Ihnen dagegen die Chance zum offenen Diskurs mit<br />

der Person, die ihn verwendet hatte. Denken Sie daran, wenn Sie sich das nächste Mal<br />

sagen hören: „Hätte mir das doch nur jemand offen und ehrlich gesagt!“<br />

Was möchte ich Ihnen nun mit auf den Weg geben?<br />

Erinnern Sie sich dazu bitte kurz an die vorhin zitierten Definitionen von „Milieu“ und<br />

„Sozialisation“ der Bundeszentrale für politische Bildung. Seien Sie sich in diesem<br />

Kontext bewusst, dass Sie aus Ihrer bisherigen primären und sekundären Sozialisation<br />

Werte und Normen erlernt haben, die Ihr Leben bestimmen. Diese können Sie weiterhin<br />

annehmen, aber auch in Teilen oder ganz verwerfen und neue suchen. Aber Achtung:<br />

Dabei bewegen Sie sich nicht in einem wertefreien Raum.<br />

Und noch etwas dazu: Gehen Sie Ihr Leben lang einen Wertediskurs ein. Seien Sie<br />

offen und neugierig für Neues und Unbequemes!<br />

Warum?<br />

Offenheit und Neugier machen es erst möglich, dass Sie alles um sich herum<br />

aufmerksam wahrnehmen. Und nur Offenheit kann in eine kritische Haltung als<br />

Grundlage für Ihre innere Freiheit führen.<br />

Die kritische Haltung sollte sich aber immer in einer Auseinandersetzung mit Ihren<br />

Mitmenschen vollziehen; im offenen, fairen Dialog, in einer positiven Streitkultur, die<br />

auch die andere Position mitdenkt und respektiert. Und aus dieser Haltung erwachsen<br />

Verantwortung, Empathie und Mündigkeit.


4/5<br />

Wenn Sie kritisch abwägen und bewerten, sollten Sie auch entsprechend handeln. Sie<br />

übernehmen nur Verantwortung, wenn diese sichtbar wird. Dessen sollten Sie sich<br />

bewusst sein.<br />

Mit dem Wahrnehmen von Verantwortung werden sie zu einem aktiven Teil unserer<br />

Gesellschaft. Ihre Stimme zählt dann nicht nur auf dem Papier für eine Partei oder<br />

Gruppierung, sondern zeigt sich in Ihrem Umgang und Verhalten Ihren Mitmenschen<br />

gegenüber.<br />

Und bedenken Sie dabei auch Folgendes: Seien Sie sich immer darüber im Klaren, in<br />

welchen Zusammenhängen Sie handeln, in welches Milieu Sie sich begeben oder<br />

welcher Eindruck durch Ihr Handeln entstehen kann.<br />

Heben Sie Ihre Hand immer nur für die Demokratie!<br />

Ein letzter Aspekt noch:<br />

Erkennen Sie den Wert von Bildung, Frieden und Freiheit. Wir sitzen hier heute<br />

zusammen, weil andere Generationen vor uns für Bildung und Gleichheit in Frieden und<br />

Freiheit gekämpft haben. Denn das eine ist die Voraussetzung für das andere.<br />

Und dass dies heute noch keine Selbstverständlichkeit ist, zeigen die Nachrichten aus<br />

aller Welt.<br />

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,<br />

Sie sehen, vieles, was wie Ihr Motto „ABI Rouge! Raus aus dem Rotstiftmilieu!“ im<br />

ersten Moment vordergründig, spaßig und unterhaltsam erscheint, kann sich bei<br />

näherer Betrachtung als etwas ernster zu Nehmendes und Tiefer-Gehendes erweisen.<br />

Was bleibt mir nun noch zu sagen?<br />

Ein persönlicher Rat.<br />

Achten Sie auf die Balance in Ihrem Leben. Bedenken Sie die vier Lebenssäulen, oder<br />

sollte ich jetzt doch den Blick wieder auf das Bild der Moulin Rouge mit ihren vier<br />

Windblättern richten? Gemeint sind jedenfalls die Bereiche, Säulen oder Flügel „Beruf“,<br />

„private Sozialisation“, „Zeit für sich selbst“ und „Spiritualität“ (also die religiöse und<br />

philosophische Auseinandersetzung mit dem Leben an sich).<br />

Wird nur eine der Säulen instabil, wankt Ihr Lebensgebäude. Oder mit dem Bild der<br />

Mühle gesprochen: Jeder Windflügel ist mal oben, mal unten.<br />

Schlussendlich kommt es auf die Balance an - und zwar, um ein Gleichgewicht<br />

herzustellen und Zufriedenheit im Leben zu erreichen.<br />

Gerät dieses Gleichgewicht aus der Balance, kann es Ihnen wie Kafkas Figur Gregor<br />

Samsa in der Verwandlung gehen: Sie wachen eines Morgens auf und finden sich auf<br />

dem Rücken liegend als Käfer wieder – unfähig zu handeln.<br />

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,<br />

ich bin nun am Ende meiner Rede und bedaure -neben all der Freude, dass Sie Ihr<br />

Abitur abgelegt haben- Ihren Weggang. Denn mit der Verabschiedung aus dem<br />

Rotstiftmilieu „<strong>Augustinerschule</strong>“ hinterlassen Sie eine Lücke.<br />

Aber vielleicht kehren Sie auch wieder an die <strong>Augustinerschule</strong> zurück? Eventuell als<br />

Mitglied im Verein der Ehemaligen, als Unterstützer und Förderer, als Gast bei<br />

Konzerten und Aufführungen oder auch als Eltern und vielleicht sogar als jemand, der<br />

selbst den Rotstift führt?


5/5<br />

Und denken Sie daran: Die Farbe Rot weckt verschiedene Assoziationen!<br />

Die Farbe Rot macht das Leben bunter: Sie ist auch die Farbe inniger und aufrichtiger<br />

Liebe.<br />

Und jetzt genießen Sie Ihren letzten offiziellen Tag an der <strong>Augustinerschule</strong> und<br />

beziehen dazu auch die vielen Helferinnen und Helfer, die Sie bis heute begleitet<br />

haben, und denen auch ich heute danken möchte, mit ein:<br />

Ich erwähne dabei ganz besonders:<br />

� Frau Händel und Frau Visser aus dem Sekretariat mit Ihrem Team,<br />

� Herr Grützmacher, die gute Seele der Schule,<br />

� Frau Krappel, die unermüdlich die LMF betreut,<br />

� die Seelsorger Frau Gröger, Frau Rohlfing sowie Herrn zur Löwen, die immer in<br />

allen Angelegenheiten für Sie da waren,<br />

� das Schulleitungsteam: den stellvertretenden Schulleiter, Herrn Ansorge, die<br />

Fachbereichsleitungen Frau Holy-Grund, Frau Fabinyi und Herrn Dr. Strunk, und<br />

speziell Frau Weigl, der ich für die Organisation der Oberstufe, des Abiturs und ihre<br />

Beratung herzlich danken möchte,<br />

� und abschließend die Lehrerinnen und Lehrer und Tutorinnen und Tutoren, die Sie<br />

neun Jahre begleitet haben.<br />

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,<br />

ich wünsche Ihnen im Namen der gesamten Schulgemeinde der <strong>Augustinerschule</strong> für<br />

Ihre Zukunft alles Gute und Liebe - und: Vielleicht klappt es ja mal mit einem Besuch im<br />

Varieté Moulin Rouge?!<br />

Sie müssen aber nicht alles gleich auf Facebook veröffentlichen.<br />

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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