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Dietrich Klinge – Gemischtes, Vermischtes, Verzetteltes

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Alfred Meyerhuber<br />

MISCELLANEA<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>:<br />

Gemischtes, <strong>Vermischtes</strong>,<br />

<strong>Verzetteltes</strong>


2


Alfred Meyerhuber<br />

MISCELLANEA<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>: Gemischtes, <strong>Vermischtes</strong>, <strong>Verzetteltes</strong>


Alfred Meyerhuber<br />

MISCELLANEA<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>: Gemischtes, <strong>Vermischtes</strong>, <strong>Verzetteltes</strong>


Inhalt<br />

6<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

33<br />

Kapitel I 36<br />

38<br />

42<br />

46<br />

Kapitel II 48<br />

52<br />

55<br />

57<br />

Kapitel III 62<br />

70<br />

75<br />

Kapitel IV 78<br />

80<br />

81<br />

Kapitel V 84<br />

88<br />

89<br />

92<br />

93<br />

96<br />

Vorspann<br />

Prolog auf Erden<br />

Gemischtes, <strong>Vermischtes</strong>, <strong>Verzetteltes</strong>:<br />

Klärung der Begriffe<br />

Daphne und Goldberg<br />

Miscellanea resta<br />

Die Skulpturen<br />

Fisigria I<br />

La Girafe<br />

Kopf 254, Büste Daphne XI, Daphne XI<br />

Kopf 255<br />

Roes XII<br />

Glaube - Staunen (Hoffnung) - Der Schlaf<br />

Glaube<br />

Staunen (Hoffnung)<br />

Hand 106<br />

Der Schlaf<br />

Weitergabe und Wiedergeburt im Kreise der Daphne<br />

Daphne XIII B<br />

Daphne XIV und <strong>Verzetteltes</strong><br />

Fisigria II<br />

Figur 371, Figur 372, Figur 376, Figur 380<br />

Figuren<br />

Zur Ihh-Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s<br />

Büste Roes XIII<br />

Kore IV<br />

Schlussbetrachtung<br />

Nachwort<br />

Impressum


12


13


16


17


25


30<br />

Prolog auf Erden<br />

Das Telefon klingelt. Es klingelt so, wie immer. Es dudelt keine nervtötenden Melodien, es kräht nicht<br />

wie ein Hahn und es wimmert auch nichts Metallenes aus seinem kleinen Lautsprecher. Nein, es klingelt.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> ruft an. „Hallo Alfred“, sagt er, so wie immer. Er fragt nicht, ebenso wenig ich, wie es<br />

dem anderen gehe. Wir reden nicht über das Wetter oder die hoffentlich ungestörte Nachtruhe, so wie<br />

immer. „Du sag mal“, sagt er. Das sagt er meistens als Einleitung. „Du sag mal, hast Du Lust auf ein<br />

neues Projekt?“.<br />

Und beim Befragten läuft, wie immer, ein Automatismus ab, der eingerichtet wurde aus reiner Neugierde<br />

und aus anhaltendem Wissensdurst, zugleich verbunden mit dem Wissen zu wenig oder gar<br />

(noch) nichts zu wissen und der Freude darauf, der Vorfreude, etwas Neues zu erfahren. Und mit einer<br />

gewissen Gier. Nein, nicht Gier, auch wenn Neugier das Wort mit sich trägt, sondern mit einem Hingezogensein<br />

zu Rätselhaftem, sich nicht sogleich Offenbarendem, zu den Dingen die enigmatisch sind,<br />

mehrdeutig, vielschichtig, wie die Skulpturen <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s. Ich sage also zu.<br />

Und als ich „immer“ sage, kommt pfeilschnell: „Gut“.<br />

Dann setzt er mir seine Projektidee auseinander. Wenn <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> soweit gediehen ist, über seine<br />

Gedanken zu sprechen, dann heißt das, er hat zu Ende gedacht. Er weiß, was er will und er weiß aber<br />

auch, wie es gemacht werden soll, besser muss. Berechtigte Einwände lässt er gelten und erwägt sie,<br />

berücksichtigt sie – vielleicht.<br />

Aber berechtigte Einwände gibt es, wenn man die Zusammenarbeit mit ihm betrachtet, eigentlich nicht.<br />

Er hat zu Ende gedacht! Das Projekt ist durch – dacht, hat die Wegstrecke vom Beginn an zum Ergebnis<br />

zurückgelegt.<br />

Er ist bedächtig gegangen, ist stehen geblieben, manchmal betrachtend zurückgegangen, dann aber<br />

im Sauseschritt weiter und das Ganze nochmals und nochmals. Also Einwendungen? Nein! So wie immer!<br />

Allenfalls Ergänzungen.<br />

Der Titel des Projekts heißt, so sagt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>: „Gemischtes, <strong>Vermischtes</strong>, <strong>Verzetteltes</strong>“. Also<br />

„miscellanea“ sage ich, ergänzend. „Genau“, sagt er.<br />

Und ich mache mich an die Arbeit.


Gemischtes, <strong>Vermischtes</strong>, <strong>Verzetteltes</strong>: Klärung der Begriffe<br />

Gemischtes ist abwechslungsreich, ist mannigfaltig, in aller Einzigartigkeit doch verschiedenartig.<br />

Gemischtes kann schillern und glänzen. Gemischtes ist willentliche Vielgestaltigkeit.<br />

Vermischtem hängt dagegen das vielleicht unwillig so Gewordene, das Zufällige, das Kunterbunte, das<br />

gar Zusammengewürfelte an. Das, was ohne eigenes Zutun so wurde wie es ist. Zusammengetragen also<br />

durch aktives Tun ist das Vermischte nicht, es ist geworden mit allen seinen Teilen, derer es notwendig<br />

bedarf, um als <strong>Vermischtes</strong> zu gelten.<br />

<strong>Verzetteltes</strong>, was ist das? Woher rührt das Wort, was trägt es mit sich? Was meint <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> damit?<br />

Brockhaus sagt im Jahr 1974 beim Suchwort „Zettel“: „Weberei; die Webkette, Kette, deren Fäden vom<br />

Z.-gatter (Z.-rahmen, Schärrahmen) in bestimmter Anzahl mit der Z.-maschine auf den Z.-baum aufgewickelt<br />

(gezettelt) werden“. (Brockhaus, 20. Band, AM-ZZ, Wiesbaden 1974, Seite 664).<br />

Meyer macht es zunächst kurz: „Zettel, in der Weberei svw. Kette. (Meyers Enzyklopädisches Lexikon,<br />

Band 25, WAQ-ZZ, Mannheim, Wien, Zürich, 1979, Seite 700).<br />

In Band 13 (J-Kn) Mannheim 1974, korrigierter Nachdruck 1980, heißt es auf Seite 642: „… in der Textiltechnik:<br />

Nach DIN 61050 die Gesamtheit der zur Herstellung eines Gewebes (bei Kettgewirken die Gesamtheit<br />

der zur Herstellung eines Gewerkes) erforderlichen und im fertigen Gewebe in Längsrichtung verlaufenden<br />

Kettfäden. Die Kettfäden werden vor dem Abweben durch Schären, Zetteln oder Breitschären und<br />

Bäumen auf den Kettbaum aufgewickelt“.<br />

Der Brockhaus von vor über einhundert Jahren (16. Band, Turkistan-Zz, Berlin und Wien 1903, Seite 954)<br />

hilft uns auch nicht wirklich weiter: „Zettel, in der Weberei eine schematische Darstellung auf Papier,<br />

nach welcher das Einpassieren der Kettenfäden in die Schäfte, das Treten der Trittschemel und das Aufschnüren<br />

der Schäfte an die Tritte auf dem Webstuhl vorgenommen wird“.<br />

„Verzetteln“ suchen wir in all diesen Lexika vergebens. Wir suchen weiter!<br />

Die „Allgemeine deutsche Real-Encyklopaedie für die gebildeten Stände“ hat in der 7. Originalauflage<br />

von 1827, die unter dem Namen Friedrich Arnold Brockhaus erschien (12. Band, W bis Z, Seite 494) einen<br />

spannenden Eintrag unter dem Stichwort „Zettelbank“.<br />

Damit ist „diejenige Bankanstalt, welche Zettel, sogenannte Banknoten, die auf einzelne bestimmte<br />

Summen von Münze lauten, in Umlauf setzt, mit dem Versprechen, denn Nennwerth dieser Münzen baar<br />

auszuzahlen, jedem Inhaber, welcher dieselben der Bank zu Umtauschung gegen baare Münze einreicht“<br />

gemeint.<br />

Es ist wohl wahr, man muss nicht alles für bare Münze nehmen, jedoch scheint fast zweihundert Jahre<br />

später die „Zettelwirtschaft“ (um diesem Begriff eine noch andere Bedeutung zu geben), der von Zettelbanken<br />

ausgegebenen Papierstückchen alias Zettel die gesellschaftliche Macht an sich gerissen zu haben.<br />

Ein für das Verzetteln von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> aufhellende Erklärung bringen uns diese Zettel aber nicht.<br />

Bei Richard Pikrun, Das Deutsche Wort, Stuttgart 1953, Seite 828 wird es besser!<br />

Wir lesen bei „Verzetteln“: „… einzeln fallen lassen; achtlos verstreuen; aus Unachtsamkeit verloren<br />

gehen lassen; für ein Zettelverzeichnis verarbeiten, … sich in vielen Kleinigkeiten verlieren“.<br />

31


Und schließlich hilft dies: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (erarbeitet unter der Leitung von<br />

Wolfgang Pfeifer, Berlin 2012, Seite 1605): „Verzetteln, Verb, Gras, Heu, Stroh zum Trocknen ausbreiten,<br />

unachtsam, unbedenklich verstreuen, verschütten (16. Jh.), übertragen, vergeuden, vertun (17. Jh.), Zeit<br />

vergeuden (18. Jh.), sich verzetteln, seine Kräfte zersplittern (19. Jh.).<br />

Und damit ist klar, dass diese Kräftezersplitterung mit dem papierenen Zettel der Zettelbank nichts zu tun<br />

hat. Möglicherweise aber mit <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>.<br />

Daphne und Goldberg<br />

32<br />

„Clavier Ubung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen“,<br />

so wurde Johann Sebastian Bachs Werk (BWV 988) im Erstdruck des Jahres 1741 bezeichnet.<br />

Johann Nikolaus Forkel schrieb 1802 „Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke“ und<br />

sagt über „Goldberg aus Königsberg“, einen „merkwürdig gewordenen Bachischen Schüler“: „Er war ein<br />

sehr starker Clavierspieler, aber ohne besondere Anlage zur Composition“ (aaO, VII, 37 online).<br />

Und dann sagt er (aaO 50, Nr. 5): „Dieses Modell, nach welchem alle Variationen gemacht werden sollten,<br />

obgleich aus begreiflichen Ursachen noch keine einzige darnach gemacht worden ist, haben wir der Veranlassung<br />

des ehemaligen Russischen Gesandten am Chursächsischen Hofe, des Grafen K a i s e r l i n g<br />

zu danken, welcher sich oft in Leipzig aufhielt, und den schon genannten G o l d b e r g mit dahin brachte,<br />

um ihn von B a c h in der Musik unterrichten zu lassen. Der Graf kränkelte viel und hatte dann schlaflose<br />

Nächte. G o l d b e r g, der bey ihm im Hause wohnte, mußte in solchen Zeiten in einem Nebenzimmer die<br />

Nacht zubringen, um ihm während der Schlaflosigkeit etwas vorzuspielen. Einst äußerte der Graf gegen<br />

B a c h, daß er gern einige Clavierstücke für seinen G o l d b e r g haben möchte, die so sanften und etwas<br />

muntern Charakters wären, daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden<br />

könnte. B a c h glaubte, diesen Wunsch am besten durch Variationen erfüllen zu können, die er bisher,<br />

der stets gleichen Grundharmonie wegen, für eine undankbare Arbeit gehalten hatte. Aber so wie um diese<br />

Zeit alle seine Werke schon Kunstmuster waren, so wurden auch diese Variationen unter seiner Hand<br />

dazu. Auch hat er nur ein einziges Muster dieser Art geliefert. Der Graf nannte sie hernach nur s e i n e<br />

Variationen. Er konnte sich nicht satt daran hören, und lange Zeit hindurch hieß es nun, wenn schlaflose<br />

Nächte kamen: Lieber Goldberg, spiele mir doch eine von meinen Variationen. Bach ist vielleicht nie für<br />

eine seiner Arbeiten so belohnt worden, wie für diese. Der Graf machte ihm ein Geschenk mit einem goldenen<br />

Becher, welcher mit einhundert Louis d´or angefüllt war. Allein ihr Kunstwerth ist dennoch, wenn<br />

das Geschenk auch tausend Mahl größer gewesen wäre, damit noch nicht bezahlt.“<br />

Die Geschichte der „Goldberg´schen Variationen“ oder wie wir heute sagen der „Goldberg Variationen“<br />

war in der Welt. Ob wahr oder unwahr, unwichtig!


Nun, <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> ist nicht Johann Sebastian Bach. Er ist schließlich kein Musiker und kein Komponist,<br />

jedoch Künstler und Bildhauer. Und in seinem Werk, man verzeihe das altertümliche Wort, begnadet!<br />

Gerade aber im Daphne-Zyklus, in diesen schier nimmer enden wollenden Wiederholungen, Variationen,<br />

Deklinationen des Motivs der zum Baum werdenden Frau liegt ein Gleiches zu den Goldberg-Variationen.<br />

Dieter Kühn spricht in seinem Hörspiel mit dem gleichnamigen Titel wie das Bach´sche Werk aus, was<br />

Geltung für Bach für sein Hörstück und auch für die Daphne-Variationen beanspruchen kann: „Es findet<br />

statt ein Dialog … eine Variationsreihe: in immer neuen Konstellationen wird den Beziehungen und<br />

Widersprüchen nachgegangen zwischen Musik und einer historischen Wirklichkeit, in der diese Musik<br />

entsteht.“ (Dieter Kühn, Schreiben vom 28.06.1973 an BR-Hörspielabteilung).<br />

In Bezug auf <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> ist das Wort Musik durch das Wort Kunst oder Skulptur zu ersetzen.<br />

Miscellanea resta<br />

Miscellanea, das lateinische Wort, leitet sich ab von dem Verb miscere.<br />

„Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch zu den Prosaikern Cicero, Caesar, Sallust, Livius, Curtius, Plinius<br />

d. J. (Briefe), Quintilian (10. Buch), Tacitus, Justin, Aurelius, Victor, Entrop, und zu den Dichtern Plautus,<br />

Terenz, Catull, Virgil, Horaz, Tibull, Properz, Ovid und Phaedrus“, diesen Titel hat Friedrich Adolph Heinichen<br />

seinem Werk gegeben (Leipzig 1864). Und dieses Werk gibt in der Tat bereitwillig und umfassend<br />

Auskunft:<br />

Miscere kann die Bedeutung haben von „mischen, mengen, vermischen, vermengen“, im Sinne von „was<br />

sich wieder voneinander scheiden lässt“, also Gemischtes. Es kann von „fleischlicher Vermischung“,<br />

„sich verheirathen“, „vereinigen“, im Sinne von untrennbarer Vermischung reden.<br />

Und es kann, oh Wunder, „im üblen Sinne verwirren“ bedeuten. Drei Möglichkeiten also in einem Wort:<br />

Gemischtes, <strong>Vermischtes</strong>, <strong>Verzetteltes</strong> – Miscellanea, die Versuche zu kategorisieren!<br />

Und was in keine Schublade so recht passt, was übrigbleibt, sind miscellanea resta:<br />

33<br />

I will get Peter Quince to write a ballet of this dream: It shall be called BOTTOM´s dream, because it hath<br />

no bottom. Ich will Peter Squenz bitten, dass er einen Gesang aus diesem Traum mache; er soll Zettels<br />

Traum genennt werden (Übersetzung von Christoph Martin Wieland, 1762) Mittsommernachstraum.<br />

William Shakespeare<br />

✴<br />

…die Differenz zwischen der daseienden und der wirkenden Form, zwischen der mathematischobjektiven<br />

Größe und subjektiv-illusionistischem Eindruck.<br />

Max Raphael<br />


34<br />

Je stärker das innere Gefühl ist, das zur Gestaltung drängt, je heißer die Empfindungen sind, die sichtbar<br />

werden wollen, desto unerbittlicher muss die Form sein, in der sie Gestalt annehmen … Nicht durch<br />

ein Ungefähr oder Übertreibung, sondern durch verstehende Vereinfachung, die alles erklärt.<br />

Karl Hofer<br />

✴<br />

Luther erfreute sich am hebräischen Original der Bibel; die Übertragung in das „grobe Deutsche“ sei<br />

„als ob man eine Nachtigall zwänge, den Kuckuck nachzuahmen“<br />

✴<br />

Das Werk beider Künstler (Alberto Giacometti und Bruce Nauman) steht schließlich im Zeichen einer<br />

kompromisslosen Wahrheitssuche, welche in einem prozesshaften Denken Ausdruck findet und dabei<br />

stets auf dem Scheitern, dem Abwegigen, Unfertigen, Unheroischen Gültigkeit verleiht.<br />

Ausstellungstext Schirn, Frankfurt<br />

✴<br />

Gerade im Objekt liegt die Vollkommenheit und zugleich die Abwesenheit eines Ursprungs, eine<br />

Geschlossenheit und ein Glanz, eine Verwandlung des Lebens, kurz, eine Stille, die zum Reich des<br />

Wunderbaren gehört.<br />

Roland Barthes<br />

✴<br />

… dass es endgültige Wahrheiten selbst in den Wissenschaften nicht (mehr) gibt.<br />

Jacqueline Holzer<br />

✴<br />

Ohne feste Bezugspunkte verzettelt sich der Mensch.<br />

Michel Houellebecq<br />

✴<br />

Die Kunst ist die höchste Form von Hoffnung.<br />

Gerhard Richter<br />

✴<br />

Der „kritische Rationalismus“ hält sich an die schwer zu erschütternde Vermutung, dass all unser<br />

Wissen Vermutungswissen ist.<br />

Willy Hochkeppel<br />

✴<br />

Wenn jemand sucht, dann geschieht es leicht, dass sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht,<br />

dass er nichts zu finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er immer nur an das Gesuchte denkt,<br />

weil er ein Ziel hat, weil er vom Ziel besessen ist.<br />

Siddhartha<br />

✴<br />

Der Glaube, das was man wünscht, zu erreichen, ist immer lustvoll.<br />

Aristoteles<br />

✴<br />

Die Wahrheitssuche endet nicht in einer Leere, einem Œuvre; das Suchen selbst ist das Œuvre.<br />

Karl Popper<br />


Die Skulpturen<br />

Es sind Bilder des Menschen und zugleich doch nicht! Wer immer diese klingeschen Werke sieht, weiß,<br />

es sind menschliche Wesen, die in ganzer Gestalt, als Torso, kopflos, armlos, manchmal fast körperlos,<br />

schreiten, stehen, sitzen, liegen. Gleichwohl sind es nicht einfach Abbilder von Menschen.<br />

Es sind Wesen, die so und nur so, als Schöpfungen des Künstlers <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> entstanden sind, entstehen<br />

konnten. So, als ob er ihnen einen ganz eigenen Schöpfungsatem eingehaucht hätte.<br />

Zugleich aber tragen sie das Wissen, das Begreifen und das Erfühlen der menschlichen Figur und das<br />

Ringen um ihre Erscheinungsform seit Anbeginn aller Zeiten, seit Anbeginn des künstlerischen Schaffens<br />

in sich. Es ist als ob ein körperliches, ein sichtbares oder doch besser spürbares Verwandtschaftsverhältnis<br />

bestünde, zur ältesten, steinzeitlichen Kunst, der Venus von Willendorf, der ebenbürtigen Venus von<br />

Hohle Fels, dem Löwenmenschen aus dem Lonetal und zu den Kykladenidolen und zu den Plastiken der<br />

griechischen archaischen Klassik, zur Kunst des alten Ägyptens, Roms, des Zweistromlandes, der Kunst<br />

aus Persepolis, der Kelten, Germanen, des Ostens und fernen Ostens und Afrikas, der Romanik, Gotik,<br />

Renaissance, des Barock und Rokoko der Neuzeit, kurz jeglicher Kunst!<br />

<strong>Klinge</strong>s Kunst ist nicht mehr, jedoch auch nicht weniger als eine beständige, nie endende tour d´ horizon<br />

durch die kunst-, kultur-, und geistesgeschichtliche Entwicklung der Menschheit, die sich in den so<br />

eigenen und im besten Wortsinne eigen-willigen Werken <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s zeigt.<br />

Und es scheint, als habe der Künstler einen eigen-artigen Weg gefunden, lebende Wesen aus Borke, Bast<br />

und Holz und lebende Wesen aus Fleisch und Blut in seinen Skulpturen Eins werden zu lassen, zu verschmelzen<br />

in Bronze! Denn, wenn der Künstler beginnt an einem Holzstamm zu arbeiten, dann liegt oder<br />

steht vor ihm bereits eine natürliche Plastik, der Stamm. Dazu sagt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>: „Wenn ich an einem<br />

Holzstamm arbeite, ist dieser, ohne dass ich etwas tue, schon eine Plastik. Es treffen sich also zwei Geschichten:<br />

die des Holzes und meine. Diese beiden wollte ich auch auf eine Ebene bringen, deshalb<br />

habe ich die Übersetzung in ein anderes Material gemacht“. (<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, Frankfurt am Main 2008,<br />

Seite 78). Bronze also!<br />

Es waren einst mächtige Bäume, deren Stämme die Körper der Skulpturen bilden, häufig aus ihnen herausgelöst,<br />

herausgeschnitten, häufig nur behutsam den umrindeten oder entrindeten Stamm zeigend.<br />

Es waren aber auch feine, filigrane Äste, Geäste, Astwerke, dann und wann gar Ästchen, die in die Einheit<br />

mit ihren – als Wortspiel sei es gestattet – Stammesbrüdern und –schwestern einbezogen werden. Und<br />

durch diese Verschmelzung menschlicher Körper in das Holz hinein und manchmal versehen mit sprechenden<br />

Ästen, entsteht ein symbiotisches, neues Wesen auf metaphorischer Ebene, aber auch für uns<br />

begreifbar und sichtbar, das gerade auf die in unseren Zeiten schier verlorene Einheit der Natur mit dem<br />

Menschen, der recht eigentlich und stets Teil dieser Natur ist, hinweist. Damit erfüllt sich <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong><br />

zunächst selbst ein Anliegen, das des humanen Seins.<br />

Park Yeongtaik (in: <strong>Klinge</strong> at Roh´s garden, Korea 2017, s.p.) sagt überzeugt, überzeugend und zurecht, dass<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Werke „are reminiscent of a mythical and religious narrative“. Und er stellt ebenso klar<br />

fest, dass die daraus erwachsende spirituelle Kraft und das auf der Ebene des Verstehens beheimatete<br />

Einfühlungsvermögen Gegenwart und Zukunft aus der Vergangenheit heraus verstehbar, besser erlebbar<br />

im Sinne einer Verschmelzung von Leben und Kunst machen, trotz aller Gegensätzlichkeit und Spannung.<br />

35


36<br />

Diese Spannung aber in seinen Arbeiten, diese offenen Widersprüche zerstörter und unvollkommener<br />

menschlicher Körper zeigt der Künstler in all ihrer völlig unerwarteten harmonischen Schönheit, in einer<br />

großartigen Absage an die gemeinhin vorgegebene und geforderte Perfektion des menschlichen Körpers.<br />

Dies so zu vereinen gelingt wenigen wie <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>.<br />

Wenn <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> die Herkunft, das Geborenwerden seiner Skulpturen aus dem Holz nicht nur nicht<br />

verbirgt, sondern Holz zu Körpern, Gliedmaßen, Köpfen formt oder sie sein lässt und sie zum Leben erweckt,<br />

überträgt er gewissermaßen die Schuldlosigkeit der Pflanzenwelt hinein in die schuldbeladene<br />

menschliche Welt. So, als ob der Akt der Kunstwerdung aus dem Holz heraus eine Läuterung, ein Aufruf,<br />

eine Katharsis wäre, sein könnte, sein muss!<br />

Und nochmals: Das Unvollkommene, das Versehrte und Gestörte, ja das Zerstörte und Verrottete wird<br />

von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> aus seiner existenziellen Not des Nicht– mehr – Seins erlöst. Ja, so kann man sagen!<br />

Denn all diese wertlosen Dinge, ohne Handelswert, ohne Gebrauchswert, ohne Prestigewert werden in<br />

ein neues Dasein hineingeboren.<br />

Der fast verbrannte Stamm wird der Unterleib der Ceres, das aus dem Fluss gezogene Schwemmholz wird<br />

der sich verwandelnde Kopf von Daphne (Kopf 252). Die Krone des vertrockneten Apfelbäumchens wird<br />

die Krone der Metamorphose von Fleisch und Blut zu Holz und Baum, Daphne VIII. Das leere Rindenstück<br />

der Korkeiche, ein „schwindsüchtiges Teil“, wie <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> selbst formuliert, wird Hülle und Körper.<br />

Wenn der Künstler, der seine Holzarbeit stets als Vorstufe zur fertigen bronzenen Skulptur betrachtet,<br />

diese verachteten Einzelteile in einen neuen, skulpturalen Zusammenhang fügt, schneidet, pflockt und<br />

diesen dann in Bronze gießt, so erhält die Skulptur, aus dem Zerfall entstanden, eine neue Identität im<br />

bronzenen Körper. Fast ist man versucht an die christliche Lehre der Auferstehung von den Toten zu denken,<br />

denn der zerfallende Leib, die morschen, verrotteten Knochen sollen danach bekanntermaßen am<br />

Jüngsten Tage in neuer Herrlichkeit wieder auferstehen, in ungeahnter Schönheit.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> gelingt es stets, seine torsohaften Gestaltungen als vollendet und ja als vollkommen, als<br />

der Idee der Schönheit verpflichtete Werke zu erschaffen. Der fehlende Arm, der fehlende Kopf, der fehlende<br />

Körper werden vom Betrachter – als ginge ein innerer Zwang vom Kunstwerk aus – auf einer tiefen,<br />

menschlichen Ebene hinzugedacht, hinzugefühlt.<br />

Das rational festzustellende Fehlen von Körperteilen der Skulptur löst sich auf, denn auf der emotionalen,<br />

man darf auch wagen, auf der seelischen Ebene zu sagen, entstehen im Betrachter neue Bilder. Er löst<br />

die vom Künstler beabsichtigte Spannung in seinem Inneren auf, indem er, das was nicht vorhanden ist,<br />

hinzuzieht, hinzufühlt und so stets am Akt der Vollendung des Kunstwerks Beteiligter ist.


37


38<br />

Fisigria I,<br />

2017, Bronze,<br />

H. 1,80 m, 6 Ex.<br />

Kapitel I<br />

Fisigria I<br />

Was sagt uns dieser Name, wie ist dieses offenkundige Anagramm aufzulösen?<br />

Der Künstler schweigt! Einmal mehr! Behauptet, die Verschlüsselung nicht<br />

mehr entsperren zu können, nicht mehr zu wissen, welches Ursprungswort,<br />

welche Worte sich hinter „Fisigria“ verbirgt, verbergen.<br />

Das glauben wir, denn ändern können wir, die Betrachter, ohnehin nichts an<br />

dieser Feststellung. Roma locuta, causa finita!<br />

So bleibt es offen, ob ein edler Stein, ein Safir, im Namen enthalten ist oder ein<br />

Imperativ, jemanden fragen zu sollen: Frag!<br />

Das alles kann und mag dahinstehen, denn die Skulptur spricht gleichwohl zu<br />

uns auch ohne diese Aufhellung:<br />

Fisigria I sitzt, sitzt aufrecht, herrscherlich, mit weit geöffnetem Schoß.<br />

Das hat nichts mit einer frechen oder gar vulgären Aufforderung zu geschlechtlichem<br />

Handeln zu tun. Ganz im Gegenteil. Die Beine, die Schenkel führen<br />

den Blick auf den sich sanft wölbenden Bauch der Skulptur. Fisigria I ist in<br />

doppeltem Wortsinne prägnant. Einmal in dem Sinn, in dem das Wort heute<br />

gebraucht wird, nämlich etwas treffend darzustellen. Und das tut sie. Sie stellt<br />

eindeutig, unübersehbar, jedoch keineswegs aufdringlich, ihren Zustand zur<br />

Schau, der in der zweiten alten Bedeutung der lateinischen, ebenso wie in der<br />

heutigen englischen (pregnant) erhalten und enthalten ist: schwanger.<br />

Etwas, ein Wesen, wächst still und zunächst unsichtbar heran. Es ist wie das<br />

kaum wahrnehmbare Wachstum von Pflanzen. Dann wölbt sich sacht die beschützende<br />

Hülle des Mutterleibes und die anderen ahnen, sehen, wissen,<br />

die Ankunft, ja Niederkunft neuen Lebens ist angekündigt und ebenso wie bei<br />

Pflanzen bricht künftiges Leben aus vergangenem.<br />

Starke Arme hat sie, helfende Hände fehlen jedoch. Diese Tatsache ist ambivalent.<br />

Sie kann dahin zu deuten sein, dass ihr das Berühren, das Anfassen, das<br />

Tragen des Neugeborenen erschwert, gar unmöglich gemacht wird. Es kann<br />

aber auch darauf hinweisen, dass mütterliche Zärtlichkeit und mütterliche<br />

Stärke nicht des Sichtbarmachens durch Hände, durch Finger bedarf, sondern<br />

dass dies als eine grundlegende Selbstverständlichkeit einer Gebärerin, des<br />

Mutterseins zum Kunstwerk hinzugedacht und hinzugefühlt werden kann und<br />

muss. Und so kann es durchaus sein, dass diese Fisigria I (wir werden deutliche<br />

äußerliche und innerliche Veränderungen an Fisigria II feststellen können)<br />

eine Art Stammbaumbild, eine Art Urmutter ist, schwanger mit vollen Brüsten,<br />

die ihre Aufgabe, Spenderin menschlichen Lebens zu sein mit Bedacht, mit<br />

Kraft und mit tiefem Gefühl erfüllen wird und erfüllt.


39


La Girafe<br />

40<br />

La Girafe,<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,30 m, 6 Ex.<br />

Zurafa heißt die Liebliche. Arabisch. Über die italienische Sprache wurde dies<br />

zu giraffa, zur Giraffe, zu la girafe!<br />

Aber kann diese Frau, die aufrecht vor uns steht in voller Überzeugung „lieblich“<br />

genannt werden? Wo ist das Schmeichlerische, wo die Sanftheit, das sich<br />

Biegende, Schmiegende, Weiche? La girafe scheint ein Hohnlächeln darüber<br />

ins Gesicht geschrieben. Aber es scheint eben nur so.<br />

Dennoch: ist nicht der berockte Unterleib zu schmal und zu kurz geraten für<br />

diesen Körper? Sehen wir nicht unterhalb der Taille, dort wo der ausladende<br />

Schwung der Hüften beginnt und eigentlich fortgeführt werden soll ein Missverhältnis<br />

der Maße. Der durch Kleidung verdeckte Bauch springt nahezu eine<br />

Hand breit zurück unter den Bereich um den Nabel.<br />

Und dieses Missverhältnis ist doch zwischen armlosem Oberkörper und Kopf<br />

und Hals ebenso auszumachen?<br />

Zwar sitzen Halsansatz am Oberkörper und der augenscheinlich aus einem<br />

anderen Stück Holz geschnittene, weiterführende Hals und Kopf passgenau<br />

aufeinander, zeigen sich anders als Oberkörper und Unterleib und fügen sich<br />

gleichwohl nicht! Die Teile der Skulptur, drei nämlich, Kopf und Hals, nackter<br />

Oberkörper und bekleideter Unterkörper scheinen nicht zu einer Figur, sondern<br />

zu drei unterschiedlichen Figuren zu gehören.<br />

Der lange Hals lässt den Titel der Skulptur plötzlich in neuer Bedeutsamkeit<br />

erscheinen. Giraffen haben lange Hälse, wie auch diese Frau einen langen Hals<br />

hat. Hat sie etwa mehr Halswirbel als wir, die anderen Menschen? Oh nein,<br />

Mensch und Maulwurf, Giraffe und Gibbon, sie alle haben sieben Halswirbel,<br />

keinen mehr, keinen weniger.<br />

Der Oberkörper müsste nach den Proportionen zu urteilen jedoch zu einer kleineren,<br />

jungen und starken Frau gehören. Und der im gewandeten Rock verborgene<br />

Unterleib, Beine und Füße, müssten eine wiederum noch kleinere Frau<br />

tragen.<br />

Die scheinbar nicht zueinander passenden Körperteile sind also einer Verjüngung,<br />

einem Schmäler- und Kleiner-Werden, unterzogen. Und sie sind im Bronzeguss<br />

zur Einheit aus der Dreiheit geworden.<br />

Gewohnte Körperproportionen, das meint, die Proportionen der Körper, die wir<br />

beständig sehen, berühren, mit ihnen kommunizieren in den Verhältnissen ihrer<br />

Körperteile zueinander, sind verschoben. Was hat das für unser Empfinden<br />

zur Konsequenz? Fühlen wir uns aufgrund dieser anderen Verhältnisse bei der<br />

Betrachtung unwohl, den ästhetischen Kanon gestört, ja zerstört.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> will uns die Relativität unserer Sehgewohnheiten, ja aller Gewohnheiten<br />

vor Augen führen.


41


42


Ein weißer Mensch nur unter Schwarzen wird nach einiger Zeit das Gefühl für<br />

seine eigene Hautfarbe und die Andersartigkeit seiner schwarzen Mitmenschen<br />

verlieren. Wenn kein Rassismus mitspielt. In diesem Falle gilt es auch umgekehrt.<br />

Jegliches Abweichen von gelebten Normvorstellungen birgt die Gefahr des<br />

Ausgegrenztwerdens in sich. In den schlimmen Fällen, auch der deutschen Geschichte,<br />

führt dies zur Ausmerzung des Anderen!<br />

Werfen wir einen weiteren Blick, ohne Vorurteil, auf La Girafe:<br />

In der Artikelserie, die Heinrich Heine für Cottas „Morgenblatt für gebildete<br />

Stände“ im Jahr 1831 schrieb, fand er für „La liberté guidant le peuple“ von Eugène<br />

Delacroix markige Worte, die auf La Girafe übertragbar erscheinen, führt<br />

diese doch einen ganz eigenen Freiheitskampf um Anerkennung.<br />

Heinrich Heine also: „… ein schöner, ungestümer Leib, das Gesicht ein schönes<br />

Profil, frecher Schmerz in den Zügen, eine seltsame Mischung von Phryne,<br />

Poissarde und Freiheitsgöttin“ (Heinrich Heine, Französische Maler, Berlin 2015,<br />

Seite 13 f.). Phryne war wohl die berühmteste, reichste und schönste Hetäre des<br />

alten Griechenland. Dies, obwohl ihr Name übersetzt „Kröte“ heißt und nicht<br />

eben verheißungsvoll klingt, jedoch nicht etwa auf Hässlichkeit, sondern auf die<br />

Bronzefarbe ihrer Haut zurückzuführen ist.<br />

Welche materielle Sicherheit und emotionale Selbstsicherheit sie besaß, mögen<br />

zwei Anekdoten ausleuchten.<br />

Nachdem Alexander der Große die Mauern des siebentorigen Theben zerstört<br />

hatte, erbot sich Phryne auf eigene Kosten den Mauerring Thebens wieder aufbauen<br />

zu lassen. Sie stellte nur eine einzige Bedingung, es sollte eine Inschrift<br />

angebracht werden: Alexander hat sie zerstört, die Hetäre Phryne wieder aufgebaut.<br />

Die Thebaner lehnten ab.<br />

In einem Gerichtsverfahren, in dem sie sich wegen angeblich schamlosen Verhaltens<br />

und der verbotenen Einführung einer neuen Gottheit zu verantworten<br />

hatte, drohte ihr die Verurteilung. Das Bild von Jean-Léon Gérôme (in der Hamburger<br />

Kunsthalle) zeigt „Phryne vor dem Areopag“, nackt und bloß stehend vor<br />

den rot gewandeten Richtern.<br />

Sie wurde freigesprochen, weil die Herren Richter des obersten Rates glaubten,<br />

Aphrodite leibhaftig vor sich zu sehen.<br />

Und sehr wahrscheinlich stand sie dem großen Praxiteles Modell für seine knidische<br />

Aphrodite.<br />

Eine Poissarde, abgeleitet vom Französischen poisson, ist hingegen ein einfaches<br />

Fischweib. Aber welches! In Heines Zusammenhang ist es eine der Fisch<br />

verkaufenden, mutigen Marktfrauen, die zu Hunderten zusammen mit der aufständischen<br />

Nationalgarde und Tausenden von Menschen im Protestmarsch<br />

La Girafe,<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,30 m, 6 Ex.<br />

43


nach Versailles zogen und Ludwig XVI zwangen nach Paris in den Tuilerien-<br />

Palast zu ziehen. Ein Ereignis, das seinen festen und keinen unwichtigen Platz in<br />

der Geschichte der französischen Revolution hat. Eine Poissarde, eine Frau mit<br />

Kühnheit und Mut.<br />

Und schließlich, die Freiheitsgöttin. La Liberté, libertas, die Menschen in eine<br />

neue Freiheit, die auch ihr gilt, führen will, wie La Girafe. Die unbekümmert,<br />

ob ihrer unpassenden Erscheinung, sich gerade nicht verhüllt, nicht versteckt,<br />

sondern zeigt, präsentiert.<br />

Und wie aus Unruhe Ruhe, überzeugende Ruhe wird bei entsprechender Kraft<br />

und Stärke, wandelt sich die Dissonanz der Proportionen durch La Girafes<br />

innere und äußere Ruhe und Stärke in anmutige Harmonie.<br />

Deshalb heißt diese Skulptur zurecht Zurafa, die Liebliche, La Girafe!<br />

44<br />

Daphne XI<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,55 m, Unikat<br />

Kopf 254, Büste Daphne XI und Daphne XI<br />

Wenn wir bei La Girafe eine Gestaltungsmöglichkeit <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s gesehen<br />

haben, die addiert, was scheinbar nicht zusammengehört und doch die Einheit<br />

schafft, zeigt uns der Künstler nun die konträre Möglichkeit, nämlich aus<br />

Einem, einer Einheit, gewissermaßen durch Subtraktion mehrere neue, eigentlich<br />

altbekannte Einheiten, besser Einzelheiten zu schaffen.<br />

Daphne XI steht fest, wie unangreifbar, hat sie doch viele Kämpfe ausgetragen.<br />

Wilde, verwegene Mähnen eines helmartigen Haupthaares rahmen ihr ernstes,<br />

altes Gesicht. Eine überlegende, überlegene Frauengestalt, in sich versunken<br />

und doch gegenwärtig wach. Aus ihrem Hals wächst das Zeichen ihres Wandels,<br />

ihrer Verwandlung, ein ausladendes, wie ekstatisch auseinanderzuckendes<br />

raumgreifendes und den Raum, wie mit Händen festhaltendes Astgewirr.<br />

Daphne XI, die keine Hände, keine Arme hat. Ist es gar ein Gorgonenhaupt,<br />

aus dem sich Erstarrung und Tod bringende Schlangen zuckend winden? Nein,<br />

aber es ist eine jeder Gefahr trotzende Erscheinung, entschlossen zu handeln,<br />

entschlossen zu tun, entschlossen zu kämpfen. Und diese Lebensspuren<br />

haben sich in ihren Körper, ihr Gesicht eingegraben.<br />

Wie sehr sich dieser Eindruck aber wandeln kann, zeigt die Büste Daphne XI.<br />

Das Streitbare, so scheint es, ist mit den Ästen, die ihren Kopf wie bekrönten,<br />

entschwunden. Die Büste wird zum Gegenüber. Die furchteinflößende, erhabene<br />

Kämpfergestalt ist nachbarlicher geworden, lässt zu, dass man sich ihr<br />

nähert, ja lädt ein, mit ihr zu reden, das Zwiegespräch zu suchen.


45


46 Büste Daphne XI<br />

2017, Bronze,<br />

H. 96 cm, 6 Ex.<br />

Kopf 254 ist weiter reduziert, auf sich selbst reduziert, zurückgeworfen fast.<br />

Der Oberkörper ist entfernt mit samt dem Hals. Der halslose Kopf ist gesockelt<br />

und mit einem starken Rohr in einen Schwebezustand gebracht, der es zulässt,<br />

nun von Angesicht zu Angesicht die Geschichte eines harten und entbehrungsreichen,<br />

aber würdigen Lebens aus dem Antlitz von Kopf 254 herauszulesen.<br />

So sind aus einem Werk drei entstanden, Figur, Büste und Kopf, von denen<br />

jedes ein ganz eigenes Ausdruckspotential zeigt und besitzt.<br />

Vielleicht war es aber auch umgekehrt und durch Addition dreier Werke, des<br />

Kopfs, der Büste und der Astkrone ist Eines, nämlich Daphne XI entstanden.<br />

Kopf 254 2017, Bronze, H. 45,5 cm, 6 Ex.


Büste Daphne XI<br />

2017, Bronze,<br />

H. 96 cm, 6 Ex.<br />

47<br />

Kopf 255<br />

Im Vergleich zum schrundigen, fast verwüsteten Kopf 254 zeigt sich Kopf 255<br />

geglättet, friedlich.<br />

Geglättet ist nicht nur die Oberfläche der Wangen, sind nicht nur die Lippen,<br />

auch die Stirne und selbst die Haare sind wie besänftigt und milde.<br />

Gesockelt ist dieser Kopf ebenso schwebend, wie sein numerischer Vorgänger.<br />

Und er wird weiter wachsen, ihm wird ein Oberkörper, ein Hals angefügt werden,<br />

derjenige von Büste Daphne XI, der identisch ist mit dem Oberkörper der<br />

vollendeten Figur Daphne XI. Und den Unterkörper übernimmt dann Daphne<br />

XII in gleicher Weise von Daphne XI. Kopf 255 wird jedoch von einer wie ruhiger<br />

gewachsenen Krone eines kleinen Baumgewächses überragt.<br />

Kopf 255<br />

2017, Bronze,<br />

H. 45,5 cm, 6 Ex.


48<br />

Roes XII<br />

2017, Bronze,<br />

H. 1,91 m, 6 Ex.<br />

Roes XII<br />

Wie ein Aufatmen, ein Innehalten in den bewegten Zeitläuften, in denen <strong>Dietrich</strong><br />

<strong>Klinge</strong> den Daphne-Zyklus weiter und weiter trieb, so steht Roes XII vor uns.<br />

Aus dem Getriebe der Welt genommen, dem Getriebensein entkommen.<br />

Ein Torso, der keinen Kopf braucht, keine Hände, um seinen Seelenfrieden<br />

in einem schönen, formvollendeten, spannungsreichen, jedoch nicht angespannten<br />

Körper sich ausbreiten zu lassen.<br />

Aber ist Roes XII nicht ein „falscher Schuss“, um in der Sprache der Weber zu<br />

reden, ein <strong>Verzetteltes</strong>, ein Fehlversuch gar?<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> war auch auf der Spur der Daphne, er war auf der Suche nach<br />

der letztgültigen Lösung, nach der Erlösung und Beendigung dieses gewaltigen<br />

Zyklus. Nun ja, Roes XII einen Fehlversuch, einen Irrweg, eine aberratio<br />

ictus, also einen Ablenkungstreffer, nennen zu wollen, wäre mehr als kühn<br />

– und falsch. Und doch richtig zugleich.<br />

Um es in der Sprache eines Jägers zu sagen, die Fährte der Gesuchten (Daphne)<br />

hatte sich verloren, ohne dass sich dieser Verlust ausgewirkt hätte, denn dem<br />

weiterspürenden und suchenden Jäger <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, bot sich eine gleichrangige<br />

und gleichwertige Beute. Die Göttin der Jagd war dem Künstler hold.<br />

Und so entstand zwar nicht die ersehnte und vorgestellte, endgültige Daphne,<br />

aber eine Roes, die wiederum auf ein fernes Ziel verweist.


49


Kapitel II<br />

Glaube – Staunen (Hoffnung) – Der Schlaf<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt uns eine Trias, die von den Worten und dem Klang der<br />

Worte auf die göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe verweist. Im<br />

ersten Brief des christlichen Apostels Paulus, des gewesenen Christenverfolgers<br />

Saulus (1. Korinther 15,9 : Denn ich bin der Geringste unter den Aposteln,<br />

der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde<br />

Gottes verfolgt habe) an die Gemeinde zu Korinth heißt es: „Nun aber bleiben<br />

Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen<br />

(1. Korinther 13,13).<br />

Nun die Liebe stellt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> in dem Zusammenhang mit Glaube und<br />

Hoffnung nicht offenkundig dar, sondern den Schlaf und schafft damit, wie wir<br />

sehen werden, gleichwohl eine neue Trias.<br />

50<br />

H. 105<br />

2017, Bronze,<br />

H. 6,5 x 29 x 13 cm, 9 Ex.<br />

Glaube<br />

In der christlichen Ikonografie wird Glaube durch das Kreuz versinnbildlicht<br />

oder den Kelch mit Hostie.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt uns ein anderes, ein überzeugendes Bildnis in diesem<br />

Sinne.<br />

Eine Hand! Es ist die Hand, die aus der Hand 105 entstanden ist. Daraus können<br />

wir ablesen, dass Hände im Werk <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s einen bedeutenden<br />

Platz einnehmen, hat er doch mehr als einhundert Handskulpturen, einzeln<br />

oder paarweise, geformt.<br />

Hände erhoben haben gesegnet, verflucht und gebetet. Und tun es noch immer.<br />

Erhobene Hände sind als Gebetshaltung im Judentum ebenso bekannt,<br />

wie im nahen Osten und in der antiken, griechischen und römischen Welt<br />

(vgl. Heinz Demisch, Erhobene Hände. Geschichte einer Gebärde in der bildenden<br />

Kunst, Stuttgart 1984, passim; Craig S. Keener, Kommentar zum Umfeld<br />

des neuen Testaments, Stuttgart 1988, Band 3, Seite 50).<br />

Der „Betende Knabe“ von Friedrich dem Großen 1741 mit der größten privaten<br />

antiken Sammlung des 18. Jahrhunderts nach Berlin gebracht (wohl als Kopie<br />

aus dem 1. Jahrhundert v.u.Z. einer älteren Statue) ist wohl die bekannteste<br />

künstlerische Darstellung.


<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt uns eine Hand allein. Eine überlebensgroße, linke<br />

Hand, die Hand, die für die große Mehrheit der Menschen, also Rechtshänder,<br />

die nicht dominante Hand ist. Und dennoch bleibt sie zusammen mit<br />

der rechten Hand das ursprünglichste und vielfältigste Werkzeug, das der<br />

Mensch besitzt. Es ist eine offene Hand, mit feingliedrigen langen Fingern,<br />

bereit zu empfangen, zu tragen, nicht zu fordern, zu nehmen. Es ist wie eine<br />

heilige Hand (1. Timotheus, 2,8) !


52<br />

Glaube<br />

2017, Bronze,<br />

H. 54 x 48 x 38 cm, Unikat<br />

In ihrer Handfläche ziehen Linien, bilden sich Furchen, kreuzen sich, zeigen<br />

Charakter. Anhänger der Handlesekunst könnten Herz-, Kopf-, Lebens- und<br />

Schicksalslinie ausdeuten. Wir tun es nicht, sondern sehen mit Staunen, dass<br />

aus Hand H 105 ein mächtiges Gewächs emporsteigt. Aber wurzelt es in der<br />

Hand, ist die Hand der Nährboden für den stark und fest verzweigten, kleinen<br />

Baum? Ja und nein! Eine Wurzel ist nicht erkennbar. Das Stück des Stammes<br />

ruft vielmehr ein Bild auf, als sei die Hand mit dem Stamm gepfählt, als sei<br />

ein Nagel durchgetrieben oder aber der Stamm habe eine geöffnete Wunde wie<br />

gesucht und gefunden.<br />

Und dies führt uns zu den Wundmalen von Jesus Christus und zu Thomas dem<br />

Zweifler, der sagte: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe<br />

und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht<br />

in seine Seite lege, glaube ich nicht“ (Johannes 20,25). Die Hand und das Wundmal<br />

sind also Metaphern für den Glauben, für Tod und Erlösung. Jedoch nicht<br />

allein, denn das lebende Wesen, das Gesträuch, die Äste sind unauflösbar verbunden.<br />

Wenn sich dieses Wesen aus Stamm und Zweig, Holz und Rinde und<br />

Knospen am Leben halten will muss es umsorgt und versorgt sein.<br />

Die Hand, obwohl nach oben mit der Handfläche offen und nicht über etwas<br />

gewölbt, ist gleichwohl eine schützende Hand. Sie braucht den abschirmenden,<br />

abwehrenden Gestus nicht, um zu zeigen, dass sie ein Ort der Zuflucht<br />

ist. Und in dem Bild, das uns der Künstler zeigt, versorgt die Hand aus Fleisch<br />

und Blut das Holz. Blut wird zum Baum. Wird zum Efeu. Deshalb betteten die<br />

ersten Christen ihre Verstorbenen auf immergrünen Efeu als Symbol des ewigen<br />

Lebens.<br />

Damit erweitert sich die metaphorische Ebene dieser Arbeit abermals. Denn<br />

die offene Wunde in der Innenfläche der Hand weist auf die erfolgte Kreuzigung<br />

und den Tod dessen, dessen Hand durchbohrt wurde, hin. Ein Tod, der Erlösung<br />

bringt, von dieser qualvollsten Hinrichtungsart, die so weit verbreitet war.<br />

Titus, der römische Kaiser ließ etwa, damals noch Feldherr im ersten Jüdischen<br />

Krieg, täglich mehr als fünfhundert aus Jerusalem Fliehende vor den Toren der<br />

Stadt kreuzigen: „Die Soldaten nagelten nun in ihrer gewaltigen Erbitterung die<br />

Gefangenen zum Hohn in den verschiedensten Körperlagen an, und da ihrer gar<br />

so viele waren, gebrach es bald an Raum für die Kreuze und an Kreuzen für die<br />

Leiber“ (Bellum Judaicum 5, 449 f.).<br />

Das klingesche Werk bleibt jedoch bei dieser grausamen Szenerie nicht stehen.<br />

Er zeigt auf, dass dieser Tod nicht vergebens war, sondern ein neues und völlig<br />

anderes Leben und Sein in nie gekannter Art und Weise daraus im wahren Wortsinne<br />

erwachsen kann.


Und es schwingen Vertrauen, Hingabe, Ehrfurcht, Opferbereitschaft und die<br />

Hoffnung, ja Sehnsucht auf eine wie auch immer erfühlte Erlösung mit in diesem<br />

Werk, das aus seiner Spannung der Mächtigkeit, der Aussage und Darstellung<br />

einerseits, andererseits der Zartheit des Miteinander, des Angewiesenseins<br />

aufeinander und der Fürsorge, lebt.<br />

Martin Walser sagt: „Der Glaube ist immer ein Glaube an die Zukunft und eine<br />

Sehnsucht nach der Zukunft“ (Martin Walser und Jakob Augstein, Das Leben<br />

wortwörtlich. Ein Gespräch, Reinbek bei Hamburg 2017, Seite 90).<br />

Dieses Werk des Künstlers <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> spricht leise und singt von der<br />

Sehnsucht.<br />

53


Staunen (Hoffnung)<br />

Der zweiundzwanzig Jahre alte Albrecht Dürer hält auf seinem Selbstportrait<br />

von 1493 eine Silberdistel (Eryngium) zwischen Daumen und Zeigefinger. Auf<br />

dem Selbstbildnis im Pelzrock sieben Jahre später fasst er mit Daumen und<br />

Mittelfinger zart in den Pelzkragen, dazwischen den Zeigefinger wie ein Ausrufungszeichen.<br />

54<br />

Staunen<br />

2017, Bronze,<br />

H. 33 x 29,5 x 13 cm, Unikat<br />

Hände, Finger sie sprechen, haben in ihrer Gestik Bedeutung auf allen Kontinenten,<br />

in allen Religionen und außerhalb der Religionen in der Kunst.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Werk erzählt nun eine ganz eigene Geschichte.<br />

Wir sehen eine Hand. Nein, eigentlich sehen wir nur Finger, die über einen Teil<br />

einer Handfläche, die zunächst wie abgebrochen, weggesplittert, abgeschnitten,<br />

abgehackt wirkt, verbunden sind. Aber man spürt es, dieser Teil einer<br />

Hand, obwohl nur ein Splitter, ist nicht gewaltsam einem Körper entrissen.


Es hat sich ohne Zwang gelöst, er ist mit dem Körper noch auf seine Art verbunden.<br />

Und dieser Körper kann nicht nur, er muss hinzugesehen, hinzugefühlt<br />

werden, um die Botschaft dieser Skulptur zu verstehen. Die Hand fasst mit<br />

Daumen und Rindfinger ein Ästchen. Der dünne Zeigefinger weist weg von der<br />

Hand, hinaus, wie auf ein fernes Ziel. Mittelfinger und kleiner Finger sind einwärts<br />

gebeugt. Die Hand ist braun-schwarz patiniert, das Gewächs erstrahlt in<br />

matter, goldener Bronze. Der dazu gedachte, dazu gehörige Körper muss sich<br />

55<br />

über dieses Pflanzenteil beugen. Er oder freilich auch sie sitzt etwa auf einem<br />

Stuhl, einer Bank. Sein rechter Arm ruht in der Mitte des rechten Oberschenkels<br />

im Winkel von 130 Grad, dies muss so sein, sonst wäre diese Handhaltung<br />

nicht möglich es sei denn er führt sich das Zweiglein vor Augen. Die linke Hand<br />

liegt in gleicher Weise auf ihrem zugehörigen Oberschenkel, hängt, Handfläche<br />

nach unten, in den sich öffnenden Raum zwischen den Knien. Die rechte Hand<br />

bietet die Handfläche nach oben dar und hält zwischen den Fingern den Zweig.


56<br />

Der Rücken ist nach vorne gebeugt und gekrümmt. Der Mensch betrachtet.<br />

Warum aber beugt sich ein Betrachter über diesen Zweig? Welcher Teil welcher<br />

Pflanze ist es denn?<br />

Nun, es ist ein Ästchen eines Rosmarinstrauches. Es ist für uns nicht von Bedeutung,<br />

welche der Wortherleitungen zutrifft, ob die aus dem Griechischen mit<br />

`rhops myrinos´ als „wohlriechender Strauch“ oder aus dem Lateinischen, aus<br />

`ros´ gleich Tau und `marinus´ zum Meere gehörig, also Meertau, weil an Küsten<br />

gedeihend (Gerhard Madaus, Lehrbuch der biologischen Heilmittel, Band 3, Hildesheim<br />

und New York 1979, Seite 2346). Ja, es ist ein wohlriechender Strauch,<br />

der am Meer seine Heimat hat.<br />

Eher von Bedeutung ist aber, was es mit dem Rosmarin auf sich hat. Für Dioskurides<br />

stand vor zwei Jahrtausenden die wärmende Heilkraft des Rosmarin<br />

fest. Für Plinius die Magenverträglichkeit. Im Kräuterbuch des Apuleius Barbarus<br />

aus dem 6. Jahrhundert, maßgeblich für die Schulmedizin des Mittelalters,<br />

half das Kraut gegen innerliche Schmerzen der Eingeweide und der Leber, gegen<br />

Ermattung, Husten und Dreitagesfieber, gegen juckenden Grind, gegen weiße<br />

Flecken in den Augen und gegen Zahnschmerzen.<br />

Wundersames vollbrachten Rosmarinblüten, die mit Branntwein destilliert wurden:<br />

So berichten etliche Autoren (u.a. Madaus, aaO., Seite 2348), dass das so<br />

gewonnene Aqua Reginae Hungariae die namensgebende, ungarische Königin<br />

Isabella Jagiellonica, die zweiundsiebzig Jahre alt, gichtisch und gelähmt war,<br />

so verjüngt hat, dass ein polnischer König die Witwe heiraten wollte. Ein Wunder,<br />

ein Rosmarinwunder, denn die alte Dame, die 1519 in Krakau geboren worden<br />

war, starb bereits vierzigjährig in Karlsburg, Siebenbürgen.<br />

Und Leonhart Fuchs (1501 – 1566) weiß im New Kreütterbuch von 1543 in Cap.<br />

CLXXXI: „Das hauß zur zeit der Pestilenz mit Roßmarin gereücht/ vertreibt darinn<br />

die boesen lüfft. Der Roßmarin sterckt das hirn/ und allerley sinn/ in sonderheyt<br />

die gedechtnuß“.<br />

Soweit zum Rosmarinzweig, der ein toter Zweig ist! Wohlgemerkt! Und er wird<br />

von einer toten Hand gehalten.<br />

Der Rosmarinzweig stammte im Leben <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s von einer großen Pflanze,<br />

die eingegangen war, zerschnitten wurde und auf dem gemeindlichen Kompost<br />

ordnungsgemäß entsorgt, dem Verrottungsvorgang überantwortet worden<br />

war.<br />

Wieder und wieder brachte <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> pflanzliche Abfälle dorthin, sah den<br />

Zweig wieder und wieder und doch nicht. Bis er eines Tages dieses Stück tote<br />

Material an sich nahm und in das Kunstwerk einfügte, zum Teil eines Kunstwerks<br />

machte. Und durch den matten, goldenen und damit wertigen Glanz des<br />

Ästchens, erstrahlt, erglüht dieses, wie in neuem Leben, wird in anderer Form,


ohne Blätter, ohne Blüten, wiedererweckt, dem Schicksal des Verrottens entrissen.<br />

Der imaginäre Betrachter, der den Rosmarin mit Ringfinger und Daumen<br />

hält und ihn versunken betrachtet, staunt darüber, dass neues Leben aus dem<br />

Totsein herüberwächst. Er staunt über die Kraft des Lebens, er staunt über die<br />

Macht des Lebens.<br />

Und vielleicht erkennt er gar das Geheimnis des Lebens und sieht dessen immerwährende<br />

Hoffnung. Was aber ist mit dem nächsten Betrachter, dem außerhalb<br />

des Kunstwerks und vor ihm, derjenige also der das klingesche Werk<br />

sieht? Der also, der den betrachtenden Betrachter betrachtet. Auch der soll<br />

staunen und hoffen!<br />

Ach ja, und der Rosmarin war der griechischen Göttin Aphrodite geweiht, die<br />

viele Namen hatte, auch den als Göttin von Tod-im-Leben und der nur eine<br />

göttliche Pflicht von den Schicksalsgöttinnen auferlegt worden war: Die Liebe!<br />

(Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutungen,<br />

Band 1, Reinbek bei Hamburg, 1960, Seite 60 und 61).<br />

Hand 106<br />

Eine Hand, die tanzt. Eine Hand wie auferstanden von den Toten. Nein, es<br />

ist nicht eine Hand, es sind viele Hände! Beim Drehen der Plinthe, sehen<br />

wir, es sind sehr viele verschiedene Hände. Vom Handrücken her betrachtet<br />

gewahren wir die Parallelität der vier Finger. Von der Daumenseite sehen<br />

wir einen mahnend und vielleicht auch belehrend erhobenen Zeigefinger.<br />

57<br />

H. 106<br />

2017, Bronze,<br />

H. 25 cm, 9 Ex.


58<br />

Wenn Daumen und Zeigefinger in einer Line vor den Augen des Betrachters<br />

sind, öffnet sich die Hand wie ein Blütenkelch. Vom kleinen Finger her ist die<br />

Hand ein wirbelnder Balletttänzer.<br />

Und da erkennen wir, dass die stehende, erhobene Hand, die liegende Hand<br />

der Skulptur Glaube (Hoffnung) ist, die Hand, die sich nun in den Raum reckt.<br />

Wie hat sie sich verändert, ist anders geworden, ist doch dieselbe geblieben.<br />

Und wir fragen uns noch etwas, ist es gar eine segnende Hand? Zum Segensgestus<br />

erhoben? Beim griechischen Segen der orthodoxen Kirchen berühren<br />

sich Ringfinger und Daumen, wie man es auf dem frühchristlichen Fresko der<br />

Katakombe von Karmuz in Alexandria oder auf dem goldgrundigen Apsismosaik<br />

aus dem 12. Jahrhundert des sizilianischen Domes von Céfalu etwa sehen kann.<br />

Der Pantokrator hat den Zeigefinger der rechten Hand aufrechtstehen, Mittelfinger<br />

und kleiner Finger sind zur Handinnenfläche hingekrümmt. Die Finger<br />

bilden ablesbare Buchstaben!<br />

Der gerade Zeigefinger ist ein Iota (I), der Mittelfinger, gekrümmt, ein finales<br />

Sigma (C), Daumen und Zeigefinger das Chi (X) und der kleine Finger, gekrümmt<br />

wie der Mittelfinger, wiederum ein C.<br />

Wir lesen also IC-XC. Die Abbreviatur für den Namen Jesus Christus.<br />

Aber im klingeschen Werk berühren sich Daumen und Ringfinger nicht, wie<br />

es sein muss im Segensgestus der Ikonen, die ein Fenster, ein Übergang sein<br />

sollen, die Raum und Zeit transzendieren zu einer neuen, ewig-unendlichen<br />

Wirklichkeit.<br />

Aber nein, <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat der Hand 106 den Rosmarinzweig zwar genommen,<br />

aber den dadurch entstehenden Spalt zwischen Daumen und Ringfinger<br />

nicht geschlossen.


Er schafft also, wie häufig, eine Situation, die offen ist, mehrdeutig. Eine Situation,<br />

die sich im nächsten Augenblick verändern kann, verändern wird. <strong>Dietrich</strong><br />

<strong>Klinge</strong> entwickelt eine Möglichkeitsform! Und das Bemerkenswerte ist,<br />

dass diese Form nur in der Gegenwart existieren kann. Es ist ein faustischer<br />

Moment des Verweilens, der nicht sagt, was geschehen wird, sondern nur was<br />

geschehen kann.<br />

Und so kann diese Hand ihre beiden Finger aufeinanderlegen, sie zusammenschließen,<br />

um den Segensgestus zu zeigen, um einen spirituellen Akt zu vollführen.<br />

Sie kann geöffnet bleiben, im Ungefähren. Wie unschlüssig.<br />

Sie kann aber auch (wieder) etwas aufnehmen. Die andere Hand kann in die<br />

Lücke zwischen den beiden Fingern etwas, den Rosmarinzweig beispielsweise,<br />

stecken und so zur Skulptur Staunen (Hoffnung) werden.<br />

H. 106<br />

2017, Bronze,<br />

H. 25 cm, 9 Ex.<br />

59<br />

Der Schlaf<br />

Hypnos und Thanatos sind Brüder. Nyx ist ihre Mutter, die Nacht. Sie empfing<br />

und gebar ihre Kinder ohne Mann.<br />

Hesiod (vor 700 vuZ) sagt, sie wohnen dort, wo Tag und Nacht einander begegnen,<br />

jedoch die Strahlen des Helios niemals dringen, dort, wo der Titan Atlas<br />

das Himmelsgewölbe trägt. Friedlich und freundlich ist Hypnos, der Gott des<br />

Schlafes, ein „eisernes Herz und ehernen, erbarmungslosen Sinn“ hat Thanatos,<br />

der Gott des Todes. (Hesiod, Theogonie, 746 bis 766).<br />

Vor uns liegt ein Torso. Mit geschlossenen Augen und milden Zügen der Kopf,


der Körper aus drei Holzteilen. Ein wie fedriger, unbelaubter Ast wächst aus<br />

dem größten der Teile, dem Stück eines von vorne berindeten, auf der Rückseite<br />

Schulterblatt und Wirbelsäule in das helle Holz geschnittenen Pappelstammes,<br />

empor, wächst aus ihm heraus, aus der Unterseite des Rumpfes. An<br />

diesem sind, scheinbar achtlos, zwei dicke, teilweise berindete Stirnhölzer,<br />

ebenso scheinbar zufällig so geworden, als Hals und Schulter, als deren Platzhalter,<br />

angefügt.<br />

Ein spannungsgeladenes, verwirrendes Bild. Der schier liebevoll zu nennende,<br />

schier lächelnde, fein geglättete Kopf mit einem rohen zerstörten Körper,<br />

zugleich ein brutaler Torso, armlos, beinlos mit rauer Rinde seine Brust bekleidet.<br />

Was bedeutet aber die in der bronzenen Fassung schwerer ablesbare Verwendung<br />

von glatter Linde für den Kopf, Pappel für Hals und Körper und Hainbuche<br />

für das Gesträuch?<br />

Die Linde ist ein luftiger, heiterer Baum, wie traumverloren. Seine Blüten sind<br />

Bienenweide. Sein Holz war lange Jahrhunderte „lignum sacrum“, Heiliges<br />

Holz, bestimmt für Darstellungen der Dreieinigkeit und ihrer Heiligen. Und am<br />

Brunnen vor dem Tore, träumte der Dichter Wilhelm Müller, unter dem Linden-


aum, so manchen süßen Traum. Aus diesem feinen Holz ist der Kopf des<br />

Gottes geformt.<br />

Das gröbere, jedoch ebenfalls weich zu nennende Holz der Pappel gibt den<br />

torsohaften Körper.<br />

Pappel ist im deutschen feminin. Im Lateinischen trotz der maskulinen Endung<br />

populus ebenso, weil in den Bäumen weibliche Wesen hausen. Im<br />

französischen le peuplir, freilich dann auch im spanischen el álamo, im italienischen<br />

il pioppo ist die Pappel männlich.<br />

Ein Wesen, Mann und Frau zugleich, wie die Pappel: Der Schlaf.<br />

Und schließlich ist da das dem Torso entwachsende Gesträuch. Ein Hainbuchenast.<br />

Die Hainbuche behauptet mit und durch ihren Namen eine Wirklichkeit,<br />

die nicht ist. Tut sie doch so, als sei sie mit der Rotbuche (fagus<br />

sylvatica) verschwistert, obwohl sie zur Familie der Birkengewächse gehört.<br />

In ihrem Namen ist jedoch eine ihrer wesentlichen Eigenschaften zum Wort<br />

geworden, der Hain und Hag. Die Hecke (althochdeutsch haganbuoche), der<br />

Hag und eben der Hain zeigen die Widerstandsfähigkeit dieser Pflanze gegen<br />

Schnitt, selbst radikalen Schnitt und jegliche Witterung – freistehend<br />

als Hain – an. Und sie ist „hanebüchen“, derb und grob, hat hartes und<br />

zähes Holz.<br />

Diese besondere Zähigkeit, gepaart mit einem starken Überlebenswillen,<br />

hat sie mit Linde und insbesondere Pappel gemeinsam. Abgeschnittenes<br />

wächst wieder, wächst weiter, ja verdoppelt, vervielfacht seine Wachstumskräfte.<br />

Aber hat dies alles mit der Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s zu tun?<br />

Gehen wir nochmals zurück: Der Schlaf, Hypnos, ist der Bruder des Todes,<br />

Thanatos. Schlafes Bruder ist er.<br />

Und der Baum, der ursprüngliche Baum, die lebendige Pflanze ist zerschnitten,<br />

zersägt, von ihren Wurzeln getrennt, ist nicht mehr in der Lage Nahrung<br />

aufzunehmen um zu leben. Wird absterben, wird tot sein.<br />

Also ist dem Torso des Schlafes der des Todes inmitten, ist zugleich die Metapher<br />

des Todes.<br />

Die Pappel aber, wie auch Linde, Hainbuche, Esche wehrt sich in die Nacht<br />

des Todes zu versinken. Abgeholzte Pappeln, denen das Wurzelwerk nicht<br />

genommen wurde, überdauern, treiben neu, etwa nach Flächenbränden.<br />

Eine Kolonie von Pappeln auf dem nordamerikanischen Kontinent soll allen<br />

Unbilden von Wetter, Brand und Mensch zum Trotz seit Jahrzehntausenden<br />

existieren! Wurzeln treiben Schößlinge (sic!) einige zehn Meter entfernt vom<br />

geschlagenen Baum aus der Erde. Abgesägte Stammteile treiben, wie es<br />

durch <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> mit dem ausdrucksstärkeren Hainbuchenast dargestellt<br />

ist, aus und lassen neues frisches Leben wachsen.<br />

Der Schlaf<br />

2017, Bronze,<br />

H. 126 cm, Unikat<br />

61


62<br />

So wie es Friedrich von Schiller (1759-1805) allgemeingültig formulierte: „Das<br />

Alte stirbt, es ändert sich die Zeit,/ Und neues Leben blüht aus den Ruinen“<br />

(Wilhelm Tell, 4. Akt, 2. Szene, Attinghausen).<br />

Es ist als ob der Schlaf mit seinen aus ihm erwachsenden Träumen hier dem<br />

treibenden Ast, zeigen will, dass auch wenn alles Leben stets vom Tod umfangen<br />

ist, kein Ende des Lebens, des Lebensgedanken, der Lebensmacht und<br />

der Lebenssehnsucht damit verbunden sein muss.<br />

Und so fließt die Kraft der Hölzer in die Gedankenkonstruktion, die hinter<br />

dieser Plastik steht, in den Ausdruck des Werkes ein. Ebenso des Gedankens,<br />

dass wir ein Herkommen haben und dass in unserem Leben stets ein Rest aus<br />

der Vergangenheit verborgen ist, der nur manchmal offenkundig wird.<br />

Bedeutung ist Gewächsen seit ältesten Zeiten zugeschrieben worden, Bedeutung,<br />

die weit über deren Heilkraft etwa hinausgeht.<br />

Bereits bei der Arbeit Glaube ist das urchristliche Begräbnisritual erwähnt<br />

worden, wonach Getaufte auf Efeu aufgebahrt wurden, um ihnen gewissermaßen<br />

die Ewigkeitskraft des immergrünen und (schier) unsterblichen Efeus<br />

zu übertragen. Zum Bild dieser Skulptur aus so überlebenswilligen Hölzern


gehört nun aber auch die Ergänzung, dass die urchristlichen Gemeinden<br />

Angehörige, die ungetauft verstorben waren, nicht auf Efeu betteten, um zu<br />

zeigen, dass ihnen die den Getauften versprochene Unsterblichkeit nicht zu<br />

Teil werden könne. Sie wurden auf Zypressen gebettet. Denn die Zypresse, einmal<br />

gefällt, stirbt ab, stirbt, wächst nie mehr nach.<br />

Und dass es Brüder sind, Hypnos und Thanatos, zeigt uns der Gebrauch unserer<br />

Sprache ebenso. Wir sagen über einen tief Schlafenden, er schlafe wie<br />

ein Stein, der unbelebt und tot ist oder gar er schlafe wie ein Toter, obwohl<br />

lebendig.<br />

Der Sterbende aber, der tot sein wird, ent-schläft, gleitet hinüber in einen anderen<br />

Schlaf, jenen Schlaf, den nicht Hypnos beschert und bewacht, sondern<br />

dessen eherner Bruder Thanatos.<br />

Und noch etwas: „Lebendig oder tot, du legst dem Unterschied zu viel Gewicht<br />

bei … Es gibt so viele Kammern dazwischen. So viele staubige Winkel, in denen<br />

du das eine nicht mehr bist und das andere noch nicht. So viele Träume,<br />

aus denen du nicht mehr aufwachen kannst.“ (Daniel Kehlmann, Tyll, Reinbek<br />

bei Hamburg 2017, Seite 421).<br />

63


64<br />

Tangere<br />

2014, Bronze,<br />

H. 1,85 m, 6 Ex.<br />

Daphne<br />

2015, Bronze,<br />

H. 2,55 m, 6 Ex.<br />

Kapitel III<br />

Weitergabe und Wiedergeburt im Kreis der Daphnen<br />

Nehmen wir ein, zwei Beispiele: Daphne I, die Urfrau, Urmutter, Gebärerin der<br />

Werkgruppe kam keineswegs aus dem schöpferischen Nichts.<br />

Der Oberkörper dieser Daphne ist aus hellem Lindenholz herausgeschnitten,<br />

aus dem Stamm eines einstmals lebenden Wesens, einem Baum, der jetzt in<br />

die Gestalt der Skulptur integriert, auf diese Gestalt hingeführt, gleichsam einem<br />

neuen Leben zugeführt wird.<br />

Ein Leben, nicht wie es lebende Wesen führen, die atmen, die wachsen, gedeihen<br />

und wie Bäume Blättern das ihrige an Leben schenken und – in langen<br />

Kreisläufen – nehmen, sondern als weitergegebene Erinnerung an das vormalige<br />

Leben. Teilnehmend aber durch ihr Einwachsen in die Wirklichkeit anderer<br />

Wesen, also menschlicher Betrachter, an deren Leben teilnehmend und Teil<br />

davon werdend!<br />

Der Kopf der Daphne I ist die statt in die Erde wachsende, sich dort hineinlebende<br />

Wurzel eines Apfelbaumes, dessen Strunk, der sich nunmehr königlich<br />

und erhaben in die Lüfte reckt und streckt.<br />

Der alte Strunk, ja er weist, so seines Habitats beraubt, auf Alterung, auf Zerstörung,<br />

auf Vergänglichkeit hin, zugleich aber auf ein Weiterleben, auf ein<br />

Wiederleben im metaphorischen Sinn. Er ist ein Gleichnis für diese keineswegs<br />

erwiesene Möglichkeit, ist damit aber, worauf es dem Künstler stets ankommt,<br />

deutungsoffen.<br />

Vollzogen ist dieses allegorische Weiterleben im doppelten Sinne bei Daphne<br />

I hinsichtlich ihres Unterleibs, denn es ist nun ihre untere Körperhälfte und<br />

war es aber nicht.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hatte dieses Stück eines Kirschenstammes, der nunmehr wie<br />

ein berockter, gewandeter Unterleib, Oberkörper und Kopf trägt als ganzen<br />

Körper der Skulptur Tangere (vgl. Alfred Meyerhuber, Das Lächeln der Daphne,<br />

Betrachtungen über eine Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s, 2016, Seite 34) verwendet.<br />

Dieser Corpus ist ein berindeter Stamm der Tangere „einhüllt, wie in ein fließendes,<br />

schützendes Gewand“ (Alfred Meyerhuber in: <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, Orte,<br />

Skulpturenmeile Ansbach, 2015, Seite 33).<br />

Nach Abformung und dem Bronzeguss dieser Skulptur wurde das Holz abgelagert.<br />

Im Freien, Wind und Wetter ausgesetzt. Der Werkstoff arbeitete weiter,<br />

Risse bildeten sich, die schützende Rinde klaffte auf, die Anmutung des Gewandes<br />

unterzog sich einer Änderung. Gewaltsames, Zersprengendes, Vernichtungskräfte<br />

zeigten sich.


65


66 Daphne ? VI!<br />

2016, Bronze,<br />

H. 2,51 m, 6 Ex.<br />

Und in diesem Stadium nahm <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> den umhüllten Körper von Tangere,<br />

dieser Maria von Magdala und schnitt daraus, den veränderten Stamm<br />

nochmals verändernd, den Unterkörper von Daphne I zu.<br />

In Bronze gegossen sind uns also beide Zustände erhalten.<br />

Vielfältiger ist das Schicksal, besser das Leben in Skulpturen <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s,<br />

am lindenholzigen Oberkörper von Daphne I zu zeigen.<br />

In veränderter Form zeigt genau dieser Leib sich bei Daphne XI: Der Hals ist<br />

schmäler geworden, trägt er doch einen kleiner und leichter gewordenen Kopf,<br />

ist nicht mehr bekrönt von dem mächtigen Baumstrunk, sondern von einem<br />

filigranen, leichten Astgewirr, das wie eine suchende Hand zum Himmel erhoben<br />

ist.<br />

Und die beiden Holzrisse zwischen den Brüsten vom oberen Ende des Halses<br />

bis zur Gegend des Nabels haben sich vertieft, sind klaffender geworden.<br />

So, genau so, weitergegeben, verschenkt, vererbt, wird dieser Oberkörper danach<br />

an Daphne XII. Der Unterkörper von Daphne VIII verändert sich weiter zu<br />

Daphne XI und von dort wird er unverändert weitergegeben an Daphne XII.<br />

Das wilde, ungestüme Antlitz von Daphne XI, ehemals der willensstarke Kopf<br />

254, jedoch hat bei Daphne XII einem klaren, offenen, edel geschnittenen Gesicht<br />

Platz gemacht und trägt eine weniger ausladende, viel weniger machtheischende<br />

Astkrone.<br />

Daphne XIII scheint auf den ersten Blick ein compositum ihrer Vorgängerin und<br />

Vorvorgängerin zu sein. Der zweite Blick scheint dies auch zu bestätigen. Die<br />

Anmut der Körper steigert sich. Sie werden leichter, vergänglicher, ja ätherischer.<br />

Sie sind mädchenhafter, statt fraulich. Sind zarter im Ausdruck. Und von<br />

besonderer Wichtigkeit ist das, was sich im Wachsen, in der Art des Wachsens<br />

der Astkrone zeigt, nämlich eine tiefe und wesentliche Veränderung.<br />

Und auch das menschliche Gesicht wird wie eine Maske getragen. Und doch<br />

wieder nicht, weil die Maske zugleich das Gesicht ist.<br />

Der Stamm, die Stämme der Äste, gehen über in den Hals, als wäre dies der<br />

ureigenste Nährboden der Pflanze. Nicht der Mensch trägt die Pflanze wie<br />

etwa bei Daphne I oder als Rindenmaske Daphne ? VI !. Oder die in die Zweige<br />

gehängte Gesichtsmaske von Daphne VIII! Oder … Man spürt: Die Metamorphose<br />

der Daphne im Kosmos des Künstlers steht kurz vor ihrer Vollendung,<br />

die Kreiswege – niemals Irrwege – führen an ihr Ziel, das nicht im Außen, sondern<br />

im Innen liegt. Nicht das Wesen aus Fleisch und Blut wird zum Wesen aus<br />

Blatt und Holz, sondern das menschliche verschwistert sich dem pflanzlichen<br />

Wesen. Das Gewächs, das aus dem Halse sich erhebt ist nicht Teil einer erflehten<br />

oder erzwungenen Verwandlung, es ist nicht schmückendes Beiwerk,<br />

es ist nicht untergeordnet. Es ist als ob zwei wesensfremde Leben übereinge-


67<br />

kommen wären, als neue Lebensform zu existieren, damit die Gleichwertigkeit<br />

des Lebens, allen Lebens zu zeigen und Unter- und Überordnung als mögliche<br />

Form des Miteinander aufzuheben.<br />

Die Zeilen von Rainer Maria Rilke (1875 bis 1926) aus dem Gedicht „Es winkt<br />

zur Fühlung fast aus allen Dingen“ (Gedichte 1906 bis 1926, Frankfurt am Main,<br />

1986, Seite 879 Vers 13 bis 16) scheinen ein Wiederhall von Daphne XIII zu sein:<br />

Daphne XI<br />

2017, Br., H. 2,55 m, Unikat<br />

Daphne VIII<br />

2016, Br., H. 2,60 m, Unikat<br />

Daphne XI<br />

2017, Br., H. 2,55 m, Unikat<br />

„Durch alle Wesen reicht der eine Raum:<br />

Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still<br />

durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,<br />

ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.“<br />

Daphne XII<br />

2017, Br., H. 2,58 m, Unikat<br />

Daphne XIII<br />

2017, Br., H. 2,58 m, Unikat


68


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71


72<br />

Daphne II<br />

2016, Bronze,<br />

H. 1,67 m, 6 Ex.<br />

Daphne XIII B<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,37 m, Unikat<br />

Daphne III<br />

2016, Bronze, H. 49 cm, 9 Ex.<br />

Daphne XIII B<br />

Daphne XIII B hat einen neuen und anderen Körper, als ihre Daphne-Schwestern<br />

vor ihr.<br />

Der hölzerne Oberkörper von Daphne XI, XII und XIII A war stets derselbe bei<br />

diesen Skulpturen geblieben, hatte sich jedoch gespalten. Zwischen den Brüsten<br />

verlief ein Spalt in den Halsbereich bis unter das Kinn, der andere noch<br />

tiefere und breitere Riss bis zum Nabel.<br />

Ein äußeres Zeichen einer inneren Zerrissenheit?<br />

Diese Wunde, geschlagen von Apoll, ist nun verheilt, hat sich geschlossen. Der<br />

weichere, jüngere Oberkörper mit kleiner gewordenen Brüsten fügt sich nunmehr<br />

nahtlos an den Unterkörper an. Beides ist wie aus einem Guss, schon im<br />

Holzmodell und im doppelten Sinne in der bronzenen Transmutation.<br />

Jedoch ist Daphne XIII B noch immer eine armlose und scheinbar hilflose<br />

Daphne. Sie trägt – und das ist von besonderer Bedeutung – keinen Kopf. Alle<br />

Vorgängerinnen hatten Köpfe. Daphne I einen mächtigen mit den Wurzelresten<br />

schier gorgonenhaft nach oben sich reckenden Strunk eines Apfelbaums.<br />

Daphne II ein Korenantlitz.<br />

Die jugendliche Daphne III Haupthaar „wie ein im Frühjahr geschnittener<br />

Haselnuss“ (<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>).<br />

Daphne IV lächelnd, jedoch unfrei, mit verwüstetem Hinterkopf.<br />

Die hohe, mittelalterliche Daphne V, die Frau mit bedecktem Haupt.<br />

Daphne ? VI ! Die mächtige, maskentragende Daphne.<br />

Dann als gegensätzliche Möglichkeit die feinsinnige und feine, zarte und zärtliche<br />

Daphne VII. Im ausformulierten Gesicht schön gewölbte Brauen, schmale<br />

gerade Nase über vollem Lippenpaar.<br />

Daphne VIII leitet den Zyklus von Großplastiken ein, die Unikate bleiben. Dies,<br />

weil ihre Daphnezeichen, die aus ihrem Hals wachsenden Astgewirre eben<br />

einmalig waren und beim Gießen der heißen Bronze in die Form unwiederbringlich<br />

ausbrannten.<br />

Daphne VIII, die rätselhafteste Skulptur dieses Zyklus gab ihren Körper unverändert<br />

an Daphne IX weiter, deren Antlitz in edler Klarheit erstrahlt und die<br />

keinerlei Verwandlungsmerkmal trägt.<br />

Wohingegen Daphne X, die Maquette, einen wild wuchernden Wurzelschopf<br />

einer Fenchelknolle in die Lüfte über sich hält.<br />

Und Daphne XI, XII, XIII, XIII B sind und bleiben je allein, sind und bleiben<br />

Unikate, weil ihr Astwerk, wie beschrieben, einmal nur existieren konnte und<br />

in der sengenden Bronze verbrannte.


73


74<br />

Daphne XIII B<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,37 m, Unikat<br />

Daphne XIII B beschließt also die Linie oder besser den Kreis, den Ring der<br />

Äste tragenden Daphnen und ist Vorbotin der letzten.<br />

Zugleich aber verweist sie weit zurück, weist zurück auf Daphne I. Deren Apfelbaumstrunk<br />

erhält bei ihr ein luftiges Pendant, die Krone eines Apfelbäumchens,<br />

das Luther gepflanzt haben würde, wenn seine Welt untergegangen<br />

wäre. Es ist die Rückkehr zu der Wurzel, back to the roots im doppelten Sinne!


Oder gar im dreifachen? Denn es gibt noch eine Verwandtschaft:<br />

Als „Hauskonterfetter“ (Konterfei ist in dem Wort enthalten), als Porträtmaler<br />

also, kam er im Jahr 1562 an den Hof Kaiser Ferdinand I nach Wien. Den Vertumnus<br />

hat er gemalt, das Abbild Kaiser Rudolf II.<br />

Und Reichsgraf ist er geworden durch den Kaiser, der Künstler Guiseppe<br />

Arcimboldi, bekannt als Arcimboldo (1526 – 1593).<br />

Sein Zeitgenosse Gregorio Comanini (1550 – 1608) sagte ihm Fantasie und Launigkeit<br />

(di capriccio), ganz eigene Erfindungsgabe (d´invention sua) und das<br />

75<br />

gewisse Etwas nach, das es außerhalb des eigenen Kopfes nicht gibt (che non<br />

habbia l´essere fuori del proprio intelletto) (Gregorio Comanini, Il Figino overo<br />

del fine della Pittura, Mantua 1591, Seite 29). Und Vertumnus alias Kaiser Rudolf<br />

II war der etruskisch-römische Gott der Jahreszeiten, des Wachstums von<br />

Pflanzen und ihrer Früchte, aber auch des Wandels, der Verwandlung.<br />

Und da ist es wieder, das Staunen, der Beginn der Philosophie. Das Staunen<br />

nämlich über die Abbildungskraft dieses Künstlers, der aus Äpfeln und Birnen,<br />

Trauben und Kirschen, Korn, Mais und Oliven, Blumenblüten und Salat, den<br />

Kaiser schuf! Da aber kreuzt Arcimboldo das Werk <strong>Klinge</strong>s. Sehen wir Daphne<br />

XIII B ins Antlitz: ein Astgewirr, ein Wurzelgeflecht?<br />

Nein, alles wohlgeordnet!<br />

Ein fein modellierter Kiefer mit ausgeprägtem Kinn. Windzerblasene Frisur.<br />

Augenbrauen und Birnennase aus einem dreigeteilten Ast. Ein Ast auch die<br />

lächelnd geschwungenen Lippen. Schön wie der kaiserliche Vertumnus-<br />

Schnurrbart.<br />

Vertumna! Arcimboldo würde heiter und bewundernd auflachen! Ein Bild des<br />

Wandels und der Verwandlung, auch des Formenreichtums, ein mit verrotteten<br />

Ästen, Ästchen und Holzsplittern gezeichnetes fröhliches Gesicht.


76


Daphne XIV und <strong>Verzetteltes</strong><br />

War es verlorene Zeit, die <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> auf der Suche nach Antworten auf<br />

Fragen, die dem Daphne-Zyklus möglich innewohnen, verbrachte? Hat er sich<br />

tatsächlich verzettelt, verhaspelt gar? Keineswegs!<br />

Mit der ihm eigenen Souveränität und Zielstrebigkeit (ja <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> strebt<br />

Zielen zu, die sich ihm in ihrer Tiefe im Laufe seiner Arbeiten enthüllen, die<br />

ihn gleichwohl zu Beginn noch unbekannt sind), gepaart mit höchstem künstlerischem<br />

Geschick hat er ein Ziel erreicht. Ein Ziel freilich, das auf einem Weg<br />

liegt, der noch lange nicht an sein Bedeutungsende gelangt ist.<br />

Mit Daphne XIV hat <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> eine Skulptur geschaffen, die der gesuchte<br />

und nun gefundene Zielpunkt der Daphne-Werkgruppe sein kann und wohl ist.<br />

Er hat sich wie von einer Sysiphus-Arbeit, den Stein wieder und wieder wälzen<br />

zu müssen, erlöst, indem all die Gedanken und Gefühle um diese Daphnen<br />

und ihre Schicksale, ihre möglichen Schicksale, in die vierzehnte Daphne eingepflanzt<br />

wurden.<br />

Den Körper, den jungen, straffen, hat Daphne XIV von Daphne XIII B erhalten.<br />

Der Oberkörper ist nicht mehr zerspalten, wie von einer tiefen Wunde der<br />

Sehnsucht zerrissen, wie bei Daphne XIII und ihren Vorgängerinnen.<br />

Daphne XIV hat die Zeichen der Verwandlung, des sich Verwandeln-müssens,<br />

der erzwungenen Verwandlung ebenso, wie die der Verwandlung aus freien<br />

Stücken, aus eigenem Willen, nahezu abgelegt.<br />

Kein Gesträuch, kein Geäst entwächst ihr. Das dramatisch zerrissene und eigentlich<br />

nicht vorhandene Gesicht der vor ihr geborenen Daphne ist ahnbarer<br />

geworden. Dieser Kiefer ist der einzige Fingerzeig auf Daphne-Blut in ihren<br />

Adern. Die Skulptur verspricht Heilung von dem Schauder, den Mühen und<br />

Ängsten der apollinischen Bedrängnis. Und sie ist nicht mehr hilflos, weil<br />

armlos, wie Daphne XIII B. Sie hat Arme. Ausgeformt, barock geschwungen,<br />

als hätten die Arme beim Anwachsen heitere Daseinsfreude in der Schulter<br />

und in Oberarmen verspürt, als hätte Daphne XIV ein gebauschtes Gewand<br />

angezogen.<br />

Und sie hat Hände, Hände mit fünf starken Fingern.<br />

Die Arme sind vor den Brüsten gekreuzt. Ein Gestus.<br />

Wenn Arme vor dem Oberkörper gekreuzt sind – brachia ante pectus decussata<br />

(Thomas Ohm, Die Gebetsgebärden der Völker und das Christentum, Bad<br />

Wörishofen, 1944, Seite 277) – kann diese Haltung mancherlei Bedeutung haben.<br />

Im Ägypten der 18. Dynastie, vor mehr als 3500 Jahren, war es ein Zeichen<br />

von Demut, Unterwerfung. Bekannt ist diese Haltung allerdings schon seit der<br />

5. Dynastie, also mehr als 1000 Jahre zuvor (vgl. Edith Bernhauer, Innovationen<br />

Daphne XIV<br />

2017, Bronze,<br />

H. 1,86 m, Unikat<br />

Daphne XIII<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,58 m, Unikat<br />

77


78


in der Privatplastik, Die 18. Dynastie und ihre Entwicklung, Wiesbaden 2010,<br />

Seite 21), ohne dass der Grund bekannt wäre.<br />

In der christlichen Kunst schließlich sind Inbrunstgestus und Demutsgestus<br />

nicht selten bei der Gottesmutter Maria und Heiligen anzutreffen.<br />

Doch sollen Unterwerfung, Demut, Inbrunst Eigenschaften dieser Daphne<br />

sein? Das Gegenteilt trifft zu!<br />

Diese Frau will sich keinem Mann, keinem Apollo, unterwerfen, sie ist nicht<br />

demütig. Allenfalls kämpft sie mit Inbrunst gegen die mögliche Verwandlung<br />

an, wie man wegen des fehlenden Kopfes und des einzig verbliebenen Kiefers,<br />

der ein Holzstück ist, vermuten kann.<br />

Diese Daphne will sich selbst schützen. Sie will ihre jugendliche Nacktheit, die<br />

den ovidischen Apollon in Raserei versetzte, verbergen. Sie will ihr Innerstes<br />

verbergen. Sie will Ihre Gefühle und Sehnsüchte verbergen. Sie will bei sich<br />

sein, nicht gejagt und verfolgt werden. Sie will die Verwandlung nicht, will sie<br />

verhindern.<br />

Aber, wer weiß, vielleicht hat diese Daphne, die letzte aller klingeschen Daphnen,<br />

den Überlebenskampf gewonnen, hat ihn hinter sich.<br />

Sie ist verletzt, schwer verletzt aus diesem Kampf gegen Unterdrückung, ja<br />

Versklavung, gegen körperliche Gewalt, gegen seelische Gewalt hervorgegangen.<br />

Aber der auf dem Hals sich sichelförmig biegende Kieferteil, der den Kopf andeutet,<br />

ist vielleicht auch als eine wie in neuer Hoffnung und Sicherheit aufgehende<br />

Mondsichel zu sehen, die wächst und weiter wächst, bis sie zum vollen,<br />

heilen Mond geworden ist, der er hinter den Erscheinungen von zu- und abnehmendem<br />

Mond schon immer war und immer sein wird.<br />

Ergebenheit und Erhabenheit, Verletzlichkeit und Stärke, Nähe und Distanz,<br />

Kampf, Niederlage und Sieg, Leben und Tod, Sehnsucht und Entsagung. All<br />

das und noch viel mehr, nämlich das Lebensdrama der Menschen und aber<br />

auch die Lebens- und Liebeshoffnung der Menschen trägt diese Daphne. Sie<br />

ist ein großes Zeichen von Humanität.<br />

Und mit ihr ist <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> einen langen Weg – auch des Verzettelten –<br />

gegangen und an ein großes Ziel gelangt.<br />

Daphne XIV<br />

2017, Bronze,<br />

H. 1,86 m, 6 Ex.<br />

79


80<br />

Fisigria II<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,31 m, Unikat<br />

Kapitel IV<br />

Fisigria II<br />

Sie ist anders geworden als ihre Schwester Fisigria I. Zwar sitzt sie ebenso aufrecht<br />

und würdevoll, die Schenkel geöffnet vor ihrem gewölbten Bauch, der<br />

ihre Schwangerschaft verrät. Alles ist so geblieben bei Fisigria II.<br />

Jedoch die wuchtigen Arme fehlen. Die Arme, die nahezu einen Kreis formten.<br />

Einen Kreis, der die Welt der Fisigria I zu umschreiben und zu umschließen<br />

schien. Trotz oder gerade wegen ihrer Handlosigkeit!<br />

Lange, schlanke Triebe wachsen nun bei Fisigria II aus dem mit Leben erfüllten<br />

Leib, als wäre dort ihr Nährboden, als berge der gerundete Bauch das Wurzelwerk.<br />

Es sind junge, sprießende Bäume, einer schon höher als die Sitzende.<br />

Und sie werden wachsen, mächtig und groß werden, die Skulptur mit einem<br />

Blätterdach überschatten, werden ihre Nährmutter vielleicht gar auszehren.<br />

Oder aber sind es Äste, die anstelle der Arme aus ihrem Mutterstamm wachsen,<br />

Äste, deren Wachstum stets im Gleichgewicht zum Baum, zur Mutter, bleiben<br />

wird.<br />

Äste, die zeigen, welches Momentum der Zeit sie bergen. Denn das Wachsen,<br />

das Ausschlagen, das Blättertragen und Blühen und schließlich das Blattabwerfen<br />

im Kreislauf des Jahres ist eine Metapher für gehende, vergehende und<br />

kommende Zeit. Und die Knospen auf den Enden der Zweige werden hinaufgetragen<br />

in hohe Lüfte, sind zugleich das Bild des soeben Geborenen, sind Bild<br />

für das Junge, Jüngste freilich auch, das erblühen wird.<br />

Es ist ein genealogisches Zeichen, das diese Skulptur bietet, sie ist Stammbaum,<br />

ist Begründerin eines neuen Geschlechts.<br />

Das Fleisch wird Pflanze, wie wir es bei der Plastik „Glaube“ gesehen haben,<br />

die Hand noch pars pro toto des Körpers. Dieser Körper ist nun geboren worden,<br />

hat anstelle der Arme Zweige, ist ein Zwitterwesen zwischen Mensch und<br />

Pflanze, ist Baum. Und wächst in eine friedliche, verschwisterte Zukunft allen<br />

Lebens hinein.


81


Figur 371, Figur 372, Figur 376, Figur 380<br />

Diese Figurengruppe zeigt Denken, Suchen und Finden <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s als<br />

plastisches Beispiel und im plastischen Beispiel. Alle diese Figuren sind vor<br />

Fisigria II, der Großplastik, entstanden.<br />

Der Künstler war in seinem Daphne-Zyklus tief in die Frage der Metamorphose<br />

von Mensch und Pflanze eingedrungen. Es zeigte sich für ihn jedoch, dass<br />

es nicht nur den Weg, den klassischen Weg, den Ovid beschrieben hat, geben<br />

82<br />

Fig. 371<br />

2016/2017, Bronze,<br />

H. 38 cm, Unikat<br />

kann, nämlich den der Usurpation, der Inbesitznahme des Menschen durch die<br />

Pflanze, durch die Natur. Den Weg, auf dem es Sieger und Besiegte stets geben<br />

muss. Der Weg, auf dem ein Teil, der Mensch nämlich als früherer rechtmäßiger<br />

Herrscher in seinem Körper verdrängt wird.<br />

Sondern es gab und gibt für <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> einen Weg, einen anderen Weg und<br />

nicht nur für ihn, sondern für alle Menschen. Und es gibt ihn noch, gibt ihn als<br />

Aus-Weg gar, das Miteinander von Natur und Mensch nämlich!<br />

Es ist ein neues Einswerden, das es in früheren Zeiten, in mythischen Zeiten<br />

gegeben hat, das aber aus unseren Zeiten entschwunden ist. Der Mensch ist gemeinhin,<br />

so will es scheinen, nicht Freund, sondern Feind der Natur geworden.


Figuren<br />

Mächtige Triebe entwachsen den menschlichen Körpern. Triebe der wuchswilligen,<br />

lebenswilligen und überlebenswilligen Pappel. Sie entspringen den<br />

Körpern, brechen aus ihnen heraus, sind Symbol für das Leben, das sich als<br />

Gedanke nie töten lässt. Bei genauem Betrachten fallen uns andere Skulpturen<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s ein, in die er sein Ideengut bereits pflanzte und die er in<br />

dieser Gruppierung wieder aufruft und zitiert.<br />

Fig. 376<br />

2017, Bronze,<br />

H. 23,5 cm, Unikat<br />

83<br />

So sehen wir bei den Figuren 371 A, B und C einen Kopf, der demjenigen von<br />

Figur 362 (Daphne V) ausgesprochen ähnlich ist und dort als „schamhaft und<br />

keusch, demütig und würdig“ benannt wurde. Hier allerdings hat dieses Antlitz<br />

einen deutlichen Zuwachs an Selbstbewusstsein und Mut erfahren. Sie<br />

steht selbständig und frei als Mutter künftiger Generationen von neuen Wesen.<br />

Oder Figur 380. Mit dem menschlichen Körper ist ein Stamm verbunden, fast<br />

ebenso groß in Länge und Umfang wie jener.<br />

Ein ganzes Büschel von Trieben entwächst ihm, dem Teil einer Salbeipflanze,<br />

sodass in der Frontalansicht die menschliche Figur wie mit Flügeln geschmückt<br />

erscheint.<br />

Ein Zwitterwesen, das sich nicht nur zwischen Mensch und Natur bewegt und<br />

dort hinein und da herauswächst, sondern das auch auf den Gegensatz von<br />

Natur und Kultur hinweist. Denn in gleicher Proportion wie Stamm und Körper


84<br />

Fig. 372<br />

2017, Bronze,<br />

H. 34,5 cm, Unikat<br />

sehen wir eine Säule stehen, allein und doch in spannungsgeladenem Dialog<br />

mit Mensch und Pflanze.<br />

Und wir erkennen diese Säule. In der Krypta aus dem 11. Jahrhundert in Unterregenbach<br />

steht diese Säulenform. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat sie uns in einer seiner<br />

Großplastiken bereits gezeigt, in Gordian XI.<br />

Dort trägt diese Säule, als wäre sie der Körper des großen sich neigenden<br />

Hauptes gewissermaßen das Schicksal dieses Wesens zu bleiben oder zu stürzen.<br />

Diese Figuren sind eine beeindruckende Suche, deren Ergebnis – nicht<br />

nur – Fisigria II geworden ist.


Fig. 380<br />

2017, Bronze,<br />

H. 37,5 cm, Unikat<br />

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86<br />

Ihh-Skulptur<br />

2017, Bronze,<br />

H. 188,5 m, 6 Ex.<br />

Kapitel V<br />

Zur Ihh-Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s<br />

„Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch,<br />

dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.<br />

Wer also ein Sein oder Nicht-Sein prädiziert, muss Wahres oder Falsches aussprechen“,<br />

so sagt Aristoteles in seiner Metaphysik (1011 b; Übersetzung H.<br />

Bonitz).<br />

Wer also einem bestimmten Gegenstand, etwa einer Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s,<br />

eine Eigenschaft zusprechen will, sagt, wenn es ein Sein ist, Wahres, wenn es<br />

ein Nicht-Sein ist, Falsches, meint Aristoteles.<br />

Und Aristoteles hat seit weit mehr als zwei Jahrtausenden Recht und Recht<br />

behalten.<br />

Dennoch ist das Nicht-Seiende der Ihh-Skulptur, das, was ihr Wesen ausmacht,<br />

sie kennzeichnet, ihr den Stempel aufdrückt.<br />

Wo ist denn der Corpus, dieser offenkundig menschlichen Figur? Ein Mensch,<br />

vielleicht ein weiblicher, steht vor uns. Das sagt uns der Kopf, sagen die Augen.<br />

Und der Körper? Nicht vorhanden! Und doch da! Was heißt da? Er ist nicht-seiend!<br />

Wenn hier also behauptet wird, das Nicht-Seiende sei, dann behaupten<br />

wir Falsches, sprechen die Unwahrheit aus, sagt Aristoteles.<br />

Aber <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> gibt dem nicht vorhandenen Körper durch den Rindenmantel<br />

aus Korkeiche, den er ihm umwirft, eine unglaublich starke Präsenz,<br />

ein Dasein. Nicht in der Wirklichkeit der anzufassenden Dinge, wohl aber in<br />

der Wirklichkeit der Imagination.<br />

Die Wahrheit ist aber das Unverborgene. Aletheia, das griechische Wort für<br />

Wahrheit, enthält genau diese Komponenten, das Verborgene nämlich, das<br />

nicht ist.<br />

Und es gilt für diese Skulptur, was allgemein für Masken gilt: „… das Maskenhafte<br />

der Masken ist nur ihr Auftritt, das Verbergen ist ihr Sprechen.“ (Tilo<br />

Schabert, Die Sprache der Masken, Reihe Eranos, Band 9, 2002, passim).<br />

Das was nicht sichtbar ist, der Körper, ist verborgen, gleichsam in einer anderen<br />

Wirklichkeit geborgen und er ist nicht, ist aletheia, Wahrheit.<br />

Keine Hilfe bietende Schutzmantelmadonna, wie etwa Gordian V steht vor uns.<br />

Es ist wie der Künstler formulierte „ein schwindsüchtiges Teil“, erbarmungswürdig,<br />

abgehalftert, vom Schicksal benachteiligt, vom Leben vergessen, am<br />

Zerbrechen, am Auseinanderbrechen.<br />

Das unterstreicht auch der auf den ersten Blick unverständliche Skulpturentitel:<br />

Iiih-Sculpture. Den Künstler kann man aber beim Worte oder zutreffender


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88


hier bei den Buchstaben nehmen: Ein Aufschrei, eine Reaktion auf etwas<br />

Bestimmtes: ihh! Gitt!<br />

So als sei noch ein wenig Lebendiges in ihr, zeigen sich an den beiden unteren<br />

Enden des rindigen Umhanges Zehen, vorsichtig, kaum erkennbar, als könnte<br />

aus der im wahren Wortsinne inneren Leere doch noch etwas sprießen, etwas<br />

wachsen.<br />

Als ob die Figur auseinanderbrechen, eher sogar auseinanderfallen würde, so<br />

mutet es an. Denn es scheint, als ob keinerlei Kraftanstrengung erforderlich<br />

wäre, um aus der stehenden Person ein Häuflein Elend zu machen; in sich<br />

zusammengesunken. Der Verrottung anheim gegeben. Und dennoch steht sie,<br />

wird in Zukunft stehen, lange überdauern. Eine „Sie“? Ja, die Figur. Ob es aber<br />

Frau oder Mann ist, muss nicht entschieden werden. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat sich<br />

und uns alle Deutungsmöglichkeiten offengelassen.<br />

Welches Material war die Bronze ehedem, bevor der Künstler dieses Material<br />

zur Transformation in die ewige Bronze zwang? Der Kopf, schmal geschnitten,<br />

edles, nachdenkliches Antlitz, war aus Erle, ebenso wie seine schier rohen Applikationen,<br />

abgerissene, zerspleißte Holzteile als Haare und Hals dem Kopf<br />

beigegeben. Der Nichtkörper, die große Rinde einer Korkeiche. Und auch das<br />

ist klar und wahr: Das letzte Hemd hat keine Taschen!<br />

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90<br />

Büste Roes XIII<br />

2017, Bronze,<br />

H. 97 cm, 6 Ex.<br />

Büste Roes XIII<br />

Wir erinnern uns, „Roes“ ist ein Anagramm von Eros, vielleicht auch von Rose.<br />

Jedenfalls sprechen die Skulpturen dieser Werkgruppe von Annäherung, ja Liebe,<br />

von Schönheit und deren Vergänglichkeit, von jetzt blühendem Leben, das<br />

doch bald welk wird.<br />

Roes XIII, man stutzt, so scheint es, ist mit Büste Daphne XI verwandt. Der<br />

Kopf gerahmt von Haar, der nackte Oberkörper armlos. Doch ein genauer Blick<br />

belehrt des Besseren. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> wollte<br />

den vorschnellen Betrachter ins Leere<br />

laufen lassen, in die Irre führen gar.<br />

Denn, blicken wir in beide Gesichter, so<br />

kann der Unterschied kaum größer sein:<br />

Ein altes, verbrauchtes, zerknautschtes (so<br />

sagt der Künstler) Gesicht dort bei Daphne<br />

XI, ein jugendlich frisches, feines Gesicht<br />

hier bei Büste Roes XIII. Es ist ein edles,<br />

schönes Antlitz, wie es vielleicht auch das<br />

der jungen Daphne XI war und nicht mehr<br />

ist.<br />

Die Haare dort roh und ungestüm, verwüstet,<br />

wie unbeachtet, hier wie eine<br />

geschmeidige, rechts bis zur Schulter reichende<br />

lebendige Mähne. Der Oberkörper<br />

dort mit eingeschriebenen, eingravierten<br />

Lebensspuren, zerklüftet und zerrissen,<br />

hier ein, am Beginn des Lebens als Frau,<br />

fein und schön gebildeter weiblicher Körper.<br />

Roes XIII ist, ihr leicht geneigtes Haupt<br />

zeigt es ebenso, wie der gesenkte Blick,<br />

schamhaft jung, ist wie eine Pflanze, eine Blume, eine Rose, die erblühen will<br />

und kann. Die den Moment erwartet, sich öffnen zu können. Jedoch ist sie in<br />

diesem Augenblick, den uns der Künstler zeigt, ganz in sich versunken, bei<br />

sich.<br />

Als memento mori können wir die Rückseite des Kopfes sehen, denn er ist kein<br />

wohlgeformtes Gegenstück des Gesichts, sondern zerspalten und zerklüftet,<br />

eine Ansammlung zerbrochener, verrotteter Hölzer. Memento mori eben, man<br />

lehrt uns zu bedenken, dass wir sterblich sind!


Kore IV<br />

Steht mit Kore IV nicht eigentlich eine Daphne, eine allerletzte, nach Daphne<br />

XIV vor uns?<br />

91<br />

Das Efeugesträuch auf dem Kopf scheint darauf hinzuweisen. Und auch der<br />

linke Arm könnte ein Zeichen der daphnehaften Verwandlung sein, ist er doch<br />

nicht aus einem Holzstück herausgeschnitten, sondern so, in diesem Halbbogen,<br />

ein natürlich gewachsener Ast. Auch der berockte Unterleib ist denen der<br />

Daphnen gleich. Jedoch heißt sie Kore.<br />

Koren waren in der archaisch-griechischen Zeit Mädchen, Jungfrauen, wie der<br />

Name besagt, die als alleine und aufrechtstehende Skulpturen gezeigt wurden,<br />

aber auch als Karyatiden in und an Tempeln.<br />

Eine Karyatide, eine Frau aus Karyai bei Sparta, trägt aber auch beispielsweise<br />

einen Korb, heißt dann Kanephore, Korbträgerin, „… die bei feierlichen Aufzügen<br />

die zu den Opfern gehörigen heiligen Geräte in schön geflochtenen Körben<br />

auf dem Haupte“ trug (Brockhaus, Leipzig 1902, 10. Band, K bis LECH, Seite 93).<br />

Kore IV<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,93 m, Unikat


92<br />

Kore IV<br />

2017, Bronze,<br />

H. 2,93 m, Unikat<br />

Kore IV trägt einen Korb, der allerdings hier eine einfache, klare Form angenommen<br />

hat, die schlicht aus zwei Baumscheiben, die untere kleiner, die<br />

obere größer, entstanden ist.<br />

Und sie trägt etwas in diesem Korb, bringt es dar.<br />

Sie trägt etwas Neues! Sie bringt eine andere Art von Verwandlung mit sich.<br />

Nicht sie verwandelt sich, sondern ihre Umgebung, ihr Umfeld, ihre Welt.<br />

Sie bringt, wie ein Geschenk, den Aufbruch in eine neue Zeit.<br />

Eine Zeit, in der <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> die Welt der Daphnen, die Irrungen und Wirrungen,<br />

die Suche und das Finden hinter sich gelassen hat.


93


Schlussbetrachtung<br />

Damien Hirst sagt: „Somewhere between lies and truth, lies the truth.“<br />

Wo finden wir aber Wahrheit, wo liegt Wahrheit und wo lügt Wahrheit, wird<br />

Lüge?<br />

Abgesehen von dem Wortspiel erinnert uns dies an die Brüder Hypnos und<br />

Thanatos, denn Wahrheit und Lüge sind Schwestern.<br />

Dies gilt nicht nur in Zeiten von Fake-News oder gefakten Fake-News. Deshalb<br />

müssen vor allem Künstler ihre Achtsamkeit bewahren.<br />

Und sie müssen finden!<br />

94<br />

„Ich suche nicht – ich finde.<br />

Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von<br />

bereits Bekanntem im Neuen.<br />

Finden – das ist das völlig Neue!<br />

Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen und was gefunden wird,<br />

ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer!<br />

Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen,<br />

die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewissheit, in<br />

die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren<br />

Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt<br />

und eingeengt – das Ziel bestimmen. Dieses Offensein für jede neue<br />

Erkenntnis im Außen und Innen: Das ist das wesenhafte des modernen Menschen,<br />

der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im<br />

Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.“<br />

Pablo Picasso<br />

Auch hier gilt: Roma locuta, causa finita!<br />

Der Meister hat gesprochen, wer wollte oder könnte ihm widersprechen?!<br />

Und deshalb ergänzen wir nur: Das Suchen, das Irren, das Gehen von Wegen,<br />

die ins Dickicht, nicht ins Freie führen, muss sein. Das Suchen, ja „das Ausgehen<br />

von alten Beständen“, das Suchen nach Schönheit, nach Wahrheit und<br />

Klarheit in den Künsten lang vergangener Zeiten aller Kulturen.<br />

Die Suche nach Meisterschaft!<br />

Dies ist kein „Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen“, sondern diese<br />

beständige Suche nach Werten erbringt „Gemischtes, <strong>Vermischtes</strong>, <strong>Verzetteltes</strong>“<br />

wie von selbst. Und dies zeichnet große Künstler aus!


Nachwort<br />

Und <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> antwortet auf die Bedrohung durch das Nichts, durch das<br />

Nichtsein, des, da wir diese Zeilen lesen, künftigen Nicht-mehr-seins, das<br />

unabänderlich, selbst wenn Menschen heutzutage schier methusalemisches<br />

Alter erreichen, jeden, jeden trifft.<br />

Seine Antworten sollen aber nicht bedeuten, dass er eine Erklärung oder gar<br />

eine Lösung dieser ewigen Frage hätte oder wenigstens so täte, als hätte er sie.<br />

Seine Werke sind offen, ehrlich, zwiegespalten, umgetrieben, voll der Trauer,<br />

der Sehnsucht, der Freude, der Ekstase.<br />

Kurz sie zeigen den Menschen, wie er ist. Nichts wird beschönigt, nichts wird<br />

vorgegeben.<br />

Man blickt auf <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Skulpturen, diese blicken, unerheblich ob kopflos,<br />

augenlos, mit voller Macht und Kraft zurück und sprechen, unerheblich<br />

ob kopflos, mundlos, von Zeiten, von unserer Zeit, von früheren Zeiten, von<br />

Zeitlosigkeit und vom Sein und Nichtsein, von Leben, Lieben und Tod.<br />

Und das ist der tiefe Grund, weshalb die Arbeiten des Künstlers <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong><br />

uns berühren. Wir erkennen uns wieder! Es ist keine Kunst, um der Kunst Willen.<br />

Es ist Kunst, um der Menschen Willen.<br />

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Impressum<br />

© 2018<br />

Freshup! publishing, Alfred Meyerhuber<br />

Vorspann aus Junk 189, 2018<br />

Text<br />

Alfred Meyerhuber<br />

Fotografie<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong><br />

Typographie, Gestaltung,<br />

Reproduktion<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, Rica Bock, Martin Frischauf<br />

Schwabenrepro GmbH<br />

Druck<br />

Wenng Druck<br />

Dinkelsbühl<br />

ISBN<br />

978-3-944526-87-4


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