Sanktlukas München Kanzelrede 2018 Björn Bicker Im Haus der Träume

19.03.2018 Aufrufe

Kanzelrede von Björn Bicker in St. Lukas am 18. März 2018 Im Haus der Träume. Nachdenken über den sakralen Raum Der Kirchenraum soll umgestaltet, den aktuellen Bedürfnissen des Gottesdienstes und der Gemeindearbeit angepasst werden. Eine Situation, die in den nächsten Jahren auf viele Gemeinden zukommen wird. Ein Relaunch in Zeiten, in denen sich alles rasend schnell verändert, alte Gewissheiten in Frage gestellt und zukünftige Entwicklungen ängstlich betrachtet werden. Alles ist im Wandel. In der Kirche, im Theater, in der Kunst, in der Gesellschaft, ja sogar die Atmosphäre, die uns umgibt, das Klima wandelt sich. Und dann: Ein Update des heiligen Raumes. Wir befinden uns hier in einer Kirche, in einem sakralen Raum und denken darüber nach, was ein sakraler Raum sein könnte. Jetzt, da alles anders wird. „Raum schaffen! Das Heilige suchen!“ Die unzähligen Gottesdienste, Taufen, Trauungen, Konfirmationen, Ordinationen, Konzerte, Installationen, die in diesem Raum schon stattgefunden haben, all die stillen und lauten Gebete, die Predigten und Reden, all die Ideen, die hier schon geboren wurden, das alles macht diesen Raum zu einem aufgeladenen Ort, zu einem Ort der Sehnsucht, zu einem Haus der Träume. St. Lukas: da steckt das Heilige schon im Namen. Aber was ist an diesem Raum heilig? Begegnen wir hier dem Göttlichen? Ist es das, das Heilige: dem Göttlichen begegnen? Was ein Raum ist, darauf können wir uns alle irgendwie einigen, aber das Heilige? Was soll das sein? Der Mann meiner Schwester hat im letzten Jahr sein Berufsleben als Erdkunde- und Sportlehrer beendet. Mit 66. Mein Schwager war sein Leben lang mit Leib und Seele Pädagoge, er hat mit seiner Frau drei Kinder großgezogen, er hat ein Haus gebaut und für die Zukunft seiner Familie gesorgt. Die ersten Enkelkinder sind schon geboren und er tut Dinge, zu denen er die letzten 40 Jahre nicht so recht gekommen ist. Man könnte sagen: Ein gelungenes Leben. Als wir uns im letzten Jahr bei einem Familienfest getroffen haben, sprachen wir wie immer über das 900-Seelen-Dorf in der Eifel, in dem wir beide aufgewachsen sind und das er vor gut 50 Jahren verlassen hat. Mein Schwager war sein Leben lang ein passionierter Fußballer. Seine Kindheit und Jugend hat er auf dem Fußballplatz dieses Dorfes verbracht. Dort hat er Niederlagen erlitten, Erfolgserlebnisse gefeiert, dieser Fußballplatz steht für seine Herkunft, seine Möglichkeiten, steht für Heimat, Geborgenheit, Freunde und Eingebunden sein. Und dann plötzlich mitten in unser belustigt-nostalgisches Gespräch hinein sagte mein Schwager: „Weißt Du was? Wenn ich sterbe, dann möchte ich, dass meine Asche feierlich im Mittelkreis dieses Fußballplatzes verstreut wird. Dort hat alles angefangen und dort soll alles enden.“ Volltreffer. Ungewollt hatte mein Schwager eine Definition davon gegeben, was ein heiliger Ort sein kann. Der Mittelkreis des Fußballplatzes unseres Dorfes ist für meinen Schwager der Ort, der seinem Leben Kontinuität und Sinn verleiht. Alles, was in seinem Leben geschah, lässt sich auf diesen Mittelkreis beziehen. Dieser Ort ist meinem Schwager heilig. Er würde nicht so weit gehen, über dem Mittelkreis des Fußballplatzes eine Kathedrale errichten zu wollen, aber die emotionale Verbindung zum Mittelpunkt und Ursprung seiner Welt ist wahrscheinlich stabiler als das Gemäuer von St. Lukas. Das Heilige ordnet unsere Welt. Es gibt ihr Sinn. Und es ist zugleich ein Sehnsuchtsort, an dem 1

<strong>Kanzelrede</strong> von <strong>Björn</strong> <strong>Bicker</strong> in St. Lukas am 18. März <strong>2018</strong><br />

<strong>Im</strong> <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong>. Nachdenken über den sakralen Raum<br />

Der Kirchenraum soll umgestaltet, den aktuellen Bedürfnissen des Gottesdienstes<br />

und <strong>der</strong> Gemeindearbeit angepasst werden. Eine Situation, die in den nächsten<br />

Jahren auf viele Gemeinden zukommen wird. Ein Relaunch in Zeiten, in denen sich<br />

alles rasend schnell verän<strong>der</strong>t, alte Gewissheiten in Frage gestellt und zukünftige<br />

Entwicklungen ängstlich betrachtet werden. Alles ist im Wandel. In <strong>der</strong> Kirche, im<br />

Theater, in <strong>der</strong> Kunst, in <strong>der</strong> Gesellschaft, ja sogar die Atmosphäre, die uns umgibt,<br />

das Klima wandelt sich. Und dann: Ein Update des heiligen Raumes. Wir befinden<br />

uns hier in einer Kirche, in einem sakralen Raum und denken darüber nach, was ein<br />

sakraler Raum sein könnte. Jetzt, da alles an<strong>der</strong>s wird. „Raum schaffen! Das Heilige<br />

suchen!“<br />

Die unzähligen Gottesdienste, Taufen, Trauungen, Konfirmationen, Ordinationen,<br />

Konzerte, Installationen, die in diesem Raum schon stattgefunden haben, all die<br />

stillen und lauten Gebete, die Predigten und Reden, all die Ideen, die hier schon<br />

geboren wurden, das alles macht diesen Raum zu einem aufgeladenen Ort, zu<br />

einem Ort <strong>der</strong> Sehnsucht, zu einem <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong>.<br />

St. Lukas: da steckt das Heilige schon im Namen. Aber was ist an diesem Raum<br />

heilig? Begegnen wir hier dem Göttlichen? Ist es das, das Heilige: dem Göttlichen<br />

begegnen? Was ein Raum ist, darauf können wir uns alle irgendwie einigen, aber<br />

das Heilige?<br />

Was soll das sein?<br />

Der Mann meiner Schwester hat im letzten Jahr sein Berufsleben als Erdkunde- und<br />

Sportlehrer beendet. Mit 66. Mein Schwager war sein Leben lang mit Leib und Seele<br />

Pädagoge, er hat mit seiner Frau drei Kin<strong>der</strong> großgezogen, er hat ein <strong>Haus</strong> gebaut<br />

und für die Zukunft seiner Familie gesorgt. Die ersten Enkelkin<strong>der</strong> sind schon<br />

geboren und er tut Dinge, zu denen er die letzten 40 Jahre nicht so recht gekommen<br />

ist. Man könnte sagen: Ein gelungenes Leben. Als wir uns im letzten Jahr bei einem<br />

Familienfest getroffen haben, sprachen wir wie immer über das 900-Seelen-Dorf in<br />

<strong>der</strong> Eifel, in dem wir beide aufgewachsen sind und das er vor gut 50 Jahren<br />

verlassen hat. Mein Schwager war sein Leben lang ein passionierter Fußballer.<br />

Seine Kindheit und Jugend hat er auf dem Fußballplatz dieses Dorfes verbracht. Dort<br />

hat er Nie<strong>der</strong>lagen erlitten, Erfolgserlebnisse gefeiert, dieser Fußballplatz steht für<br />

seine Herkunft, seine Möglichkeiten, steht für Heimat, Geborgenheit, Freunde und<br />

Eingebunden sein. Und dann plötzlich mitten in unser belustigt-nostalgisches<br />

Gespräch hinein sagte mein Schwager: „Weißt Du was? Wenn ich sterbe, dann<br />

möchte ich, dass meine Asche feierlich im Mittelkreis dieses Fußballplatzes verstreut<br />

wird. Dort hat alles angefangen und dort soll alles enden.“ Volltreffer. Ungewollt hatte<br />

mein Schwager eine Definition davon gegeben, was ein heiliger Ort sein kann. Der<br />

Mittelkreis des Fußballplatzes unseres Dorfes ist für meinen Schwager <strong>der</strong> Ort, <strong>der</strong><br />

seinem Leben Kontinuität und Sinn verleiht. Alles, was in seinem Leben geschah,<br />

lässt sich auf diesen Mittelkreis beziehen. Dieser Ort ist meinem Schwager heilig. Er<br />

würde nicht so weit gehen, über dem Mittelkreis des Fußballplatzes eine Kathedrale<br />

errichten zu wollen, aber die emotionale Verbindung zum Mittelpunkt und Ursprung<br />

seiner Welt ist wahrscheinlich stabiler als das Gemäuer von St. Lukas. Das Heilige<br />

ordnet unsere Welt. Es gibt ihr Sinn. Und es ist zugleich ein Sehnsuchtsort, an dem<br />

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wir mal waren, von dem wir aber vertrieben sind, <strong>der</strong> uns bleibt als Hoffnung, als<br />

Erinnerung, als Traum, für manche auch als Albtraum. Das Heilige verbindet uns mit<br />

einer Dimension, die größer ist als wir selbst. Mächtiger. Es markiert Anfang und<br />

Ende und es verbindet uns mit einer Wirklichkeit, die schon vor uns da war und die<br />

auch nach uns noch Bestand haben wird. Aber das Heilige ist gefährlich. Die<br />

Erfahrung des Heiligen hat immer auch den Preis, dass es uns wie<strong>der</strong> verloren geht.<br />

Die Erfahrung des Heiligen konfrontiert uns nicht nur mit dem Anfang von allem,<br />

nein, sie konfrontiert uns auch mit dem Ende von allem, mit Gewalt, Tod und Trauer.<br />

Diese Gleichzeitigkeit habe ich gespürt, als ich bei <strong>der</strong> Geburt meiner beiden Kin<strong>der</strong><br />

dabei sein durfte. Zwei gesunde Kin<strong>der</strong> zu haben, <strong>der</strong>en Geburten mehr o<strong>der</strong><br />

weniger natürlich im geschützten Raum einer gut ausgestatteten Münchner Klinik<br />

stattfanden: Was für ein Privileg. Und dennoch: Ich verrate keine intimen Details,<br />

wenn ich von Schmerz, Blut, Schreien, Angst, Übermüdung und Flehen spreche.<br />

Und dann dieser eine Moment, wenn das Kind endlich dem erschöpften Körper <strong>der</strong><br />

Mutter entrissen ist, wenn die Zeit still zu stehen scheint, wenn die Nabelschnur vom<br />

kleinen Hals des Babys gewickelt wird, diese Sekunde, da nicht klar ist, wird es jetzt<br />

schreien o<strong>der</strong> wird es stumm bleiben, wird das Blau aus dem Gesicht dieses kleinen<br />

Menschen wie<strong>der</strong> weichen o<strong>der</strong> nicht, wird das Leben gewinnen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tod, dieser<br />

kurze Moment, <strong>der</strong> einen fast zerreißt, dieser Moment, in dem man sich auf <strong>der</strong><br />

Schwelle zwischen dem absoluten Glück und <strong>der</strong> abgründigsten Trauer befindet,<br />

dieser Moment, in dem Leben und Tod gleichzeitig im Raum sind, dieser Moment, in<br />

dem es sich entscheidet: Wird es gut o<strong>der</strong> wird es herzzerreißend, in diesem<br />

Moment habe ich eine Erfahrung gemacht, die mich an etwas angeschlossen hat,<br />

was ich heilig nennen würde. Ich spüre eine Macht, die stärker, größer,<br />

unberechenbarer ist als alles, was ich bisher kannte. Eine Macht, die über Leben und<br />

Tod entscheidet. Dieser Moment von Verbundenheit mit dem Leben, das immer auch<br />

Tod bedeutet, dieser Moment ist ein Augenblick von Heiligkeit, weil er eine<br />

Wirklichkeit berührt, die mir in meinem alltäglichen Leben verborgen bleibt. Eine<br />

Wirklichkeit, die viel zu gefährlich ist. Solche Momente reißen den Himmel auf. So<br />

wie bei Jakob auf <strong>der</strong> Flucht vor seinem Bru<strong>der</strong> Esau. Auf dem langen Weg zu<br />

seinem Onkel nach Haran legt Jakob sich am Abend zum Schlafen und hat einen<br />

Traum.<br />

„Während er schlief, sah er im Traum eine breite Treppe, die von <strong>der</strong> Erde bis zum<br />

Himmel reichte. Engel stiegen auf ihr zum Himmel hinauf, an<strong>der</strong>e kamen zur Erde<br />

herunter. 13 Der HERR selbst stand ganz dicht bei Jakob und sagte zu ihm: »Ich bin<br />

<strong>der</strong> HERR, <strong>der</strong> Gott deiner Vorfahren Abraham und Isaak. Das Land, auf dem du<br />

liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Sie werden so unzählbar sein<br />

wie <strong>der</strong> Staub auf <strong>der</strong> Erde und sich nach allen Seiten ausbreiten, nach West und<br />

Ost, nach Nord und Süd. Am Verhalten zu dir und deinen Nachkommen wird sich für<br />

alle Menschen Glück und Segen entscheiden. 15 Ich werde dir beistehen. Ich<br />

beschütze dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wie<strong>der</strong> in dieses Land zurück.<br />

Ich lasse dich nicht im Stich und tue alles, was ich dir versprochen habe.«16 Jakob<br />

erwachte aus dem Schlaf und rief: »Wahrhaftig, <strong>der</strong> HERR ist an diesem Ort, und ich<br />

wusste es nicht!« 17 Er war ganz erschrocken und sagte: »Man muss sich dieser<br />

Stätte in Ehrfurcht nähern. Hier ist wirklich das <strong>Haus</strong> Gottes, das Tor des<br />

Himmels!«18 Früh am Morgen stand Jakob auf. Den Stein, den er hinter seinen Kopf<br />

gelegt hatte, stellte er als Steinmal auf und goss Öl darüber, um ihn zu weihen. 19 Er<br />

nannte die Stätte Bet-El (<strong>Haus</strong> Gottes);“ Gen. 28, 12-18.<br />

Das erste Gotteshaus: Ein Traum. Die Anwesenheit und die Zusage des einen<br />

Gottes, die Menschen zu begleiten. Das Heilige bekommt einen Ort, ein <strong>Haus</strong>. Das<br />

Tor des Himmels. Das <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong>.<br />

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Da fängt Religion an, wenn wir versuchen, dem Heiligen einen Ort zu geben, wenn<br />

wir von <strong>der</strong> Anwesenheit Gottes träumen, von einer Anwesenheit, die uns beschützt,<br />

anstatt uns zu zerstören, von einer Anwesenheit, die uns Orientierung gibt, Anfang<br />

und Ende markiert. Die Geschichte Israels im Alten Testament scheint mir auch eine<br />

Art Ideen- und Architekturgeschichte sakraler Bauten zu sein. Später als Moses mit<br />

seinem Volk unterwegs ist in jenes Land, in dem Milch und Honig fließen soll und <strong>der</strong><br />

Gott mal wie<strong>der</strong> ungehalten ist und seine Gefolgschaft verweigert und die Menschen<br />

alleine lässt, da versucht er es mit einem Zelt.<br />

„Von da an schlug Mose jedes Mal, wenn das Volk Rast machte, außerhalb des<br />

Lagers ein Zelt auf. Er nannte es das Zelt <strong>der</strong> Begegnung mit Gott. Wer von den<br />

Leuten im Volk eine Weisung o<strong>der</strong> Entscheidung des HERRN suchte, musste dorthin<br />

gehen.“ 2. Mose 33, 7<br />

Aber auch in diesem Zelt, in dem Gott mit Mose redet, kriegt Moses nicht genug. Er<br />

will Gott wirklich sehen. Zeig mir Dein Gesicht! Und dann gibt es eine Lektion in<br />

Heiligkeit.<br />

„Der HERR erwi<strong>der</strong>te: »Ich werde in meiner ganzen Pracht und Hoheit an dir<br />

vorüberziehen und meinen Namen '<strong>der</strong> HERR' vor dir ausrufen. Es liegt in meiner<br />

freien Entscheidung, wem ich meine Gnade erweise; es ist allein meine Sache, wem<br />

ich mein Erbarmen schenke. 20 Trotzdem darfst du mein Gesicht nicht sehen; denn<br />

niemand, <strong>der</strong> mich sieht, bleibt am Leben.“ 2. Mose, 33, 19-20<br />

Wir halten die Anwesenheit Gottes nicht aus. Das Heilige, das Göttliche, das bringt<br />

uns um.<br />

Da gehen wir doch lieber ins Theater. <strong>Im</strong> Theater geht es nicht um Leben und Tod.<br />

Auf dem Theater wird so getan als ob. Das ist <strong>der</strong> große Unterschied zwischen dem<br />

Theater und dem Kreißsaal. Und auch zwischen dem Theater und <strong>der</strong> Kirche? Auf<br />

dem Theater gibt es die große Verabredung, dass alles, was geschieht, eben nicht<br />

geschieht. Die Ohrfeige ist Akrobatik. Die Liebe ist halluziniert. Der Mord nur<br />

vorgetäuscht. Das einzige, was echt und tatsächlich geschieht ist das Spielen. Das<br />

Sich-Verstellen. Das Theater ist Fake. Aber die, die es tun, tun es mit großer Inbrunst<br />

und fühlen sich manchmal so, als würden sie es in echt erleben. Theater findet<br />

zumeist in geschlossenen Räumen statt. Diese Räume haben Regeln, Schwellen,<br />

Rituale. Wie Kirchen. Die Menschen erhoffen sich, dass ihre eigene Lebenswelt dort<br />

stellvertretend verhandelt wird. Das erleichtert, unterhält, verän<strong>der</strong>t uns. Und<br />

manchmal transzendiert es unser Leben und wir haben beim Zuschauen Momente<br />

<strong>der</strong> Erkenntnis, <strong>der</strong> Öffnung hin zu einer Realität, die uns im Alltäglichen zumeist<br />

verschlossen bleibt. Der Gott <strong>der</strong> Kunst und <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Religion sind miteinan<strong>der</strong><br />

verwandt.<br />

Die durchaus kritische, aber sehr elaborierte Kunstproduktion hat über die<br />

Jahrzehnte dazu geführt, dass viele Theater zu abgekapselten Parallelwelten<br />

geworden sind. Die Theater sind bevölkert von gut ausgebildeten, wohlhabenden,<br />

weißen, meist älteren Menschen, die sich Abend für Abend, gewollt o<strong>der</strong> ungewollt,<br />

darin bestätigen, dass sie selbst anwesend sind und die an<strong>der</strong>en nicht. Während es<br />

in den Theatern recht homogen zugeht, hat sich die Welt draußen aber rasant<br />

verän<strong>der</strong>t. Durch Migration und Globalisierung ist unsere Stadtgesellschaft zu einer<br />

Gesellschaft <strong>der</strong> Vielfalt geworden, kulturell, ethnisch, religiös. Unsere Gesellschaft<br />

ist eine Ansammlung vieler verschiedener Min<strong>der</strong>heiten, <strong>der</strong>en friedliches<br />

Zusammenleben wir nun fortwährend organisieren müssen. Offen, wertschätzend.<br />

Da helfen kein Jammern und kein Zau<strong>der</strong>n. Das ist unser Job. Als Theatermacher<br />

kam mir diese bildungsbürgerliche Blase, in <strong>der</strong> ich mich befand, irgendwann<br />

ziemlich weltfremd vor. Da ich aber einen festen Glauben an das Theater und seine<br />

Möglichkeiten hatte, bin ich mit meinen Kollegen irgendwann einfach raus aus dem<br />

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Theater und wir haben vor einigen Jahren damit begonnen, Projekte zu entwickeln,<br />

die sich genau mit diesen Themen beschäftigen. Und zwar gemeinsam mit den<br />

Menschen, mit denen ich im Theater normalerweise nicht in Kontakt komme. An den<br />

Orten, an denen diese Menschen leben, arbeiten, beten, zur Schule gehen.<br />

Bei einem dieser Projekte bin ich im Auftrag des Deutschen Schauspielhauses in<br />

Hamburg in einer Kirche gelandet und zwar auf <strong>der</strong> Veddel, einem Hamburger<br />

Stadtteil, in dem Menschen aus über 100 verschiedenen Län<strong>der</strong>n leben, einem<br />

ehemaligen Arbeiterstadtteil, <strong>der</strong> seit vielen Generationen von Einwan<strong>der</strong>ung geprägt<br />

ist. Viele Menschen dort sind arbeitslos und auf staatliche Unterstützung<br />

angewiesen. Zudem hat <strong>der</strong> Stadtteil einen schlechten Ruf. Nicht zuletzt, weil einer<br />

<strong>der</strong> Attentäter vom 11. September eine Zeitlang dort gelebt und natürlich auch die<br />

lokale Moschee besucht hat. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils leiden<br />

unter diesem schlechten <strong>Im</strong>age. Die meisten Menschen leben gerne dort, weil die<br />

Veddel einen sehr dörflichen Charakter hat, je<strong>der</strong> kennt jeden, die Nachbarschaft<br />

spielt eine wichtige Rolle. Wenn je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ist, wird das An<strong>der</strong>s-Sein zur Heimat.<br />

In <strong>der</strong> geografischen Mitte des Stadtteils gibt es eine evangelische Kirche. Direkt<br />

neben dem Fußballplatz und <strong>der</strong> Schule. Wie in einem Dorf. Als ich bei einem meiner<br />

ersten Spaziergänge durch die Nachbarschaft an <strong>der</strong> Tür des Pfarrhauses geklingelt<br />

habe, öffnete mir ein groß gewachsener Mann – <strong>der</strong> letzte Pastor <strong>der</strong> Veddel. Er<br />

erzählte mir davon, dass es eigentlich gar keine Gemeinde mehr gäbe, nur noch ein<br />

paar verstreute evangelische Christen, die meisten im Stadtteil seien Muslime,<br />

gehörten christlichen Freikirchen an o<strong>der</strong> hätten gar keine Religion. Und er erzählte<br />

mir von seinem Traum: “Ich möchte die Kirche öffnen, ich möchte die Kirche dem<br />

Stadtteil schenken, ich möchte, dass meine Kirche ein Ort für alle wird. Ein Ort <strong>der</strong><br />

Begegnung, ein Ort <strong>der</strong> Gemeinsamkeit. Ein Ort <strong>der</strong> Freude. Egal, wo die Menschen<br />

herkommen, egal welcher Religion sie angehören. So ein Ort fehlt in diesem<br />

Stadtteil. Das soll mein Gottesdienst sein. Mein <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong>“. Und ich habe<br />

ohne zu zögern meine Hilfe angeboten. Und so wurde die <strong>Im</strong>manuelkirche auf <strong>der</strong><br />

Veddel zum Zentrum unseres neuen Projekts. Wir nannten das, was wir vorhatten<br />

NEW HAMBURG. Und wir haben angefangen in einem zweijährigen Prozess,<br />

gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, Projekte zu entwickeln, die den<br />

Kirchenraum zum Zentrum des Stadtteils machen sollten. Mitgemacht haben die<br />

Schule, die muslimische Gemeinde, <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>garten, Geschäftsleute, soziale<br />

Träger, die Flüchtlingsunterkunft, Künstler, Aktivisten und viele, viele einzelne<br />

Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils. Wir haben in <strong>der</strong> Kirche ein Café für<br />

alle gegründet, es wurde Theater gemacht, Bands und politische Initiativen<br />

gegründet und dann gab es ein zweiwöchiges Festival auf dem all die Arbeiten und<br />

Versuche präsentiert wurden, die in dieser fulminanten Kollaboration entstanden<br />

waren. Nach dem Festival haben die Bewohnerinnen und Bewohner das Projekt mit<br />

Unterstützung <strong>der</strong> Kirche und des Theaters einfach weiterlaufen lassen. Das geht<br />

nun schon über vier Jahre so. Natürlich hat sich auch <strong>der</strong> Kirchenraum verän<strong>der</strong>t.<br />

Die Kirchenbänke sind einem einladenden Teppichboden gewichen, an <strong>der</strong> Decke<br />

strahlt ein großer heller Leuchter, <strong>der</strong> an die Beleuchtung <strong>der</strong> Hagia Sophia in<br />

Istanbul erinnert. Neben dem Eingang sind Schuhregale, die multifunktional genutzt<br />

werden.<br />

Das zentrale Theaterstück, das wir gemeinsam mit Bewohnerinnen und Bewohnern<br />

und Schauspielern des Deutschen Schauspielhauses entwickelt hatten, hieß „Die<br />

Insel“ und es war eine Art multireligiöser Feier des Zusammenlebens in diesem<br />

armen, aber doch so reichen Stadtteil. Mit dabei waren Christen, Muslime, Atheisten,<br />

Pfingstler, St. Pauli Fans, Menschen mit deutschen, türkischen, Ghanaischen,<br />

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nigerianischen, albanischen und Schwedischen Vorfahren. Und beschworen wurde<br />

das neue Hamburg, die neue Welt, das Zusammenleben <strong>der</strong> Vielen. Der<br />

Kirchenraum wurde zum Zentrum des Stadtteils. Während einer Probe zu unserem<br />

Stück kam es zu einer beson<strong>der</strong>s beeindruckenden Szene. Sefa, ein junger, sehr<br />

frommer Muslim, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Moscheegemeinde die Kin<strong>der</strong> im Koran unterrichtet,<br />

machte als Darsteller bei unserem Stück mit. Er kam eines Morgens aus <strong>der</strong><br />

Gar<strong>der</strong>obe in den Kirchenraum und hatte sich aus dem Kostümfundus Locken und<br />

Kleidung eines Ultra-Orthodoxen Juden besorgt. So kam er barfuß in die Kirche,<br />

unter dem Arm trug er seinen geliebten Koran und er ging schnurstracks auf die<br />

Kanzel zu, stieg nach oben, schlug den Koran auf und rezitierte in diesem Kostüm<br />

ganz ernst seinen Lieblingsvers aus seinem heiligen Buch. Es ging um Versöhnung<br />

und Liebe unter den Menschen. Alle hielten den Atem an. Und dann, als er fertig war,<br />

schaute er in die Runde und fing an zu lachen. Und alle stimmten ein in sein Lachen.<br />

Es war ein warmes, freudiges Lachen. Und diese Szene fand später Einzug in die<br />

Aufführung und <strong>der</strong> gesamte Stadtteil sah Sefa, dem jungen frommen Muslim,<br />

abends dabei zu, wie er anfing mit seiner religiösen Identität zu spielen, wie er<br />

versuchte, die Dinge und die Traditionen in seinem Spiel zusammen zu bringen.<br />

Das waren für mich sehr heilige Momente. Dieser Kirchenraum war plötzlich ein Ort<br />

des Friedens, ein Ort <strong>der</strong> Entspannung, ein Ort, an dem die Ordnung <strong>der</strong> profanen<br />

Welt durcheinan<strong>der</strong>geriet, <strong>der</strong> ewige Fluss von Konflikt und Vorwurf und<br />

Unverständnis war unterbrochen und in diesem Gotteshaus blitzte etwas auf, das wir<br />

alle so bitter nötig haben: Hoffnung. Der Vorschein einer an<strong>der</strong>en Welt. In <strong>der</strong><br />

<strong>Im</strong>manuelkirche auf <strong>der</strong> Veddel ist in <strong>der</strong> Apsis hinter dem Altar ein riesiger Jesus in<br />

kräftigem schwarzem Strich an die Wand gemalt. Er hält seine rechte Hand segnend<br />

in den Raum. Während des Festivals auf <strong>der</strong> Veddel organisierten wir auch eine<br />

offene Koranschule für Erwachsene. Diese Nachmittage fanden im Wechsel in <strong>der</strong><br />

lokalen Moschee und in <strong>der</strong> Kirche statt. An einem Nachmittag in <strong>der</strong> Kirche, es ging<br />

um die Bedeutung <strong>der</strong> Nachbarschaft im Koran, hatten wir uns im Halbrund vor dem<br />

Altarraum versammelt, um dem Vortrag eines muslimischen Theologen zu lauschen,<br />

da hatte einer <strong>der</strong> anwesenden Muslime, den <strong>Im</strong>puls die anstehende Gebetszeit<br />

nicht verstreichen zu lassen, son<strong>der</strong>n zu beten. Er stand auf, rollte seinen<br />

Gebetsteppich im Altarraum <strong>der</strong> Kirche, unter den schützenden Händen dieses<br />

Jesus Bildes aus und verrichtete sein Gebet Richtung Mekka, während wir ein paar<br />

Meter weiter vorne saßen und lebhaft miteinan<strong>der</strong> über das Thema des Vortrags<br />

diskutierten. An diesem Nachmittag war eine Reporterin des GEO Magazins zu Gast,<br />

die gerade an einer Reportage über neue religiöse Orte in Europa arbeitete. Die<br />

Mitreisende Fotografin ließ sich dieses Motiv natürlich nicht entgehen: Ein junger,<br />

muslimischer Mann im Adidas Trainingsanzug, <strong>der</strong> auf seinem Gebetsteppich neben<br />

dem Altar unter den segnenden Händen dieses Jesusbildes zu seinem Gott betet.<br />

Daneben das große Stativ und <strong>der</strong> Scheinwerfer <strong>der</strong> Theaterbeleuchtung. So sieht<br />

das, was in Wirklichkeit geschehen ist, auf diesem Bild aus wie eine Inszenierung.<br />

Die Gleichzeitigkeit von christlicher und muslimischer Frömmigkeit in einem Raum.<br />

Das selbstverständliche Neben- und sogar Miteinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Menschen an diesem<br />

Nachmittag machte diese Kirche an diesem Tag für mich zu einem heiligen Raum.<br />

Ich fing an, zu verstehen, was <strong>der</strong> Traum des letzten Pastors von <strong>der</strong> Veddel war.<br />

Einen Raum zu öffnen, in dem all das möglich war, was woan<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

nicht o<strong>der</strong> nur zu selten funktioniert. Respekt. Neugierde. Miteinan<strong>der</strong>. Und<br />

friedliches Nebeneinan<strong>der</strong>, auf engstem Raum. Den Kern <strong>der</strong> eigenen Religiosität als<br />

Offenheit für an<strong>der</strong>e zu begreifen. Das könnte auch eine Leiter sein, die Leiter, die<br />

Jakob im Traum den Himmel öffnete. Befreit zu sein, von einengenden Gesetzen,<br />

von frommen Vorschriften und Zuschreibungen, was das Heilige denn nun gefälligst<br />

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sein und welchen Gesetzen <strong>der</strong> sakrale Raum gehorchen soll. Die Freiheit,<br />

Menschen das tun zu lassen, was sie eigentlich am liebsten tun: Gemeinschaft<br />

bilden. Mit an<strong>der</strong>en Menschen. Und vielleicht sogar Gott begegnen. Aber wie bilden<br />

wir Gemeinschaft in einer Stadt, in <strong>der</strong> die Menschen an verschiedene Götter<br />

glauben, aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen stammen? Wie kann<br />

das gelingen? Auf jeden Fall brauchen wir dafür Räume! Vielleicht brauchen wir<br />

genau dafür sakrale Räume. Vielleicht ist auch das unser Gottesdienst. Das<br />

Vorleben radikaler Offenheit. Unsere Zelte, unsere Häuser öffnen. Und ja, das ist<br />

gefährlich! Das zwingt uns dazu, uns selbst zu befragen, uns selbst kennen zu<br />

lernen, damit wir auch von uns selbst erzählen können. Das stößt uns mit <strong>der</strong> Nase<br />

darauf, dass wir die Wahrheit nicht gepachtet haben. Wir können uns nicht länger<br />

einigeln und so tun, als würde sich die Welt nicht verän<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> gar um uns drehen.<br />

Unsere Gewissheiten stehen auf dem Spiel, ja, auch das könnte das Heilige sein,<br />

sich dieser Gefahr aussetzen und dann schauen, was passiert. Hoffnung haben,<br />

dass wir das Aushalten und gestärkt aus diesen Begegnungen hervorgehen.<br />

Dieses <strong>Haus</strong> hier ist aus Stein. Aber wenn man den Turn des Neuen Testaments<br />

ernst nimmt, dann hat das Heilige ganz viele Häuser. Dann sind wir nämlich alle<br />

Wohnstätten des Heiligen. »Denn wo zwei o<strong>der</strong> drei in meinem Namen<br />

zusammenkommen, da bin ich selbst in ihrer Mitte.« (Matthäus 18, 20) Die<br />

Gemeinschaft <strong>der</strong> Heiligen in einem heiligen Raum. In dieses <strong>Haus</strong> würde ich gerne<br />

einziehen, in dieses <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong>. „Denn <strong>der</strong> Tempel Gottes ist heilig, und<br />

dieser Tempel seid ihr!“ so sagt es Paulus im ersten Brief an die Korinther. (1.<br />

Korinther, 3,16) Wir tragen diese ganzen Ambivalenzen in uns. Wir sind vom Tode<br />

bedroht, wir sind fähig zum gelingenden Leben. In dieses <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong> möchte<br />

ich gerne einziehen. In dieses <strong>Haus</strong>, in dem es um Gerechtigkeit geht und nicht um<br />

Recht haben. In dieses <strong>Haus</strong>, in dem es um Öffnung geht, nicht um Verstockt sein.<br />

Dieses <strong>Haus</strong>, in dem Geschichten erzählt werden vom Teilen, vom Frieden, vom Ja-<br />

Sagen, vom Nein-Sagen, in dem Konflikte ausgetragen werden, in dem Platz ist für<br />

das Neue, das Überraschende, das alt Bekannte und das Gefährliche: Raum für<br />

Begegnung, für gefährliche Begegnungen. Dieses <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong>, in dem wir<br />

davon träumen, wie es an<strong>der</strong>s sein könnte in diesem Raum, in dieser Stadt, in<br />

diesem Land, auf dieser Welt. Dieses <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong>, das ein <strong>Haus</strong> <strong>der</strong><br />

Gemeinschaft aller Menschen ist. Gleich welcher Herkunft, welcher Religion,<br />

welchen Geschlechts. Das ist mein <strong>Haus</strong> <strong>der</strong> <strong>Träume</strong>. Das ist mein heiliger Raum.<br />

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