Hildegard_von_Bingen_Deutsch
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<strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong><br />
Wirkungsstätten
<strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong><br />
(1098–1179)<br />
Fest am 17. September<br />
Prophetin durch die Zeiten<br />
<strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong> (1098–1179) gilt als eine der bedeutendsten<br />
Frauen des deutschen Mittelalters und ist heute weit über die Grenzen<br />
ihrer rheinischen Heimat hinaus bekannt. Ihre Zeitgenossen zog sie<br />
ebenso in ihren Bann wie die Menschen, die heute nach Sinn, Orientierung,<br />
Ganzheit und Heil suchen.<br />
Am 7. Oktober 2012 wurde <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> Papst Benedikt XVI. zur<br />
Kirchenlehrerin erhoben, eine Ehrung, die bisher in der Geschichte<br />
der Kirche nur 30 Männern und vier Frauen zu Teil wurde.<br />
<strong>Hildegard</strong>s theologisches, philosophisches, musikalisches und naturkundliches<br />
Werk und Selbstverständnis trägt stark visionäre und prophetische<br />
Züge. Göttlicher Ursprung dessen, was sie im „Lebendigen Licht“<br />
geschaut und gehört hat, und Sendungsbewusstsein der Prophetin zeichnen<br />
es gleichermaßen aus. Die hl. <strong>Hildegard</strong> wollte die Menschen ihrer<br />
Zeit aufrütteln und der Gott-Vergessenheit entgegentreten. Dabei predigte<br />
sie keineswegs eine weltlose Innerlichkeit. Ihr ging es um die religiöse<br />
Deutung des gesamten Kosmos, um ein konsequent gelebtes christliches<br />
Leben. Alles, Himmel und Erde, Glaube und Naturkunde, das<br />
menschliche Dasein in all seinen Facetten und Möglichkeiten, war für sie<br />
ein Spiegel der göttlichen Liebe, war Geschenk und Aufgabe zugleich.<br />
<strong>Hildegard</strong>s Schriften schöpften vor allem aus der Hl. Schrift, der Liturgie<br />
und der Regel des hl. Benedikt, aus den Quellen also, aus denen<br />
sie als Ordensfrau und Benediktinerin lebte. Aber auch die Kirchenväter<br />
und die großen theologischen Denker ihrer Zeit kannte sie gut.<br />
Drei große theologische Werke hat <strong>Hildegard</strong> verfasst. In ihrem ersten<br />
Werk „Scivias – Wisse die Wege“ schlägt sie einen großen heilsgeschichtlichen<br />
Bogen <strong>von</strong> der Schöpfung der Welt und des Menschen<br />
2
Prophetin durch die Zeiten<br />
<strong>Hildegard</strong>darstellung im Beuroner<br />
Malstil, Abtei St. <strong>Hildegard</strong><br />
über das Werden und Sein der Kirche bis zur Erlösung und Vollendung<br />
am Ende der Zeiten. Die ewige Geschichte <strong>von</strong> Gott und Mensch, <strong>von</strong><br />
Abkehr und Hinwendung des Menschen zu seinem Schöpfer wird in<br />
immer neuen Bildern anschaulich gemacht. Beeindruckend an <strong>Hildegard</strong>s<br />
Visionsschriften ist vor allem ihre elementare Sprachgewalt.<br />
<strong>Hildegard</strong> erweist sich dabei nicht nur als souveräne Theologin, sondern<br />
ebenso als Dramaturgin, Dichterin und Komponistin.<br />
Letzteres fand seinen Niederschlag auch in der Komposition <strong>von</strong> 77<br />
Liedern und dem Singspiel „Ordo Virtutum – Spiel der Kräfte“, in<br />
dem sie den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse in 35 dramatischen<br />
Dialogen zur Darstellung bringt. Theologisch brachte sie dasselbe<br />
Thema in ihrem zweiten großen Hauptwerk, dem „Liber Vitae Meritorum<br />
– Buch der Lebensverdienste“ noch einmal zur Sprache. Der<br />
Mensch, so <strong>Hildegard</strong>s Grundanliegen, ist frei geschaffen und sein<br />
3
Prophetin durch die Zeiten<br />
4
Prophetin durch die Zeiten<br />
Papst Benedikt XVI.<br />
Diener der Diener Gottes, zum ewigen Gedächtnis:<br />
„Wir erklären kraft unserer apostolischen Autorität zur Ehre Gottes,<br />
zur Mehrung des Glaubens und zum Wachstum des christlichen<br />
Lebens, dass <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong>, Nonne des Ordens des<br />
heiligen Benedikt, heilig ist, in den Katalog der Heiligen eingetragen<br />
wird und mit frommer Andacht verehrt und unter den Heiligen<br />
der Universalkirche angerufen werden kann.<br />
Mit Sicherheit wissen wir, dass unsere Überlegung zur nunmehr<br />
geltenden Kanonisation dieser Frau, die mit heiligem Leben und<br />
theologischem Wissen ausgezeichnet ist, in der Kirche geistliche<br />
Früchte bringen wird. Denn <strong>Hildegard</strong> gab sich ganz der Sache<br />
Gottes hin, die sie sich mit Treue und Beständigkeit innigst zu eigen<br />
machte, und bezeugte täglich, dass Gott und dass Gottes<br />
Reich den ersten Platz einnahm. Aus ihrer Verbundenheit mit<br />
Christus floss wie aus einer Quelle ihre geistige Fruchtbarkeit, die<br />
ihre Zeit erleuchtete und sie zu einem unvergänglichen Vorbild der<br />
Wahrheitssuche und des Dialogs mit der Welt machte.“<br />
Aus dem Heiligsprechungsdekret (Litterae Decretales) vom 10. Mai<br />
2012 über den Vollzug der Kanonisation <strong>Hildegard</strong>s <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong>.<br />
Leben lang in die Entscheidung gestellt, seiner in der Schöpfung<br />
grundgelegten Gottesebenbildlichkeit zu entsprechen. „Werde, was<br />
du bist – Mensch, werde Mensch!“, dieses heute so oft zitierte Wort<br />
könnte sehr wohl dem Denken <strong>Hildegard</strong>s entnommen sein.<br />
7. Oktober 2012: Papst Benedikt XVI. auf dem Petersplatz in Rom<br />
nach der Erhebung der hl. <strong>Hildegard</strong> zur Kirchenlehrerin<br />
5
Prophetin durch die Zeiten<br />
Papst Benedikt XVI.<br />
Zum ewigen Gedächtnis:<br />
„Um den Wunsch mehrerer Brüder im Bischofsamt und vieler<br />
Christgläubiger auf dem ganzen Erdkreis zu erfüllen, nach<br />
Beratung der Heiligsprechungskongregation, erheben wir mit<br />
sicherem Wissen und nach reifer Überlegung und in der Fülle<br />
der apostolischen Autorität die heilige <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong>,<br />
Nonne des Benediktinerordens, zur Lehrerin der Universalkirche.<br />
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen<br />
Geistes.<br />
Die Lehre der heiligen Benediktinerin stellt sich als ein Wegweiser<br />
für den homo viator, den pilgernden Menschen, dar. Ihre Botschaft<br />
erscheint außerordentlich aktuell in der heutigen Welt, die<br />
für das Gesamtbild der <strong>von</strong> ihr vorgeschlagenen und gelebten<br />
Werte besonders empfänglich ist. Wir denken zum Beispiel an<br />
<strong>Hildegard</strong>s charismatische und spekulative Fähigkeit, die wie ein<br />
lebendiger Ansporn zur theologischen Forschung erscheint; an ihr<br />
Nachdenken über das in seiner Schönheit betrachtete Geheimnis<br />
Christi; an den Dialog der Kirche und der Theologie mit der Kultur,<br />
der Wissenschaft und der zeitgenössischen Kunst; an das<br />
Ideal des geweihten Lebens als Möglichkeit menschlicher Verwirklichung;<br />
an die Aufwertung der Liturgie als Feier des Lebens,<br />
an die Idee einer Reform der Kirche, nicht als sterile Veränderung<br />
der Strukturen, sondern als Umkehr des Herzens; an ihre Feinfühligkeit<br />
für die Natur, deren Gesetze zu schützen sind und nicht<br />
verletzt werden.“<br />
Aus dem Apostolischen Schreiben (Litterae Apostolicae) vom<br />
07. Oktober 2012, mit dem <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong> zur Lehrerin der<br />
Universalkirche erhoben wurde.<br />
6
Prophetin durch die Zeiten<br />
„Die Chöre der Engel“ – Miniatur aus dem<br />
Rupertsberger SCIVIAS-Kodex der hl. <strong>Hildegard</strong><br />
In ihrem dritten Werk, dem „Liber<br />
divinorum operum – Welt<br />
und Mensch“, einer gewaltigen<br />
Kosmosschrift, lässt <strong>Hildegard</strong> die<br />
Welt als Kunstwerk Gottes aufstrahlen.<br />
Der Mensch erscheint<br />
als Mikrokosmos, der in all seinen<br />
körperlichen und geistigen Gegebenheiten<br />
die Gesetzmäßigkeiten<br />
des gesamten (Makro‐)Kosmos<br />
widerspiegelt. Alles ist<br />
aufeinander bezogen, wechselseitig<br />
miteinander verbunden und in<br />
Gott untrennbar vereint.<br />
Der Gedanke der Einheit und<br />
Ganzheit ist auch ein Schlüssel<br />
zu <strong>Hildegard</strong>s natur- und heilkundlichen<br />
Schriften. Diese sind ganz da<strong>von</strong> geprägt, dass Heil und<br />
Heilung des kranken Menschen allein <strong>von</strong> der Hinwendung zu Gott,<br />
der allein gute Werke und eine maßvolle Ordnung des Lebens hervorbringt,<br />
ausgehen kann. Auch hier war <strong>Hildegard</strong> nicht nur eine Prophetin<br />
ihrer Zeit, sondern kann auch dem heute suchenden Menschen<br />
Wegweisung und Orientierung geben.<br />
Nachhaltigen Ausdruck verlieh <strong>Hildegard</strong> ihrem prophetischen Anliegen<br />
auch in ihren Briefen, <strong>von</strong> denen mehr als 390 bis heute überliefert<br />
sind. Es sind Zeugnisse unerschrockener Direktheit, radikaler<br />
Ehrlichkeit, mahnender Sorge, erfrischend-humorvoller Weitherzigkeit,<br />
persönlichen Engagements für die Armen und weit reichender<br />
kirchenpolitischer Einflussnahme. <strong>Hildegard</strong> galt als anerkannte Autorität<br />
ihrer Zeit. Viele suchten ihren Rat, auch wenn er oftmals unbequem<br />
war. <strong>Hildegard</strong> war und ist ein Stachel im Fleisch <strong>von</strong> Kirche<br />
und Welt und eine wahrhafte Lehrerin der Kirche heute. Sie starb am<br />
17. September 1179 im Kloster Rupertsberg bei <strong>Bingen</strong>.<br />
Sr. Philippa Rath OSB<br />
7
Bermersheim<br />
Taufkirche <strong>Hildegard</strong>s in Bermersheim v. d. Höhe, heute <strong>von</strong> beiden Konfessionen als<br />
Simultankirche benutzt<br />
Bermersheim<br />
Als „Rheinhessen“ wird auch heute noch jenes mittelrheinische Gebiet<br />
zwischen Nahe und südlichem Rheinknie bezeichnet, das ehemals linksrheinische<br />
Provinz des Großherzogtums Hessen war. Es ist eine geschichtsträchtige<br />
Landschaft, die Spuren aus der Bronze- und Eisenzeit (2000<br />
v. Chr.) aufweist, sodann <strong>von</strong> der späteren Besiedlung durch die Kelten,<br />
Römer und Germanen und schließlich – nach Eingliederung ins Frankenreich<br />
– <strong>von</strong> fränkischen Siedlern. Stets war es das Schicksal dieses Rhein-<br />
Nahe-Raums, als Grenz- und Durchgangsland auch mehr dem „Wandel<br />
und der Zerstörung“ ausgesetzt zu sein als andere deutsche Landstriche.<br />
All das ist mit zu bedenken auf der Suche nach Spuren <strong>Hildegard</strong>s, die<br />
1098 im rheinhessischen Bermersheim als zehntes Kind des Edelfreien<br />
„Autorenbild: <strong>Hildegard</strong> und ihr Sekretär Volmar“ – Miniatur aus dem Rupertsberger<br />
SCIVIAS-Kodex der hl. <strong>Hildegard</strong><br />
9
Bermersheim<br />
Hildebert <strong>von</strong> Bermersheim und seiner Frau Mechtild geboren wurde.<br />
Nichts weist heute in diesem kleinen, beschaulichen Ort darauf hin, dass<br />
er einstmals der Stamm- oder Herrschaftssitz eines Geschlechtes war, das<br />
sich sowohl „durch hohen Adel und überfließenden Reichtum“ als auch<br />
„durch erlauchten Ruf und Namen“ – so die <strong>Hildegard</strong>-Vita – auszeichnete.<br />
Dabei darf sich Bermersheim, wie so viele fränkische Siedlungen mit<br />
dem auf die Silbe „‐heim“ ausgehenden Ortsnamen, einer jahrhundertelangen<br />
Geschichte rühmen. Es wird bereits in der 2. Hälfte des 8. Jh. in<br />
Schenkungsurkunden des Klosters Lorsch eine geschlossene „Dorfgemarkung“<br />
genannt; seine Entstehung muss also noch früher datiert werden.<br />
Einzige Zeugin aus dieser Zeit kann die kleine Kirche sein, deren massiver<br />
Turmbau wohl noch ins vorige Jahrtausend weist; ansonsten haben, wie<br />
schon erwähnt, „Wandel und Zerstörung“ ihre Opfer gefordert. Es gibt jedoch<br />
eine Handschrift <strong>von</strong> 1731, „Renovation der Bermersheimer Lagerbücher“,<br />
die in unmittelbarer Nähe der Kirche noch einen „herrschaftlichen<br />
Hof“ verzeichnet. Danach darf also vermutet werden, dass die kleine<br />
Kirche – wie im Mittelalter üblich – mit dem Bermersheimer Herrenhof<br />
verbunden, und somit wohl auch die Taufkirche <strong>Hildegard</strong>s gewesen ist.<br />
Doch mit welcher Sicherheit kann <strong>Hildegard</strong> überhaupt als Bermersheimerin<br />
ausgewiesen werden? Abt Trithemius vom Kloster Sponheim gibt<br />
um 1500 in einer Lebensbeschreibung <strong>Hildegard</strong>s ihren Geburtsort mit<br />
Schloss Böckelheim an der Nahe an, doch ging es ihm bei der Darstellung<br />
eines Heiligenlebens nie so sehr – wie auch an anderen Stellen deutlich<br />
wird – um historische Genauigkeiten. Die noch zu Lebzeiten <strong>Hildegard</strong>s<br />
verfassten Viten begnügen sich mit der Angabe „… im diesseitigen Frankenland<br />
…“, bzw. lassen eine Lücke für eine spätere Eintragung frei. Lediglich<br />
ihre Eltern werden mit Vornamen genannt, – Hildebert und Mechtild,<br />
– was für eine rechtskräftige Dokumentierung, etwa <strong>von</strong> Urkunden,<br />
damals völlig ausreichte. Auffällig ist, dass das Güterverzeichnis (Fundationsbuch)<br />
des <strong>von</strong> <strong>Hildegard</strong> um 1150 gegründeten Klosters Rupertsberg<br />
an der Spitze aller Eintragungen über neun Seiten hinweg Schenkungen<br />
aus dem Bermersheimer Gebiet aufführt. Zudem wird durch eine Schen-<br />
Gedenkstatue vor der Kirche in Bermersheim v. d. Höhe<br />
10
Bermersheim<br />
Innenansicht der Taufkirche <strong>Hildegard</strong>s in Bermersheim v. d. Höhe<br />
kungsnotiz aus der Zeit um 1158 die Vergabung des Herrenhofes zu Bermersheim<br />
und anderer Höfe an die „Herrinnen“ des Klosters Rupertsberg<br />
bestätigt. Die Aussteller der Schenkung sind nachweislich die drei Brüder<br />
<strong>Hildegard</strong>s, – offenbar ohne Nachkommen, – denn <strong>Hildegard</strong> als Jüngste<br />
zählte zu dieser Zeit schon 60 Jahre. Einer der Brüder, Drutwinus, findet<br />
erstmals in einer Urkunde des Mainzer Erzbischofs <strong>von</strong> 1127 als Zeuge Erwähnung,<br />
zusammen mit seinem Vater Hildebert <strong>von</strong> Bermersheim.<br />
Damit schließt sich der Kreis, und es dürfte erwiesen sein, dass <strong>Hildegard</strong><br />
eine „<strong>von</strong> Bermersheim“ gewesen ist. Erhärtet wird diese Aussage<br />
auch dadurch, dass die jeweilige Äbtissin des Klosters Rupertsberg –<br />
nach dessen Zerstörung 1632 die des Klosters Eibingen – die Ortsherrschaft<br />
über Bermersheim ausübte. Eine Schutzherrschaft übernahmen<br />
dazu die Pfalzgrafen, die dann allerdings zur Zeit der Reformation und<br />
später zu einer „Gewaltherrschaft“ wurde. Dennoch konnten sich die<br />
12
Der Disibodenberg<br />
Klosterruine Disibodenberg, kolorierter Stich, 19. Jh.<br />
klösterlichen Rechtsansprüche bis zur Abtrennung des linken Rheinufers<br />
zugunsten Frankreichs 1801 durchsetzen. Die Bermersheimer<br />
Kirche wurde seit der Reformation immer wieder und schließlich<br />
endgültig bis in unsere Tage als Simultankirche <strong>von</strong> beiden Konfessionen<br />
benutzt. Wie für eine fränkische Gründung charakteristisch,<br />
steht sie bis heute unter dem Patronat des hl. Martinus.<br />
Sr. Teresa Tromberend OSB<br />
Der Disibodenberg<br />
Wenngleich der Besucher des Disibodenbergs heute nur noch Ruinen<br />
als Zeugen einer großen und geistlich bedeutenden Vergangenheit<br />
vorfindet, so wird ihn doch die geradezu weihevolle Atmosphäre die-<br />
13
Der Disibodenberg<br />
ser Stätte beeindrucken und in ihren Bann ziehen. Hier nun hat <strong>Hildegard</strong><br />
den größten Teil ihres Lebens verbracht.<br />
Der Disibodenberg am Zusammenfluss <strong>von</strong> Nahe und Glan war spätestens<br />
seit dem 7. Jh. ein Mittelpunkt christlichen Lebens, vermutlich<br />
aber schon ein Heiligtum in vorchristlicher Zeit. Die auf dem<br />
Berg errichtete Taufkirche wurde zum Ausgangspunkt der Missionierung<br />
des Naheraums. Missionare aus bereits christlichen Gebieten<br />
kamen in dieses Land, darunter auch Disibod, der auf dem später nach<br />
ihm benannten Berg eine Zelle für sich errichtete, – der Tradition<br />
nach, auf die auch <strong>Hildegard</strong> sich in ihrer Disibod-Vita bezieht, sogar<br />
ein Kloster. Schon vor dem 9. Jh. ist seine Verehrung als Heiliger bezeugt.<br />
Um die Jahrtausendwende gründete Erzbischof Willigis <strong>von</strong><br />
Mainz neben der Taufkirche auf dem Disibodenberg ein Kanonikerstift<br />
für zwölf Geistliche, die die seelsorgliche Betreuung der umliegenden<br />
Siedlungen übernahmen.<br />
1108 berief der Mainzer Erzbischof Ruthard dann Benediktiner <strong>von</strong><br />
der Abtei St. Jakob in Mainz auf den Disibodenberg, und noch in<br />
diesem Jahr wurde mit dem Bau eines neuen Klosters begonnen, dessen<br />
imposante Ausmaße die bis heute erhaltenen Ruinen immer noch<br />
erahnen lassen. Eben diese Bautätigkeit hat dann die junge <strong>Hildegard</strong><br />
mit eigenen Augen verfolgen können, vielleicht auch als Anregung<br />
für den späteren Bau ihres Klosters Rupertsberg genommen.<br />
Den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend war dem Mönchskloster<br />
auf dem Disibodenberg auch eine Frauenklause angeschlossen. Über<br />
deren genaue Lage im Klosterbereich können bis heute letztlich nur<br />
Vermutungen angestellt werden, da die Ausgrabungen noch nicht<br />
abgeschlossen sind. Hier zog Jutta <strong>von</strong> Sponheim im Alter <strong>von</strong> 20<br />
Jahren als Klausnerin ein. Die junge <strong>Hildegard</strong> mit noch zwei weiteren<br />
Gefährtinnen wurde ihr zur Erziehung anvertraut. Eine bislang<br />
unbekannte Lebensbeschreibung der später als Selige verehrten Jutta<br />
lässt auch Rückschlüsse auf die Spiritualität zu, durch die <strong>Hildegard</strong> in<br />
ihrer Jugend geprägt worden war. Neben dieser geistlichen Prägung<br />
Klosterruine Disibodenberg, ehem. Krankenhospiz<br />
14
Der Disibodenberg<br />
muss <strong>Hildegard</strong> aber ebenso eine umfassende und vielseitige geistige<br />
Bildung erhalten haben. Benediktinerklöster der damaligen Zeit waren<br />
Hochburgen der Kunst und Wissenschaft, und so, wie <strong>Hildegard</strong><br />
später den Mönch Volmar als gelehrten Berater zur Seite hatte, wird<br />
sie auch <strong>von</strong> frühauf durch die Disibodenberger Mönche in das vielschichtige<br />
Geistesgut benediktinischer Tradition eingeführt worden<br />
sein. Ihr Lebenswerk gibt Zeugnis <strong>von</strong> ihrer universal ausgerichteten<br />
Bildung, die im Hinblick auf die Theologie, die Natur- und Heilkunde,<br />
in der Darstellung <strong>von</strong> Kosmos, Welt und Mensch oder in ihren<br />
Liedkompositionen und zahlreichen Briefen zum Ausdruck<br />
kommt.<br />
In den Jahren zwischen 1112 und 1115 hat <strong>Hildegard</strong> sich endgültig<br />
für das klösterliche Leben entschieden und sich durch die benediktinischen<br />
Gelübde gebunden. In ihrer Lebensbeschreibung wird Bischof<br />
Otto <strong>von</strong> Bamberg in diesem Zusammenhang erwähnt. Er nahm in<br />
der Zeit, da Erzbischof Adalbert I. <strong>von</strong> Mainz in kaiserliche Gefangenschaft<br />
geraten war, die Belange des Bistums wahr. 1136 starb Jutta <strong>von</strong><br />
Sponheim, die Meisterin der Frauenklause auf dem Disibodenberg.<br />
„Einmütig“, so ist uns überliefert, wurde <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> dem inzwischen<br />
auf zehn Frauen angewachsenen Konvent zur Nachfolgerin gewählt.<br />
Das Jahr 1141 brachte in das Leben der neuen Meisterin vom Disibodenberg<br />
einen tief greifenden Einschnitt. Als sie „42 Jahre und sieben<br />
Monate alt war“, wie sie selbst genau vermerkt, erlebte sie in vollem<br />
Umfang den Durchbruch dessen, was sie ihre „Schau“ nannte. Schon<br />
<strong>von</strong> früher Kindheit an war <strong>Hildegard</strong> mit einer außergewöhnlichen Intuition<br />
begabt gewesen. Nun wurde sie gleichsam vom Feuer des göttlichen<br />
Geistes ergriffen, wie eine Miniatur ihres ersten Werkes „Scivias“<br />
es darzustellen versucht, und in diesem Licht erblickte sie das „Lebendige<br />
Licht“. Nicht mit äußeren Augen und äußeren Ohren, sondern allein<br />
in ihrem Innern sah und hörte sie, – wachen Geistes, mit offenen<br />
leiblichen Augen und außerhalb jeglicher Ekstase. Diese Art Schau<br />
stellt sie in eine Reihe mit den alttestamentlichen Propheten, und wie<br />
sie erhielt sie den Auftrag: „Schreibe, was du siehst und hörst.“<br />
16
Der Disibodenberg<br />
Nur mit Widerstreben folgte <strong>Hildegard</strong> der Weisung und begann 1141<br />
auf dem Disibodenberg mit der Niederschrift ihres ersten theologischvisionären<br />
Werkes „Scivias“, das sie 1151 beendete. In den Zweifeln,<br />
die sie während ihrer Arbeit immer wieder befielen, wandte sie sich<br />
ratsuchend an Abt Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux, der anfänglich mit Zurückhaltung<br />
reagierte. Schließlich aber setzte er sich auf der Synode zu<br />
Trier 1147/48 in Anwesenheit <strong>von</strong> Papst Eugen III. so für <strong>Hildegard</strong>s<br />
Visionsschriften ein, dass der, nach Überprüfung der Texte, sie in eigener<br />
Person den versammelten Kardinälen vorlas. Damit bestätigte<br />
er die „Seherin“, der später der Titel „Prophetissa Teutonica“ zuerkannt<br />
werden sollte, und ermutigte sie zu weiteren Schriften. Vom<br />
Klosterruine Disibodenberg<br />
17
Der Disibodenberg<br />
„Glanz“ dieser päpstlichen Anerkennung mag damals auch ein wenig<br />
auf den Disibodenberger Mönchskonvent gefallen sein.<br />
In eben dieser Zeit bahnte sich aber dann auch die Abtrennung des<br />
Frauenkonvents vom Mönchskloster an. 1147 fasste <strong>Hildegard</strong> – auch<br />
ein Beweis ihrer inneren Eigenständigkeit – mit ihren Schwestern den<br />
Entschluss, allen Schwierigkeiten zum Trotz den Disibodenberg zu<br />
verlassen. Dazu mögen sie verschiedene Gründe bewegt haben, der<br />
schwerwiegendste war wohl der nicht mehr ausreichende Lebensraum<br />
für die aus 18 Nonnen bestehende Frauengemeinschaft. In einer<br />
Schau wurde <strong>Hildegard</strong> als Platz für das neu zu erbauende Kloster der<br />
Ort zugewiesen, wo am Zusammenfluss <strong>von</strong> Nahe und Rhein einstmals<br />
der hl. Rupertus als Einsiedler gelebt hatte. Unter den Gönnern,<br />
die den Bau des Klosters Rupertsberg ermöglichten, wird im Rupertsberger<br />
Güterverzeichnis an erster Stelle der Pfalzgraf Hermann <strong>von</strong><br />
Stahleck erwähnt. Zwischen 1147 und 1151 fand die Übersiedlung<br />
des Frauenkonventes statt. Für 1152 ist die Weihe der Kirche und des<br />
Klosters auf dem Rupertsberg urkundlich bezeugt.<br />
Bei <strong>Hildegard</strong>s Weggang vom Disibodenberg dürften sich bereits<br />
erste Anzeichen der Dekadenz im Benediktinerkonvent angedeutet<br />
haben. Sie führten im 13. Jh. zum Niedergang, so dass der Mainzer<br />
Erzbischof das Kloster mitsamt seinem Besitz den Zisterziensern übergab,<br />
die sich etwa 300 Jahre lang halten konnten. 1559 war dann der<br />
endgültige Untergang besiegelt, der sich trotz mancher Versuche der<br />
Wiederbelebung nicht mehr rückgängig machen ließ. Von der Mitte<br />
des 18. Jh. an begann die Zerstörung der Gebäude, die fortan als<br />
Steinbruch benutzt wurden, bis das Gelände 1804 in private Hände<br />
überging.<br />
Die letzte private Besitzerin, Ehrengard Freifrau <strong>von</strong> Racknitz, geb.<br />
Gräfin <strong>von</strong> Hohenthal, überführte am 21. Mai 1989 das ehemalige<br />
Klostergelände in eine Stiftung. Die Disibodenberger SCIVIAS-Stiftung<br />
bemüht sich um weitere Forschungsmaßnahmen und den Erhalt<br />
bzw. die Sicherung der Ruinen als Zeugen einer über 1000-jährigen<br />
christlichen Kulturtradition.<br />
Sr. Teresa Tromberend OSB<br />
18
Der Rupertsberg<br />
Das Kloster Rupertsberg vor der Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg, Stich um 1620<br />
Der Rupertsberg<br />
Wer auf den Spuren der hl. <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong> wandert, wird die<br />
letzten authentischen Reste ihres ersten Klosters auf dem Rupertsberg<br />
nur finden, wenn er den Schleier einer doppelten Verfremdung zerreißt.<br />
Der Ort ihres Klosters heißt seit dem 19. Jh. Bingerbrück. Und was die<br />
Zeit übrig ließ vom Kloster Rupertsberg – fünf Arkaden der Klosterkirche<br />
– ist heute ein Teil des Ausstellungshauses der Firma Würth. Diese<br />
fünf Arkaden führen den Spurensucher jedoch zurück in das 12. Jh.<br />
Zwischen 1147 und 1151 verließ <strong>Hildegard</strong> den Disibodenberg und<br />
gründete über dem Grab des hl. Rupertus ihr erstes Kloster. Ihre Vita erzählt:<br />
„<strong>Hildegard</strong> wurde vom Heiligen Geist jene Stätte gezeigt, wo die<br />
Nahe in den Rhein mündet, nämlich der Hügel, der früher vom heiligen<br />
Bekenner Rupertus seinen Namen erhielt.“ Über die Baugeschichte<br />
des Klosters Rupertsberg ist wenig bekannt. Aus verstreuten Bemerkungen<br />
und bildlichen Darstellungen lässt sich die Klosteranlage annähernd<br />
beschreiben. Den Mittelpunkt der Anlage bildete die Klosterkirche,<br />
die 1152 durch Erzbischof Heinrich <strong>von</strong> Mainz konsekriert wurde.<br />
Es war eine dreischiffige Kirche, für die man folgende Maße errechnete:<br />
19
Der Rupertsberg<br />
30 m lang, Hauptschiff 7 m breit, Seitenschiffe je 4,35 m breit. Die zur<br />
Nahe hin gelegene Schauseite, der Ostchor, besaß eine halbrunde Apsis<br />
mit bekrönendem Giebel. Flankiert wurde das Hauptschiff <strong>von</strong> zwei<br />
breiten Türmen. Die Kirche besaß kein Querschiff, die Apsiden der Seitenschiffe<br />
waren in den Türmen untergebracht.<br />
Urkunden erwähnen eine gewölbeartige Gruft, den Aufbewahrungsort<br />
der Reliquien des Klosterheiligen Rupertus und seiner Mutter Berta.<br />
Diese Gruft wurde dann auch Grabstätte der hl. <strong>Hildegard</strong>. Sie lag wie<br />
in allen Kirchen unterhalb des Altarraumes. Ein Stich <strong>von</strong> Meissner,<br />
um 1620 entstanden, zwölf Jahre vor der Zerstörung durch die Schweden,<br />
zeigt die Kirche, umgeben <strong>von</strong> zahlreichen hohen und niedrigen<br />
Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. Der gesamte Klosterbezirk ist <strong>von</strong> einer<br />
Ringmauer umgeben. Über die Zuordnung der verschiedenen Gebäude<br />
lässt sich folgendes ausmachen: Vom südlichen Seitenschiff aus<br />
gelangte man über Stufen in den tiefer liegenden Kreuzgang. Um den<br />
Kreuzgang herum waren die Prälatur, das Konventgebäude, das Dormitorium,<br />
das Kapitelhaus und die Klosterschule angeordnet. Südwestlich<br />
vom Kreuzgang lag der Friedhof mit der Michaelskapelle. In Urkunden<br />
werden im Klosterbezirk noch andere Gebäude erwähnt: das Sommerhaus,<br />
das Propsthaus mit dem „Patersgarten“, das Gästehaus. Im Klosterbereich<br />
lag ebenfalls der Konventgarten, <strong>von</strong> dem zwei Morgen als<br />
Weingarten angelegt waren. Gesindehaus und Wirtschaftsgebäude<br />
fehlten ebenfalls nicht. Von den Wirtschaftsgebäuden innerhalb der<br />
Klostermauern führte ein Tor nach Weiler, wo sich der Meierhof des<br />
Klosters befand. Eingebaut in die Klostermauer, also <strong>von</strong> beiden Seiten<br />
zugänglich, war die Nikolauskapelle, und nahe bei dieser Kapelle lag die<br />
Klosterpforte mit der Pförtnerwohnung.<br />
Das <strong>Hildegard</strong>kloster auf dem Rupertsberg war wohl keine repräsentative<br />
Anlage, der eine geschlossene architektonische Idee zugrunde lag.<br />
Die Schilderung des Wibert <strong>von</strong> Gembloux aus dem Jahre 1177 wird<br />
der Wirklichkeit sehr nahe gekommen sein: „Dieses Kloster ist nicht<br />
<strong>von</strong> einem Kaiser oder Bischof, einem Mächtigen oder Reichen der<br />
Erde, sondern <strong>von</strong> einer armen, zugezogenen, schwachen Frau gegründet<br />
worden. Innerhalb kurzer Zeit, seit 27 Jahren hat es sich sowohl dem<br />
20
Der Rupertsberg<br />
Rekonstruktionsmodell des Klosteranlage Rupertsberg bei <strong>Bingen</strong>, Gerhard Roese 1997<br />
monastischen Geist als auch dem äußeren Aufbau nach so hoch entwickelt,<br />
dass es nicht durch prunkvolle, aber durch stattliche und geräumige<br />
Gebäude … in allem wohl bestellt ist.“<br />
Die geistige Ausstrahlung des Rupertsberges erlosch mit dem Tod <strong>Hildegard</strong>s<br />
im Jahre 1179. Die Quellen berichten zwar interessante Details<br />
über die konfliktreiche Nachbarschaft zwischen <strong>Bingen</strong> und dem Kloster,<br />
über Verfallszeiten und Reformen, aber eine spirituelle Rolle hat das<br />
Kloster wohl nie mehr spielen können. Bis zur Zerstörung durch die<br />
Schweden im Jahre 1632 war der Rupertsberg wie viele andere Nonnenklöster<br />
eine mit benediktinischen Elementen versehene „Versorgungsanstalt“<br />
für die Töchter des Adels. Der zerstörte Rupertsberg<br />
wurde nie wieder aufgebaut. Er blieb Klostergut der zweiten Gründung<br />
<strong>Hildegard</strong>s in Eibingen, wo nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges<br />
ein monastischer Neuanfang gesetzt wurde. Die Klosterruine diente<br />
fortan als Steinbruch zum Bau <strong>von</strong> Wirtschaftsgebäuden des Klostergutes,<br />
wobei die Kirchenruine mit Apsis, Giebel, Turmstümpfen und Au-<br />
21
Der <strong>Hildegard</strong>isaltar in der Binger Rochuskapelle<br />
ßenmauern bis zum Ende des 18. Jh. romantische Generationen beeindruckte.<br />
Nach der Säkularisation kam das Klostergut in private Hände,<br />
und die Zerstörung durch Verbauung nahm ihren Fortgang.<br />
Als 1857 für den Bau der Nahetal-Eisenbahn der Felsen gesprengt<br />
wurde, auf dem sich die Reste der Türme und des Chores befanden,<br />
verschwanden auch die letzten sichtbaren Spuren der Klosteranlage.<br />
Dieser Sprengung fiel auch, soweit noch vorhanden, die Grabkrypta<br />
unter dem Chorraum zum Opfer. Es blieben nur die Teile der romanischen<br />
Kirchenarchitektur erhalten, die in Wohngebäude mit einbezogen<br />
waren, eben die fünf Arkadenbögen im heutigen Würthschen<br />
Haus. Immer wieder berichten die Quellen vom Neu- oder Umbau<br />
der Kelleranlagen. Was da<strong>von</strong> bis ins 12. Jh. zurückreicht, wird, wenn<br />
überhaupt, nur durch gründliche Untersuchungen festzustellen sein.<br />
Die <strong>von</strong> Herrn Würth liebevoll gepflegten und der Öffentlichkeit zugänglich<br />
gemachten Kellergewölbe atmen den Geist der langen und<br />
wechselvollen Geschichte dieses authentischen Ortes des Lebens der<br />
hl. <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong>.<br />
Der <strong>Hildegard</strong>isaltar in der Binger Rochuskapelle<br />
Der Untergang des Klosters Eibingen 1814 war gleichzeitig der Beginn<br />
der Beziehungen der Binger St. Rochuskapelle zur hl. <strong>Hildegard</strong>. Zur<br />
Einrichtung der 1795 zerstörten und 1814 wiederaufgebauten St. Rochuskapelle<br />
kaufte die Rochusbruderschaft die gesamte Inneneinrichtung<br />
der Eibinger Klosterkirche. Hinzu kam der Reliquienschatz, vor allem<br />
die Gebeine des ehemaligen Rupertsberger Klosterheiligen St.<br />
Rupertus. Dadurch wurde die Rochuskapelle Heimat der wohl wichtigsten<br />
authentischen Spur der <strong>Hildegard</strong>zeit und der gesamten klösterlichen<br />
Tradition auf dem Rupertsberg und in Eibingen. Durch die Ausgestaltung<br />
der Rochuskapelle mit Altären und Bildern aus der<br />
Klosterkirche in Eibingen wurde diese im 19. Jh. zu einer <strong>Hildegard</strong>-<br />
Gedächtniskirche. Der Brand der Kapelle 1889 zerstörte fast alle Spuren<br />
<strong>Hildegard</strong>s bis auf einige gerettete Bilder. In Erinnerung an diese<br />
22
Der <strong>Hildegard</strong>isaltar in der Binger Rochuskapelle<br />
Rochuskapelle, <strong>Bingen</strong><br />
<strong>Hildegard</strong>tradition war in der neuen St. Rochuskapelle <strong>von</strong> 1895 ein<br />
aufwendiger <strong>Hildegard</strong>- und Rupertusaltar vorgesehen, doch nur der<br />
<strong>Hildegard</strong>alter wurde vollendet. In Anlehnung an das gerettete großflächige<br />
Vita-Bild der Heiligen hatte Max Meckel den Entwurf erstellt, die<br />
23
Der <strong>Hildegard</strong>isaltar in der Binger Rochuskapelle<br />
Steinheimer Schnitzerfamilie Busch ihn ausgeführt. Die Stifterin des<br />
<strong>Hildegard</strong>altars war die Witwe Margarethe Krug, geb. Merz. Aus diesem<br />
Grunde befindet sich an der geschlossenen Seite des Baldachins das<br />
Bild der hl. Margaretha. Zentrum des Altars ist eine Halbreliefstatue der<br />
hl. <strong>Hildegard</strong>. Um diese Statue herum sind acht Stationen des Lebens<br />
der Heiligen szenisch dargestellt, vier im Mittelteil des Altars, je zwei<br />
rechts und links der Statue, sowie je zwei auf den inneren Seiten der<br />
Altarflügel. Die Vita <strong>Hildegard</strong>s beginnt für den Betrachter links oben:<br />
– <strong>Hildegard</strong> schaut als Kind ein geheimnisvolles Licht.<br />
– <strong>Hildegard</strong> wird <strong>von</strong> ihren Eltern zu Jutta in die Klause auf den Disibodenberg<br />
gebracht.<br />
– <strong>Hildegard</strong> schreibt auf dem Disibodenberg ihr Werk „Scivias“.<br />
– Erzbischof Heinrich <strong>von</strong> Mainz legt 1147 auf der Synode <strong>von</strong> Trier<br />
Papst Eugen III. und Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux die Schriften der hl.<br />
<strong>Hildegard</strong> vor.<br />
– Die Begegnung mit Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux (historisch falsch).<br />
– Kaiser Barbarossa empfängt <strong>Hildegard</strong> 1155 in Ingelheim.<br />
– <strong>Hildegard</strong> predigt vor Klerus und Volk.<br />
– <strong>Hildegard</strong>s Tod auf dem Rupertsberg.<br />
Leider wurden nur die Szenen auf den Seitenflügeln als fein geschnitzte<br />
Holzreliefs fertig ausgearbeitet. Das gesamte Mittelstück des<br />
Altars einschließlich der Predella scheint lediglich eine Vorstufe,<br />
nämlich ein aus Gips geformtes, anschließend bemaltes Modell. Die<br />
Ausarbeitung in Holz unterblieb aus Geldmangel. Daher wirken die<br />
Figuren des mittleren Altarteils grob – man vermisst die weichen Linien<br />
der Figurengruppen auf den Seitenflügeln. Dieser gestalterische<br />
Mangel hat die Beliebtheit des <strong>Hildegard</strong>isaltars jedoch keineswegs<br />
beeinträchtigt. Die Außenseiten der seitlichen Flügel sind versehen<br />
mit zwei Großgemälden des leidenden Heilands, rechts ein Ecce-<br />
Homo-Bild, wohl in Erinnerung an die große Ecce-Homo-Statue aus<br />
Eibingen in der alten Rochuskapelle, links der vom Kreuz abgenommene<br />
tote Christus. In der Mitte der Predella ist der Reliquienschrein<br />
24
Der <strong>Hildegard</strong>isaltar in der Binger Rochuskapelle<br />
<strong>Hildegard</strong>isaltar in der Binger Rochuskapelle<br />
der hl. <strong>Hildegard</strong> eingefügt. Der Schrein wird flankiert <strong>von</strong> je zwei<br />
Heiligenbüsten. Sie stellen die hl. Berta dar sowie den hl. Wigbert,<br />
den hl. Bernhard und den hl. Rupertus.<br />
P. Dr. Josef Krasenbrink OMI †<br />
25
Das alte Kloster Eibingen<br />
Das alte Kloster Eibingen vor der Säkularisation 1802<br />
Das alte Kloster Eibingen<br />
<strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong> gründete zwei Klöster: das Kloster Rupertsberg<br />
bei <strong>Bingen</strong> sowie das Kloster Eibingen unweit <strong>von</strong> Rüdesheim. Dort<br />
hatte die Adelige Marka <strong>von</strong> Rüdesheim 1148 ein Augustiner-Doppelkloster<br />
gestiftet, das bereits 1165 verwaist war, bedingt durch die<br />
<strong>von</strong> Kaiser Barbarossa ausgelösten Kriegswirren. Das Anwachsen des<br />
Rupertsberger Konvents bewog <strong>Hildegard</strong>, die beschädigten Gebäude<br />
1165 zu erwerben. Sie ließ sie für 30 Benediktinerinnen herrichten<br />
und fuhr selbst zweimal in der Woche vom Kloster Rupertsberg aus<br />
über den Rhein zu ihrer neuen Klostergemeinschaft. Am 22. April<br />
1219, rund vier Jahrzehnte nach <strong>Hildegard</strong>s Tod, unterstellte Papst<br />
Honorius III. das Kloster Eibingen seinem Schutz. Die Aufsichtsrechte<br />
der Rupertsberger Meisterin hinsichtlich der Zweitgründung regelte<br />
erstmals eine Urkunde vom 28. November 1268.<br />
26
Das alte Kloster Eibingen<br />
Laut Verzeichnis der Eibinger Äbtissinnen – zunächst Meisterinnen –<br />
trug Benigna <strong>von</strong> Algesheim 44 Jahre lang Würde und Bürde des Amtes<br />
(1373–1417) – länger noch als <strong>Hildegard</strong> selbst. Die Nonnen waren im<br />
Wiederhergestellter Ostflügel des ehemaligen Klosters Eibingen und heutige Pfarr- und<br />
Wallfahrtskirche St. <strong>Hildegard</strong><br />
27
Das alte Kloster Eibingen<br />
Kloster Eibingen teilweise bürgerlicher Herkunft. Im ausgehenden 15.<br />
Jh. und im Laufe des folgenden traten häufig – wie z. B. zwischen Kurmainz<br />
und Pfalz – Spannungen auf; diese wirkten sich bis in den Klosterbereich<br />
aus. Unter dem Mainzer Erzbischof Jakob <strong>von</strong> Liebenstein<br />
erfolgte um 1505 die Klosterreform in Eibingen. Doch auch diese vermochte<br />
die rückläufige Entwicklung nicht aufzuhalten. 1575 lebten im<br />
Kloster Eibingen nur noch drei Schwestern, die schließlich auf Anweisung<br />
des Erzbischofs Daniel Brendel <strong>von</strong> Homburg in die nahe gelegene<br />
Zisterzienserinnenabtei Marienhausen übersiedelten. So konnte Eibingen<br />
den vor der Welle der Reformation flüchtenden Augustinerinnen<br />
<strong>von</strong> St. Peter bei Kreuznach viele Jahre eine Bleibe bieten. Nach langwierigen<br />
Unterredungen erreichte Cunigundis Freiin <strong>von</strong> Dehrn, Äbtissin<br />
<strong>von</strong> Rupertsberg, die urkundlich verbürgte Rückgabe des Klosters<br />
Eibingen und seiner Besitztümer. Seit 1603 ist daher der Titel üblich<br />
„Äbtissin <strong>von</strong> Rupertsberg und Eibingen“.<br />
Im Dreißigjährigen Krieg, 1632, zerstörten die Schweden durch Brand<br />
das Kloster Rupertsberg. Die Nonnen kamen mit den <strong>Hildegard</strong>-Reliquien<br />
1636 über Köln zum Kloster Eibingen, wo Not und Entbehrung<br />
herrschten. Die Plünderung durch Kriegsvolk gab später Anlass zur<br />
Flucht nach Mainz. Erst Ende 1641 kehrten die Nonnen zurück. Anna<br />
Lerch <strong>von</strong> Dirmstein, die letzte Äbtissin <strong>von</strong> Rupertsberg, blieb nur<br />
kurze Zeit in Eibingen; 1642 musste sie ihr Amt niederlegen. Ein gedeihlicher<br />
Zeitabschnitt begann für das Kloster Eibingen mit der jungen<br />
Äbtissin Magdalena Ursula <strong>von</strong> Sickingen. Das monastische Leben im<br />
Wechsel <strong>von</strong> Gebet und Arbeit blühte wieder auf. Im Alter <strong>von</strong> 52 Jahren<br />
starb Äbtissin Magdalena im Sommer 1666 an der Pest. Ihr Wappen<br />
ziert noch heute die Türumrandung aus Sandstein im Innenhof der Eibinger<br />
Pfarrkirche.<br />
Innerhalb einiger Jahre hatte sich die wirtschaftliche Lage des Klosters<br />
Eibingen so gefestigt, dass sich auch größere Bauvorhaben ausführen ließen.<br />
Die Erneuerung der wohl ursprünglich quadratischen Klosteranlage<br />
verlief in drei Etappen. Betreut <strong>von</strong> Architekt Giovanni Angelo Barello<br />
wurden <strong>von</strong> 1681 bis 1683 Kirche und Westflügel <strong>von</strong> Grund auf restauriert.<br />
Einem 1701 <strong>von</strong> Papst Clemens XI. ausgestellten Ablassbrief zu-<br />
28
Das alte Kloster Eibingen<br />
Innenansicht der Pfarr- und Wallfahrtskirche St. <strong>Hildegard</strong>, Eibingen, mit Schrein der hl. <strong>Hildegard</strong><br />
folge hatte die den Hll. Rupert und <strong>Hildegard</strong> geweihte Kirche sieben<br />
Altäre. In Mainz wurde 1709 bei Johann Mayren auf Veranlassung des<br />
Eibinger Konvents ein Andachtsbüchlein gedruckt: „Verzeichnuß der<br />
fürnehmsten Reliquien … So in dem Hoch-Adelichen Jungfrau-Closter<br />
Eybingen im Rheingau Ehrer bietlich auffbehalten …“. Im selben Jahr<br />
errichtete man ein Kreuz „Zur Ehr Gottes und für die Abgestorbene[n]“,<br />
das jetzt seinen Platz auf dem alten Teil des Friedhofs hat. Der Besuch<br />
der Klosterkirche nahm zwar zu, doch ent wickelte sich keine eigenständige<br />
Wallfahrt nach Eibingen. Pilger, die morgens nach Marienthal oder<br />
Nothgottes zogen, hielten auf dem Heimweg hier lediglich Einkehr zu<br />
stillem Gebet, vor allem am Fest Mariä Geburt (8. September).<br />
Am 21. Februar 1737 begann man mit dem Abbruch des Ostflügels. Die<br />
Baupläne für den Neubau hatte der Mainzer Architekt Johann Valentin<br />
Thoman entworfen. Die feierliche Setzung des Grundsteins erfolgte am<br />
29
Der <strong>Hildegard</strong>is-Schrein in der Pfarrkirche<br />
21. März, dem Fest des hl. Benedikt. Bei der Ausführung wurde tragfähiges<br />
Gemäuer aus <strong>Hildegard</strong>s Zeit mit einbezogen. Bis zum 8. November<br />
hatten die Zimmerleute das Gebälk aufgeschlagen. Das Dach konnte im<br />
Oktober 1738 mit Schiefer gedeckt werden. Zwischen 1746 und 1752<br />
entstanden der Südflügel sowie Stallungen und Scheune. Das Aussehen<br />
des alten Klosters Eibingen gibt eine <strong>von</strong> Propst Joseph Otto (1763–<br />
1788) angefertigte Zeichnung wider.<br />
In der kurzen Spanne der Klosterleitung durch Maria <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong><br />
Rodenhausen (1780–1788) verstärkte sich der Einfluss einer neuen<br />
Geistesströmung, der Aufklärung. Unter Kurfürst Friedrich Karl Joseph<br />
<strong>von</strong> Erthal sollte aus Kloster Eibingen ein weltliches Damenstift werden.<br />
Diese Absicht löste bei den Nonnen heftigen Widerspruch aus.<br />
Vorsorglich brachte man 1789, im Jahr des Ausbruchs der Französischen<br />
Revolution, das Klosterarchiv nach Alzey, wo es bis 1798 verblieb.<br />
Der Verlust der Güter links des Rheines beeinträchtigte jedoch<br />
die wirtschaftliche Lage. Zudem hatte der Zeitgeist das klösterliche Leben<br />
ausgehöhlt. 1802 wurde das Kloster aufgehoben, 1814 auf Beschluss<br />
der nassauischen Regierung geräumt. Den Ostflügel verwandelte die<br />
Behörde in ein Zeughaus, die Kirche in ein Waffenlager. Beim Abriss<br />
<strong>von</strong> West- und Südflügel verlor 1817 der Gebäudekomplex seine quadratische<br />
Form. 1831 kaufte die Gemeinde Eibingen das Anwesen. Statt<br />
der baufällig gewordenen Dorfkirche diente nun die ehemalige Klosterkirche<br />
als Pfarrkirche. Das Patrozinium der Dorfkirche, Johannes der<br />
Täufer, wurde übernommen. Pfarrer Ludwig Schneider gelang es 1857,<br />
die Echtheit der <strong>Hildegard</strong>-Reliquien nach zuweisen.<br />
Der <strong>Hildegard</strong>is-Schrein in der Pfarrkirche<br />
Im Jubiläumsjahr 1929 wurde der <strong>Hildegard</strong>is-Schrein für die nunmehrige<br />
Pfarrkirche nach dem Entwurf <strong>von</strong> Bruder Radbod Commandeur, in<br />
Maria Laach und in Köln angefertigt. Das vergoldete Reliquiar ähnelt<br />
einem Gebäude, auf dessen Türflügeln die Kardinaltugenden allegorisch<br />
dargestellt sind: Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit und Mäßigung. Auf<br />
30
Der <strong>Hildegard</strong>is-Schrein in der Pfarrkirche<br />
<strong>Hildegard</strong>is-Schrein in der Pfarr- und Wallfahrtskirche Eibingen<br />
Vorder- und Rückseite sind je vier Heilige wiedergegeben. Außer Schädel,<br />
Haar, Herz und Zunge verwahrt der Schrein Gebeine der hl. <strong>Hildegard</strong><br />
und kleinere Reliquien der Hll. Giselbert, Rupert und Wigbert.<br />
Drei Jahrhunderte nach der Zerstörung <strong>von</strong> Kloster Rupertsberg brach<br />
in der Nacht vom 3. zum 4. September 1932 in der Eibinger Kirche<br />
aus ungeklärter Ursache ein Feuer aus. Trotz Rauch und Hitze gelang<br />
es, den <strong>Hildegard</strong>is-Schrein in Sicherheit zu bringen. Kirche und Ostflügel<br />
brannten nieder. Unter Berücksichtigung früherer Stilelemente<br />
entstand dann eine neue Kirche, die am 14. Juli 1935 durch den Limburger<br />
Bischof Antonius Hilfrich eingeweiht und unter den Schutz<br />
sowohl des hl. Johannes des Täufers als auch der Ortspatronin <strong>Hildegard</strong><br />
gestellt wurde. Aus praktischen Erwägungen liegen die beiden<br />
Portale nach Osten. Altarbild, Kieselsteinmosaik und Fenster gestaltete<br />
Ludwig Baur, Telgte. Der Glasschrank an der linken Seite enthält<br />
u. a. den Schädel der hl. Gudula, Patronin <strong>von</strong> Brüssel. <strong>Hildegard</strong> erhielt<br />
diese Reliquie vermutlich <strong>von</strong> Freunden aus Brabant. An der<br />
31
Die neue Abtei St. <strong>Hildegard</strong><br />
Das alte Kloster Eibingen (rechts) und die neue Abtei St. <strong>Hildegard</strong> (links)<br />
Südecke der Kirche steht über dem Grundstein eine <strong>von</strong> Franz Bernhard,<br />
Frankfurt am Main, geschaffene <strong>Hildegard</strong>-Skulptur aus fränkischem<br />
Muschelkalk. Sie wurde 1957 in das Mauerwerk eingefügt und<br />
soll an die erste <strong>Hildegard</strong>is-Prozession erinnern, die 1857 stattfand.<br />
Besonders am 17. September, dem Todestag <strong>Hildegard</strong>s, kommen in<br />
zunehmendem Maße Wallfahrer nach Eibingen, um an der Reliquienprozession<br />
zu Ehren der großen Heiligen teilzunehmen.<br />
Dr. Werner Lauter<br />
Die neue Abtei St. <strong>Hildegard</strong><br />
Oberhalb des alten Klosters Eibingen liegt heute die neue, in den Jahren<br />
1900 bis 1904 erbaute Benediktinerinnenabtei St. <strong>Hildegard</strong>. Ihr<br />
Gründer, Fürst Karl zu Löwenstein (1834–1921), eine der führenden<br />
Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus im 19. Jh., hatte es sich<br />
32
Die neue Abtei St. <strong>Hildegard</strong><br />
Südostansicht der<br />
Benediktinerinnenabtei<br />
St. <strong>Hildegard</strong><br />
zur Aufgabe gemacht, an historischer Stätte die Tradition der Klöster<br />
<strong>Hildegard</strong>s neu aufleben zu lassen.<br />
In der im neuromanischen Stil wiedererrichteten Abtei leben heute 55<br />
Ordensfrauen zwischen 27 und 95 Jahren. Wie alle Benediktinerinnen<br />
– nicht zuletzt <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong> auch – richten die Schwestern ihr<br />
Leben nach der Regel des hl. Benedikt aus, die über 1400 Jahre alt,<br />
gleichwohl aber in ihrer grundlegenden Ordnung zeitlos gültig und aktuell<br />
ist. Am Beginn und im Mittelpunkt jeder benediktinischen Berufung<br />
steht die Gottsuche. Wer sich berufen weiß und ganz in Gottes<br />
Gegenwart leben möchte, der verspricht, sich durch das Evangelium<br />
führen zu lassen, Gott zur Mitte seines Daseins zu machen und ihn in<br />
33
Die Abteikirche St. <strong>Hildegard</strong><br />
jedem Menschen und jedem Ereignis zu suchen – und das in der Gemeinschaft<br />
derer, die mit ihm auf demselben Weg sind.<br />
Benediktinisches Leben ist ganz wesentlich Leben in Gemeinschaft, in<br />
dessen Mittelpunkt Gottesdienst und Liturgie stehen. Da dem Gottesdienst<br />
nach der Regel des hl. Benedikt nichts vorgezogen werden soll,<br />
prägen die Gebetszeiten den Tagesablauf im Kloster. Siebenmal am Tag<br />
versammeln sich die Schwestern zum gemeinsamen Gebet im Chor.<br />
Das Stundengebet wird weitgehend in lateinischer Sprache gesungen.<br />
Dabei kommen die uralten Melodien des Gregorianischen Chorals, die<br />
das Wort Gottes in einzigartiger Weise musikalisch ausdeuten, zum Erklingen.<br />
Auch das persönliche Gebet, die Zeiten des Schweigens und<br />
der geistlichen Lesung gehören unverzichtbar zum Alltag.<br />
Die Arbeit in Buch- und Kunsthandlung, Klosterweingut, Dinkel- und<br />
Likörverkauf, Goldschmiede, Keramikwerkstatt, Restaurierungswerkstatt<br />
dient zunächst dem Lebensunterhalt der Gemeinschaft, gemäß dem<br />
Wort des hl. Benedikt: „Nur dann sind sie wahrhaft Mönche [und Nonnen],<br />
wenn sie <strong>von</strong> ihrer Hände Arbeit leben.“ Auch die <strong>Hildegard</strong>-<br />
Forschung und Betreuung und Aufnahme <strong>von</strong> Besuchergruppen und<br />
Pilgern gehört zu den Aufgaben der Benediktinerinnen. Hinzu kommt<br />
die Sorge um Gäste, die nach Austausch, seelsorglichen Gesprächen,<br />
Exerzitien oder Besinnungstagen suchen. In jedem Gast versuchen die<br />
Schwestern einen Anruf Gottes zu erkennen, auf den sie antworten<br />
möchten. In allem geht es um Gott, um seine Liebe, die eine benediktinische<br />
Gemeinschaft durch ihr Dasein der Welt bezeugen will.<br />
Die Abteikirche St. <strong>Hildegard</strong><br />
Die mächtige Abteikirche ist nach dem Vorbild der alten Basiliken im<br />
romanischen Stil erbaut. An das Presbyterium schließt sich nach Norden<br />
hin der Nonnenchor an, in dem sich die Gemeinschaft der Benediktinerinnen<br />
<strong>von</strong> St. <strong>Hildegard</strong> siebenmal am Tag zum Gebet versammelt.<br />
Betritt man den Kirchenraum, so umfängt den Besucher eine<br />
ruhige und zur Besinnung einladende Atmosphäre. Der hohe, gleich-<br />
34
Die Abteikirche St. <strong>Hildegard</strong><br />
Dankgottesdienst in der Abteikirche nach der Erhebung der hl. <strong>Hildegard</strong> zur Kirchenlehrerin<br />
mäßig und in klaren Linien gestaltete Raum zieht den Betrachter<br />
ebenso in seinen Bann wie die gedämpfte, stille und geheimnisvoll anmutende<br />
Farbigkeit der Wandgemälde. Die Kirche ist ganz im „Beuroner“<br />
Kunststil ausgemalt; diese Arbeit nahm mehrere Jahre (1907–<br />
1913) in Anspruch und stand unter Leitung <strong>von</strong> P. Paulus<br />
Krebs (1849–1935), Beuron, einem Schüler des berühmten Malermönches<br />
P. Desiderius Lenz (1832–1928). Die Eibinger Klosterkirche gilt als<br />
eine der gelungensten Gesamtkompositionen der „Beuroner“ Kunstschule,<br />
auch wenn die ursprüngliche Form nicht mehr ganz erhalten ist,<br />
da die Malereien im Nonnenchor und an der ihm gegenüberliegenden<br />
südlichen Chorwand in den sechziger Jahren übertüncht wurden. Die<br />
Beuroner Kunst ist liturgische und damit zugleich benediktinische<br />
Kunst. Sie dient der Verherrlichung Gottes und will zur Anschauung<br />
und zur Versenkung in das göttliche Geheimnis einladen.<br />
35
Die Abteikirche St. <strong>Hildegard</strong><br />
Prozession mit dem <strong>Hildegard</strong>is-Schrein anlässlich des 100. Jubiläums der Wiedererrichtung<br />
der Abtei St. <strong>Hildegard</strong> am 02. Juli 2004<br />
Das Innere des Kirchenraums wird <strong>von</strong> der monumentalen Christusfigur<br />
in der Apsis bestimmt. Das auf Goldgrund gearbeitete Gemälde<br />
erinnert den Betrachter an ein byzantinisches Mosaik. Christus erscheint<br />
als der Pantokrator, als König und Herrscher über das All, zugleich<br />
aber als Bruder, der jeden Menschen mit offenen Armen aufnimmt.<br />
Das Feld des Chorbogens wird beherrscht durch das Bild der<br />
Stadt Gottes und die Mauern des himmlischen Jerusalem. Die Inschrift<br />
deutet auf das Grundthema der ganzen Kirchenausmalung hin:<br />
„Tabernaculum Dei cum hominibus – die Wohnung Gottes unter den<br />
Menschen“. An den beiden Seiten des Chorbogens stehen der hl.<br />
Benedikt und seine Schwester, die hl. Scholastica, als die Begründer<br />
des Benediktinerordens.<br />
Die südliche (rechte) Seitenwand zeigt in fünf Bogenfeldern Szenen<br />
aus dem Alten Testament: Die Arche Noah; der Besuch Gottes, d. h.<br />
36
Die Abteikirche St. <strong>Hildegard</strong><br />
der drei Engel, bei Abraham und Sarah; der Traum Jakobs <strong>von</strong> der<br />
Himmelsleiter; der Zug der Priester mit der Bundeslade; der dem „ignoto<br />
deo“, dem „unbekannten Gott“, geweihte Altar. Die nördliche<br />
(linke) Seitenwand enthält im mittleren Bogenfries ebenfalls fünf<br />
Bilder mit Szenen aus dem Neuen Testament, außer dem ersten,<br />
Adam und Eva im Paradies: die Menschwerdung Christi; das letzte<br />
Abendmahl; die Ausgießung des Hl. Geistes; die Gemeinschaft zwischen<br />
Christus und seiner Kirche.<br />
Die Malereien in den unteren Bogenfeldern der nördlichen (linken)<br />
Seitenwand des Hauptschiffes sind der hl. <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong> gewidmet.<br />
Der fünfteilige Bildzyklus zeigt wichtige Szenen aus dem Leben<br />
<strong>Hildegard</strong>s: „Wie <strong>Hildegard</strong> zu Jutta auf den Disibodenberg geht“;<br />
„wie <strong>Hildegard</strong> auf den Rupertsberg bei <strong>Bingen</strong> zieht“; „wie <strong>Hildegard</strong><br />
in Ingelheim zu Kaiser Barbarossa spricht“; „wie <strong>Hildegard</strong> Eibingen<br />
gründet und in Rüdesheim einen blinden Knaben heilt“; „wie beim<br />
Tod <strong>Hildegard</strong>s am Himmel Zeichen geschehen“. Auch die Malereien<br />
des Seitenschiffs sind <strong>Hildegard</strong> <strong>von</strong> <strong>Bingen</strong> sowie bedeutenden weiblichen<br />
Heiligen des Benediktinerordens gewidmet. Auf der Ostwand<br />
über der Sakristeitür ist <strong>Hildegard</strong> selbst dargestellt, mit einem<br />
Federkiel in der rechten Hand. Alle Heiligendarstellungen sind nicht<br />
realistisch, sondern typisiert gemalt – zum Zeichen dafür, dass es den<br />
Künstlern nicht um Historienmalerei, sondern um den Sinnbildcharakter<br />
und dessen Glaubensaussage ging.<br />
Die Abteikirche St. <strong>Hildegard</strong> ist alljährlich Ziel vieler Pilgergruppen<br />
und Besucher, die auf den Spuren der großen Heiligen den Weg nach<br />
Eibingen finden. Jeder, der kommt, ist eingeladen, gemeinsam mit den<br />
Schwestern das Gotteslob zu feiern.<br />
Sr. Philippa Rath OSB<br />
Fotos: S. 1, 3, 4, 7, 8, 11, 12, 15, 17, 21, 23, 25, 31, 32, 33, 35, 36, 39 Abtei St <strong>Hildegard</strong>;<br />
S. 9, 40 Kurt Gramer, Bietigheim-Bissingen; S. 13, 19 Dr. Werner Lauter; S. 26, 27, 29<br />
Kirchengemeinde St. <strong>Hildegard</strong> (Foto: H.G. Kunz)<br />
Vordere Umschlagseite: <strong>Hildegard</strong>darstellung in der Abteikirche St. <strong>Hildegard</strong><br />
Rückwärtige Umschlagseite: Die Abtei St. <strong>Hildegard</strong> oberhalb des alten Klosters Eibingen<br />
37
Ansprechpartner an den Wirkungsstätten der hl. <strong>Hildegard</strong><br />
Ansprechpartner an den Wirkungsstätten der hl. <strong>Hildegard</strong><br />
Bermersheim<br />
Pfarrer Heinz Förg<br />
Niedergasse 2<br />
55234 Erbes-Büdesheim<br />
Telefon: 06731/41289<br />
Disibodenberg<br />
Luise Freifrau <strong>von</strong> Racknitz<br />
Kloster Disibodenberg<br />
Disibodenberger Hof<br />
55571 Odernheim am Glan<br />
Telefon 06755/9699188<br />
www. Disibodenberg.de<br />
<strong>Bingen</strong><br />
<strong>Hildegard</strong>-Museum<br />
am Strom<br />
Museumstraße 3<br />
55411 <strong>Bingen</strong> am Rhein<br />
Telefon 06721/991531<br />
www.bingen.de<br />
Kath. Pfarramt, Frau Frisch<br />
Klosterberg 1<br />
55234 Bermersheim<br />
Telefon: 06731/42477<br />
Pfarrkirche<br />
St. Rupertus u. St. <strong>Hildegard</strong><br />
Gutenbergstraße 1<br />
55411 <strong>Bingen</strong>-Bingerbrück<br />
Telefon: 06721/43093<br />
www.sankt-rupertus-und-sankt-hildegard.de<br />
St. Rochuskapelle<br />
Oblatenkloster<br />
Rochusberg 3<br />
55411 <strong>Bingen</strong><br />
Telefon: 06721/14225<br />
www. St-Rochuskapelle.de<br />
Rüdesheim/Eibingen<br />
Wallfahrtskirche St. <strong>Hildegard</strong><br />
Pfarramt<br />
Marienthaler-Straße<br />
65385 Rüdesheim am Rhein<br />
Telefon: 06722/4520<br />
www.eibingen.net<br />
<strong>Hildegard</strong>forum der<br />
Kreuzschwestern<br />
Rochusberg 1<br />
55411 <strong>Bingen</strong><br />
Telefon: 06721/928-0<br />
www. hildegard-forum.de<br />
Benediktinerinnenabtei St. <strong>Hildegard</strong><br />
Klosterweg 1<br />
65385 Rüdesheim am Rhein<br />
Telefon: 06722/499-0<br />
benediktinerinnen@abtei-st-hildegard.de<br />
www. abtei-st-hildegard.de<br />
Reihe „Hagiographie/Ikonographie/Volkskunde“ Bestell-Nr. 40121 5., erweiterte Auflage 2014<br />
© VERLAG SCHNELL & STEINER GMBH REGENSBURG<br />
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Gesamtherstellung Schnell & Steiner GmbH Regensburg<br />
Nachdruck, auch auszugsweise, verboten<br />
ISBN 978-3-7954-8000-4<br />
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Zeitgenössische <strong>Hildegard</strong>statue <strong>von</strong> Karlheinz Oswald<br />
Zeitgenössische <strong>Hildegard</strong>statue <strong>von</strong> Karlheinz Oswald (1998)<br />
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