03/2018

Fritz + Fränzi Fritz + Fränzi

02.03.2018 Aufrufe

Was Lehrer tun können, wenn Eltern Druck machen Im Sommer 2017 verfasste der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH einen Leitfaden zur Gestaltung der Zusammenarbeit von Schule und Eltern mit dem Ziel, diese Beziehung zu verbessern. Aber wie praxistauglich ist solch ein Leitfaden? Wir haben eine Lehrperson gefragt. Ihre Gedanken zu einem Thema, das Lehrpersonen wie Eltern gleichermassen unter den Nägeln brennt. Text: Die Autorin möchte anonym bleiben. Sie ist Lehrperson und unterrichtet im Kanton Zürich. Es ist Freitagmorgen, die Primarlehrerin Sabine Bächli* hat ihren monatlichen Waldtag. Es ist kalt und es schneit. Sabine erhält die erste SMS einer Mutter mit der Frage, ob sie heute in den Wald gingen. Sabine Bächli schreibt: «Wir trotzen, wie schon am Elternabend informiert, jedem Wetter.» – Als Mami könne sie unmöglich hinter dieser Entscheidung stehen, kommt es postwendend zurück. Sie habe keine Lust, wieder einen kranken Sohn zu Hause zu haben. Sie werde Niklas nicht in die Schule schicken. Die Primarlehrin beschliesst, darauf nicht zu antworten. Nach zehn Minuten erhält sie eine weitere SMS mit der Feststellung, dass sie sich in der Eltern- WhatsApp-Gruppe ausgetauscht Die SMS der Eltern zeigen Wirkung – der Waldtag wird abgesagt. Die Lehrerin ist frustriert, fühlt sich in ihrer Autorität eingeschränkt. habe und zehn andere Eltern fänden, dass an diesem Freitagmorgen kein Waldtag stattfinden solle. Das Wetter sei zu schlecht. Drei weitere SMS von drei anderen Eltern folgen. Sabine Bächli fühlt sich überfordert. Sie sucht die Schulleitung auf, zeigt die SMS. Die Schulleitung beschliesst, den Waldmorgen abzusagen. Die Lehrerin ist erleichtert, aber auch frustriert, da es sich anfühlt, als würde ihre Autorität infrage gestellt. Das Problem ist aufgeschoben, nicht aufgehoben. Das Beispiel verdeutlicht, wie komplex das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrpersonen ist. Mit dieser Thematik setzt sich der Leitfaden «Schule und Eltern – Gestaltung der Zusammenarbeit» des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) auseinander. Im Vorwort des Leitfadens lese ich über die anspruchsvoller werdende Elternarbeit, über Helikoptereltern, über Eltern, die mit dem Anwalt drohen. Ziel des Leitfadens sei es, die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus als Kooperation, nicht als Belastung zu erleben. Danach folgt eine ausführliche Analyse der sich verändernden Rahmenbedingungen. Es wird unter anderem auf den Zustand der Schulen, die Rolle der Medien und In tegrationsanforderungen eingegangen. Der LCH-Leitfaden beschreibt sorgfältig die Komplexität des heutigen Schulalltags. In den Fallbeispielen greift er Themen auf, die tatsächlich den konkreten Fragestellungen des Schulalltages nahekommen und sinnvollerweise zwischen pädagogischen und juristischen Überlegungen differenzieren. Was ist pädagogisch zu raten, was ist rechtlich erlaubt? Ein Fokus des Leitfadens liegt auf der Rollenklärung. Was ist meine Rolle als Lehrperson? Was ist meine Rolle als Elternteil? Wo gibt es in diesen Kompetenzen Überschneidungen, wo Abgrenzungen? Das ergibt Sinn. Und doch frage ich mich: Wo liegt der Nutzen für die Primarlehrerin Sabine Bächli aus unserem Beispiel? Meine Kollegin müsste den Leitfaden zur Hand nehmen, ihn durchlesen oder zumindest überfliegen. Vielleicht würde sie bei den Fallbeispielen stoppen, aber schnell merken: Auf meinen konkreten Fall bezogen gibt es keine Antwort. Für mich zeigt sich im Bereich Schule und Elternhaus ein weit grösseres Thema: das Thema der Leistungsgesellschaft, die sich gerade 42 März 2018 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Erziehung & Schule selber ins Absurde führt. Der grundsätzliche Optimierungsdrang, der sich tief in unser System eingegraben hat, sei es vonseiten des Elternhauses oder des Schulsystems, produziert Kollateralschäden. Angst und Überforderung – die dem Ziel, «erfolgreich und in angenehmer Atmosphäre zu lernen», ursächlich im Wege stehen. Die Rahmenbedingungen in der Schule müssten sich grundsätzlich verändern, hin zu weniger Druck und mehr Entfaltungsraum, hin zu mehr Vertrauen und weniger Angst, hin zu möglichen Lebensläufen, die sich entwickeln dürfen und nicht bereits im Kindergarten geplant und optimiert werden müssen. Der Medien- und Konsumgesellschaft müsste dafür kurz mal die Stopptaste gedrückt werden. In diesem Sinne zeigt der LCH-Leitfaden die wunden Punkte auf, nur spielt er das Spiel mit, indem er eine vermeintliche Lösung anbietet, statt eine Frage zu stellen. Als Lehrperson muss ich wissen, wo meine Grenzen und Kompetenzen liegen. Wenn ich weiss, wann und wo ich mich abgrenzen kann, läuft es rund. Doch das reicht nicht aus, um das Ziel, «erfolgreich und in angenehmer Atmosphäre zu lernen», zu leben. Dazu bräuchte es strukturelle Bedingungen, Schulen und Schulleiterinnen, die klare Werte ermöglichen und vorleben. Schulen, die den Rahmenbedingungen trotzen und sagen: Zu unserem Programm gehören Freundlichkeit, Gesundheit, Wärme, Güte, Musse, Vertrauen ins Leben, in den Menschen, in die Lehrperson, ins Kind, in die Eltern. Wir brauchen einen Leitfaden, der diesen gesellschaftlichen Wandel einläutet und nicht nur wie ein Die Rahmenbedingungen an unseren Schulen müssten sich grundsätzlich ändern; weg von Druck und Angst, hin zu mehr Vertrauen. Pflaster fungiert, das sich die Lehrperson dann aufkleben kann, wenn der Lastwagen namens «Forderungen von allen Seiten» über sie hinwegrollt. Und was macht meine Kollegin Sabine Bächli? Sie holt sich Hilfe und Untersützung in der Supervision. Bezahlt von der Schulleitung. * Name von der Redaktion geändert LCH-Leitfaden: Drei konkrete Fälle aus dem Schulalltag.

Erziehung & Schule<br />

selber ins Absurde führt. Der<br />

grundsätzliche Optimierungsdrang,<br />

der sich tief in unser System eingegraben<br />

hat, sei es vonseiten des<br />

Elternhauses oder des Schulsystems,<br />

produziert Kollateralschäden. Angst<br />

und Überforderung – die dem Ziel,<br />

«erfolgreich und in angenehmer<br />

Atmosphäre zu lernen», ursächlich<br />

im Wege stehen.<br />

Die Rahmenbedingungen in der<br />

Schule müssten sich grundsätzlich<br />

verändern, hin zu weniger Druck<br />

und mehr Entfaltungsraum, hin zu<br />

mehr Vertrauen und weniger Angst,<br />

hin zu möglichen Lebensläufen, die<br />

sich entwickeln dürfen und nicht<br />

bereits im Kindergarten geplant und<br />

optimiert werden müssen.<br />

Der Medien- und Konsumgesellschaft<br />

müsste dafür kurz mal die<br />

Stopptaste gedrückt werden. In diesem<br />

Sinne zeigt der LCH-Leitfaden<br />

die wunden Punkte auf, nur spielt er<br />

das Spiel mit, indem er eine vermeintliche<br />

Lösung anbietet, statt<br />

eine Frage zu stellen.<br />

Als Lehrperson muss ich wissen,<br />

wo meine Grenzen und Kompetenzen<br />

liegen. Wenn ich weiss, wann<br />

und wo ich mich abgrenzen kann,<br />

läuft es rund. Doch das reicht nicht<br />

aus, um das Ziel, «erfolgreich und in<br />

angenehmer Atmosphäre zu lernen»,<br />

zu leben. Dazu bräuchte es<br />

strukturelle Bedingungen, Schulen<br />

und Schulleiterinnen, die klare Werte<br />

ermöglichen und vorleben. Schulen,<br />

die den Rahmenbedingungen<br />

trotzen und sagen: Zu unserem Programm<br />

gehören Freundlichkeit,<br />

Gesundheit, Wärme, Güte, Musse,<br />

Vertrauen ins Leben, in den Menschen,<br />

in die Lehrperson, ins Kind,<br />

in die Eltern.<br />

Wir brauchen einen Leitfaden,<br />

der diesen gesellschaftlichen Wandel<br />

einläutet und nicht nur wie ein<br />

Die Rahmenbedingungen an<br />

unseren Schulen müssten sich<br />

grundsätzlich ändern;<br />

weg von Druck und Angst,<br />

hin zu mehr Vertrauen.<br />

Pflaster fungiert, das sich die Lehrperson<br />

dann aufkleben kann, wenn<br />

der Lastwagen namens «Forderungen<br />

von allen Seiten» über sie hinwegrollt.<br />

Und was macht meine Kollegin<br />

Sabine Bächli? Sie holt sich Hilfe<br />

und Untersützung in der Supervision.<br />

Bezahlt von der Schulleitung.<br />

* Name von der Redaktion geändert<br />

LCH-Leitfaden:<br />

Drei konkrete Fälle aus dem Schulalltag.<br />

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!