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03/2018

Fritz + Fränzi

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Kolumne<br />

Wunder<br />

Mikael Krogerus<br />

ist Autor und Journalist.<br />

Der Finne ist Vater einer Tochter<br />

und eines Sohnes, lebt in Basel<br />

und schreibt regelmässig für<br />

das Schweizer ElternMagazin<br />

Fritz+Fränzi und andere<br />

Schweizer Medien.<br />

Streng genommen gibt es drei Arten von Kinderbüchern. Solche,<br />

die Kinder mögen, solche, die Eltern mögen, und solche, die<br />

beiden gefallen. Zur ersten Gruppe gehört «Gregs Tagebuch»<br />

von Jeff Kinney. Ich weiss nicht, ob Sie mal reingelesen haben, es<br />

ist wirklich gut, spricht direkt ins Herz verzweifelter Heranwachsender.<br />

Aber wenn man weiterliest, wird sofort deutlich, wie viel<br />

man von der eigenen Kindheit verdrängt hat. Und auch, warum. Anders<br />

gesagt, es ist ein gutes Buch, weil es für Kinder und nicht für Erwachsene<br />

geschrieben wurde.<br />

Zur zweiten Gruppe – Bücher, die Eltern mögen – gehören all jene, in<br />

denen die Autoren die Welt «mit Kinderaugen» zu sehen versuchen.<br />

Nirgends ist das deutlicher als in Antoine de Saint-Exupérys «Der Kleine<br />

Prinz». Es ist zweifellos ein Meisterwerk, aber ich erinnere mich noch gut,<br />

wie ich bei dem Satz «Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche<br />

ist für die Augen unsichtbar» zum ersten Mal die Augen verdrehte.<br />

In dieser Kategorie Bücher geht es oft mehr um eine pädagogisierte<br />

Sehnsucht von Erwachsenen nach einem unverdorbenen Ideal-Kindsein;<br />

einem quasi-religiösen Zustand, in dem sie die Begegnung mit der komplizierten,<br />

verrotteten Wirklichkeit vermeiden wollen und sich lieber auf<br />

einem perfekten Planeten fern von allem imaginieren.<br />

Die dritte Gruppe sind Bücher, die Eltern wie Kindern gefallen. Jene<br />

Werke also, bei denen man sich auf die Lektüre freut wie auf einen<br />

guten Freund, bei denen wir dem Kind vorschlagen: «Noch ein Kapitel,<br />

okay?» und nicht umgekehrt. Für manche ist das vielleicht «Harry Potter»,<br />

für andere «Die rote Zora». Ich machte jüngst bei «Wunder» von<br />

Raquel Palacio diese Erfahrung. Erzählt wird die Geschichte des<br />

zehnjährigen Auggie Pullman, dessen Gesicht infolge einiger<br />

komplizierter Gendefekte derart entstellt ist, dass alle, die ihn sehen,<br />

entweder erschrocken wegschauen oder ihn anstarren wie einen Autounfall.<br />

Auggie selbst erklärt es dem Leser so: «Wie auch immer Sie sich<br />

mein Gesicht vorstellen, es ist vermutlich noch schlimmer.» Jeder<br />

Schultag ist für Auggie eine Qual, jede Begegnung eine Überwindung.<br />

Mit der Zeit aber lernen seine Klassen kameraden, den Menschen hinter<br />

der Maske zu sehen. Auggie erfährt Freundschaft und Zuspruch. Palacio<br />

benutzt zwei sehr kluge literarische Tricks: Erstens sind die Kapitel<br />

vorlesefreundlich kurz, zweitens wird Quentin-Tarantino-mässig aus der<br />

Perspektive verschiedener Personen erzählt, sodass wir Mobbingszenen<br />

aus Sicht des Opfers, des Täters und des Zeugen sehen und somit<br />

gezwungen sind, uns ein differenziertes Bild zu machen. Wir malen uns<br />

aus, wie es wäre, Auggie zu sein, und wie es wäre, ihn zu sehen. Das klingt<br />

furchtbar pädagogisch, und doch war ich erstaunt, wie sehr meine<br />

Tochter auf das Buch ansprach – und wie oft ich beim Lesen Tränen in<br />

den Augen hatte.<br />

Was ich sagen will: In «Wunder» erfahren wir, was uns in «Der Kleine<br />

Prinz» gepredigt wird, nämlich dass man nur mit dem Herzen gut sieht,<br />

weil das Wesentliche für die Augen unsichtbar bleibt.<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

40 März <strong>2018</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

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