03/2018
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Monatsinterview<br />
Menschen so schwerfällt, das für sie<br />
passende Leben zu finden?<br />
Genau, Zutrauen in sich selbst, das<br />
müssen Kinder lernen. Sie müssen<br />
die Erfahrung machen, dass sie<br />
selbstbestimmt Dinge erreichen<br />
können. Ich habe während meiner<br />
wissenschaftlichen Arbeit am Kinderspital<br />
Zürich einen Jungen kennengelernt,<br />
der mathematisch hochbegabt<br />
war. Er hat später theoretische<br />
«Eltern sollen ihr<br />
Kind so annehmen,<br />
wie es ist.<br />
Und es soll eine<br />
Schulkarriere<br />
machen dürfen, die<br />
ihm entspricht.»<br />
Physik studiert, mit das Schwerste<br />
überhaupt, was man studieren kann.<br />
Nach Abschluss seines Studiums hat<br />
er gesagt: So, und jetzt werde ich<br />
Schreiner. Er hat genau gespürt, was<br />
ihn glücklich macht. Diese innere<br />
Freiheit hat mich sehr beeindruckt.<br />
Fällt es Menschen mit einem hohen<br />
kognitiven Potenzial nicht grundsätzlich<br />
leichter, ihren Beruf frei zu<br />
wählen? Ihnen stehen (fast) alle Türen<br />
offen. Sie haben als Leiter der<br />
Entwicklungspädiatrie in Zürich sicher<br />
öfter die gegenteiligen Fälle erlebt,<br />
bei denen man die Eltern auf die<br />
Entwicklungsdefizite ihrer Kinder hinweisen<br />
musste – und dass diese nicht<br />
«wegtherapiert» werden können.<br />
Unzählige Male. Aber daraus muss<br />
keine Tragödie werden. Was Eltern<br />
nicht wollen, ist, dass ihr Kind<br />
ge brandmarkt und ausgegrenzt wird.<br />
Eine Legasthenie kann man nicht<br />
wegtherapieren. Man kann aber dem<br />
Kind helfen, das Beste aus seinen<br />
begrenzten Lesekompetenzen zu<br />
machen und sollte es dabei nicht<br />
überfordern. Mütter und Väter können<br />
ihr Kind meist haargenau einschätzen;<br />
sie wissen ganz genau, was<br />
es kann und was nicht. Daran muss<br />
man anknüpfen und das Umfeld des<br />
Kindes so gestalten, dass es Erfolg<br />
haben kann. Erfolg bringt die Lernmotivation<br />
zurück.<br />
Viele Eltern machen sich Sorgen,<br />
wenn ihr Kind hinter der «Norm»<br />
zurückbleibt, oder sogar Vorwürfe:<br />
«Mein Kind genügt den Anforderungen<br />
nicht. Hätte ich es mehr fördern<br />
müssen?»<br />
Wissen Sie, ich kenne keine Studie,<br />
die gezeigt hat, dass man Kinder über<br />
ihr Begabungspotenzial hinaus fördern<br />
kann. Beim Wachstum akzeptieren<br />
wir die individuellen Grenzen<br />
doch auch. Jeder weiss, dass ein Kind<br />
durch übermässiges Essen nicht<br />
grös ser, sondern dicker wird. Das gilt<br />
genauso für die geistigen und sprachlichen<br />
Fähigkeiten.<br />
Aber haben Sie kein Verständnis für<br />
die Existenzsorgen eines Vaters,<br />
dessen 15-jähriger Sohn die Schule<br />
ohne Abschluss schmeissen will?<br />
Doch, natürlich. Ob er in der Gesellschaft<br />
erfolgreich sein wird, hängt<br />
jedoch nicht von aufgepfropftem<br />
Wissen ab, sondern ob er seine Kompetenzen<br />
entfalten konnte, genau<br />
weiss, wo seine Stärken liegen,<br />
gelernt hat, mit seinen Schwächen<br />
umzugehen. Nur so kommt er zu<br />
einem guten Selbstvertrauen: Ich<br />
schaffe es in dieser Gesellschaft.<br />
Die Wissenschaft hält gerade für<br />
ehrgeizige Eltern eine bittere Einsicht<br />
bereit: Je begabter sie sind, desto<br />
grösser ist die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass ihre Kinder weniger begabt sind.<br />
Das ist eine biologische Gesetzmässigkeit,<br />
die für alle Lebewesen gilt.<br />
Regression to the mean heisst zu <br />
sammengefasst, dass Kinder im Vergleich<br />
mit ihren Eltern mit ihren<br />
Eigenschaften wie Wachstum oder<br />
Intelligenz zur Mitte hin tendieren.<br />
Wenn beispielsweise Eltern einen IQ<br />
von 130 aufweisen, ist die Wahrscheinlichkeit<br />
mehr als 80 Prozent,<br />
dass ihre Kinder einen IQ haben<br />
werden, der unter dem ihrigen liegt.<br />
Allerdings beträgt bei Eltern mit<br />
einem IQ unter 70 die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass der IQ ihrer Kinder<br />
höher sein wird, ebenfalls 80 Prozent.<br />
Was können Eltern demnach dafür<br />
tun, dass ihre Kinder ein passendes<br />
Leben führen?<br />
Sie sollten genau hinschauen: Welche<br />
Bedürfnisse hat mein Kind? Wie<br />
sieht es mit seinen Kompetenzen<br />
aus? Sie sollen ihr Kind so annehmen,<br />
wie es ist. Es soll eine Schulkarriere<br />
machen dürfen, die ihm entspricht.<br />
Das schützt ihr Kind vor<br />
einer ständigen Überforderung und<br />
den späteren Erwachsenen vor<br />
unausweichlichem Scheitern.<br />
Lieber eine zufriedene Gärtnerin als<br />
eine unglückliche Ärztin?<br />
Sie spielen auf meine älteste Tochter<br />
an. Eva wusste bereits mit 12 Jahren,<br />
dass sie Gärtnerin werden will. Mit<br />
16 hat sie die Schule beendet und ist<br />
eine begeisterte Gärtnerin geworden.<br />
Wir haben von allen Seiten gehört:<br />
«Wieso geht sie nicht ans Gymnasium,<br />
mit zwei Akademikern als<br />
Eltern?»<br />
Hat Sie das beunruhigt?<br />
Überhaupt nicht. Vielleicht auch,<br />
weil ich selber nicht aus einer Akademikerfamilie<br />
stamme. Als damals<br />
«Ich sollte nicht<br />
studieren, sondern<br />
die mechanische<br />
Werkstatt meines<br />
Vaters<br />
übernehmen.»<br />
mein bester Freund aufs Gymnasium<br />
gekommen ist, hatte mein Vater<br />
sogar Angst, dass ich nachziehe. Ich<br />
sollte nicht studieren, sondern seine<br />
mechanische Werkstatt übernehmen.<br />
Also bin ich auf die Sekundarschule<br />
gegangen. Erst als mein jüngerer<br />
Bruder sich dafür entschieden<br />
hat, Werkzeugmechaniker zu werden,<br />
war ich frei.<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
März <strong>2018</strong>37