03/2018
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Monatsinterview<br />
Ein trüber Dienstagmorgen,<br />
Schneeflocken wirbeln durch die Luft,<br />
Autos mühen sich eine steile Strasse<br />
in Uetliburg, Kanton St. Gallen, hinauf.<br />
Dort oben wohnt Remo Largo, schönes<br />
Einfamilienhaus, traumhafter Blick bis<br />
zum Zürisee. «Habens Sie’s gut<br />
gefunden?», fragt der Kinderarzt,<br />
nimmt Mantel und Schal ab. «Ich<br />
mache Ihnen einen Tee», sagt er und<br />
bittet in den Salon, wo man sich die<br />
nächsten Stunden unterhalten wird.<br />
Remo Largo, Ihr Buch «Das passende<br />
Leben» ist seit einem Jahr auf dem<br />
Markt. Das Medienecho war gross,<br />
zum Teil nicht gerade positiv. Hat Sie<br />
das überrascht?<br />
Im Nachhinein nicht. Ich kann verstehen,<br />
dass meine Thesen vielen<br />
Lesern nicht behagen. Sie erwarten<br />
leicht umsetzbare Ratschläge. Im<br />
Buch geht es darum, sich selbst und<br />
sein Leben zu hinterfragen.<br />
Was ist für Sie ein «passendes<br />
Leben»?<br />
Ein passendes Leben zu führen, ist<br />
ein Grundprinzip der Evolution. Das<br />
will jedes Lebewesen, sei es ein Bakterium,<br />
eine Pflanze, ein Tier oder<br />
ein Mensch. Wir sind ständig<br />
bemüht, uns anzupassen oder eine<br />
Umwelt zu finden, die unseren<br />
Bedürfnissen entspricht. Ausserdem<br />
geht es darum, seine ganz eigenen<br />
Kompetenzen anwenden zu können<br />
«Die Familie war<br />
nie ein soziales<br />
Eiland, auf dem die<br />
Eltern ihre Kinder<br />
alleine grossgezogen<br />
haben.»<br />
– ohne dauerhaft überfordert oder<br />
unterfordert zu sein. Dies nenne ich<br />
das «Fit-Prinzip» – das wesentlich<br />
den Sinn des Lebens ausmacht.<br />
Sich selbst treu bleiben zu können<br />
und als derjenige wahrgenommen zu<br />
werden, der man wirklich ist, das<br />
wünscht sich jeder Mensch. Warum<br />
gelingt dies nur noch wenigen?<br />
Wir verändern unsere Umgebung<br />
seit etwa 150 Jahren massiv. Das hat<br />
vor allem mit dem technischen Fortschritt<br />
sowie der Vermassung der<br />
Gesellschaft, der Globalisierung zu<br />
tun. Doch wir Menschen sind nicht<br />
beliebig anpassungsfähig. Unsere<br />
Vorfahren haben während mindestens<br />
200 000 Jahren in Lebensgemeinschaften<br />
mit vertrauten Menschen<br />
gelebt. Nur selten kam jemand<br />
vorbei, den man nicht kannte. Diese<br />
Art des Zusammenlebens hat uns<br />
geprägt. Jetzt leben wir in einer anonymisierten<br />
Massengesellschaft, für<br />
die wir nicht gemacht sind.<br />
Und in der Massengesellschaft können<br />
wir unsere Grundbedürfnisse nicht<br />
mehr ausreichend befriedigen?<br />
Davon bin ich überzeugt. Insbesondere<br />
die sozialen und emotionalen.<br />
Geborgenheit, soziale Anerkennung<br />
und eine gesicherte Stellung in der<br />
Gemeinschaft sind Grundbedürfnisse,<br />
die wir immer weniger befriedigen<br />
können. Darunter leiden vor<br />
allem Kinder und ältere Menschen.<br />
Das müssen Sie genauer erklären.<br />
«Es braucht ein ganzes Dorf, um ein<br />
Kind aufzuziehen», besagt ein afrikanisches<br />
Sprichwort. Da reicht eine<br />
Kleinfamilie nicht aus. So bekommen<br />
die Kinder nicht mehr die<br />
Geborgenheit, die sie eigentlich<br />
brauchen. Zusätzlich sind viele<br />
Eltern gestresst. Sie haben Angst, in<br />
unserer Leistungsgesellschaft den<br />
Anschluss zu verlieren. Diese Angst<br />
geben sie als Druck an ihre Kinder<br />
weiter.<br />
Unsere Kinder wachsen heute<br />
mehrheitlich in Kleinfamilien auf ...<br />
... und haben zu wenig weitere<br />
Be zugspersonen. Die Grosseltern<br />
wohnen oftmals zu weit weg, um sich<br />
an der Kinderbetreuung aktiv beteiligen<br />
zu können, zu seinem direkten<br />
Umfeld, etwa der Nachbarschaft,<br />
pflegt man keinen intensiven Kontakt.<br />
Wir haben uns an ein Leben mit<br />
grossen individuellen Freiheiten und<br />
wenig zwischenmenschlichem Um -<br />
gang und Verantwortung ge wöhnt<br />
und sind nur ungern bereit, darauf<br />
zu verzichten.<br />
Ganz nach dem Motto: «Wir als<br />
Familie müssen es alleine schaffen.»<br />
Aber das ist quasi unmöglich. Die<br />
Familie war zu keiner Zeit ein soziales<br />
Eiland, auf dem die Eltern ihre<br />
Kinder alleine grossgezogen haben.<br />
Sie war immer in eine Lebensgemeinschaft<br />
eingebunden, in der es<br />
mehrere tragende Bezugspersonen<br />
gab: die erweiterte Familie, Nachbarschaft,<br />
Menschen, mit denen Kinder<br />
das Leben geteilt haben – und natürlich<br />
viele andere Kinder.<br />
Man kann Aufgaben an Dienstleister<br />
delegieren: Haushaltshilfen, Kitas ...<br />
... Zu mehr emotionaler Unterstützung<br />
sowie Geborgenheit gelangt<br />
man dadurch aber nicht. Oder<br />
anders gesagt: Der Krippenerzieherin<br />
erzähle ich nichts von meinen<br />
Eheproblemen, der vertrauten Nachbarin<br />
vielleicht schon. Ich bin der<br />
festen Überzeugung, dass diese Vereinzelung<br />
unser Wohlbefinden be -<br />
einträchtigt. Gerade Kleinfamilien<br />
sind damit völlig überfordert. Als<br />
zutiefst soziale Wesen brauchen wir<br />
langjährige tragfähige Beziehungen<br />
mit vertrauten Menschen.<br />
Aber verklären Sie diese Lebensformen<br />
vergangener Zeiten nicht<br />
zu sehr? >>><br />
34 März <strong>2018</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi