Slavische Philologie - Archiv

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412 Kritischer Anzeiger. anderen und zwar insbesondere mit den zunächst verwandten indoeuropäischen Sprachen erklärend zu vergleichen hätte') zunächst in Betracht käme, wäre freilich das Urslavische... Das Urslav. kann aber nur aus den lebenden oder wenigstens schriftlich ... erhaltenen slav. Sprachen erschlossen werden. Wenn auch hierbei das Altkirchenslavische als die älteste uns schriftlich überlieferte slav. Sprache in erster Reihe steht, so darf man es doch nicht durchwegs in der Rolle des Urslav. auftreten lassen, in mehrfacher Hinsicht kann es sie allerdings übernehmen. Man muß also in einer vgl. slav. Gramm, in erster Reihe die vorhandenen oder überlieferten slav. Sprachen berücksichtigen, wenn man nicht den Boden unter den Füßen verlieren will.« Den Boden unter den Füßen darf man gewiß nicht verlieren, aber man tut es doch sicherlich, wenn man das Altkirchsnslavische die Rolle des Urslavischen »in mehrfacher Beziehung« spielen läßt, denn ein mixtum compositum aus erschlossenem Urslavisch und dessen Tochtersprache ist ja geradezu unzulässig Da i). andererseits eine »vergleichende slavische Grammatik« ohne Urslavisch überhaupt undenkbar ist, so erweist sich als erste Aufgabe die Bestimmung des Laut- und Formenbestandes desselben. Erst dadurch wird die Grundlage gewonnen, auf der wir unser Gebäude weiter ausführen dürfen, denn das direkte Zusammenstellen der einzelnen Slavinen mit den verwandten Idiomen widerspricht den methodischen Grundsätzen der vergleichenden Sprachwissenschaft. Was das Urslavische selbst betrifft, so kann es, der Meinung des Verfassers nach, »nur aus den lebenden oder wenigstens schriftlich erhaltenen slav. Sprachen« erschlossen werden. Dagegen ist einzuwenden, daß wir kein Recht haben, nur diejenige Stufe in der Entwicklung des slavischen Zweiges Urslavisch zu nennen, die der Zersplitterung der slavischen Spracheinheit in einzelne Sprachen unmittelbar vorausgegangen ist, denn Urslavisch nennen wir doch die Sprache des slavischen Stammes von dem Moment an, als auf dem älteren vorslavischen Grunde speziell slavische Züge hervortraten, bis zur Zeit der Auflösung dieser Sprache. Zwar wissen wir nicht, wie lange die urslavische Periode gedauert hat, aber eine relative Chronologie der sprachlichen Erscheinungen läßt sich doch mehrfach gewinnen. Nun ist es ohne weiteres klar, daß weder die Geschichte des Urslavischen innerhalb der angegebenen Grenzen, noch der Ausgangspunkt der speziell slavischen Sprach- 1) S. IV lesen wir: »Wird bei einem Worte die Provenienz sonst nicht näher bezeichnet, so ist es in der Regel altkirchenslav. (bez. kirchenslav., worüber in der Einleitung) und in solchen Fällen meist auch urslav.« Diese Bemerkung kann einen wenig erfahrenen Leser öfters auf Abwege verleiten. Erstens muß man doch in einer Vgl. Sl. Gr. altslaviscb und kirchenslavisch auseinanderhalten, was der Verfasser gelegentlich auch tut; öfters aber verzeichnet er kirchenslavische Wörter als altslavische (altkirchenslavische); vgl. S. 104 vydra, S. 283 vhria, S. 8.i erscheint sogar ein kot^, kotzk-h. Zweitens kann man doch nicht behaupten, daß ein Wort ohne nähere Bestimmung der Provenienz in der Regel altkirchenslav. und in solchen Fällen meist auch urslav. ist, wenn man Wörter wie nokb (S. bl), znajqsta (S. 12ö) u.dgl. m. ohne solche Bestimmung aufnimmt.

Vondräk, Vergleichende slav. Grammatik, angez. von Porzezinski. 413 entwicklung ohne Vergleichnng der letzteren mit den anderen verwandten Sprachen erschlossen werden können. Der Verfasser tut es ja selber in dem uns vorliegenden Buche, und ich hätte die Worte über den Weg, der allein zum Urslavischen führen soll, ohne Widerlegung lassen sollen, wenn die ganze Darstellung der Schicksale der etzteren nicht deutlich davon spräche, daß wir a. a. 0. keine gelegentliche Undeutlichkeit im Ausdruck, sondern eine Nachwirkung des Grundfehlers sehen müssen, von dem weiter unten die Rede sein wird. Es wird sich herausstellen, daß Vondräk verschiedene Stufen der Sprachentwicklung öfters zusammenwirft und überhaupt manchmal keine Grenzlinien zieht, wo dieselben gezogen werden müssen. Daher stammt auch das uns befremdende Stillschweigen über die Beziehungen der slavischen Sprachen zu den baltischen, deren gar nicht erwähnt wird : weder im Vorwort, noch in der Einleitung äußert sich der Verfasser, und doch hätte er uns sagen sollen, was er darüber denkt, denn im Buche selbst taucht hier und da was »baltisch-slavisches« oder »litauisch- slavisches« auf. Wenn man die baltisch-slavische Spracheinheit nicht anerkennt, muß man doch auseinandersetzen, welche Gründe dagegen sprechen, wenn man sie anerkennt, muß man diese Periode im Leben der slavischen Sprachen folgerichtig berücksichtigen; gelegentliche Erwähnung der baltisch-slavischen Ursprache hat keinen Sinn. I. Schon das Wenige, das ich bisjetzt berührt habe, gibt uns eine Vorstellung von den schwachen Seiten des uns vorliegenden Buches. Der wichtigste Fehler ist das eben besprochene Zusammenwerfen der Tatsachen, die auseinandergehalten werden müssen. Es will mir sogar scheinen, als ob der Verfasser überhaupt nicht der Meinung ist, daß nur folgerichtiges Unterscheiden der einzelnen Stufen der bez. Sprachentwicklung zur richtigen Beurteilung derselben führen kann, denn anders ist sein Verfahren kaum zu erklären. Man müßte sonst annehmen, dies Abweichen von den (ilrundbedingungen der linguistischen Forschung sei zufälligen Ursprungs und beruhe auf ungenügender sprachwissenschaftlicher Schulung. Wie dem auch sei, den Weg zum richtigen Verständnis der Geschichte der slavischen Sprachen hat Vondräk sich selbst abgesperrt. Wenn man nun die Frage aufwirft, was für einen Wert unsere Rekonstruktionen sprachlicher Zustände haben können, insofern dieselben nicht direkt belegt sind, so ist es ohne weiteres klar, daß der ultraskeptische Standpunkt, den z. B. Meillet in seiner >Introduction ä l'etude comparative des langues indo-eiu'opeennes« vertritt, nicht berechtigt ist. Die erschlossenen Tatsachen sind mehr als bloße Symbole, obgleich so manches nur annähernd bestimmt werden kann. Man darf nur nicht vergessen, daß unsere Rekonstruktionen ganzer Sprachperioden notgedrungen mehr ideell, als man wünschen möchte, ausfallen werden, weil alle Stufen, die eine Sprache durchlaufen hat, in ihrer Reihenfolge genau zu unterscheiden wir (nicht imstande sind und öfters auf einer Fläche dasjenige zusammenbringen, was in Wirklichkeit nie zusammengehört hat. Es heißt nicht, unsere Aufstellungen sind durchschnittlich falsch, sondern es heißt nur, wir entwerfen ein mehr oder weniger ideelles Bild, indem wir mit vollem Bewußtsein einer besimmten Periode sprachlicher Entwicklung alles zurechnen, was eine Veränderung im Vergleich mit dem älteren Zustand aufweist und dabei eine spätere Stufe noch

Vondräk, Vergleichende slav. Grammatik, angez. von Porzezinski. 413<br />

entwicklung ohne Vergleichnng der letzteren mit den anderen verwandten<br />

Sprachen erschlossen werden können. Der Verfasser tut es ja selber in dem<br />

uns vorliegenden Buche, und ich hätte die Worte über den Weg, der allein<br />

zum Urslavischen führen soll, ohne Widerlegung lassen sollen, wenn die ganze<br />

Darstellung der Schicksale der etzteren nicht deutlich davon spräche, daß<br />

wir a. a. 0. keine gelegentliche Undeutlichkeit im Ausdruck, sondern eine<br />

Nachwirkung des Grundfehlers sehen müssen, von dem weiter unten die Rede<br />

sein wird. Es wird sich herausstellen, daß Vondräk verschiedene Stufen der<br />

Sprachentwicklung öfters zusammenwirft und überhaupt manchmal keine<br />

Grenzlinien zieht, wo dieselben gezogen werden müssen. Daher stammt auch<br />

das uns befremdende Stillschweigen über die Beziehungen der slavischen<br />

Sprachen zu den baltischen, deren gar nicht erwähnt wird : weder im Vorwort,<br />

noch in der Einleitung äußert sich der Verfasser, und doch hätte er uns<br />

sagen sollen, was er darüber denkt, denn im Buche selbst taucht hier und da<br />

was »baltisch-slavisches« oder »litauisch- slavisches« auf. Wenn man die<br />

baltisch-slavische Spracheinheit nicht anerkennt, muß man doch auseinandersetzen,<br />

welche Gründe dagegen sprechen, wenn man sie anerkennt, muß man<br />

diese Periode im Leben der slavischen Sprachen folgerichtig berücksichtigen;<br />

gelegentliche Erwähnung der baltisch-slavischen Ursprache hat keinen Sinn.<br />

I. Schon das Wenige, das ich bisjetzt berührt habe, gibt uns eine Vorstellung<br />

von den schwachen Seiten des uns vorliegenden Buches. Der wichtigste<br />

Fehler ist das eben besprochene Zusammenwerfen der Tatsachen, die<br />

auseinandergehalten werden müssen. Es will mir sogar scheinen, als ob der<br />

Verfasser überhaupt nicht der Meinung ist, daß nur folgerichtiges Unterscheiden<br />

der einzelnen Stufen der bez. Sprachentwicklung zur richtigen Beurteilung<br />

derselben führen kann, denn anders ist sein Verfahren kaum zu erklären.<br />

Man müßte sonst annehmen, dies Abweichen von den (ilrundbedingungen der<br />

linguistischen Forschung sei zufälligen Ursprungs und beruhe auf ungenügender<br />

sprachwissenschaftlicher Schulung. Wie dem auch sei, den Weg zum<br />

richtigen Verständnis der Geschichte der slavischen Sprachen hat Vondräk<br />

sich selbst abgesperrt. Wenn man nun die Frage aufwirft, was für einen Wert<br />

unsere Rekonstruktionen sprachlicher Zustände haben können, insofern dieselben<br />

nicht direkt belegt sind, so ist es ohne weiteres klar, daß der ultraskeptische<br />

Standpunkt, den z. B. Meillet in seiner >Introduction ä l'etude<br />

comparative des langues indo-eiu'opeennes« vertritt, nicht berechtigt ist. Die<br />

erschlossenen Tatsachen sind mehr als bloße Symbole, obgleich so manches<br />

nur annähernd bestimmt werden kann. Man darf nur nicht vergessen, daß<br />

unsere Rekonstruktionen ganzer Sprachperioden notgedrungen mehr ideell,<br />

als man wünschen möchte, ausfallen werden, weil alle Stufen, die eine Sprache<br />

durchlaufen hat, in ihrer Reihenfolge genau zu unterscheiden wir (nicht imstande<br />

sind und öfters auf einer Fläche<br />

dasjenige zusammenbringen, was in<br />

Wirklichkeit nie zusammengehört hat. Es heißt nicht, unsere Aufstellungen<br />

sind durchschnittlich falsch, sondern es heißt nur, wir entwerfen ein mehr<br />

oder weniger ideelles Bild, indem wir mit vollem Bewußtsein einer besimmten<br />

Periode sprachlicher Entwicklung alles zurechnen, was eine Veränderung im<br />

Vergleich mit dem älteren Zustand aufweist und dabei eine spätere Stufe noch

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