Slavische Philologie - Archiv

23.02.2018 Aufrufe

282 Beiträge zur Quellenkritik einiger altrussisclier Denkmäler. Der verehrte Altmeister der Slavistik und für kurze Zeit auch mein Lehrer, Hofrat Prof. V. Jagic hat einst im Seminarium den tiefsinnigen Ausspruch getan: die Bücher sind dazu da, um gelesen zu werden. Je mehr ich mich in die ältesten Denkmäler der russischen, spezieller gesagt der stidrussischen Literatur hineinlese und mich in der sie erklärenden Literatur orientiere, desto öfter kommt mir der Gedanke, diese Denkmäler wären bisher mehr studiert, mehr nach Citaten durchgestöbert, als wirklich gelesen, mit literarisch gebildeten Augen gelesen worden. Trotz der ungeheueren kritischen Arbeit, welche ihnen im Laufe des XIX. und am Anfang des laufenden Jahrhunderts zugewendet wurde, trotz des oft beneidenswerten Eifers und der bewundernswerten Kriticität und Scharfsinnigkeit mancher Forscher — die große Gemeinde der Nachbeter nicht zu erwähnen — finden sich noch immer und immer Punkte, wo die Arbeit fast nicht begonnen oder au unrechter Stelle begonnen wurde, wo veraltete Doktrinen oder sogar Dogmen den freien Ausblick verlegen und ein freies Urteil hindern. Lediglich als ein Dilettant (Geschichte ist ja nicht mein Fach) und als Literaturhistoriker, gegenwärtig an einer zwar nicht erschöpfenden, aber doch nach Möglichkeit den modernen Ansprüchen entsprechenden Literaturgeschichte Südrußlands (Ukraine) arbeitend, war ich bemüssigt, mich vor allem an die Urquellen zu halten und die bisher existierenden Bearbeitungen der alten, vormongolischen Literatur nur als sekundäres Hilfsmittel zu gebrauchen. Das wichtigste für mich war, von der eigenen Lektüre der Denkmäler einen möglichst unbefangenen, literatur-kritischen Eindruck zu bekommen, was mich in vielen Fällen zu etwas unerwarteten Folgerungen führte, welche hie und da den Fachforschern vielleicht sich nützlich erweisen können, mir wenigstens aber diskutierbar erscheinen. In einer anspruchlosen, populär gehaltenen Literatargeschichte ist für keine weitläufige wissenschaftliche Beweisführung Platz, und so wäre ich der Redaktion des »Archiv für die slav. Philologie« sehr dankbar, wenn sie es mir vergönnte, wenigstens einige der von mir beobachteten Phänomene hier in Kürze zu beleuchten und meine Ansichten darüber zu motivieren.

« Beiträge zur Quellenkritik einiger altrussischer Denkmäler. 283 Ich möchte den drei wichtigsten altrassischen Denkmälern: dem üeiiepcKlH üaTepiiKt, der ältesten, sogenannten Nestorchronik und dem allgemein bekannten zuwenden. »Cjiobo o njii>Ky IlropeB'L« meine Aufmerksamkeit Natürlich werde ich diese Denkmäler nicht einer umfassenden Analyse unterziehen, noch auch das von ihnen bereits Gesagte und Vollgültige wiederholen oder auch nur hervorheben; allen Slavisten mehr oder weniger bekannt. ich etwas Neues zu haben vermeine. das meiste davon ist ja Ich berühre nur Punkte, wo I. Quellen der drei Pateriklegenden. In dem Journal »Kijevskaja Starina«, 1906, März-April, hat der junge Kijever Gelehrte H. Barac eine kleine Abhandlung > Erzählungen und Legenden des altrussischeu Schrifttums, welche zu den Juden und dem Judentum in Beziehung stehen,« veröffentlicht, eigentlich N. 1 einer größeren Arbeit. In diesem ersten Kapitel (das zweite ist heuer in N. 3 der neugegründeten Zeitschrift »ükraina, « welche das Vermächtnis der eingegangenen »Kijevskaja Starina« übernommen hat, erschienen) hebt der Verfasser, offenbar ein Judophile, die bisher sehr wenig bekannte »Tatsache« hervor, daß die bisherige Darstellung des altrussischen Lebens in Beziehung auf die Judenverhältnisse sehr mangelhaft ist. »Es ist genug, daran zu erinnern, wie grausam und unerbittlich das heilige Prinzip der Glaubenstoleranz und Religionsfreiheit in unserem Vaterlande vergewaltigt wurde, besonders in Bezug auf das jüdische Volk. Eine Masse himmelschreiender Tatsachen der Vergewaltigung der jüdischen Religionsüberzeugungen bergen alte Tafeln in stummen Überlieferungen. Die Ausdrucksweise war zu poetisch und dabei zu kategorisch, um nicht die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Organe auf sich zu lenken. Doch war die Ausführung dieser Ansicht des H. Barac nicht so schlagend, wie es die Ausdrucksweise verhieß. Erstens hat H. Barac vergessen, jene Religion nachzuweisen, welche auf dem »heiligen Prinzip der Glaubenstoleranz« aufgebaut ist, und zweitens war seine Beweisführung für Altrußland und die darin grausam und unerbittlich vergewaltigten Juden auch nicht ganz sattelfest. H. Barac wies auf zwei im Pecerskij Paterik enthaltene Erzähhmgen hin und hat sie für zeitgenössisches Verständnis gehörig präpariert. Hier die Erzählungen, welche ich wörtlich zitiere, da H. Barac, wie er selbst bekennt, das Original nicht kennt und seine Weisheit nur aus Vorlesungen des verst. Prof. Maiysevskij schöpft.

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Beiträge zur Quellenkritik einiger altrussisclier<br />

Denkmäler.<br />

Der verehrte Altmeister der Slavistik und für kurze Zeit auch mein<br />

Lehrer, Hofrat Prof. V. Jagic hat einst im Seminarium den tiefsinnigen Ausspruch<br />

getan: die Bücher sind dazu da, um gelesen zu werden.<br />

Je mehr<br />

ich mich in die ältesten Denkmäler der russischen, spezieller gesagt der<br />

stidrussischen Literatur hineinlese und mich in der sie erklärenden<br />

Literatur orientiere, desto öfter kommt mir der Gedanke, diese Denkmäler<br />

wären bisher mehr studiert, mehr nach Citaten durchgestöbert, als<br />

wirklich gelesen, mit literarisch gebildeten Augen gelesen worden.<br />

Trotz<br />

der ungeheueren kritischen Arbeit, welche ihnen im Laufe des XIX. und<br />

am Anfang des laufenden Jahrhunderts zugewendet wurde, trotz des oft<br />

beneidenswerten Eifers und der bewundernswerten Kriticität und Scharfsinnigkeit<br />

mancher Forscher — die große Gemeinde der Nachbeter nicht<br />

zu erwähnen — finden sich noch immer und immer Punkte, wo die<br />

Arbeit fast nicht begonnen oder au unrechter Stelle begonnen wurde, wo<br />

veraltete Doktrinen oder sogar Dogmen den freien Ausblick verlegen<br />

und ein freies Urteil hindern.<br />

Lediglich als ein Dilettant (Geschichte ist<br />

ja nicht mein Fach) und als Literaturhistoriker, gegenwärtig an einer<br />

zwar nicht erschöpfenden, aber doch nach Möglichkeit den modernen<br />

Ansprüchen entsprechenden Literaturgeschichte Südrußlands (Ukraine)<br />

arbeitend, war ich bemüssigt,<br />

mich vor allem an die Urquellen zu halten<br />

und die bisher existierenden Bearbeitungen der alten, vormongolischen<br />

Literatur nur als sekundäres Hilfsmittel zu gebrauchen.<br />

Das wichtigste<br />

für mich war, von der eigenen Lektüre der Denkmäler einen möglichst<br />

unbefangenen,<br />

literatur-kritischen Eindruck zu bekommen, was mich in<br />

vielen Fällen zu etwas unerwarteten Folgerungen führte, welche hie und<br />

da den Fachforschern vielleicht sich nützlich erweisen können, mir<br />

wenigstens aber diskutierbar erscheinen.<br />

In einer anspruchlosen, populär<br />

gehaltenen Literatargeschichte ist für keine weitläufige wissenschaftliche<br />

Beweisführung Platz, und so wäre ich der Redaktion des »<strong>Archiv</strong> für die<br />

slav. <strong>Philologie</strong>« sehr dankbar, wenn sie es mir vergönnte, wenigstens<br />

einige der von mir beobachteten Phänomene hier in Kürze zu beleuchten<br />

und meine Ansichten darüber zu motivieren.

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