08.02.2018 Aufrufe

soziologie heute Februar 2018

erste Einblicke in die Inhalte

erste Einblicke in die Inhalte

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

RÜCKBLICK<br />

Andere 68er …<br />

kurzer Rückblick nach fünf Jahrzehnten<br />

von Richard Albrecht<br />

Mitte der 1990er Jahre nannte sich<br />

Herbert Reul (*1952), damals NRW-<br />

CDU-Generalsekretär (1991-2003),<br />

später langjähriges MdEuP (2004-<br />

2017) und seit Juli 2017 NRW-Innenminister,<br />

auf einer öffentlichen<br />

Veranstaltung im Südzipfel des größten<br />

deutschen Bundeslandes einen<br />

„anderen Achtundsechziger“. Vermutlich<br />

fand ich‘s schon damals so<br />

hyperapart, dass ich‘s <strong>heute</strong> noch<br />

erinnere…<br />

1968 erschien im Institut für Demoskopie<br />

(IfD) in Allensbach am Bodensee<br />

unter Leitung von Elisabeth Noelle-Neumann<br />

[später -Maier-Leibnitz] (1916-<br />

2010) ein bis <strong>heute</strong> in Buchform unveröffentlichter<br />

Bericht. Er wurde nicht ins<br />

IfD-Verzeichnis der wissenschaftlichen<br />

Publikationen des Instituts für Demoskopie<br />

Allensbach 1947–2011 aufgenommen.<br />

Der IfD-Bericht empfahl eine<br />

andere Medienszenerie, mit dessen<br />

Hilfe über die Jahrzehnte eine andere<br />

Medienwelt entstand. Er lehnte sich<br />

– juristisch unangreifbar ausgedrückt<br />

– einerseits nachhaltig an die 1957<br />

erschienene Pionierstudie des USamerikanischen<br />

Kommunikationswissenschaftlers<br />

Leo Bogart (1921-2005)<br />

an; er ging andererseits auch über Befragungsdaten<br />

hinaus und empfahl im<br />

politikberatenden Sinn dem nun auch<br />

„in Deutschland“ beginnenden Fernsehzeitalter<br />

eine andere Medienkultur:<br />

Die (inzwischen Infotainment genannte)<br />

Benützung unterhaltsamer Elemente<br />

auch bei herkömmlichen Sendeformaten<br />

und -zeiten wie im besonderen<br />

Nachrichten.<br />

Der Bericht war als zweiphasige Paneluntersuchung<br />

mit Daten der IfD-Umfragen<br />

551 (1966) und 552 (1967) vom<br />

336 Personen (Testgruppe 167, Kontrollgruppe<br />

169) ein Beitrag zur empirischen<br />

Freizeitforschung. Auftraggeber<br />

war der damalige Süddeutsche Rundfunk<br />

in Stuttgart. Es ging vor allem um<br />

Auswirkungen veränderter Hörfunkgewohnheiten<br />

infolge des sich zunehmend<br />

ausbreitenden Fernsehens. Der<br />

Auftragnehmer wollte durch seine Umfragen<br />

„wenigstens noch ein Minimum<br />

an sozialer Geschichtsschreibung besorgen<br />

und wenigstens einige Erkenntnisse<br />

über die Wirkungsweise eines<br />

Mediums einbringen, das bald jenen<br />

Grad von kultureller Selbstverständlichkeit<br />

erreicht haben wird.“<br />

Ein wichtiger Zusammenhang ergab<br />

sich bereits damals aus schichtenbezogen<br />

aufgelisteten IfD-Daten. Was inzwischen<br />

Vielseher genannt wird, hieß<br />

1968: Bildungsferne und Arbeiter „mit<br />

schwacher kultureller Motivation setzen<br />

sich dem Fernsehen am meisten<br />

aus.“ Hingewiesen wurde auch auf<br />

vom neuen Medium Fernsehen hervorgebrachte<br />

Spannungen, „die sich möglicherweise<br />

negativ auf die allgemeine<br />

Lebensstimmung und die Verhaltenssicherheit<br />

auswirken.“ Im Spektrum<br />

von Freizeitaktivitäten verhindere das<br />

Fernsehen Freizeittätigkeiten wie etwa<br />

Wandern, Kartenspielen, Briefe schreiben,<br />

Basteln als „negative Effekte“.<br />

Trotz positiver Besetzung etwa von Lesen,<br />

Theater- und Konzertbesuchen<br />

nähmen nach Anschaffung eines Fernsehers<br />

aktive außerhäusliche Freizeitaktivitäten<br />

ab.<br />

Abstraktionsleistungen herabsetzen<br />

und in der sachlichen Mitteilung Unterhaltungsmomente<br />

erzeugen.<br />

Was Politik in beiden damals nur öffentlich-rechtlich<br />

organisierten Medien<br />

betrifft, verwies das IfD auf ihren<br />

wesentlichen Unterschied. Hörfunknachrichten<br />

blieben „die Ansprache<br />

der politisch Deinteressierten“ eher<br />

„versagt“, nicht aber Fernsehnachrichten<br />

(von ARD-Tagesschau und<br />

ZDF-<strong>heute</strong>). Und weiter: „Es gibt einen<br />

Zusammenhang zwischen Interessenahme<br />

und Abstraktion. Je stärker das<br />

Interesse, desto eher werden kognitive<br />

Strukturen herausgebildet, die die<br />

Wahrnehmung abstrakterer Mitteilungen<br />

erlauben. Je konkretisierter, bildhafter,<br />

anschaulicher die Mitteilung,<br />

desto geringer sind die Ansprüche an<br />

die Motivation, die dazu gehört, eine<br />

abstraktere Mitteilung zu entschlüsseln<br />

und in Anschauung umzusetzen.<br />

Will man also Desinteressierte erreichen,<br />

so muss man die Abstraktionsleistungen<br />

herabsetzen und in der<br />

sachlichen Mitteilung Unterhaltungsmomente<br />

erzeugen.“ Dazu eignet sich<br />

aus IfD-Sicht Fernsehen als Leitmedium<br />

durch seine Bild-Ton-Kombination<br />

hervorragend.<br />

Diesen Prozess frühzeitig erkannt und<br />

nachhaltig befördert zu haben halte<br />

ich für die besondere Kulturleistung<br />

der Anderen 68er.<br />

Literatur<br />

Richard Albrecht, Demoskopie als Demagogie.<br />

Kritisches aus den achtziger Jahren [=<br />

Berichte aus der Sozialwissenschaft]. Aachen<br />

2007, 32 p. [mit CD-Rom].<br />

Leo Bogart, The Age of Television. A study of<br />

viewing habits and the impact of television<br />

on American life. New York 1958, 367 p.<br />

Institut für Demoskopie, Auswirkungen des<br />

Fernsehens in Deutschland. Lebensgewohnheiten,<br />

Interessen und Bild der Politik vor<br />

und nach der Anschaffung eines Fernsehgeräts.<br />

Allensbach 1968, 57 p. [und umfangreicher<br />

(Tabellen-) Anhang]<br />

Institut für Demoskopie Allensbach, Verzeichnis<br />

der wissenschaftlichen Publikationen<br />

des Instituts für Demoskopie Allensbach 1947–<br />

2011. Allensbach 2011, 140 p.<br />

Elisabeth Noelle-Neumann, Die Erinnerungen.<br />

München 2006, 319 p. [mit 41 Fotos]<br />

Dr. Richard Albrecht, Sozialwissenschaftler<br />

mit Arbeitsschwerpunkten Kultur, Bildung,<br />

Cineastik. Freier Autor und Wissenschaftsjournalist<br />

in Bad Münstereifel<br />

<strong>Februar</strong> <strong>2018</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 47

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!