soziologie heute Juni 2010
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschsprachigen Raum.
Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Juni</strong> <strong>2010</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 39<br />
Die Wiederentdeckung der Gaumenfreuden<br />
Pflegebedürftigen ein Stück Lebensqualität zurückgeben<br />
von Babette Knauer, Max-Planck-Institut für Polymerforschung<br />
Mit Techniken aus der Avantgarde-<br />
Küche wollen eine Pflegewissenschaftlerin,<br />
ein Koch und ein Physiker<br />
Pflegebedürftigen ein Stück<br />
Lebensqualität zurückgeben.<br />
Die Kooperation soll nach Alternativen<br />
für die oft eintönige Verpflegung<br />
in Seniorenheimen und Krankenhäusern<br />
suchen.<br />
Basis dafür sind Untersuchungen<br />
am Max-Planck-Institut für Polymerforschung<br />
(MPI-P) in Mainz.<br />
Foto: Marko Greitschus, pixelio<br />
Die Pflegewissenschaftlerin Ilka Lendner<br />
(Solothurn, Schweiz), der Koch<br />
Rolf Caviezel (Grenchen, Schweiz) und<br />
der Mainzer Physiker Thomas Vilgis<br />
(MPI-P) erforschen seit Januar dieses<br />
Jahres neue Konzepte zur Ernährung<br />
bei krankheits- oder altersbedingten<br />
Einschränkungen. Das interdisziplinäre<br />
Team definiert dabei eine neue Form<br />
der Küche, die es Pflegeeinrichtungen<br />
und Spitälern erlaubt, dem lebensnotwendigen<br />
Essen seinen sozialen Stellenwert<br />
zurückzugeben. Bei der Aufnahme<br />
von Nahrung tritt eine Vielzahl<br />
von Reizen auf, die die sensorischen<br />
Fähigkeiten aktivieren und sogar rehabilitieren<br />
helfen, so die Idee. Mit<br />
seinem „Food Lab“-Projekt zur Erforschung<br />
physikalischer Eigenschaften<br />
von Nahrungsmitteln am MPI-P leistet<br />
Vilgis die theoretische und experimentelle<br />
Vorarbeit. Caveziel und Lendner<br />
wollen seine Erkenntnisse in der Pflegepraxis<br />
vor Ort umsetzen. „Erfahrungen<br />
im persönlichen Umfeld haben mich<br />
bewogen, meine Forschungsinteressen<br />
mit diesem Thema zu verbinden“, so<br />
Vilgis zu seinen Motiven.<br />
Auf den Geschmack kommt es an<br />
In erster Linie geht es darum, über das<br />
gemeinsame Essen die soziale Interaktion<br />
zu fördern und die Sinnesfunktionen<br />
mit seinen lukullischen und olfaktorischen<br />
Reizen zu stimulieren. Daher<br />
dürfen weder Geschmack, Geruch,<br />
Konsistenz und Aussehen vernachlässigt<br />
werden, wie dies, aufgrund krankheitsbedingter<br />
Umstände, leider oft der<br />
Fall ist. Schluckbeschwerden, motorische<br />
Einschränkungen, Parkinsonerkrankungen<br />
und Demenz erfordern ein<br />
Umdenken in der Zubereitung. Aus Fertigmischungen<br />
angerührte Pürees, die<br />
in Geschmack und Konsistenz wahrlich<br />
einem Einheitsbrei gleichen, könnten<br />
zukünftig durch leicht zu schluckende<br />
Gelees, nichttropfende Flüssigkeiten<br />
oder aromatische Schäume ersetzt<br />
werden. Die basale Stimulation spielt<br />
dabei eine zentrale Rolle, um zum Beispiel<br />
eine nachlassende Geschmackssensibilität<br />
anzuregen und neu zu aktivieren.<br />
Farbe, Aussehen, Duft und<br />
Mundgefühl sind weitere ästhetische<br />
Faktoren, die ein Lebensmittel schließlich<br />
appetitanregend erscheinen lassen<br />
oder eben nicht.<br />
Lebensmittel im Fokus der Wissenschaft<br />
Hierzu werden sowohl neueste Forschungsergebnisse<br />
als auch die Techniken<br />
der Avantgarde-Küche genutzt<br />
und neu variiert, sodass Essen, abseits<br />
einer stereotypen Convenience-Verpflegung,<br />
wieder stimulierend wirkt.<br />
Die Möglichkeiten sind vielfältig: Sei<br />
es durch die neuartige Kombinationen<br />
und Zubereitung von Lebensmitteln<br />
und Zutaten oder durch deren physikalisch<br />
abgestimmte Veränderung der<br />
Konsistenz. Die Produkte müssen der<br />
jeweiligen Lebenssituation gerecht<br />
werden und natürlich die erforderliche<br />
Nährstoff- und Flüssigkeitsversorgung<br />
garantieren. Viele Geschmackserfahrungen<br />
lassen sich durch das Spiel mit<br />
den Texturen wiedererkennen und neu<br />
erlernen. Essen dient damit nicht nur<br />
der Zufuhr von Nährstoffen, sondern<br />
wird durch Schmecken, Riechen und<br />
Fühlen ein Mittel der Kommunikation<br />
und Stimulation.<br />
Lebensfreude geht über den Gaumen<br />
hinaus<br />
Gerade Menschen, die mit den Einschränkungen<br />
des Alters leben müssen,<br />
bietet sich die Chance, die Fähigkeiten<br />
der eigenen Wahrnehmung zu stärken.<br />
Aus Sicht von Vilgis stellt diese Idee<br />
auch Teil eines Gegenwurfs zum vielzitierten<br />
„Methusalem-Komplott“ und<br />
dessen Kerngedanken, der Schwäche<br />
des Alter(n)s, dar. Ihm geht es um die<br />
Steigerung der Lebensqualität für den<br />
Einzelnen in der Gemeinschaft und die<br />
Würde von Kranken und Pflegebedürftigen,<br />
auch im Kontext der Palliativmedizin.<br />
Und nicht zuletzt erleichtert dies<br />
den Pflegekräften die physisch als auch<br />
psychisch anspruchsvolle Arbeit.<br />
Kontakt:<br />
Max-Planck-Institut für Polymerforschung<br />
Prof. Dr. Thomas Vilgis<br />
vilgis@mpip-mainz.mpg.de