soziologie heute Juni 2010
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
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<strong>Juni</strong> <strong>2010</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 27<br />
chen in Luxemburg. Sprachwissenschaftliche<br />
und literarhistorische Beschreibung<br />
einer Triglossie-Situation“ (Wiesbaden<br />
1979, 174 p.) übers im linksmoselfränkisch-lëtzenbuergeschen<br />
Dialekt<br />
aufwachsende Kind, das sprachlos in<br />
die Schule kommt, ausführte, hat<br />
der in Rohrbach/Lothringen geborene,<br />
später führende KPD/SED-Funktionär<br />
und Emigrant Franz Dahlem<br />
(1892-1981) im ersten Band seinen<br />
Memoiren („Jugendjahre. Vom katholischen<br />
Arbeiterjungen zum proletarischen Revolutionär“.<br />
Berlin 1982, 843 p.) erinnert<br />
als „Rohrbacher Platt“ und „französische<br />
Mundart“ als Erstsprachen, dazu zur<br />
Verständigung „ein Kauderwelch aus<br />
beiden Mundarten“. Das in der Schule<br />
gelehrte und gelernte „Hochdeutsch“<br />
sollten jedoch die 12- bis 14jährigen<br />
Buben nach ihrer Schulentlassung<br />
rasch wieder verlernen: gesprochen<br />
wurde „zu Hause nur Plattfranzösisch“,<br />
und es „gar keine Gelegenheit gab, Deutsch<br />
zu sprechen“. Dahlem verallgemeinerte<br />
diese sprachliche Gemengenlagen in<br />
seiner Heimat vor dem Ersten Weltkrieg<br />
so:<br />
„Das Hochdeutsche lernten wir als Fremdsprache,<br />
die wir nur in der Schule verwendeten<br />
oder bei deutschsprachiger Lektüre.<br />
Zur Verständigung im Alltag war es nicht nur<br />
nicht erforderlich, sondern es erwies sich in<br />
der Regel sogar als Hemmnis.“<br />
Das bedeutet - noch allgemeiner:<br />
Ohne gründliche mutter- oder erstsprachliche<br />
Kompetenz wird das angemessene<br />
Erlernen jeder (weiteren<br />
oder) Fremd-Sprache wenn nicht<br />
unmöglich so doch erschwert, droht<br />
die - scientifisch formuliert - Gefahr<br />
des Semilingualismus – verdoppelte<br />
Halbsprachigkeit – und damit, zuende<br />
gedacht, Sprachlosigkeit oder<br />
Nonlingualismus. Zweitsprachenentwicklung<br />
ohne Erstsprachenerwerb<br />
entspricht der Fiktion gutmenschiger<br />
Vielsprachigkeit: Auch im faktischen<br />
Einwanderungsland Deutschland<br />
wurde innerhalb dreier Jahrzehnte<br />
aus dem Traum der Zweisprachigkeit<br />
der 1970er Jahre inzwischen der Alptraum<br />
der doppelten Halbsprachigkeit.<br />
II. Über diesen Gesichtspunkt hinausgehend<br />
liegt ein weiterer wichtiger<br />
Aspekt der gegenwärtigen<br />
Sprachproblematik des Deutschen<br />
in Deutschland in einem anderen<br />
und nicht weniger wichtigen Feld:<br />
„Im Einwanderungsland Deutschland<br />
wurde innerhalb dreier Jahrzehnte aus<br />
dem Traum der Zweisprachigkeit der<br />
1970er Jahre inzwischen der Alptraum<br />
der doppelten Halbsprachigkeit.“<br />
Denglisch. Ich habe im Herbst 1986, einen<br />
Fachvortrag über „BILDER-WEL-<br />
TEN“ einleitend, die schon damals<br />
erkennbare und aparterweise vom<br />
damaligen Staatsunternehmen Deutsche<br />
Bahn (DB), die streckenweise<br />
durchaus auch griffige deutschsprachige<br />
Losungen wie „Halber Preis fürs<br />
ganze Volk“ auf die Schiene setzen lassen<br />
konnte, beförderte destruktive<br />
„Neusprache“ als „Sprachkolonialisierung,<br />
in der beispielsweise eine Vergnügungsreise<br />
nun ´Joy Travel´, eine Spielhalle ´Play Corner´,<br />
ein Kleiderkramladen ´Second Hand<br />
Shop´, eine Stehkneipe ´Pub Corner´ und die<br />
Verbindung der Verkehrsmittelnutzung von<br />
Flugzeug und Zug nun ´Fly & Ride´ heißt“ 2 ,<br />
kritisiert.<br />
Und ich scheue mich auch <strong>heute</strong><br />
nicht, unter Rückbezug auf Ernst<br />
Bloch und unter Verweis auf aktuelle<br />
Sprachkonstrukte wie „payzone“<br />
für Kasse (Schlecker GmbH), „dust<br />
devil handy“ (plus AG) für Kleinstaubsauger<br />
und „service point“ (DB AG) für<br />
Beratungsschalter „Competence Center<br />
Personal (CCP)“ für Personalabteilung<br />
(der Hessischen Wissenschaftsministerin<br />
Eva Kühne-Hörmann [CDU])<br />
und dem – soweit ich weiß noch gedankenexperimentellen<br />
– „We speak<br />
German fl uently“-Label im „Second-Hand-<br />
Shop“-Window daran zu erinnern,<br />
dass nach dem „handy“-Muster diese<br />
von – angeblichen oder wirklichen –<br />
Werbe(fach)leuten hervorgebrachten<br />
künstlichen Scheinparadiese, Spachhülsen<br />
und Sprechblasen, wenn und<br />
insofern sie in den Lebensalltag vieler<br />
eindringen und von vielen blank<br />
übernommen werden, nicht nur Elemente<br />
der deutschsprachigen Kultur,<br />
sondern darüber hinaus auch sprachgebundenes<br />
folgerichtiges Denken<br />
nachhaltig zerstören helfen können.<br />
Ausgewählte Sprachkonstruktionen<br />
B2B - business to business<br />
Heer4U -- Heer for You<br />
Businessplan<br />
downgraden<br />
Glokalisierung<br />
Infotainment<br />
Denn dass „die ganze Scheiße direkt in das<br />
Gehirn“ gelangen kann, konnten sich<br />
vor fünfundzwanzig Jahren (1985:<br />
http://www.liederjan.com/hoerproben/idiotenclub.mp3)<br />
auch phantasiebegabte<br />
Hamburger Musikfreunde<br />
nur als Folge technischer Verkabelungsprozesse<br />
vorstellen …<br />
Aber wie auch immer: Dem ursprünglichen<br />
Warenfetisch nachgelagert<br />
wirkt der ihm entsprechende Sprachfetisch<br />
als Bestandteil einer über<br />
bloße „Bewusstseins-Industrie“ (Hans<br />
Magnus Enzensberger) weit hinausgehenden<br />
„Verdummungsindustrie mit<br />
ihren Verblendungs-, Verkehrungs- und Umwertungsmechanismen<br />
zur strategischen Verstärkung<br />
der durch den Warenfetisch jeder<br />
kapitalistischen Gesellschaft immer schon<br />
gegebenen spontanen Mystifikation als ´gesellschaftliche<br />
Gefolgschaft´“ 3 .<br />
III. Dem massenhaften sprachlichgedanklichen<br />
Enteignungsprozess<br />
und Weltverlust entspricht ein mit<br />
diesem vergleichbarer „unerhörter Vorgang“<br />
(Bertolt Brecht): Der nachhaltige<br />
Selbstenteignungsprozess (innerhalb)<br />
der Intelligenzschichten. Es<br />
ist inzwischen nach dem Muster der<br />
Benennung einer Bremer (Privat-)<br />
Universität als „Jacobs University“ gang<br />
und gäbe, in Deutschland stattfindende<br />
akademische Lehrveranstaltungen<br />
und wissenschaftliche Kongresse englisch<br />
– genauer: in einer künstlich geschaffenen<br />
(Konferenz) Sprache, die<br />
von nicht-englischen Muttersprachlern<br />
für englisch gehalten und/oder<br />
ausgegeben wird und vor der es jeder<br />
und jedem ´native speaker´ graust –<br />
anzukündigen, durchzuführen und<br />
zu veröffentlichen. Auch hier haben<br />
ganzdeutsch-neuropäisch ´gebildeten<br />
Stände´ nachhaltig versäumt, von<br />
Ernst Bloch zu lernen:<br />
„Nur wenige Menschen […] waren je imstande,<br />
sich in einer fremden Sprache so sicher,<br />
gar so produzierend zu bewegen wie in der<br />
eigenen. […] Im Allgemeinen besteht die Regel,<br />
dass einer aus der eigenen Sprache desto<br />
schwerer in die andere fallen kann, je vertrau-<br />
outperformen<br />
simsen - SMS versenden<br />
Wysiwig - What You See Is What You Get<br />
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gemailt<br />
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