Leo Januar 2018
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REPORTAGE<br />
Die Pride-Veranstaltungen in Griechenland sind<br />
von hoher politischer und kultureller Bedeutung.<br />
Sie brechen mit den antiquierten Traditionen.<br />
Thessalonikis Bürgermeister Giannis Boutaris hat sich von Beginn an für die<br />
Rechte der LGBTIQ*-Gemeinde eingesetzt<br />
Bilder wie<br />
diese findet man<br />
im beschaulichen Thessaloniki<br />
eher selten<br />
wütige. „Immer mehr Menschen kommen<br />
zum Pride und zeigen sich ganz offen“,<br />
freut sich Thanos Vlahogiannis. „Das ewige<br />
Versteckspiel nimmt langsam, aber sicher<br />
ein Ende.“ An den Tagen des Pride seien<br />
die Umsätze enorm, berichtet die Kioskbesitzerin,<br />
während sie einer Dragqueen auf<br />
überdimensionalen High-Heels Zigaretten<br />
verkauft.<br />
DIE ANGST VORM NACHBARN<br />
Natürlich denken längst nicht alle Menschen<br />
in Griechenland so wie sie. „Allgemein<br />
hat sich die Lage entspannt, aber<br />
gerade Transmenschen werden häufig<br />
diskriminiert und teilweise sogar bedroht“,<br />
erklärt die 37-jährige Filippa Diamanti,<br />
Lehrerin und LGBTIQ*-Aktivistin. Doch seit<br />
einigen Jahren gebe es Unterstützung. „Eigentlich<br />
kann man sich inzwischen überall<br />
in Griechenland bei LGBTIQ*-Gruppen<br />
informieren. Bei Problemen oder schweren<br />
Krisen wird aktiv geholfen. Man ist nicht<br />
mehr allein.“<br />
Auch das Internet sei ein wichtiges Medium<br />
– schon, um mit Menschen in Kontakt<br />
zu treten. Für Filippa Diamanti ist die größte<br />
Errungenschaft der letzten Jahre, dass<br />
man sich auch öffentlich mit dem Thema<br />
auseinandersetzt. „Das war vor wenigen<br />
Jahren noch anders. Man hatte das Thema<br />
sexuelle Vielfalt einfach aus dem öffentlichen<br />
Diskurs verbannt. Deswegen haben<br />
sich viele Menschen geschämt und hatten<br />
Angst.“ Angst im Regelfall aber nicht vor<br />
den Eltern, die sich heute zumeist mit der<br />
sexuellen Identität ihrer Kinder arrangieren<br />
könnten, sondern vor dem sozialen<br />
Umfeld.<br />
Der Grund ist folgender: In Griechenland<br />
gibt es kein funktionierendes Sozialsystem.<br />
Die Arbeitslosigkeit liegt immer noch<br />
bei über 20 %, die Jugendarbeitslosigkeit<br />
bei etwa 50 %. Das fehlende soziale Netz<br />
wird durch Familie und Freunde kompensiert<br />
– und das erzeugt Abhängigkeiten.<br />
„Den meisten Eltern geht es vor allem<br />
darum, dass die Nachbarn nichts erfahren,<br />
einfach weil sie befürchten, ausgeschlossen<br />
zu werden“, erklärt Diamanti.<br />
Dies bestätigt auch der auf die LGBTIQ*-<br />
Gemeinde spezialisierte Psychiater Stavros<br />
Boufidis: „Viele Betroffene fühlen sich wie<br />
in einem Gefängnis. Das kann zu schweren<br />
psychischen Störungen, Depressionen und<br />
sogar zu Selbstmord führen.“<br />
ENDLICH SCHWULE POLIZISTEN<br />
Schwierig sei die Situation auch nach wie<br />
vor für LGBTIQ*-Geflüchtete. „Viele von<br />
ihnen sind durch den Krieg traumatisiert<br />
und zusätzlich aufgrund der Probleme<br />
der Umwelt mit ihrer sexuellen Identität.<br />
Sie werden von Mitflüchtenden ausgeschlossen,<br />
diskriminiert oder misshandelt“,<br />
berichtet Boufidis. Auch die griechischen<br />
Behörden würden häufig mit Diskriminierung<br />
gegenüber Schutzsuchenden aus der<br />
LGBTIQ*-Gemeinde reagieren. Gerade die<br />
Polizei sei bekannt für ihre Homophobie,<br />
wobei sich auch hier viel getan habe.<br />
„In diesem Jahr hat zum ersten Mal eine<br />
offizielle Gruppe der Polizei bei unserem<br />
Umzug für Menschenrechte mitdemonstriert,“<br />
berichtet Andrea Gilbert, Hauptorganisatorin<br />
des Pride in Athen. Leiter der<br />
Gruppe ist Michalis Lolis, Griechenlands<br />
erster Polizist, der offen zu seiner Homosexualität<br />
steht. In Griechenland, einem<br />
Land, in dem die Kirche mehr oder minder<br />
offen zu Gewalt gegen Homosexuelle<br />
aufruft, ist das eine Sensation.<br />
Immer mehr Menschen in Griechenland<br />
erkennen, dass sexuelle Vielfalt alles<br />
andere als ein Randthema ist. Ministerpräsident<br />
Tsipras hat dem schwulen Magazin<br />
„Antivirus“ ein Interview gegeben, immer<br />
mehr hochrangige Politiker sprechen der<br />
LGBTIQ*-Gemeinde ihre Unterstützung<br />
aus, der Athener Pride begann dieses Jahr<br />
erstmals auf dem berühmten Syntagma-<br />
Platz direkt vor dem Parlament, und die<br />
Medien berichten überwiegend positiv. Seit<br />
letztem Jahr gibt es die eingetragene Partnerschaft,<br />
und die linke Syriza-Regierung<br />
verabschiedet Anti-Diskriminierungsgesetze.<br />
„Wir haben noch einen langen Weg vor<br />
uns“, weiß Filippa Diamanti. Doch die ganz<br />
dunklen Zeiten sind vorbei.<br />
Der Autor: Florian Schmitz studierte<br />
Komparatistik, Spanisch und Lateinamerikanistik<br />
in Berlin und Madrid. Seit 2013<br />
ist er freier Autor und Griechenlandkorrespondent,<br />
u. a. für die Deutsche Welle<br />
sowie die Radiosender von ARD und ZDF.<br />
Im Mai 2017 erschien im RIVA-Verlag sein<br />
erstes Buch „Erzähl mir von Deutschland,<br />
Soumar.“