ocean7 1/2018

Sailing Poetry
Die Sirene
von Ventotene
Wir verlassen den Porto di Roma, passieren das Kap
Circeo, laufen ein in Ventotene, sprechen mit des Augustus‘
verbannter Tochter Julia, nehmen eine Sirene an Bord,
gehen unter dem Stromboli längsseits bei einem Segler
namens Odysseus und erreichen Sizilien.
Katalin, die Sirene von Ventotene.
Das Kap Circeo ist ein Bergkegel,
der trotz schmaler
Verbindung zum Festland
vom Meer aus wie eine Insel aussieht.
Auch Odysseus hielt ihn für
eine Insel, als er dort anlegte, sein
Boot für den Winter an Land zog –
und mit Circe einen Sohn zeugte.
VENTOTENE
In Ventotene gehen wir an eine
malerische Tankstelle: oben auf
einer senkrechten, dunkelbraunen
Felswand die Zapfsäule, keinerlei
Steg; die Wassertiefe erlaubt es, bis
an die Wand heranzufahren, von
oben wird uns der Schlauch gereicht.
Legen das Boot dann hinüber
zur Hafenmole, spazieren
unter den Resten der Villa Giulia:
Hierher wurde des Augustus Tochter
verbannt, ihres ausschweifenden
Lebenswandels wegen.
Augustus, erster römischer
Kaiser, nutzte Tochter Julia für seine
Karriere, verheiratete sie, wenn
er sich politischen Nutzen davon
versprach; den Ehemännern war
meist, nachdem sie für Nachkommen
gesorgt hatten, kein langes
Leben mehr beschieden, auch
Julias Liebhaber lebten gefährlich.
Als sie zum Kinderkriegen zu alt
war, störte Augustus ihr freizügiger
Lebenswandel – der öffentliche
Orgien und Prostitution einschloss
– und er verbannte sie.
Circe hatte Odysseus genaue
Anweisungen gegeben, wie er der
Sirenen Lied hören könne ohne
Alfred Zellinger
ist Schriftsteller und
erlernte das Segeln in
der O-Jolle des Vaters
auf dem Traunsee. Dort
segelt er heute einen
30er-Schärenkreuzer,
auf dem Meer eine 46er
Grand Soleil.
kolumne@ocean7.at
ihnen zu verfallen. Es ging dabei
nicht nur um Gesang, denke ich,
sondern um Erkenntnis, die bewirkt,
dass der ihr Verfallene sein
Leben nicht mehr unverändert
fortsetzen kann.
Ein Gleichnis wie das von der
„Zauberin“ Circe, die Odysseus
Crew in Schweine verwandelt haben
soll: Jede schöne Frau schafft
das, sagt man, ganz ohne Zauberei.
Eine der Sirenen, von ihrem kargen
Felsen geflüchtet, treffe ich in der
Bar Portovecchio am alten Römerhafen.
Nichts mehr los auf unseren
Felsen, klagt sie; kein Schwein hält
noch an, soviel wir auch singen. Ich
nehme sie mit an Bord und bald
singen wir gemeinsam „A Whiter
Shade of Pale“, die Crew nimmt’s
auf und stellt’s auf Youtube:
è www.youtube.com/watch?v=3WfmyUd6pL8
STROMBOLI
Kurs Ischia, dahinter die Sireneninseln,
nehmen dann Kurs auf
jenen Vulkan, dessen Lava sich
rauchend den Nordhang hinunterwälzt
und aufdampfend ins Meer
fließt, passieren zwischen dem
schwarzen Kegel des Stromboli
und dem bizarren Felsen Stromboliccio
mit seinem Pferdekopf,
kreuzen den Kurs eines seltsamen
Bootes, dessen Skipper sich, als wir
längsseits gehen, als Odysseus vorstellt.
Grüße ihn von der schönen
Circe im Porto di Roma. Dachte
mir, lacht Odysseus, dass sie nicht
lang um mich trauern wird.
Zitiere dann den offenen Brief
Penelopes, von Ovids Heroides
inspiriert, den ich kürzlich in einer
Zeitung gelesen hatte: „Dies sendet
dir Penelope, säumiger Ulixes; es
hilft mir nichts, wenn du zurückschreibst,
komm selbst! Troja ist
längst gefallen und diese Helena
war den ganzen Aufwand nicht
wert! Ich weiß, dass du unversehrt
überlebt hast. Und ich warte. Und
warte. Wo trödelst du herum? Bist
du von der Liebe zu einer anderen
gefesselt, wie es so eure Art ist, ihr
Männer?“ Bin ja unterwegs nach
Hause, sagt Odysseus, seit zehn
Jahren schon. Aber die Winde sind
launisch, die Götter gegen uns, die
Karten ungenau, die Riffe scharf,
die Strudel tief …
Im nächsten Sailing Poetry, meine
Damen und Herren, passieren wir
die Meerenge zwischen Scylla und
Carybdis, erreichen Messina, ent -
gehen den Kyklopen und treffen in
Reggio di Calabria den Fürsten
von Lampedusa.
Buchtipp – soeben erschienen:
Alfred Zellinger: Doktor Faustus in London.
Banker, Oligarch, Edition P.E.N. im Löcker Verlag,
ISBN 978-3-854090-892-8
82 1/2018