Leseprobe Soziale Sicherheit 11_2017
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Position<br />
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung nicht senken<br />
Schon in den allerersten Papieren aus den Sondierungen<br />
zur Jamaika-Koalition war die Festlegung zu lesen, dass<br />
die Beiträge zur Sozialversicherung nicht über 40 Prozent<br />
steigen dürften. Klingt erst einmal gut, ist aber brandgefährlich:<br />
Diese selbst gesetzte Grenze ist nämlich schon<br />
fast erreicht.<br />
Dabei wissen wir alle, dass in den nächsten Jahren<br />
angesichts der Altersstruktur unserer Gesellschaft Beitragsanhebungen<br />
in der Pflege und in der Rente gar nicht<br />
zu vermeiden sein werden, von Konjunktureinbrüchen, die<br />
hoffentlich nicht eintreten werden, gar nicht zu reden. Fixiert<br />
eine neue Bundesregierung jetzt die 40 Prozent als<br />
Obergrenze, steht zu befürchten, dass dann, wenn eigentlich<br />
die Beiträge ansteigen müssten, stattdessen die Leistungen<br />
gekürzt werden. Es sei denn, man glaubt jahreszeitgemäß<br />
an den Weihnachtsmann und daran, dass eine<br />
Regierung mit FDP-Beteiligung für höhere Steuerzuschüsse<br />
für die Sozialversicherungen sorgt, um gute Leistungen<br />
sicherzustellen.<br />
Vor diesem Hintergrund ist die jetzt laufende Diskussion<br />
um die Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung<br />
mit besonderen Risiken behaftet, weil ein<br />
Rückweg angesichts der Obergrenze bei den Beiträgen<br />
versperrt wäre, zumindest aber ausgesprochen steinig. Je<br />
tiefer die Senkung – der Sachverständigenrat schlägt völlig<br />
unverantwortliche 0,5 Prozent vor – desto schwerer der<br />
Rückweg.<br />
Aber vielleicht macht die Absenkung ja Sinn? Schließlich<br />
macht die Bundesagentur für Arbeit (BA) wegen der<br />
guten konjunkturellen Lage derzeit Milliarden Überschüsse.<br />
Stimmt, aber die werden auch gebraucht: als Reserve,<br />
damit die BA bei einem Konjunktureinbruch handlungsfähig<br />
ist. Kein Zweig der Sozialversicherung ist so konjunkturanfällig<br />
wie die Arbeitslosenversicherung: Werden viele<br />
Menschen arbeitslos, sinken die Beitragseinnahmen und<br />
steigen die Ausgaben – und zwar schnell.<br />
Zur Erinnerung: Als die Finanzkrise 2010 zu Ende ging,<br />
waren die Kassen der BA leer. Die Agenturen hatten 22<br />
Mrd. Euro in die Krisenbewältigung investiert, 17 Mrd.<br />
davon aus Rücklagen – u. a. für Kurzarbeit, Arbeitslosengeld<br />
und Weiterbildung. So war ein massiver Anstieg der<br />
Arbeitslosigkeit verhindert worden und die Wirtschaft war<br />
startklar, als die Konjunktur wieder anzog. Bis heute wird<br />
dieses Handeln europaweit als vorbildliche Krisenbewältigung<br />
betrachtet. Möglich war es aber nur, weil die Arbeitslosenversicherung<br />
liquide war und nicht in der Krise die<br />
Beiträge erhöhen musste.<br />
Wenn die Beiträge nicht ausreichen, hätte die BA theoretisch<br />
die Möglichkeit, ein Darlehen beim Bund aufzunehmen,<br />
das aber später wieder zurückgezahlt werden muss.<br />
So kann sie schnell in eine finanzielle Schieflage geraten,<br />
die sie massiv unter Druck setzt, auf Kosten der Arbeitslosen<br />
die Leistungen zu senken. Dies betrifft dann vor allem<br />
die so genannten Ermessensleistungen, also die Leistungen,<br />
auf die kein unmittelbarer Rechtsanspruch besteht.<br />
Das wären in erster Linie Leistungen für Weiterbildung,<br />
das Nachholen von Schulabschlüssen und das Programm<br />
»Zweite Chance«, das jungen Menschen, die bereits über<br />
25 Jahre alt sind, helfen soll, noch einen Berufsabschluss<br />
zu erreichen. Auch die Programme zur Rehabilitation von<br />
Behinderten könnten gefährdet sein.<br />
Der BA-Verwaltungsrat sieht sich deshalb in der Pflicht,<br />
Risikovorsorge zu treffen. Ein Gutachten des wissenschaftlichen<br />
Institutes der BA – des Instituts für Arbeitsmarkt<br />
und Berufsforschung – beziffert den Vorsorgebedarf auf<br />
ca. 20 Mrd. Euro. Das ist mit Blick auf die vorherigen Perioden<br />
plausibel. Derzeit beträgt die Rücklage rund 12 Mrd.<br />
Euro, auch im laufenden Jahr wird die BA die Rücklage weiter<br />
aufstocken können. Darüber, die Rücklage auf 20 Mrd.<br />
Euro aufzustocken, gibt es in der Selbstverwaltung der BA<br />
über alle Bänke hinweg Einigkeit.<br />
Danach gehen die Auffassungen von Arbeitgebern und<br />
Gewerkschaften auseinander: Während die Bundesvereinigung<br />
der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die<br />
Beiträge senken will, sieht der Deutsche Gewerkschaftsbund<br />
(DGB) die Notwendigkeit, Leistungen zu verbessern<br />
und Löcher im Schutzschirm der Arbeitslosenversicherung<br />
wieder zu schließen. Heute befindet sich nur noch ein Drittel<br />
der Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung, zwei<br />
Drittel sind in Harz IV. Jeder vierte, der arbeitslos wird, wird<br />
direkt in Hartz IV durchgereicht, weil diejenigen, die in<br />
Leiharbeit gehen, befristet beschäftigt sind oder in Saisonberufen<br />
arbeiten, oft den Schutz der Sozialversicherung<br />
gar nicht erreichen. Als ersten Schritt, um das zu ändern,<br />
fordert der DGB, die Rahmenfrist, in der Arbeitslose einen<br />
Anspruch auf Arbeitslosengeld erwerben können, wieder<br />
von zwei auf drei Jahre auszuweiten.<br />
Hinzu kommt, dass die Bundesagentur sich für Zukunftsaufgaben<br />
gut aufstellen muss: Bei der Bewältigung<br />
der massiven Veränderungen in der Arbeitswelt durch Digitalisierung<br />
und Strukturwandel brauchen Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer Unterstützung. Gerade Weiterbildung<br />
von Arbeitslosen wie Beschäftigten muss – unterlegt<br />
mit Rechtsansprüchen – auch mit den entsprechenden<br />
finanziellen Ressourcen versehen werden (s. auch Soz-<br />
Sich 7–8/<strong>2017</strong>, S. 261 ff.). Unternehmen und Beschäftigte<br />
müssen im strukturellen Wandel begleitet und unterstützt<br />
werden. Das kann die Arbeitslosenversicherung sicher<br />
nicht allein bewältigen, aber sie muss ihren Beitrag leisten.<br />
Und wenn die Jamaika-Sondierer sich darüber einig<br />
sind, dass Weiterbildung angesichts der Digitalisierung<br />
eine entscheidende Zukunftsaufgabe ist, sollten sie sich<br />
nicht einen der Wege zumauern, den sie gehen könnten.<br />
Annelie Buntenbach,<br />
Mitglied des Geschäftsführenden<br />
Bundesvorstands des DGB<br />
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<strong>Soziale</strong> <strong>Sicherheit</strong> <strong>11</strong>/<strong>2017</strong>