FINE Das Weinmagazin 04/2017

VEREHRTE LESERIN, LIEBER LESER,
wir leben in irritierenden Zeiten. Wohin wir den Blick auch wenden: Allent halben
wollen uns Unruhe und Unlust anwandeln angesichts der großen Wirrnis, in die die
Welt gefallen zu sein scheint. Nehmen wir allein die Wahr nehmung von Programmatik
und politischer Praxis, mit der das leitende Personal der uns befreundeten
Weltmacht fast täglich aufs Neue befremdet – sie könnte manchem ausreichen, sich
von dem Land, das einmal als Verheißung erschienen war, abzuwenden. Dem Weinfreund
sind solche Empfindungen gewiss nicht fremd. Und es ist ihm kein Trost, dass
es anderswo in der Welt noch heilloser aussieht. Aber dann steigt er in seinen Weinkeller
hinab, lenkt seine Schritte zu den kalifornischen Schätzen, greift nach einer
Flasche oder zweien – und schon ist für den Augenblick fast alles vergeben und vergessen.
Und mit der zärtlichsten Vorlust sieht er einem herrlichen Abend in Gesellschaft
großer Amerikaner entgegen. Ja, der Weinkeller kann ein Ort der Befriedung
und des Ausgleichs sein, ein Ort, der guter Erkenntnis förderlich ist und freundlichster
Absicht. Was man wohl im Hause Trump so trinkt? Man wüsste es gar zu gern.
Andere Orte kreativer Versenkung und obsessiver Entdeckerlust, in denen verborgene
Schätze darauf warten, gehoben zu werden, sind die großen Archive, Staatsarchive
zumeist. Zwischen den Abertausenden papierner Dokumente sitzt dort immer
wieder Daniel Deckers, ein Fährtenfinder und Explorator mit einer schier unfehl baren
Wünschelrute. Die einmal heiteren, ein andermal schwerwiegenden Erträge seiner
archivalischen Recherchen publiziert er regelmäßig in der FINE­ Rubrik Wein und
Zeit – in diesem Heft zum fünfundzwanzigsten Mal. Wie archäologische Fund stücke
erhellen sie unsere Geschichte, unsere Wein geschichte. All die vergilbten Korrespondenzen,
Tagebuchnotizen, Ergebenheits adressen, Bittgesuche, karto grafischen
Dokumente, die alten Auktionskataloge, Menükarten, Weinlisten und Kellerbücher –
klug eingeordnet, können sie uns lehren, dass Weinhistorie nicht nur einen kleinen
spezifischen Ausschnitt vergangenen Lebens beleuchtet. Seine Trouvaillen spiegeln
die Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Jahrhunderten, deren Kulturgeschichte
in wechselnden Sitten und Gebräuchen, ihre Territorial-Verschiebungen, nicht selten
gar auch Welt geschichte. Das ist nicht wenig.
Daniel Deckers gebührt – um nur ein kleines Beispiel zu benennen – das Verdienst,
mit dem Auffinden der »Weinbaukarte für den Nassauischen Rheingau« die
älteste Lagenklassifikationskarte der Welt dem Vergessen entrissen zu haben, desgleichen
die »Bodenkarte für das rheinhessische Weinbaugebiet« von 1925, und
auch die vor zweihundert Jahren nach Berlin überstellten Tranchot-Karten, die
als älteste topografische Zeugnisse mit der Bodennutzung erstmals auch den linksrheinischen
Weinbau visualisierten. Seine journalistische Kunst belässt es aber nicht
bei der staubtrocknen Präsentation der gehobenen Funde – sie folgt den Beziehungslinien
in die lebendige Gegenwart und gewichtet deren Bedeutung für uns Heutige.
Fünfundzwanzig Mal hat er versunkene Geschichte und Geschichten ans Tageslicht
befördert – und das, so sagt er, »ist erst der Anfang gewesen«. Wir sind begierig auf
das Neueste von damals – und sei es nur, um aus der Erkenntnis überstandener Verwirrungen
Hoffnung für unsere Zeit zu schöpfen.
Thomas Schröder
Chefredakteur
Editorial FINE 4 | 2017 9