11/2017

Fritz + Fränzi Fritz + Fränzi

26.10.2017 Aufrufe

Fr. 7.50 11/November 2017 Hemmzwerg Wie schüchternen Kindern geholfen werden kann Downsyndrom Mein Leben mit Maél, 8 – eine Mutter erzählt Fleisch, Milch, Ei Was ist gut für mein Kind – und was nicht?

Fr. 7.50 <strong>11</strong>/November <strong>2017</strong><br />

Hemmzwerg<br />

Wie schüchternen<br />

Kindern geholfen<br />

werden kann<br />

Downsyndrom<br />

Mein Leben mit<br />

Maél, 8 – eine<br />

Mutter erzählt<br />

Fleisch,<br />

Milch, Ei<br />

Was ist gut für mein Kind – und was nicht?


Illustration von Björn Berg © Bildmakarna Berg AB<br />

Originaltitel: «Winter in Lönneberga», Text bearbeitet von Tristan Berger<br />

TICKETS GEWINNEN!<br />

www.oekk.ch/kimu<br />

Unsere Krankenversicherung unterstützt<br />

«Neues von Michel aus Lönneberga» und «Die kleine Hexe».<br />

Zwei Kindermusicals, die der ganzen Familie Spass machen.


Editorial<br />

Bild: Geri Born<br />

Nik Niethammer<br />

Chefredaktor<br />

«Wenn Sie uns versprechen,<br />

dass Sie nicht alles glauben,<br />

was Ihr Kind von der<br />

Schule erzählt, versprechen<br />

wir Ihnen, dass wir nicht<br />

alles glauben, was Ihr Kind<br />

von zu Hause erzählt.»<br />

Notiz an der Wandtafel in einer österreichischen<br />

Grundschule, aufgeschrieben anlässlich eines<br />

Elternabends.<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

Am 4. September erreichte mich eine E-Mail von Miriam Bettschen aus Frutigen BE: «Mit<br />

grossem Interesse habe ich Ihren Bericht über Autismus gelesen. Sie haben den Nagel auf<br />

den Kopf getroffen! Ich bin selber mit einem Autisten verheiratet und zwei unserer drei Kinder<br />

leiden unter Autismus. Für unseren siebenjährigen Sohn Joel wünschen wir uns sehnlichst<br />

einen Autismusbegleithund. In der Schweiz wartet man Jahre auf so einen Hund. Für<br />

Joel wäre der Hund aber jetzt wichtig und nötig. Bitte helfen Sie uns.»<br />

Dem Schreiben war ein Spendenaufruf beigelegt, mit dem Frau Bettschen bei Freunden,<br />

Verwandten und Stiftungen Geld gesammelt hatte – wenig erfolgreich: Statt der benötigten<br />

34 500 Franken für die Ausbildung und Anschaffung eines Autismusbegleithundes waren<br />

lediglich 4000 Franken zusammengekommen.<br />

«Für Joel ist es schwierig, mit Emotionen umzugehen und angemessen zu reagieren», erzählt<br />

die dreifache Mutter. «Unser Sohn ist schnell reizüberflutet. Kleinste Veränderungen werfen<br />

ihn aus der Bahn. Dann schreit er, wirft mit Gegenständen um sich, schlägt sich selbst.»<br />

Fachleute schätzen, dass ein Begleithund die Anfälle von Autisten um die Hälfte reduzieren<br />

kann. «Hat Joel einen Anfall und verkriecht sich unter der Bettdecke,<br />

würde sich der Hund auf mein Kommando sachte auf Joel legen; zuerst<br />

nur auf seine Beine, dann auf seinen ganzen Körper», sagt Miriam Bettschen.<br />

«Es ist bekannt, dass Autisten bei Anfällen nichts mehr spüren. Sie<br />

brauchen Widerstand. Der Druck des Hundes beruhigt sie.»<br />

Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins<br />

Fritz+Fränzi, unterstützt Miriam Bettschen bei der Finanzierung ihres<br />

grossen Wunsches. Wie die Familie zu ihrem Begleithund kommt und<br />

wie Sie helfen können, hat unsere Autorin Sarah King aufgeschrieben.<br />

Ein Hund nach Mass für Joel – ab Seite 46.<br />

In eigener Sache: Zweimal im Jahr veröffentlicht die WEMF AG die<br />

Leserschaftsstudie MACH-Basic; sie gibt Aufschluss darüber, welche Zeitungen<br />

und Zeitschriften Leser verlieren. Und welche zulegen. Die Zahlen<br />

für unser Magazin in der Übersicht:<br />

• 21 Prozent mehr Leserinnen und Leser innerhalb eines Jahres<br />

(MACH-Basic <strong>2017</strong>-2: 178 000 vs. MACH-Basic 2016-2: 147 000)<br />

• Zunahme der verkauften Auflage gegenüber dem Vorjahr um 34 Prozent<br />

(WEMF-Auflagenbulletin <strong>2017</strong>: 24 846 Exemplare vs. 2016: 18 572 Exemplare)<br />

• Zunahme der verkauften Auflage gegenüber 2015 um satte 143 Prozent<br />

(Basis 2015: 10 224 Exemplare)<br />

Ihr Zuspruch macht uns stolz. Und motiviert uns, Ihnen auch in Zukunft ein treuer Wegbegleiter<br />

zu sein. Für Ihr Vertrauen danke ich Ihnen sehr herzlich.<br />

Ihr Nik Niethammer<br />

850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org


Fr. 7.50 <strong>11</strong>/November <strong>2017</strong><br />

Inhalt<br />

Ausgabe <strong>11</strong> / November <strong>2017</strong><br />

Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />

fritzundfraenzi.ch und<br />

facebook.com/fritzundfraenzi.<br />

Psychologie & Gesellschaft<br />

40 Typisch Mädchen, typisch Buben?<br />

Buben lernen anders als Mädchen.<br />

Warum es wichtig ist, die Unterschiede<br />

zu kennen, und wie Sie damit umgehen<br />

können.<br />

Augmented Reality<br />

Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert<br />

erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und<br />

Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />

10<br />

Bild: Filipa Peixeiro / 13 Photo<br />

Dossier: Ernährung<br />

10 Zu Tisch, bitte!<br />

Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme:<br />

Es ist Wissenschaft und Glaubensfrage,<br />

Geschmackssache und Kulturgut, es<br />

verbindet Familien oder spaltet sie.<br />

Wir haben sieben Ernährungsmythen auf<br />

den Prüfstand gestellt – mit teilweise<br />

überraschenden Erkenntnissen.<br />

32 Schön entspannt bleiben<br />

Die Ernährungspsychologin Katja Kröller<br />

plädiert für Gelassenheit, wenn Kinder<br />

plötzlich zu Früchte- und Gemüsemuffeln<br />

werden.<br />

Hemmzwerg<br />

Wie schüchternen<br />

Kindern geholfen<br />

werden kann<br />

Downsyndrom<br />

Mein Leben mit<br />

Maél, 8 – eine<br />

Mutter erzählt<br />

Fleisch,<br />

Milch, Ei<br />

Was ist gut für unsere Kinder – und was nicht?<br />

Cover<br />

Viele Kinder greifen<br />

gerne nach Fleisch,<br />

Milch und Ei – doch<br />

ist das auch gesund?<br />

Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo, Daniel Winkler / 13 Photo, Samuel Trümpy / 13 Photo, Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />

4


36<br />

46<br />

70<br />

Georg Stöckli, warum sind gewisse Kinder<br />

übermässig schüchtern?<br />

Joel, 7, hat Asperger. Ein Begleithund würde<br />

ihm und seiner Mutter den Alltag erleichtern.<br />

«Wenn ich mit Maél zusammen bin, zählt<br />

nur der Moment», sagt Barbara Stotz.<br />

Erziehung & Schule<br />

46 Ein Begleithund für Joel<br />

Joel hat das Asperger-Syndrom,<br />

eine Variante des Autismus. Ein<br />

Begleithund könnte ihm helfen, sich<br />

im Leben beser zurechtzufinden.<br />

Die Stiftung Elternsein startet eine<br />

grosse Spendenaktion.<br />

54 Eine Frage der Sicht<br />

Für das Verständnis von Kindern ist<br />

ein Perspektivenwechsel nötig.<br />

56 Freude an der Rechtschreibung<br />

Drei Praxistipps.<br />

60 Schlagen, treten, beissen<br />

Was Eltern bei extremer Aggression<br />

ihres Kindes tun können.<br />

64 Freude am Rechnen<br />

Die «befreiende Pädagogik» kann<br />

Kinder fürs Lernen begeistern.<br />

70 Leben mit Downsyndrom<br />

Eine Mutter erzählt, wie die<br />

genetische Veranlagung ihres Kindes<br />

die Familie verändert und prägt.<br />

Digital & Medial<br />

82 Anderen beim Spielen zuschauen<br />

Let’s Player sind Jugendliche, die sich<br />

während des Gamens filmen. Deren<br />

Youtube-Filme sind bei Teenagern<br />

äusserst beliebt.<br />

86 Sind Gesundheits-Apps<br />

sinnvoll?<br />

Drei Tipps, worauf es ankommt.<br />

Ernährung & Gesundheit<br />

78 Generation kurzsichtig<br />

Die Zahl der Schulkinder, die eine<br />

Brille brauchen, steigt weltweit.<br />

Warum? Und kann Kurzsichtigkeit<br />

verhindert werden?<br />

Rubriken<br />

03 Editorial<br />

06 Entdecken<br />

34 Monatsinterview<br />

Der Erziehungswissenschaftler Georg<br />

Stöckli ist Experte für Schüchternheit.<br />

42 Jesper Juul<br />

Wie kommen Eltern zu Schlaf, wenn<br />

Kinder das Familienbett belagern?<br />

44 Michèle Binswanger<br />

Unsere Kolumnistin ist irritiert, dass<br />

eine Teenie-Girlband mit sehr<br />

explizitem Wortschatz sie fasziniert.<br />

57 Stiftung Elternsein<br />

Ellen Ringier über ihre Mutter, die sie<br />

auch im Winter in Kniesocken zur<br />

Schule schickte, und warum sie<br />

Verständnis hat für die Modemacken<br />

ihrer Töchter.<br />

58 Fabian Grolimund<br />

Wer aufhört, sich gegenseitig<br />

kennenzulernen, wird sich fremd –<br />

das gilt auch für unsere engsten<br />

Beziehungen.<br />

68 Leserbriefe<br />

90 Eine Frage – drei Meinungen<br />

Was tun, wenn der jüngere Bruder<br />

besser Fussball spielt als der ältere?<br />

Service<br />

85 Verlosung<br />

88 Sponsoren/Impressum<br />

89 Buchtipps<br />

91 Abo<br />

Die nächste Ausgabe erscheint<br />

am 1. Dezember <strong>2017</strong>.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>5


Entdecken<br />

So entspannt ist Bern<br />

3 FRAGEN<br />

Wo wollen Sie wohnen? Dort, wo das Leben<br />

möglichst entspannt ist? Dann sollten Sie nach<br />

Bern ziehen. Laut einer Studie im Auftrag der<br />

mobilen Wäscherei und Reinigung Zipjet in<br />

Berlin ist Bern die stressfreiste Stadt der<br />

Schweiz. Untersucht wurden rund 500 Städte<br />

nach Kriterien wie psychische Gesundheit der<br />

Bewohner, Arbeitslosigkeit, Schulden pro Kopf,<br />

Anzahl Sonnenstunden,<br />

Anzahl Grünflächen,<br />

Gleichstellung,<br />

Sicherheit, Umweltbelastung<br />

und Bevölkerungsdichte.<br />

Bern<br />

schaffte es auf Platz<br />

vier. Der erste Platz<br />

ging an Stuttgart.<br />

an Daniel Hess, Co-Leiter des Vereins Glücksschule<br />

«Schüler sollen an sich glauben können»<br />

Der Verein «Glücksschule» setzt sich für eine öffentliche Schule ein,<br />

in der Kinder mit Freude lernen und in die sie gerne gehen. Wie diese<br />

aussehen soll, erklärt Vereinsleiter Daniel Hess.<br />

Interview: Evelin Hartmann<br />

Daniel Hess, im Januar 2015 kam Ihr Buch «Glücksschule» auf den<br />

Markt. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Buch?<br />

Ich habe in dieser Zeit als Berufsschullehrer gearbeitet und war entsetzt,<br />

wie viele Schüler bereits mit der Schule innerlich abgeschlossen hatten.<br />

Zu dieser Zeit kam auch mein ältester Sohn in die Schule und wollte schon<br />

nach wenigen Wochen nicht mehr hingehen. «Ich werde dort krank», waren<br />

seine Worte. Mir wurde bewusst, wie viele schulische und gesellschaftliche<br />

Strukturen nicht dem Glück aller Menschen dienen. Ich wollte ein Buch<br />

schreiben, welches das Glück jedes Menschen ins Zentrum stellt.<br />

2015 wurde der gleichnamige Verein gegründet. Mit welchem Ziel?<br />

Der Verein setzt sich für einen Wandel an der öffentlichen Schule ein:<br />

Es müssen am Ende der Schulzeit nicht alle das Gleiche können, sondern<br />

jeder Schüler sollte vor allem an die eigenen Fähigkeiten glauben.<br />

Das ist doch die wichtigste Ressource jedes Menschen!<br />

Wie sieht heute Ihre Arbeit konkret aus?<br />

In der gesamten Schweiz gibt es inzwischen mehrere Regionalgruppen.<br />

Wir wollen die Menschen für eine andere Schulkultur sensibilisieren,<br />

bieten aber auch für Lehrpersonen oder Eltern konkrete erste Schritte an.<br />

Ausserdem beraten wir Schulen, die unser Programm im Schulalltag<br />

umsetzen wollen, und führen Kongresse, Vorträge und Kurse durch. Auch<br />

möchten wir eine Beratungsstelle aufbauen, die Eltern unterstützt,<br />

deren Kinder in der Schule Probleme haben, sowie Schulen und Lehrpersonen,<br />

die Probleme mit Lernenden oder Schulklassen haben.<br />

www.gluecksschule.ch<br />

71 Prozent der Familien<br />

mit Kindern unter 15 Jahren sorgen<br />

privat für das Alter vor.<br />

(Quelle: Umfrage der AXA Winterthur,<br />

bei der 500 Familien in der Schweiz befragt wurden)<br />

Auf Jobsuche? Eine neue<br />

Hotline soll helfen<br />

40 000 Jugendliche in der Schweiz sind ohne Job. Um diesen<br />

jungen Menschen eine Anlaufstelle zu bieten, startet «Check<br />

Your Chance», der Dachverein gegen Jugendarbeitslosigkeit,<br />

nun die Helpline GO4JOB, unter der sich ein Team aus<br />

Jugendpsychologen den Fragen und Nöten junger Arbeitssuchender<br />

annimmt. Und das rund<br />

um die Uhr. GO4JOB wurde in<br />

Zusammenarbeit zwischen «Check<br />

Your Chance» und dem Arbeitgeberverband<br />

entwickelt und wird von Pro<br />

Juventute betrieben.<br />

Beratung per Helpline 0800464562<br />

oder E-Mail: beratung@go4job.ch<br />

www.check-your-chance.ch<br />

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die aktuelle<br />

Fritz+Fränzi-App,<br />

scannen Sie diese Seite<br />

und sehen Sie einen<br />

Film über<br />

«Check Your Chance».<br />

Bilder: ZVG, Bern Tourismus<br />

6 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Entdecken<br />

«Elterntaxis sind nicht nur<br />

ein grosses Ärgernis,<br />

sondern auch für Erziehungsdefizite<br />

verantwortlich.<br />

Man nimmt den Kindern so die<br />

Möglichkeit, den Umgang<br />

mit Gefahren zu lernen.»<br />

(Beat W. Zemp in einem Interview auf www.aargauerzeitung.ch)<br />

Beat W. Zemp ist Präsident<br />

des Dachverbands der<br />

Lehrerinnen und Lehrer<br />

Schweiz (LCH)<br />

Kinder und Lernen<br />

Entdecken, staunen und viel Neues ausprobieren –<br />

die «Kinder und Lernen»-Messe geht in die nächste<br />

Runde und lockt mit einer Ausstellung rund um Baby-,<br />

Kinder- und Jugendthemen. So informiert beispielsweise<br />

der Sprachreisenanbieter fRilingue über sein<br />

Angebot für Schüler und Studenten in den USA,<br />

England oder Frankreich oder<br />

der Club Chess4Kids über<br />

Schachkurse für junge Spieler.<br />

Dabei gilt es natürlich viel<br />

auszuprobieren und zu testen.<br />

Die nächsten Messen «Kinder<br />

und Lernen» finden am 19.<br />

November in Aarau und am<br />

26. November in Zürich statt.<br />

www.kinderundlernen.ch<br />

Wie die Mutter, so das Kind ...<br />

... zumindest, wenn es ums Schlafverhalten geht. Ein Forscherteam um<br />

Natalie Urfer-Maurer von der Universität Basel hat untersucht, wie<br />

Ein- und Durchschlafprobleme der Eltern mit der Schlafqualität der Kinder<br />

zusammenhängen. Dafür analysierten die Forscher den Schlaf von<br />

knapp 200 Kindern im Primarschulalter und befragten ihre Eltern zur<br />

eigenen Schlafqualität und der ihres Nachwuchses.Dabei stiessen die<br />

Forschenden auf einen Zusammenhang zwischen der Schlafqualität der<br />

Mütter und jener ihrer Kinder: Die Kinder von Müttern, die von Schlaf -<br />

problemen berichteten, schliefen später ein, schliefen weniger lang und<br />

befanden sich weniger lang im Tiefschlaf. Der Nachwuchs könnte sich das<br />

Schlafverhalten von den Eltern abschauen, oder abendlicher Streit in der<br />

Familie könnte das Einschlafen erschweren, so die Forscher. Zwischen der<br />

Schlafqualität von Vätern und jener ihrer Kinder wurde übrigens kein<br />

Zusammenhang gefunden.<br />

«Doktor, was fehlt ihm?»<br />

Bei einem Arztbesuch mit ihren Kindern sind<br />

Eltern oft überbehütend und «managen» das<br />

gesamte Prozedere, von der Anmeldung über die<br />

Untersuchung bis zur Besprechung der Befunde.<br />

Das mag bei kleinen Kindern angebracht sein,<br />

doch selbst bei Jugendlichen lassen zumindest<br />

amerikanische Eltern diesen kaum Freiräume. Eine<br />

für die USA repräsentative Befragung der University<br />

of Michigan von 1517 Müttern und Vätern 13-<br />

bis 18-jähriger Teenager ergab, dass fast 40 Prozent<br />

der Eltern den Medizinern alle Fragen selbst stellen.<br />

Nur 15 Prozent gaben an, dass ihre Tochter<br />

oder ihr Sohn körperliche oder emotionale Probleme<br />

mit seinem Arzt unter vier Augen bespricht.<br />

Um ein Bewusstsein für seine eigene Gesundheitsvorsorge<br />

zu entwickeln, wäre aber genau dies wichtig,<br />

erklären die Forscher.<br />

Bilder: Glowimages RM / Alamy Stock Photo, Hero Images / Plainpicture, ZVG<br />

8 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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10 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Du bist, was du isst<br />

Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme: Es ist Wissenschaft und<br />

Glaubensfrage, Geschmacks sache und Kulturgut, es verbindet Familien<br />

oder spaltet sie. Was zu essen, ist gesund? Und womit schaden wir<br />

unseren Kindern? Eine Einordnung. Text: Virginia Nolan Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong><strong>11</strong>


Dossier<br />

12 <br />

November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Die Forschung zeigt:<br />

Jugendliche mit hohem<br />

Milchkonsum haben<br />

ein höheres Risiko für<br />

Knochenbrüche.<br />

Macht Milch wirklich<br />

stark? Ist<br />

Fleisch gut für<br />

mein Kind? Gilt<br />

es, Zucker um<br />

jeden Preis zu vermeiden?<br />

Alte, tief in unserer Gesellschaft<br />

verankerte Weisheiten darüber, was<br />

gesund ist und was nicht, sind ins<br />

Wanken geraten. Dies macht uns<br />

bisweilen ratlos: Was dürfen wir<br />

überhaupt noch essen? Und vor<br />

allem: Was sollen wir unseren Kindern<br />

zu essen geben?<br />

Als Autorin, die oft über Ernährung<br />

schreibt, gelangte ich mit der<br />

Zeit zur Erkenntnis: Der goldene<br />

Mittelweg ist der richtige, auch beim<br />

Essen. Doch was heisst das genau?<br />

Und stimmt das überhaupt? Ich<br />

machte mich auf Spurensuche – und<br />

stellte sieben Mythen auf den Prüfstand<br />

der Wissenschaft.<br />

1. «Milch macht stark»<br />

Kaum ein Lebensmittel spielt in der<br />

Kinderernährung eine so zentrale<br />

Rolle wie Milch. «Milch macht<br />

stark» ist fest in den Köpfen verankert.<br />

Erst recht, wenn es um die<br />

Ernährung von Kindern und<br />

Jugendlichen geht. Milch gilt als<br />

wichtige Kalziumlieferantin, die<br />

Knochen und Zähne stärkt. Die<br />

Milchempfehlungen der Schweizerischen<br />

Gesellschaft für Ernährung<br />

(SGE) variieren nach Alter des Kindes.<br />

Demgemäss sollten Zehn- bis<br />

Zwölfjährige drei Portionen verschiedener<br />

Milchprodukte pro Tag<br />

zu sich nehmen. Als eine Portion<br />

gelten 2 Deziliter Milch, 150 bis 200<br />

Gramm Joghurt, Quark oder Hüttenkäse,<br />

30 Gramm Halbhart- oder<br />

Hartkäse oder 60 Gramm Weichkäse.<br />

Daraus resultiert eine Tagesmenge<br />

von bis zu 460 Gramm.<br />

Milchtrinker werden grösser<br />

«Ein so hoher Milchkonsum wird<br />

oft mit der Kalziumversorgung<br />

gerechtfertigt. Demnach soll Milch<br />

die Knochen stärken und Brüchen<br />

vorbeugen», sagt Walter Willett,<br />

Professor für Ernährungswissenschaft<br />

und Epidemiologie an der<br />

Harvard School of Public Health in<br />

Boston. «Dafür gibt es aber keine<br />

wissenschaftlichen Beweise.» Der<br />

72-jährige Willett ist der meistzi -<br />

tierte Ernährungswissenschaftler<br />

und er forscht, wie Ernährung und<br />

Krankheit zusammenhängen.<br />

«Der Mythos, wonach Kinder<br />

viele Milchprodukte konsumieren<br />

sollten, um ihre Knochen zu stärken,<br />

scheint der Realität definitiv<br />

nicht standzuhalten», sagt Willett.<br />

«Wir wissen heute, dass Jugendliche<br />

mit einem hohen Milchkonsum ein<br />

höheres Risiko für Knochenbrüche<br />

im Erwachsenenalter haben.» Ein<br />

wahrscheinlicher Grund dafür sei,<br />

dass ein hoher Milchkonsum in der<br />

Kindheit zu längeren Knochen führe<br />

– die damit anfälliger seien für<br />

Brüche.<br />

Dass Milchtrinker grösser werden,<br />

gilt als unumstritten. Grösser<br />

bedeutet aber nicht unbedingt<br />

gesünder. «Gross gewachsene Menschen<br />

haben ein erhöhtes Risiko für<br />

bestimmte Krebsarten», sagt Susannah<br />

Brown vom World Cancer<br />

Research Fund. «Der Risikofaktor<br />

ist nicht die Körpergrösse selbst,<br />

sondern der Wachstumsprozess, den<br />

wir bis ins Erwachsenenalter durchlaufen.»<br />

Wie gross ein Mensch werde,<br />

hänge auch von der Ernährung<br />

in Kindheit und Jugend ab. So<br />

begünstige eine stark proteinreiche<br />

Kost ein rasanteres Wachstum und<br />

eine höhere Körpergrösse, auch<br />

übergewichtige Kinder wüchsen<br />

tendenziell schneller. Zudem setzt<br />

die Pubertät früher ein.<br />

Keinen Bedarf mehr für Milch<br />

nach der Stillzeit<br />

«Solche Entwicklungen sind eine<br />

unmittelbare oder indirekte Folge<br />

unserer Ernährung als Kind», sagt<br />

Brown. «Dabei spielen erhöhte Spiegel<br />

von Wachstums- und Sexualhormonen<br />

eine Schlüsselrolle.» Diese<br />

Hormone beeinflussten Körpergrösse<br />

und Geschlechtsmerkmale,<br />

aber auch das Verhalten unserer<br />

Zellen – und so das Risiko für Krebs.<br />

Was hat das mit der Milch zu tun?<br />

«Wir wissen, dass ein hoher Konsum<br />

von Milchprodukten die Konzentration<br />

von Wachstums faktoren<br />

im Blut erhöht», sagt Ernährungswissenschaftler<br />

Walter Willett. Im<br />

Fokus steht dabei der Wachstumsfaktor<br />

IGF-1, der die Zellteilung<br />

beschleunigt. Ein erhöhter Spiegel<br />

von IGF-1 geht nachweislich mit<br />

einem gesteigerten Risiko für gewisse<br />

Krebsarten einher. Warum mehr<br />

von diesem Botenstoff im Blut hat,<br />

wer ausgiebig Milchprodukte konsumiert,<br />

ist gemäss Willett noch<br />

nicht geklärt. Im Verdacht stünden<br />

jedoch Wachstumshormone in der<br />

Kuhmilch.<br />

Auch Muttermilch enthält<br />

Wachstumshormone. Nach der Stillzeit<br />

jedoch, etwa ab dem dritten<br />

Lebensjahr, habe der Mensch keinen<br />

Bedarf mehr für Milch: «Dann ist<br />

rasantes Wachstum nicht >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>13


Dossier<br />

>>> mehr wünschenswert, sondern<br />

mit gesundheitlichen Risiken<br />

verbunden.»<br />

Steigender Östrogenspiegel<br />

in der Milch<br />

Als solche bezeichnet die Harvard-<br />

Forscherin Ganmaa Davaasambuu<br />

auch die in der Kuhmilch enthaltenen<br />

Sexualhormone, vor allem<br />

Ös trogene. Problematisch ist gemäss<br />

Davaasambuu nicht Milch per se,<br />

sondern das Produkt einer hochmodernen<br />

Milchwirtschaft, die Kühe<br />

dauerträchtig hält und fast ununterbrochen<br />

melkt. «Mit fortschreitender<br />

Trächtigkeit», sagt Davaasambuu,<br />

«steigt der Östrogenspiegel in<br />

der Milch.»<br />

Die Forscherin analysierte nebst<br />

westlicher Hochleistungsmilch auch<br />

Rohmilch aus der Mongolei: Diese<br />

hatte eine bis zu 33 Mal tiefere Konzentration<br />

an weiblichen >>><br />

Problematisch ist Milch als<br />

Produkt einer hochmodernen<br />

Milchwirtschaft, die Kühe<br />

dauerträchtig hält und fast<br />

ununterbrochen melkt.<br />

Dem Zucker auf<br />

der Spur<br />

Anita und Martin haben das Leben ohne Zucker auf<br />

Probe gewagt. Die Mutter des 6-jährigen Noah* und<br />

des 3-jährigen Nico und ihr Partner befanden den<br />

Versuch als wohltuend, aber alltagsuntauglich. Jetzt<br />

praktiziert die Patchworkfamilie einen Mittelweg.<br />

Anita: Ich habe kein Problem damit, zwischendurch ein<br />

Stück Kuchen zu essen. Da weiss ich wenigstens auf<br />

Anhieb, dass Zucker drin ist. Problematisch finde ich, dass<br />

wir Zucker auch da finden, wo ihn keiner vermutet. Martin:<br />

Hüttenkäse, Brot, Würzmischungen, Trockenfleisch – überall<br />

ist versteckter Zucker drin. Wollen wir den weglassen, wirds<br />

schnell kompliziert. Da komme ich beim Einkaufen nicht<br />

ohne Anitas Hilfe zurecht, ganz ehrlich. Anita: Fruktose,<br />

Gerstenmalz, Saccharose, Raffinose – Zucker hat viele<br />

Namen, dies sind nur ein paar davon. Es muss sich gut<br />

informieren, wer zuckerfrei leben will. Martin: Wir haben<br />

es 40 Tage lang durchgezogen, einfach als Versuch. Für<br />

mich war das Neuland. Anita: Ich beschäftige mich schon<br />

länger mit dem Thema und verdanke der Zuckerreduktion<br />

ein besseres, gesünderes Körpergefühl. Martin: Ich habe<br />

in den 40 Tagen gut sieben Kilo abgenommen, aber darum<br />

ging es mir nicht: Vor allem war ich wacher, konzentrierter,<br />

fitter. Anita: Wir begannen, viele Nahrungsmittel selbst herzustellen:<br />

Brot, Joghurt, Würzmischungen oder Aufstriche<br />

etwa. Als berufstätige Mutter war mir das auf Dauer jedoch<br />

zu anstrengend. Die optimale Ernährungsweise soll auch<br />

familientauglich sein. Diese Herausforderung thematisiere<br />

ich auch auf meinem Blog runningmami.ch. Martin: Gelohnt<br />

hat sich unser Versuch aber trotzdem. Da hat ein Umdenken<br />

stattgefunden. Anita: Auf jeden Fall. Wir haben vieles daraus<br />

in unseren Alltag integriert. So habe ich zum Beispiel ein<br />

zuckerfreies Brot gefunden, das auch die Kinder mögen, und<br />

Fruchtjoghurts kaufe ich nicht mehr. Ich möchte nicht, dass<br />

meine Kinder ihren täglichen Zuckerbedarf schon nach dem<br />

Frühstück gedeckt haben. Noah: Mein Lieblingsessen sind<br />

Gummibärchen. Anita: Mein Sohn liefert die Antwort gleich<br />

selbst: Nein, die Kinder mussten unseren Versuch nicht<br />

mitmachen. Die Naschbox stand ihnen weiterhin offen. Da<br />

dürfen sie ab und zu was Süsses rausnehmen. Martin: Anita<br />

und ich werden unsere zuckerfreien 40 Tage aber definitiv<br />

wiederholen. Ich bin leider rückfällig geworden und merke es<br />

auch – die verflixte Schokolade …<br />

* Namen der Kinder von der Redaktion geändert<br />

14 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Anita und Martin<br />

lebten 40 Tage<br />

zuckerfrei. Das<br />

bedeutete auch<br />

Verzichten auf<br />

Trockenfleisch<br />

und Hüttenkäse.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November <strong>2017</strong>15


Dossier<br />

Das<br />

Lieblings essen<br />

von David<br />

(rechts hinten)<br />

und Anna (vorne)<br />

ist Durian – eine<br />

Stinkfrucht.<br />

16 <br />

November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Forscher bezeichnen zwei<br />

Portionen Milchprodukte<br />

pro Tag – egal welcher Art –<br />

als massvoll.<br />

>>> Geschlechtshormonen. Kühe<br />

in der Mongolei werden nicht künstlich<br />

besamt und nur in den ersten<br />

drei Monaten einer Trächtigkeit<br />

gemolken. «Die Milch, die wir heute<br />

konsumieren, hat kaum noch<br />

etwas mit der Milch zu tun, die<br />

unsere Vorfahren tranken», sagt<br />

Davaasambuu.<br />

Milch ist gesund – für<br />

mangelernährte Kinder<br />

«Uns fehlen viele Antworten auf die<br />

Frage, wie der Konsum von Milchprodukten<br />

in der Kindheit die<br />

Gesundheit beeinflusst», sagt Willett.<br />

«Bis weitere Informationen vorliegen,<br />

ist Masshalten ein guter Mittelweg.»<br />

Als massvoll bezeichnet der Forscher<br />

Mengen von täglich höchstens<br />

zwei Portionen Milchprodukten,<br />

egal welcher Art. «Milch enthält<br />

wichtige Nährstoffe wie Protein oder<br />

Kalzium», schreiben die Forscher<br />

Willett und David Ludwig im Fachmagazin<br />

JAMA. Kindern, die von<br />

Mangelernährung betroffen seien,<br />

könne Milch gesundheitliche Vorteile<br />

bieten. «Bei Kindern aber, die<br />

bereits eine hochwertige Er ­ >>><br />

Roh und natürlich: Essen<br />

wie unsere Vorfahren<br />

Die Patchworkfamilie von Sandra und Tanja ernährt<br />

sich von Rohkost. Wenn Luca*, 12, David, 9, oder<br />

die 6-jährigen Mia und Anna Geburtstag feiern, ist<br />

sogar der Kuchen roh.<br />

Tanja: Ich ernähre mich nun schon so lange von Rohkost,<br />

dass ich kaum mehr weiss, wie es vorher war. Sandra:<br />

Auch ich fing in späten Teenagerjahren damit an, nachdem<br />

diese Ernährungsweise meinem Vater zu einer besseren<br />

Gesundheit verholfen hatte. Ich könnte mir nicht mehr vorstellen,<br />

anders zu leben. Tanja: Unsere Kinder kennen seit<br />

Geburt nichts anderes. Im Sommer sind wir dank unserem<br />

Garten fast selbstversorgend. Sandra: Je nach Lust der<br />

Kinder kaufen wir aber auch mal etwas dazu, Melonen oder<br />

exotische Früchte zum Beispiel. David: Mein Lieblingsessen<br />

ist Durian. Anna: Meines auch! Tanja: Die Stinkfrucht ist der<br />

ungeschlagene Favorit der Kinder. Wahrscheinlich, weil wir<br />

sie so selten essen. Mia: Ich esse am liebsten Geburtstagskuchen.<br />

Sandra: Der Kuchen ist ein Highlight für die Kinder.<br />

Ich mache einen Boden aus Datteln und Nüssen und eine<br />

Füllung aus frischen Früchten und Nüssen. Tanja: Als Rohkost<br />

gelten Naturprodukte, die nicht über 40 Grad erwärmt<br />

wurden. Wir essen auch Trockenfleisch, rohe Eier von unseren<br />

Hühnern und Rohmilch, die Sandra zu Quark verarbeitet.<br />

Sandra: Wir essen alles in natürlicher Form, so, wie unsere<br />

Vorfahren gegessen haben und es Wildtiere noch heute tun.<br />

Dadurch bleiben unserer Nahrung wichtige Enzyme und<br />

Nährstoffe erhalten. Tanja: Die Milch kann ich eigentlich<br />

nicht mit mir vereinbaren, weil es unnatürlich ist, Muttermilch<br />

einer anderen Art zu trinken. Sandra: Bisher haben<br />

die Kinder noch nie den Wunsch geäussert, etwas zu essen,<br />

das sie zu Hause nicht bekommen. Ich wüsste nicht, wie<br />

ich darauf reagieren würde. Luca: Bei Oma habe ich früher<br />

einmal heimlich Brot und Teigwaren gegessen. Tanja: Dass<br />

es heimlich war, fand ich nicht so toll. Da gabs Diskussionen<br />

mit meiner Mutter. Luca: Heute esse ich aus Überzeugung<br />

roh. Meine Freunde haben das schnell begriffen. Ich kann<br />

problemlos bei denen essen: Ein paar Äpfel und Bananen hat<br />

jeder daheim. Sandra: Drei unserer Kinder werden zu Hause<br />

unterrichtet, David besucht die Schule. Wenn dort ein Kind<br />

Geburtstag feiert, nimmt die Lehrerin Nüsse für ihn mit. Mir<br />

wäre es lieb, könnten wir unsere Kinder noch lange von der<br />

industriellen Nahrung fernhalten. Tanja: Klar könnten wir<br />

sagen: Jetzt kochen wir das Gemüse halt einmal. Aber wir<br />

haben bei Freunden gesehen, dass die Hemmschwelle, auch<br />

andere Sachen zu probieren, dann abnimmt. Rohkost gibt<br />

klar vor, was drinliegt – dass Süsskram und Industrienahrung<br />

da nicht dazugehören, finden wir als Mütter prima.<br />

*Namen der Kinder von der Redaktion geändert<br />

17


Dossier<br />

>>><br />

«Bio-Qualität garantiert uns<br />

ein hohes Mass an Sicherheit,<br />

dass Fleisch nicht mit<br />

Antibiotika belastet ist», sagt<br />

Kinderarzt Josef Laimbacher.<br />

nährung mit grünblättrigen<br />

Früchten, Gemüsen, Nüssen und<br />

Samen sowie guten Proteinquellen<br />

geniessen, können die Vorzüge der<br />

Milch ihre etwaigen gesundheitlichen<br />

Risiken möglicherweise nicht<br />

aufwiegen.»<br />

2. «Fleisch muss sein»<br />

Wer heutzutage kein Fleisch isst,<br />

erweckt damit kaum mehr Aufsehen.<br />

Wo immer wir speisen, sind<br />

vegetarische Optionen gang und<br />

gäbe. Es wird auch kaum mehr angezweifelt,<br />

dass eine fleischlose Ernährung<br />

nicht zwangsläufig zu Mangelerscheinungen<br />

führt.<br />

Nicht ganz so entspannt sind wir<br />

jedoch, wenn es um Kinder geht. Es<br />

bleibt die Frage im Raum: Braucht<br />

unser Nachwuchs Fleisch, um<br />

gesund zu wachsen?<br />

«Fleisch ist ein hochwertiges Nahrungsmittel,<br />

reich an Protein, Eisen<br />

und anderen Vitalstoffen», sagt Josef<br />

Laimbacher, Chefarzt für Kinderund<br />

Jugendmedizin am Ostschweizer<br />

Kinderspital und Mitglied der<br />

Eidgenössischen Ernährungskommission.<br />

$<br />

Um Fleischkonsum propagieren<br />

zu können, müsste aber eine wichtige<br />

Voraussetzung stimmen. Für<br />

Laimbacher ist das Bio-Qualität:<br />

«Sie garantiert uns ein hohes Mass<br />

an Sicherheit, dass das Fleisch nicht<br />

mit Antibiotika oder Rückständen<br />

aus kontaminiertem Tierfutter be -<br />

lastet ist.»<br />

Seien diese Bedingungen erfüllt,<br />

stelle Fleisch in der Kinderernährung<br />

eine wertvolle Quelle für<br />

essenzielle Aminosäuren dar. Das<br />

sind Proteinbausteine, die im >>><br />

Allergie oder<br />

Intoleranz?<br />

Blähungen, Hautausschläge oder<br />

Atemnot: Manche Menschen<br />

reagieren empfindlich bis sehr<br />

heftig auf bestimmte Lebensmittel.<br />

Dann kann eine Allergie vorliegen<br />

oder eine Intoleranz. Die beiden<br />

Formen der Reaktion auf<br />

Inhaltsstoffe unterscheiden sich<br />

grundlegend voneinander.<br />

Eine Nahrungsmittelallergie beruht<br />

auf einer Abwehrreaktion des Körpers<br />

gegenüber harmlosen pflanzlichen oder<br />

tierischen Eiweissen (Allergenen). Die<br />

von unserem Organismus gebildeten<br />

Antikörper lösen bei jeglichem Kontakt<br />

mit den Allergenen – oft reichen nur<br />

Spuren davon – eine allergische Reaktion<br />

aus. Sie variiert je nach Schweregrad der<br />

Allergie von Juckreiz über Hautekzeme<br />

oder Verdauungsbeschwerden bis hin<br />

zum sogenannten anaphylaktischen<br />

Schock, der schwersten Form einer allergischen<br />

Reaktion, die im schlimmsten Fall<br />

zu Atem- und Kreislaufstillstand führt.<br />

Im Fall der Nahrungsmittelallergien ist<br />

die gefühlte Betroffenheit weit höher als<br />

die tatsächliche, wie Zahlen des Allergiezentrums<br />

Schweiz zeigen: So geben bei<br />

Umfragen jeweils 20 Prozent der Bevölkerung<br />

an, auf bestimmte Nahrungsmittel<br />

allergisch zu sein, nachweislich<br />

davon betroffen sind allerdings lediglich<br />

2 bis 8 Prozent.<br />

Nahrungsmittelintoleranz ist ein Sammelbegriff<br />

für verschiedene, nicht<br />

allergisch bedingte Reaktionen auf<br />

Nahrungsmittel. Dabei bildet der Körper<br />

keine Antikörper, sondern ihm fehlt stattdessen<br />

die Fähigkeit, einen bestimmten<br />

Stoff zu verdauen, beziehungsweise er<br />

hat diese Fähigkeit ganz oder teilweise<br />

verloren. Ein bekanntes Beispiel für eine<br />

Nahrungsmittelintoleranz ist die Zöliakie<br />

oder Glutenintoleranz. Dabei können<br />

Betroffene das Klebereiweiss in verschiedenen<br />

Getreidesorten nicht verdauen,<br />

was zu einer Schädigung der Dünndarmschleimhaut<br />

führt. Bei der Laktoseintoleranz,<br />

einer weiteren bekannten Störung,<br />

fehlt Betroffenen ein Verdauungsenzym,<br />

um Milchzucker zu spalten. Anstatt ins<br />

Blut gelangt der Milchzucker unverdaut<br />

in den Dickdarm und wird dort von<br />

Bakterien vergoren, was zu Blähungen,<br />

Bauchkrämpfen, Durchfall, Verstopfung<br />

oder Erbrechen führen kann.<br />

Eine Nahrungsmittelintoleranz führt<br />

nicht zu einer lebensbedrohlichen<br />

Situation, kann für Betroffene aber<br />

sehr einschränkend und unangenehm<br />

sein. Die Symptome sind vielfältig, zu<br />

den häufigsten gehören Verdauungsbeschwerden<br />

wie Bauchschmerzen, Blähungen,<br />

Durchfall oder Verstopfung sowie<br />

Unwohlsein. Je nach Form der Intoleranz<br />

sind in der Schweiz bis zu 20 Prozent der<br />

Bevölkerung betroffen.<br />

Mehr Informationen: www.aha.ch<br />

18 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August November <strong>2017</strong>19


Dossier<br />

Einer für alle:<br />

Obwohl Mutter<br />

Sandra<br />

«Ella-konform»<br />

kocht, essen alle<br />

aus demselben<br />

Topf.<br />

20 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Familiensolidarität mit<br />

der Allergikerin<br />

Ella Macher, 16, aus Bäretswil ZH leidet an schweren<br />

Lebensmittelallergien. Ihre Eltern Sandra und<br />

Andreas sowie Bruder Flynn, 12, stellten deshalb<br />

auch den eigenen Speiseplan auf den Kopf.<br />

Sandra: Ihr erster Griessbrei kostete Ella fast das Leben.<br />

Sie bekam einen Ausschlag, ihr Hals schwoll zu, sie verlor das<br />

Bewusstsein. Ella hatte als Baby einen allergischen Schock.<br />

Es stellte sich heraus, dass sie hochallergisch auf Weizen<br />

war – sowie auf Nüsse, Eier und Milch. Ella: Heute sind<br />

meine Reaktionen nicht mehr lebensbedrohlich. Ich hatte<br />

neulich sogar Brot probiert – und nachher nur Bauchweh.<br />

Experimentieren läuft nicht immer gleich gut. Andreas: Als<br />

du Milchschaum probiert hattest, warst du zwei Tage ausser<br />

Gefecht. Sandra: Solche Reaktionen waren früher gang und<br />

gäbe. Nur schon, wenn ein anderes Kind Glace gegessen<br />

hatte und Ella mit ungewaschenen Fingern berührte,<br />

reagierte sie mit Nesselfieber. Ella: Daran erinnere ich mich<br />

kaum mehr. Sandra: Mich dagegen prägt die Angst, dass Ella<br />

etwas Falsches erwischen könnte, bis heute. Ich schärfte der<br />

Kindergärtnerin ein, dass Ella nicht einmal die Blockflöte mit<br />

anderen teilen darf, Lehrer und Eltern von Schulfreunden<br />

wurden informiert, Spezialessen fürs Klassenlager organisiert.<br />

Ich war jahrelang wie auf Nadeln. Ella: Dass Mama<br />

nicht aus der Rolle meiner Beschützerin herauskann, ist ein<br />

grosses Thema zwischen uns. Andreas: Es führt auch zu<br />

Konflikten zwischen uns Eltern, weil ich es unterstütze, wenn<br />

Ella experimentieren will. Als Arzt interessieren mich ihre<br />

Reaktionen eher, als dass sie mich ängstigen. Gleichzeitig<br />

verstehe ich Sandra, weil der Umgang mit Ellas Allergien<br />

im Alltag vor allem an ihr hängt. Sandra: Früher kochte ich<br />

zu jeder Mahlzeit zwei verschiedene Gerichte. Irgendwann<br />

wuchs mir das über den Kopf, mittlerweile pflegt auch<br />

Andreas als Vegetarier eine spezielle Ernährung. Flynn:<br />

Wir essen meist alle «Ella-konform» – das ist bei uns ein<br />

fester Begriff. Manchmal gibts für mich und Papa etwas<br />

Käse dazu. Sandra: Flynn hat in den vergangenen Jahren oft<br />

zurückstecken müssen, ich hatte keine Kapazität, auf seine<br />

Essenswünsche einzugehen. Flynn: Manchmal motze ich<br />

auch. Meist sehe ich es positiv: Ellas Allergien machten uns<br />

erfinderisch – und Kochen spannender. Sandra: Der vegane<br />

Trend hat uns viele neue Produkte beschert. Ella: Es gibt aber<br />

leider auch den Trend, Pseudo-Allergien an die grosse Glocke<br />

zu hängen. Ich kann nicht verstehen, wie Leute sich damit<br />

interessant machen möchten, wo ich stets nur eines wollte:<br />

ja nicht auffallen mit meinen Allergien.<br />

Vegan lebende Kinder sollten<br />

täglich etwa einen Viertel<br />

mehr Pflanzenprodukte essen<br />

als traditionell ernährte<br />

Altersgenossen.<br />

>>> Körper unter anderem am<br />

Muskelaufbau sowie an der Produktion<br />

von Enzymen, Hormonen und<br />

Antikörpern beteiligt sind.<br />

Es geht auch ohne<br />

Geht es auch ohne? «Grundsätzlich<br />

ja», sagt Laimbacher. Ein Kind vegetarisch<br />

zu ernähren, bedeute allerdings<br />

nicht nur, Fleischprodukte<br />

vom Speiseplan zu streichen, sondern<br />

diese durch eine ausgewogene<br />

Mischkost zu ersetzen. So seien<br />

Milchprodukte, Eier, Hülsenfrüchte,<br />

Getreide und Nüsse gute Proteinlieferanten<br />

und deckten dabei auch<br />

essenzielle Aminosäuren ab. «Proteinmangel<br />

ist in unseren Breitengraden<br />

kein Thema mehr», sagt Laimbacher.<br />

Daran ändere auch die<br />

zunehmende Beliebtheit der fleischlosen<br />

Kost nichts.<br />

Ihren Bedarf an Vitamin B12,<br />

zentral für die Blutbildung und die<br />

Funktion des Nervensystems, müssten<br />

vegetarisch lebende Kinder über<br />

Milchprodukte und Eier decken.<br />

«Eine ausgewogene Ernährung, die<br />

ohne Fleisch auskommt, aber andere<br />

Tierprodukte miteinschliesst», so<br />

Laimbacher, «deckt die Nährstoffbedürfnisse<br />

des wachsenden Kindes<br />

gut ab.»<br />

3. «Veganer sind<br />

Rabeneltern»<br />

Aber was ist mit der veganen Ernährung,<br />

die sämtliche Nahrungsmittel<br />

tierischen Ursprungs ausschliesst?<br />

In den Medien lesen wir von Müttern<br />

und Vätern, die ihre Kinder mit<br />

Trockenobst fütterten, bis diese spitalreif<br />

waren, von einem Baby, das<br />

durch Pflanzenkost verhungerte,<br />

weil ihm die Eltern keine >>><br />

21


Dossier<br />

Vegane Ernährung kann bei<br />

fehlendem Fachwissen zu<br />

Hirnschädigungen führen.<br />

>>> Säuglingsmilch anboten, nachdem<br />

das Stillen nicht funktioniert<br />

hatte.<br />

Auch am Ostschweizer Kinderspital<br />

mussten schon Kinder behandelt<br />

werden, bei denen die vegane<br />

Ernährung zu schweren Entwicklungsdefiziten<br />

geführt hatte: «Die<br />

meisten davon waren Babys und<br />

Kleinkinder mit irreversiblen Hirnschädigungen,<br />

ausgelöst durch einen<br />

Mangel an Vitamin B12 der Mutter<br />

während Schwangerschaft und Stillzeit.»<br />

Laimbacher betont allerdings,<br />

dass diese Patienten Einzelfälle darstellten,<br />

von denen er in den letzten<br />

Jahren keine mehr gesehen habe:<br />

«Dies ist vermutlich einer intensiveren<br />

Aufklärung zu verdanken.» Das<br />

Bild der veganen Rabeneltern, das<br />

von den Medien kolportiert werde,<br />

sei überzogen.<br />

Seitan und Bohnen haben mehr<br />

Proteine als Fleisch<br />

Eine rein pflanzliche Kost, sagt<br />

Laimbacher, biete durchaus gewisse<br />

gesundheitliche Vorteile, gerade in<br />

Bezug auf Zivilisationskrankheiten<br />

wie Übergewicht. Trotzdem rät der<br />

Jugendmediziner nicht dazu, Kinder<br />

entsprechend zu ernähren: «Weil die<br />

vegane Ernährung schlicht keine<br />

massentaugliche Empfehlung ist. Sie<br />

setzt ein gutes Fachwissen der Eltern<br />

voraus und die Bereitschaft, dafür<br />

einen höheren zeitlichen Aufwand<br />

zu betreiben.» Dazu gehörten die<br />

Beratung durch eine qualifizierte<br />

Ernährungsfachkraft sowie regelmäs<br />

sige Kontrollen beim Kinderarzt<br />

– inklusive Laboruntersuchungen.<br />

Eltern, die auf Pflanzenkost setzen,<br />

müssen die Ernährung ihrer<br />

Kinder sorgfältig zusammenstellen,<br />

damit diese alle wichtigen Nährstoffe<br />

in der richtigen Menge bekommen.<br />

Nüsse, Samen, Hülsenfrüchte<br />

und daraus hergestellte Produkte<br />

wie Tofu liefern Eiweiss und Kalzium<br />

und je nach Sorte auch pflanzliches<br />

Eisen. Auch Vollkorngetreide<br />

sind gute Proteinlieferanten. Manche<br />

Bohnen oder das aus Weizenprotein<br />

hergestellte Fleischersatzprodukt<br />

Seitan übertrumpfen mit<br />

ihrem Proteingehalt sogar Fleisch.<br />

In der Kalziumversorgung spielen<br />

zudem etwa grünes Blattgemüse<br />

und kalziumreiches Mineralwasser<br />

eine wichtige Rolle.<br />

Eisen können Veganer über Ge ­<br />

treideprodukte, Nüsse und Samen,<br />

Trockenobst, Spinat oder Rucola zu<br />

sich nehmen. Bestimmte Säuren wie<br />

Vitamin C helfen unserem Körper<br />

dabei, das Eisen aus Pflanzen besser<br />

absorbieren zu können. Die Bioverfügbarkeit<br />

von Nährstoffen – das,<br />

was der menschliche Körper davon<br />

effektiv aufnehmen kann – ist in<br />

pflanzlichen Quellen geringer als in<br />

tierischen. «Darum sollten vegan<br />

lebende Kinder täglich etwa einen<br />

Viertel mehr Pflanzenprodukte<br />

essen als traditionell ernährte<br />

Altersgenossen», sagt Laimbacher.<br />

B12 aus Tabletten<br />

Das für unsere Gesundheit zentrale<br />

Vitamin B12 kommt fast ausschliesslich<br />

in tierischen Produkten<br />

vor. Veganer kommen nicht umhin,<br />

es in künstlicher Form zu sich zu<br />

nehmen, beispielsweise in Tablettenform.<br />

«Diese Supplemente sind<br />

zwingend notwendig, um gesund zu<br />

bleiben», sagt Laimbacher. «Gut<br />

informierte Eltern wissen das.» Je<br />

nach Versorgungslage seien zudem<br />

weitere Supplemente nötig. «Ich verteufle<br />

den Veganismus nicht», sagt<br />

Kinderarzt Laimbacher. «Fachpersonen<br />

sollten dazu Stellung >>><br />

Fleischlos glücklich<br />

Die vegetarische Ernährung hat<br />

viele Facetten – eine Übersicht:<br />

Ovo-Lacto-Vegetarier essen Eier<br />

und Milchprodukte, aber nichts,<br />

was aus dem getöteten Tier hergestellt<br />

wird – also weder Fleisch<br />

und Fisch noch tierische Fette und<br />

Gelatine.<br />

Lacto-Vegetarier essen Michprodukte,<br />

aber keine Eier.<br />

Ovo-Vegetarier essen Eier, aber<br />

keine Milchprodukte.<br />

Veganer meiden von Fleisch<br />

über Milchprodukte bis hin zu<br />

Honig jegliche Nahrung tierischen<br />

Ursprungs. Viele verzichten auch<br />

auf tierische Produkte in Textilien<br />

oder Kosmetika.<br />

Frutarier essen nur Früchte,<br />

Gemüse, Nüsse und Samen, deren<br />

Ernte die Pflanze, von der sie<br />

stammen, nicht beschädigt. Dazu<br />

gehören Lebensmittel wie Beeren<br />

oder Bohnen, die gepflückt werden<br />

können, ohne die Pflanze zu zerstören.<br />

Tabu sind dagegen Karotten<br />

oder Kohl, weil beim Ernten die<br />

Wurzeln der Pflanzen ausgerissen<br />

werden.<br />

22 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November <strong>2017</strong>23


Dossier<br />

«Enkeltauglicher<br />

Umgang mit den<br />

Ressourcen»:<br />

Die Familie<br />

Heiligtag/<br />

Klingler isst<br />

vegan.<br />

24 <br />

November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Gemäss WHO rangiert<br />

verarbeitetes Fleisch auf<br />

derselben Gefahrenstufe<br />

wie Zigaretten und Asbest.<br />

>>> nehmen, und zwar auf differenzierte<br />

Art und Weise. Schliesslich<br />

geht es darum, eine wachsende<br />

Gruppe von Eltern, die ihre Kinder<br />

so ernähren, mit den nötigen Informationen<br />

auszustatten.»<br />

4. «Würste sind böse»<br />

Von Gammelfleisch bis zu Antibiotikarückständen<br />

– Fleisch stand<br />

schon oft in den Negativschlagzeilen,<br />

viele Konsumenten sind verunsichert.<br />

Für Aufruhr sorgte auch die<br />

WHO, als sie verarbeitetes Fleisch<br />

vor knapp zwei Jahren in die Gefahrenkategorie<br />

1 der krebserregenden<br />

Substanzen einstufte. Gemäss WHO<br />

stehen Wurst und Co. damit auf der<br />

gleichen Stufe mit krebserregenden<br />

Stoffen wie Tabakrauch, Asbest, Plutonium<br />

oder Röntgenstrahlen.<br />

Die WHO schickte ihrem Expertenbericht<br />

Erläuterungen für den<br />

Normalbürger hinterher. Darin präzisiert<br />

sie, was mit der Gefahrenstufe<br />

1 gemeint ist: «Diese Kategorie<br />

kommt zum Zug, wenn genügend<br />

und überzeugende wissenschaftliche<br />

Beweise vorliegen, dass die betreffende<br />

Substanz beim Menschen<br />

Krebs erzeugt.»<br />

Kein Fall für die Znünibox<br />

Wurst, Aufschnitt, Pastete, Trockenfleisch<br />

oder Fleischkonserven<br />

werden oft mit nitrit- oder >>><br />

Vegan leben für eine<br />

bessere Welt<br />

Sarah Heiligtag und Georg Klingler aus Hinteregg<br />

ZH führen mit dem vierjährigen Nils und der<br />

zweijährigen Indra einen Bauernhof der anderen<br />

Art: Der «Hof Narr» will zu Tierschutz und einem<br />

schonenden Umgang mit der Umwelt inspirieren.<br />

Dazu gehört auch die vegane Ernährungsweise.<br />

Sarah: Ich bin in einem vegetarischen Haushalt aufgewachsen.<br />

Mein Vater beschäftigte sich als Onkologe früh mit<br />

den gesundheitlichen Risiken von Fleischkonsum. Schon<br />

als Kind habe ich mich für Tiere eingesetzt. Dass man dazu<br />

nicht nur auf Fleisch, sondern auf sämtliche Tierprodukte<br />

verzichten sollte, wurde mir erst später klar. Prägend war in<br />

diesem Zusammenhang mein Philosophiestudium.<br />

Georg: Ich habe Umweltnaturwissenschaften studiert. Seit<br />

ich denken kann, wollte ich etwas tun für den Schutz unserer<br />

Lebensgrundlage und ein friedliches Zusammensein.<br />

Sarah: Bei mir war es Tierliebe, bei Georg die Sorge um die<br />

Umwelt, die uns zur veganen Lebensweise führte. Beides<br />

prägt unser Lebensprojekt «Hof Narr». Hier leben ehemalige<br />

Nutztiere, die vor dem Tod gerettet wurden. Georg: Die Auseinandersetzung<br />

mit den ethischen, gesundheitlichen und<br />

ökologischen Dimensionen der Landwirtschaftsindustrie<br />

sowie die Produktion von bio-veganen Lebensmitteln stehen<br />

auf dem Hof im Zentrum. Ganz im Bewusstsein, dass uns<br />

viele deshalb für Narren halten, wollen wir zu einem enkeltauglichen<br />

Umgang mit unseren Lebensgrundlagen inspirieren.<br />

Sarah: Die vegane Ernährung ist eine wichtige Voraussetzung<br />

dafür. Wir interpretieren sie auf sehr genussvolle<br />

Art und Weise: An unseren Buffets sind die Leute überrascht<br />

ob der Vielfalt, die ohne Tierprodukte möglich ist. Georg: Wir<br />

hoffen, dass wir damit positive Impulse geben können. Es<br />

braucht nämlich gar nicht so viel, um unseren Enkeln eine<br />

bessere Welt zu hinterlassen. Sarah: Wir finden nicht, dass<br />

jeder vegan leben muss. Aber ein zukunftstauglicher Trend<br />

sollte wohl in die Richtung gehen, dass wir uns überwiegend<br />

pflanzlich ernähren. Georg: Wer seine Kinder vegan ernährt,<br />

gerät gerne unter Generalverdacht. Aber vegan lebende<br />

Eltern aus unserem Umfeld informieren sich sehr gut, was<br />

die Gesundheit ihrer Kinder angeht. Sarah: Mir wäre lieber,<br />

Nils würde die anderen Kinder nicht so oft fragen, was sie<br />

essen. Ich möchte nicht, dass er durch unsere Ernährungsweise<br />

als anders wahrgenommen wird. Wobei, was heisst<br />

schon anders? Es gibt doch zig Eigenschaften, die den einen<br />

vom anderen unterscheiden. Wir zwingen unseren Kindern<br />

nichts auf: Wenn sie an ein Geburtstagsfest gehen, sollen sie<br />

vom Kuchen essen dürfen – ganz egal, was dieser enthält.<br />

25


Salamibrötchen und<br />

Würstchen haben in der<br />

Znünibox nichts verloren.<br />

>>> nitrathaltigem Pökelsalz konserviert.<br />

Diese Verbindungen wandelt<br />

unser Körper in Nitrosamine<br />

um, die als höchst krebserregend<br />

gelten.<br />

Dass verarbeitetes Fleisch auf<br />

gleicher Gefahrenstufe rangiert wie<br />

Zigaretten, heisst laut WHO, dass in<br />

beiden Fällen ein klarer statistischer<br />

Zusammenhang zwischen dem Risikofaktor<br />

und dem Auftreten von<br />

Krebserkrankungen besteht – aber<br />

nicht, dass von Wurst das gleiche<br />

Risiko ausgeht wie von Zigaretten.<br />

So gehen laut WHO jedes Jahr<br />

34 000 Krebstodesfälle – dabei steht<br />

Dickdarmkrebs im Vordergrund –<br />

weltweit auf verarbeitetes Fleisch<br />

zurück. Im gleichen Zeitraum sterben<br />

eine Million Menschen weltweit<br />

infolge Rauchens an Krebs.<br />

Forscher der Universität Zürich<br />

untersuchten bereits vor der WHO<br />

den Zusammenhang zwischen dem<br />

Konsum von verarbeitetem Fleisch<br />

und dem Risiko für Krebs und Herz-<br />

Kreislauf-Erkrankungen. Ihr Fazit:<br />

Die kritische Grenze liegt bei 40<br />

Gramm. Diese Menge ist rasch<br />

erreicht, mahnt Studien-Mitautorin<br />

Sabine Rohrmann: «Eine durchschnittliche<br />

Scheibe Schinken oder<br />

Salami wiegt schon 20 bis 30<br />

Gramm.»<br />

Was bedeuten diese Befunde für<br />

Eltern? In Panik sollten sie uns nicht<br />

versetzen – wohl aber zur Mässigung<br />

anhalten: Wir können weiterhin<br />

bräteln gehen – in der kindlichen<br />

Znünibox haben Würstchen<br />

und Salamibrötchen aber nichts<br />

verloren.<br />

26 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

5. «Rotes Fleisch ist<br />

ungesund»<br />

Auch rotes Fleisch hat einen ramponierten<br />

Ruf, nachdem es die WHO<br />

zum gleichen Zeitpunkt, wie sie vor<br />

Würsten warnte, auf Gefahrenstufe<br />

2a setzte. Konkret bedeutet dies,<br />

dass rotes Fleisch aufgrund der<br />

aktuellen Datenlage «wahrscheinlich<br />

krebserregend» ist, möglicherweise<br />

aber weitere Faktoren hineinspielen.<br />

Im Vordergrund steht<br />

wieder das Darmkrebsrisiko, das<br />

durch verschiedene Faktoren be ­<br />

stimmt wird.<br />

Im Verdacht stehen hohe Mengen<br />

an Eisen und schädliche Substanzen,<br />

die beim Braten, Kochen<br />

und besonders beim Grillieren und<br />

Räuchern von Fleisch entstehen.<br />

Laut WHO könnte pro 100 Gramm<br />

roten Fleischs, die jemand täglich<br />

verzehrt, das Darmkrebs risiko um<br />

18 Prozent steigen – falls sich rotes<br />

Fleisch tatsächlich als krebserregend<br />

erweist. Die WHO betont, dass das<br />

Risiko für den Einzelnen klein sei<br />

– der Befund aber relevant für eine<br />

Gesellschaft, in der viele Menschen<br />

grosse Mengen an Fleisch ässen.<br />

Weniger ist mehr<br />

Die Eidgenössische Ernährungskommission<br />

reagierte auf die Forschungslage<br />

und spricht sich generell<br />

für eine Reduktion des Fleischkonsums<br />

aus, besonders von rotem und<br />

vor allem von verarbeitetem Fleisch.<br />

Die SGE empfiehlt Erwachsenen,<br />

nicht mehr als zwei- bis dreimal pro<br />

Woche Fleisch zu essen, für Kinder<br />

von zehn bis zwölf Jahren sollen es<br />

höchstens fünfmal pro Woche sein.<br />

Jugendmediziner Josef Laimbacher<br />

sagt, auch Kinder seien mit >>><br />

Publireportage: Swisscom Prepaid Kids<br />

Die Gesellschaft für<br />

Ernährung empfiehlt Kindern<br />

im Alter von fünf bis zwölf<br />

Jahren, höchstens fünfmal pro<br />

Woche Fleisch zu essen.<br />

Endformat: 210x141 mm / Satzspiegel 190x123 mm<br />

Kinder: Das sind die wichtigsten Handy-Regeln, die man kennen muss<br />

«Die Vorbildrolle der Eltern ist eminent wichtig»<br />

Herr In Albon, ist ein Handy für<br />

Primarschüler sinnvoll?<br />

Dient es lediglich zur Unterhaltung,<br />

empfiehlt es sich nicht. Wenn das Kind<br />

erreichbar sein soll, etwa nach dem<br />

Fussballtraining, oder wenn es einen<br />

langen Schulweg hat, hingegen schon.<br />

Denn es gibt dem Kind die Möglichkeit,<br />

seine Umgebung selbstständig<br />

zu erkunden.<br />

Jeder zweite Primarschüler in der Schweiz besitzt ein<br />

eigenes Handy. Wie regelt man den digitalen Konsum bei<br />

Kindern? Medienkompetenz-Experte Michael In Albon<br />

beantwortet die wichtigsten Fragen.<br />

Michael In Albon ist Jugendmedienschutz-Beauftragter bei Swisscom und Experte für<br />

Medienkompetenz.<br />

Wie behalten Eltern die Kosten im<br />

Griff?<br />

Am einfachsten sind sicherlich Prepaid-Lösungen.<br />

Das Kind kann nur so<br />

viele Dienste nutzen, wie es der Betrag<br />

erlaubt. Mit einem Prepaid-Abo kann<br />

man sich nicht verschulden.<br />

Wie wichtig ist ein «Handy-<br />

Aufklärungsgespräch»?<br />

Sehr wichtig. Kinder sollten verstehen,<br />

zu welchem Zweck sie ein Handy bekommen<br />

und dass es ungeeignete Inhalte<br />

im Netz gibt. Vor allem brauchen<br />

sie Begleitung und Regeln.<br />

nur Geschichten hören oder auch Videos<br />

anschauen? Wenn ja, zuerst um<br />

Erlaubnis fragen. Das Festlegen der<br />

Regeln signalisiert dem Kind von Anfang<br />

an, dass es nicht alles mit diesem<br />

Gerät anstellen darf.<br />

Darf das Handy am Abend mit ins<br />

Kinderzimmer?<br />

Das Handy sollte nicht die ganze Zeit<br />

in Reichweite des Kindes sein. Ausserdem<br />

haben digitale Geräte, wie Tageslicht,<br />

einen hohen Anteil an «Blaulicht»,<br />

das die Produktion des Schlafhormons<br />

Melatonin hemmt. Als Faustregel<br />

gilt: Eine Stunde vor dem Schlafengehen<br />

keine Handys oder Fernseher,<br />

im Idealfall zwei Stunden.<br />

fragt. Eltern haben teilweise selber<br />

Mühe, das Handy wegzulegen. Dabei<br />

ist die Vorbildrolle der Eltern eminent<br />

wichtig! Es ist erstaunlich, wie wenig<br />

Eltern bereit sind, ihr eigenes Konsumverhalten<br />

zu Gunsten des Kindes<br />

zu ändern.<br />

Welche Vorteile hat es für Eltern,<br />

wenn ihr Kind ein Handy hat?<br />

Der Alltag ist einfacher zu organisieren.<br />

Das Kind kann anrufen, wenn es<br />

abgeholt werden soll oder wenn es<br />

sich verspätet. Dass das Kind erreichbar<br />

ist, wenn es allein unterwegs ist,<br />

gibt Eltern eine gewisse Ruhe.<br />

inOne mobile prepaid kids:<br />

Kann man ein Handy kindergerecht<br />

Das beruhigende Gefühl, nur<br />

einstellen?<br />

einen Anruf entfernt zu sein<br />

Das Internet lässt sich grundsätzlich<br />

sperren. Allerdings funktionieren dann<br />

Mit inOne mobile prepaid kids<br />

auch Apps wie etwa der SBB-Fahrplan,<br />

kann Ihr Kind bis zu 5 Swisscomsation<br />

WhatsApp oder die Synchroni- Welche?<br />

Nummern im Inland kostenlos<br />

des Familienkalenders nicht. Ganz wichtig: Die Zeit limitieren. Das<br />

anrufen und sich so jederzeit bei<br />

Je nach Anbieter gibt es spezielle Handy soll nicht den ganzen Tag zur<br />

Ihnen melden. Mehr Infos zum<br />

Kindersicherungen oder Kindermodi. Verfügung stehen. Apps ebenfalls limitieren.<br />

Besteht die Gefahr, dass sich<br />

Angebot und zum Engagement<br />

Dort können Eltern einstellen, worauf<br />

Und: Auch wenn es sich um ein Kind nur noch für sein Handy von Swisscom im Bereich Medien-<br />

die Kinder Zugriff haben oder wie kostenlose handelt, keine Apps ohne interessiert?<br />

kompetenz:<br />

lange sie surfen dürfen. Auf Youtube Erlaubnis herunterladen. Regeln Sie Ja. Wenn ein Kind immer häufiger zum www.swisscom.ch/prepaidkids<br />

findet Das Schweizer man viele ElternMagazin Video-Tutorials. Fritz+Fränzi den November Youtube-Umgang: <strong>2017</strong>27<br />

Darf mein Kind Gerät greift, sind Alternativen ge-


Dossier<br />

«Das<br />

Familienmodell,<br />

mit dem ich<br />

aufwuchs, ist mir<br />

ein Vorbild», sagt<br />

Tochter Silva (l.).<br />

Enger Zusammenhalt<br />

dank Selbstversorgung<br />

Als junge Eltern realisierten Sabine und Markus<br />

Lanfranchi in Verdabbio GR ihren Traum vom Leben<br />

als Selbstversorger. Silva, 26, Lüzza, 13, und ihre<br />

Eltern erzählen, wie dieses Lebensmodell die<br />

Familie eng zusammenschweisste.<br />

Markus: Selbstversorger zu sein, ist für mich eine politische<br />

Entscheidung. Einkaufen ist wie abstimmen: Mit jedem<br />

Franken, den ich ausgebe, erhält irgendein Unternehmen<br />

meine Stimme. Sabine: Wir bewirtschaften acht Hektaren<br />

Land, die sich übers ganze Dorf verteilen. Wir halten 35<br />

Schafe, 2 Esel, 2 Schweine, Hühner und Enten sowie 5 bis<br />

10 Bienenvölker. Unseren Lebensunterhalt verdienen wir<br />

mit Schafmilchprodukten, Lammfleisch, Honig und Grappa.<br />

Markus: Sabine und ich lernten uns mit 19 kennen. Sie<br />

arbeitete in der Werbung, ich als Metallkonstrukteur. Wir<br />

wollten mehr vom Leben. Sabine: Unsere ersten bäuerlichen<br />

Versuche starteten wir 1986 im Engadin, drei Jahre später<br />

gingen wir als frischgebackene Eltern von Dylan nach Neuseeland.<br />

Dort kam 1991 Silva zur Welt. Später machte ein<br />

Erdbeben unsere ganze Aufbauarbeit zunichte. Wir zogen<br />

zurück in die Schweiz. Markus: 1993, gerade war Selina<br />

geboren, kauften wir an diesem Steilhügel einen ersten<br />

kleinen Landstreifen. Sabine: Wir nahmen unser Leben als<br />

Selbstversorger und Biobauern in Angriff.<br />

Markus: Im Dorf begegnete man unserem Ansinnen nicht<br />

gerade freundlich. Die meisten Bauern hatten ihren Beruf<br />

an den Nagel gehängt, weil sie von der Landwirtschaft<br />

nicht leben konnten. Und da kamen wir, zwei naive Junge,<br />

die meinten, es besser zu können. Aber wir hatten Narrenfreiheit,<br />

und die geniessen wir bis heute. Was wir auch<br />

machen, es ist da: dieses Vertrauen, dass alles gut kommt.<br />

Sabine: Für unsere Kinder – als viertes kam 1997 Rubina<br />

dazu – war unser Familienleben nicht immer leicht. Damit<br />

etwas auf den Tisch kam, mussten sie täglich mitanpacken.<br />

Silva: Mir hat das nicht geschadet. Ich wusste früh, was<br />

Arbeiten bedeutet, das hat mir nur Vorteile gebracht. Lüzza:<br />

Ich habe es heute viel einfacher: Im Sommer muss ich beim<br />

Heuen helfen, sonst hält sich der Aufwand in Grenzen. Ich<br />

kümmere mich um die Enten und die Hühner. Ich finde es<br />

super, dass in unserem Garten leckeres Essen wächst: Man<br />

gibt die Pasta in den Topf und holt den Rest vor der Haustür.<br />

Trotzdem möchte ich später nicht als Selbstversorger leben.<br />

Silva: Mich freut es, dass Lüzza so beliebt ist in der Schule.<br />

Wir waren damals Aussenseiter und mussten uns immer<br />

beweisen. Lüzza: Ich bin kein Underdog, ich habe mich<br />

schnell mit Älteren angefreundet. Und ich zeige mit guten<br />

Schulnoten, dass ich etwas draufhabe. Silva: Wir Älteren<br />

sagen manchmal: Werd bloss kein Bully, Lüzza! Wir wissen<br />

nur zu gut, wie sich Mobbing anfühlt. Markus: Die Ablehnung<br />

durch die anderen hat uns aber auch zu einer verschworenen<br />

Gemeinschaft gemacht. Silva: Das stimmt, wir haben ein<br />

starkes Familiengefühl. Ich möchte zwar nicht als Selbstversorgerin<br />

leben, aber das Familienmodell, mit dem ich aufwuchs,<br />

ist mir ein Vorbild. Und meinem Mann übrigens auch.<br />

28 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Junge Frauen, die täglich mehr<br />

als einmal rotes Fleisch essen,<br />

haben ein 22 Prozent höheres<br />

Brustkrebsrisiko.<br />

>>> zwei bis drei Fleischportionen<br />

pro Woche gut bedient: «Sie brauchen<br />

nicht mehr.» Er resümiert:<br />

«Fleisch als Nährstoffquelle richtig<br />

zu nutzen, bedeutet vor allem, die<br />

Menge im Auge zu behalten.»<br />

6. «Weisses Fleisch ist<br />

besser»<br />

Junge Menschen seien besonders<br />

gefährdet durch etwaige Schadstoffe<br />

in ihrer Nahrung, sagt Ernährungswissenschaftler<br />

Walter Willett: «Dies<br />

zeigt sich eindrücklich in Bezug auf<br />

weibliche Jugendliche und ihr späteres<br />

Risiko für Brustkrebs.» In der<br />

Langzeitstudie «Nurses’ Health Study»<br />

analysierten Willett und seine<br />

Kollegen unter anderem den Zusammenhang<br />

von Ernährung und Brustkrebs.<br />

Dabei habe man sich lange auf<br />

die Ernährungsgewohnheiten von<br />

Frauen mittleren und älteren Alters<br />

konzentriert. Entsprechende Studien,<br />

so Willett, hätten keinen Zusammenhang<br />

zwischen Brustkrebs und<br />

dem Konsum von rotem Fleisch<br />

nahegelegt.<br />

Ein anderes Bild präsentierte sich<br />

den Forschern, als sie mithilfe alter<br />

Fragebögen die Ernährungsgewohnheiten<br />

von über 44 000 Frauen<br />

zum Zeitpunkt ihrer Adoleszenz<br />

rekonstruierten: Junge Frauen, die<br />

während Pubertät und Adoleszenz<br />

täglich mehr als einmal rotes Fleisch<br />

essen, haben ein 22 Prozent höheres<br />

Risiko, an Brustkrebs zu erkranken.<br />

Aus den Daten leiteten die Forscher<br />

eine interessante Prognose ab:<br />

Würden junge Frauen eine tägliche<br />

Portion rotes Fleisch durch Hülsenfrüchte,<br />

Nüsse, Geflügel oder Fisch<br />

ersetzen, würde ihr Brustkrebsrisiko<br />

um 14 Prozent sinken.<br />

Trotzdem bleibt offen, ob weisses<br />

Fleisch tatsächlich gesünder ist als<br />

rotes. Aber gebe es auch keine epidemiologische<br />

Studie, die einen<br />

Zusammenhang von weissem<br />

Fleisch und Krebs festgestellt hätte,<br />

so Ernährungswissenschaftler Willett.<br />

Derweil rät er den Eltern, auf<br />

Poulet und Fisch als tierische Proteinlieferanten<br />

zu setzen.<br />

7. «Alles bio, alles gut»<br />

Lebensmittel mit dem Knospen-Siegel<br />

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Vertragen Sie selbst oder jemand<br />

in Ihrem Umfeld gewisse Lebensmittel<br />

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>29


Dossier<br />

>>> dukte mehr. Tierfreunde setzen<br />

auf Bio, weil das Label für<br />

bessere Bedingungen für Nutztiere<br />

sorgt. Auch ein anderes Argument<br />

fällt bei Konsumenten ins Gewicht:<br />

Sie kaufen Bioprodukte, weil sie sich<br />

davon gesundheitliche Vorteile versprechen.<br />

Schliesslich dürfen Biobauern<br />

weder synthetische Pestizide<br />

verwenden noch Tiere mit hormonbelastetem<br />

Leistungsfutter pushen,<br />

um nur ein paar Beispiele zu nennen.<br />

Sind Bioprodukte also gesünder<br />

als Lebensmittel aus konventioneller<br />

Landwirtschaft? Von gesunden Produkten<br />

zu sprechen, sei wenig sinnvoll,<br />

sagt Urs Niggli, Direktor des<br />

Forschungsinstituts für biologischen<br />

Landbau in Frick: «Für unseren Ge ­<br />

sundheitszustand sind nicht einzelne<br />

Lebensmittel ausschlaggebend:<br />

Es ist die Art und Weise, wie wir uns<br />

ernähren.» Wer sich an die gängigen<br />

Empfehlungen halte, wenig Zucker,<br />

Fett und Fleisch sowie viel Früchte<br />

und Gemüse konsumiere, könne<br />

seinen Speiseplan als gesund<br />

betrachten, sagt der Agrarwissenschaftler.<br />

Bioprodukte seien also<br />

keine Gesundheitsgaranten, ebenso<br />

wenig könnten sie Auswirkungen<br />

einer schlechten Ernährung kompensieren.<br />

«Aber die Forschung<br />

zeigt», sagt Niggli, «dass sie einen<br />

Zusatznutzen bieten.»<br />

Das Tüpfelchen auf dem i<br />

Dazu gehört ein «massiv höherer»<br />

Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen,<br />

wie Niggli sagt. Pflanzen bilden<br />

diese bioaktiven Stoffe, um sich vor<br />

schädlichen Umwelteinflüssen zu<br />

schützen. Biopflanzen produzieren<br />

naturgemäss mehr davon, weil sie<br />

keine Schützenhilfe von Pflanzenschutzmitteln<br />

erhalten. Die meisten<br />

sekundären Pflanzenstoffe wirken als<br />

sogenannte Antioxidantien, von<br />

denen die Forschung annimmt, dass<br />

sie helfen, Alterserscheinungen oder<br />

gewissen Krankheiten vorzubeugen.<br />

«Ein Bioapfel enthält die Antioxidantien<br />

von anderthalb konventionellen<br />

Äpfeln», sagt Niggli.<br />

Auch Biofleisch und -milch punkten<br />

mit solchen Extras. «Im Vergleich zu<br />

Produkten aus konventioneller<br />

Landwirtschaft haben sie einen<br />

höheren Anteil an günstigen Fettsäuren»,<br />

sagt Niggli. Biokühe ernähren<br />

sich zu mindestens 90 Prozent<br />

von Gras oder Heu. Aus dem langfaserigen<br />

Raufutter bilden sie andere<br />

Moleküle als aus Kraftfutter. Weil<br />

Biolandwirten der vorbeugende<br />

Einsatz von Antibiotika oder Hormonen<br />

verboten ist, entfällt für den<br />

Konsumenten zudem das Risiko von<br />

solcherlei Überbleibseln in Fleisch<br />

und Milch.<br />

Bei Gemüse und Früchte zeigt<br />

sich zudem, dass Produkte mit Biolabel<br />

einen bis zu viermal niedrigeren<br />

Gehalt an Pestizidrückständen<br />

aufweisen. Auch die Konzentration<br />

von anderen Umweltgiften ist in<br />

Biogewächsen deutlich niedriger.<br />

Niggli betont aber, dass die gesetzlichen<br />

Grenzwerte für solche Sub ­<br />

stanzen in der Schweiz so gewählt<br />

seien, dass konventionell produzierte<br />

Früchte und Gemüse bedenkenlos<br />

gegessen werden könnten. Forscher<br />

der ETH hätten Hochrechnungen in<br />

Bezug auf Umweltgifte in konventionell<br />

produzierten Feldfrüchten<br />

angestellt – und seien der Auffassung,<br />

dass das von ihnen ausgehende<br />

Risiko ein Menschenleben um<br />

höchstens eine Woche verkürze.<br />

«Bio ist für eine gesunde Ernährung<br />

also kein Muss», sagt Urs Niggli,<br />

«aber sozusagen das Tüpfelchen auf<br />

dem i. Ich möchte deshalb nicht darauf<br />

verzichten.»<br />

Alles, aber mit Mass?<br />

Die Frage, was eine gesunde Ernährung<br />

ausmacht, lässt sich nie abschliessend<br />

beantworten. Ständig<br />

kommen neue Erkenntnisse dazu;<br />

für den Normalverbraucher sind sie<br />

nicht immer ein Segen. Den Überblick<br />

zu behalten, kann kaum unser<br />

Anspruch sein. Aber mir scheint, es<br />

wäre sinnvoll, dem Thema Ernährung<br />

zumindest ohne Scheuklappen<br />

zu begegnen. Das fängt damit an,<br />

Bio ist für eine gesunde<br />

Ernährung kein Muss,<br />

aber sozusagen das<br />

Tüpfelchen auf dem i.<br />

Wissenschaft nicht als Bevormundung<br />

zu sehen, sondern sie als das<br />

zu betrachten, was sie ist: ein Versuch,<br />

den menschlichen Körper und<br />

das, was wir ihm zuführen, besser zu<br />

verstehen.<br />

Mit ihren Erkenntnissen habe ich<br />

mich nun wochenlang beschäftigt<br />

– um nicht zu sagen: herumgeschlagen.<br />

Die Lektüre war zäh. Mich persönlich<br />

hat sie dennoch motiviert,<br />

Allgemeinplätze infrage zu stellen,<br />

selbst wenn Antworten fehlen. Darum<br />

schliesse ich hier auch nicht mit<br />

dem beliebten Credo, dass wir alles<br />

essen sollten, bloss mit Mass. Vielmehr<br />

glaube ich, dass wir da und<br />

dort ruhig umdenken dürfen, auch<br />

wenn es uns etwas geistige Flexibilität<br />

abverlangt. Schliesslich geht es<br />

um die Wurst: um unsere Gesundheit<br />

und die unserer Kinder.<br />

Virginia Nolan<br />

ist freie Autorin und Mutter einer 3-jährigen<br />

Tochter. Sie war ein Milch-Kind, wie es im<br />

Buche steht. Nach dieser Recherche war<br />

sie baff, wie sehr wir die gesundheitlichen<br />

Vorteile des Lebensmittels überschätzen.<br />

>>><br />

30 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>31


Dossier<br />

«Essen sollte frei von Druck sein»<br />

Wir können Kindern beibringen, gesundes Essen zu mögen, meint Ernährungspsychologin<br />

Katja Kröller. Das funktioniert aber nicht mit Brechstange und Gemüsequoten, sondern durch<br />

sinnliches Experimentieren – und mit der Macht der Gewohnheit. Text: Virginia Nolan<br />

Frau Kröller, was ist der schlimmste<br />

Fehler beim Versuch, Kinder für eine<br />

gesunde Ernährung zu begeistern?<br />

Vermutlich die Betonung des Gesunden.<br />

Essen sollte frei von Druck sein.<br />

Es hilft, wenn gerade heikle Esser es<br />

als zwanglose, eher nebensächliche<br />

Angelegenheit wahrnehmen. Eltern<br />

sollten ihre Bemühungen darauf lenken,<br />

Kindern vielfältige Geschmackswelten<br />

zu eröffnen, statt sich mit der<br />

Frage herumzuplagen, wie sie ihnen<br />

Gemüse unterjubeln können.<br />

Was prägt den Geschmack unserer<br />

Kinder?<br />

Seine ersten Geschmackserfahrungen<br />

macht das Kind während<br />

Schwangerschaft und Stillzeit. Wir<br />

wissen, dass Kinder, die möglichst<br />

früh eine Vielzahl von Geschmäckern<br />

kennenlernen, aufgeschlossenere<br />

Esser werden. Das gilt ganz<br />

besonders für die Zeit, in der wir sie<br />

ans Essen gewöhnen. In weiten Teilen<br />

der Welt essen bereits die Kleinsten,<br />

was die Grossen mögen.<br />

Wir können Kindern also beibringen,<br />

gesundes Essen zu mögen?<br />

Wenn wir Kindern Geschmackserlebnisse<br />

vorenthalten, ist es nicht<br />

erstaunlich, dass sie schwierige Esser<br />

werden. Geschmackspräferenzen<br />

lassen sich trainieren. Dies zeigt eindrücklich<br />

ein Forschungsprojekt, das<br />

ich begleitet habe. Dabei erhoben wir<br />

regelmässig die Gemüsevorlieben<br />

von 300 Kindergartenkindern und<br />

leiteten daraus eine Art Ranking ab.<br />

Wir untersuchten, ob sich diese Präferenzen<br />

durch sensorisches Training<br />

verändern liessen. Kohlrabi<br />

zum Beispiel erwies sich als eher<br />

unbeliebt. Die Kinder bekamen sie<br />

nun vier bis acht Wochen lang dreimal<br />

die Woche zu essen.<br />

Was passierte?<br />

Kohlrabi kletterte im Ranking nach<br />

oben, und zwar deutlich. Die Präferenz<br />

für ein Lebensmittel hängt also<br />

stark davon ab, wie gut wir es kennen.<br />

Wir mögen, was wir uns gewohnt<br />

sind. Wenn ich täglich angeboten<br />

bekomme, was ich nicht mag,<br />

werde ich irgendwann anfangen, es<br />

zu akzeptieren.<br />

Kein besonders motivierender Ansatz.<br />

So soll ja auch nicht die Ansage ans<br />

Kind lauten. Wenn unser Kind etwas<br />

verschmäht, sollte uns das als Eltern<br />

aber nicht daran hindern, das<br />

Lebensmittel weiterhin regelmässig<br />

auf den Tisch zu bringen, ganz ohne<br />

Aufheben. Das Kind muss es nicht<br />

essen, bleibt aber in Kontakt damit.<br />

«Studien zeigen, dass allein schon<br />

das Reden über den Geschmack<br />

eines Lebensmittels die Akzeptanz<br />

beim Kind fördert.»<br />

Allein damit brachten Sie Kinder dazu,<br />

Kohlrabi zu mögen?<br />

Nicht nur. Auch der sinnliche und<br />

haptische Kontakt zu Gemüse – Riechen,<br />

Schmecken, Anfassen – beeinflusst<br />

das Geschmacksempfinden.<br />

Wir bereiteten gemeinsam Gemüsesnacks<br />

zu, dachten uns Geschichten<br />

zu den lustigen Knollen aus,<br />

liessen die Kinder Gemüse malen<br />

oder mit verbundenen Aromen probieren.<br />

Diese Ratespiele offenbarten,<br />

dass Kinder unglaublich kreativ darin<br />

sind, Geschmäcker zu benennen.<br />

Das könnten sich Eltern zunutze<br />

machen.<br />

Inwiefern?<br />

Wir wollen von den Kindern nur<br />

wissen, ob es schmeckt. Wir könnten<br />

sie stattdessen einmal fragen, wie es<br />

schmeckt. Unsere Studie zeigte, dass<br />

allein schon Reden über den Geschmack<br />

eines Lebensmittels dessen<br />

Akzeptanz beim Kind fördert. Interessanterweise<br />

hatte selbst der Austausch<br />

über die geschmacklichen<br />

Nachteile eines Gemüses dazu beigetragen,<br />

dass die Kinder es am Ende<br />

lieber mochten als vorher. Dass<br />

Gemüse etwas Gesundes mit vielen<br />

Vitaminen ist, war in unserem Projekt<br />

übrigens mehr eine beiläufige<br />

Information, aber nicht die zentrale<br />

Botschaft.<br />

Was machen Eltern, wenn Teenager<br />

Gemüse und Salat verweigern?<br />

Auch hier gilt: geduldig bleiben,<br />

abwarten, gemeinsame Mahlzeiten<br />

anbieten. Die müssen je nach Alter<br />

nicht mehr täglich stattfinden, da<br />

lohnen sich Absprachen. Es kann<br />

32 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


wiederum helfen, gesundes Essen so<br />

anzubieten, dass Jugendliche es als<br />

beiläufig wahrnehmen. Ich denke da<br />

an Früchte oder Snackgemüse, von<br />

dem sich alle bedienen dürfen, während<br />

der Mahlzeit oder zwischendurch.<br />

Gelegentlich sind auch aufgepeppte<br />

Sandwiches oder das<br />

Lieblingsessen des Jugendlichen ein<br />

guter Kompromiss für die Familienmahlzeit.<br />

Es lohnt sich, wenn der<br />

Wochenspeiseplan von allen Familienmitgliedern<br />

mitbestimmt werden<br />

darf. Starre Vorgaben führen nur<br />

dazu, dass Jugendliche ihren Essensbedarf<br />

am Kiosk decken.<br />

Der Hang zu ungesundem Essen ist<br />

bei Jugendlichen meist ausgeprägt.<br />

Wächst sich das aus?<br />

Das tut es. Studien zeigen, dass die<br />

Ernährungsweise, die Eltern zu Hause<br />

vorleben, ihre Kinder im Erwachsenenalter<br />

massgeblich prägt. Also<br />

keine Sorge: Da bleibt was hängen.<br />

Bloss dauert es eben, bis dieser Effekt<br />

greift. Bis dahin mögen Jugendliche<br />

Gemüse komplett ablehnen – sie<br />

nehmen dadurch keinen Schaden.<br />

«Fünf am Tag» heisst die Botschaft<br />

der Schweizerischen Gesellschaft für<br />

Ernährung, wenn es um Gemüse und<br />

Früchte geht. Wie ist das mit Kindern<br />

zu schaffen?<br />

Gar nicht, vermutlich. Ich halte nicht<br />

viel davon, weil sie Eltern unter<br />

Druck setzt. Sehen sich Eltern aufgefordert,<br />

Quoten einzuhalten,<br />

erschwert ihnen das einen lustvollen<br />

Zugang zum Gemüse. Für Kinder ist<br />

der aber ausschlaggebend. Es ist<br />

schon viel getan, wenn wir versuchen,<br />

einmal am Tag Obst und einmal<br />

Gemüse zu essen. Es kann auch<br />

Tage geben, an denen das gerade<br />

nicht passt oder das Kind sich wehrt.<br />

Das ist nicht schlimm.<br />

Probieren ist Pflicht – wie halten Sie<br />

es damit?<br />

Zum Probieren kann man ein Kind<br />

höchstens ermuntern. Druck ist<br />

unangebracht. Kinder legen in ihren<br />

verschiedenen Entwicklungsstufen<br />

grossen Wert auf eigenständige Entscheidungen,<br />

und sie wissen auch,<br />

dass sie beim Essen die stärksten<br />

Einflussmöglichkeiten haben: Wir<br />

können Kinder zu vielem zwingen,<br />

aber wenn sie das Essen verweigern,<br />

sind wir machtlos. Wenn ein Kind<br />

nicht probieren will, sollten Eltern<br />

das akzeptieren. Wir können ihm<br />

aber gleichzeitig erklären, dass sich<br />

Geschmäcker durchaus ändern und<br />

ein weiterer Anlauf sich lohnen<br />

kann.<br />

Sollten wir Essen als Belohnung einsetzen?<br />

Es kommt darauf an. Wir tun uns<br />

keinen Gefallen, wenn wir dem Kind<br />

einen Nachtisch in Aussicht stellen,<br />

falls es den Broccoli aufisst. Durch<br />

die Belohnung bestätigen wir ihm,<br />

«Wenn ein Kind nicht<br />

probieren will, sollten<br />

Eltern das akzeptieren.»<br />

dass Broccoli-Essen eine ganz schön<br />

harte Angelegenheit ist, die nach<br />

Entschädigung verlangt. Belohnung<br />

mit Essen kann funktionieren, wenn<br />

die Handlung, die wir damit loben<br />

wollen, tatsächlich negativ besetzt ist<br />

– denken Sie etwa an die Glace nach<br />

überstandenem Arzttermin. Wir<br />

sollten aber auch diese Art der<br />

Belohnung sehr sparsam einsetzen.<br />

Essen soll nicht zum Trostpflaster<br />

werden.<br />

Zur Person<br />

Katja Kröller ist Professorin für<br />

Ernährungspsychologie an der Hochschule<br />

Anhalt in Bernburg (D). Der Fokus ihrer<br />

Forschung liegt auf psychologischen<br />

Ansätzen für individuelle<br />

Verhaltensänderungen und der dazu<br />

geeigneten Gesprächsführung.<br />

Im nächsten Heft:<br />

Generation Sandwich<br />

Bild: iStockphoto<br />

Sie sind eingeklemmt zwischen der Verantwortung<br />

für die eigenen Kinder und jener für ihre Eltern:<br />

Immer mehr Menschen müssen neben Familie und<br />

Beruf noch die Angehörigenpflege unter einen Hut<br />

bekommen. Unser Dossier im Dezember.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>33


Monatsinterview<br />

34 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


«Eltern sollten die<br />

Mutmacher ihrer<br />

Kinder werden»<br />

Acht Prozent der Schulkinder sind übermässig schüchtern, und das<br />

über eine lange Zeit. Aus der ständigen Angst heraus, schlecht beurteilt<br />

zu werden, verhalten sie sich im Unterricht meist passiv – mit fatalen<br />

Folgen, sagt Georg Stöckli. Der Erziehungswissenschaftler über stumme<br />

Beobachter, überbehütende Eltern und besonders hartnäckige<br />

Hemmzwerge. Interview: Evelin Hartmann Bilder: Daniel Winkler / 13 Photo<br />

Alte<br />

Wirkungsstätte:<br />

Georg Stöckli<br />

war Leiter der<br />

Forschungsstelle<br />

Kind und Schule<br />

an der Uni Zürich.<br />

Ein ständiges Wispern und Klappern<br />

erfüllt den grossen Saal, Studenten<br />

unterhalten sich, bestellen Kaffee und<br />

Gipfeli. «Oh, das habe ich mir anders<br />

vorgestellt», sagt Georg Stöckli, der<br />

den Lichthof der Universität Zürich als<br />

Ort für dieses Interview vorgeschlagen<br />

hatte. «Ansonsten stehen hier immer<br />

Tische und Stühle.» Heute jedoch wird<br />

hier für einen Stehapèro aufgetischt.<br />

Erziehungswissenschaftler und<br />

Journalistin wissen sich zu helfen,<br />

belegen einen der herumstehenden<br />

Bistro-Stehtische und führen das<br />

Gespräch im Stehen.<br />

Herr Stöckli, viele Kinder sind schüchtern.<br />

Stellt dieses Persönlichkeitsmerkmal<br />

überhaupt ein Problem dar?<br />

Es kommt darauf an, wie ausgeprägt<br />

das schüchterne Verhalten ist. Unter<br />

Schüchternheit versteht man grundsätzlich<br />

die Ängstlichkeit eines Menschen<br />

beim Knüpfen zwischenmensch<br />

licher Beziehungen.<br />

Schüch ternheit ist, solange sie kein<br />

Leiden verursacht, keine psychische<br />

Störung, sondern ein Ausdruck des<br />

Temperaments eines Menschen. Viele,<br />

besonders jüngere Kinder verhal­<br />

ten sich in unbekannten Situationen<br />

zurückhaltend, insbesondere, wenn<br />

ein Kind in den Kindergarten oder<br />

die Schule kommt. Das geht meist<br />

vorüber, wenn es sich an die zunächst<br />

neue Lehrerin und den Klassenraum<br />

gewöhnt hat.<br />

Wann ist ein Kind zu schüchtern?<br />

Wenn der Erstklässler, um bei diesem<br />

Beispiel zu bleiben, obwohl er<br />

gerne Freundschaften schliessen<br />

«Solange sie kein<br />

Leiden verursacht,<br />

ist Schüchternheit<br />

keine Störung.»<br />

würde, sich auch nach Wochen<br />

zurückhält und selten den Kontakt<br />

zu seinen Mitschülern sucht und sich<br />

im Unterricht kaum bis gar nicht<br />

mündlich beteiligt. Wissenschaftlich<br />

ausgedrückt: Wenn sein Vermeidungsverhalten<br />

ausgeprägter ist als<br />

sein Annäherungsverhalten. >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>35


Monatsinterview<br />

>>> Warum verhalten sich Kinder<br />

denn auf diese Art und Weise?<br />

Übermässig schüchterne Buben und<br />

Mädchen haben Angst, negativ be ­<br />

wertet, ausgelacht und lächerlich<br />

gemacht zu werden. Sie haben Angst,<br />

nicht zu genügen und den Erwartungen<br />

anderer nicht gerecht zu werden.<br />

«Ich genüge nicht als Person.»<br />

Diese Angst führt dazu, dass sich<br />

schüchterne Kinder in Gegenwart<br />

anderer unbehaglich fühlen, angespannt<br />

sind und Hemmungen<br />

haben, sich beispielsweise in ein<br />

Spiel einzubringen. Sie bleiben in der<br />

Rolle des stummen Beobachters.<br />

Was steckt hinter dieser Angst?<br />

Ein stark angeschlagenes Selbstvertrauen.<br />

Die Vermeidung von sozialen<br />

Kontakten ist die Folge, ebenso<br />

wie eine mangelhafte Unterrichtsbeteiligung.<br />

Diese Kinder machen sich<br />

klein, sprechen, wenn überhaupt,<br />

nur ganz leise, haben keinen wirklich<br />

spürbaren Händedruck, meiden den<br />

Blickkontakt, und auf Fragen antworten<br />

sie schulterzuckend mit «ich<br />

weiss nicht». Was von Aussenstehenden<br />

oft negativ bewertet wird.<br />

Nach dem Motto: «Wo nichts rauskommt,<br />

ist auch nichts drin.»<br />

Schüchternen fehlt aber nicht einfach<br />

nur das richtige Skript für die<br />

sozialen Auftritte; das Problem liegt<br />

im Grunde tiefer. Oft kennen sie die<br />

passenden Dialoge und das, was man<br />

sagen könnte, sehr wohl, aber sie<br />

verzichten darauf, die Sätze und<br />

Bemerkungen auszusprechen, weil<br />

sie sich nicht dazu berechtigt und zu<br />

unbedeutend fühlen, ihre Meinung<br />

in eine Situation einzubringen. Oder<br />

sie fürchten, dass man ihnen widerspricht,<br />

was sie sofort beschämen<br />

würde.<br />

Aber gibt es nicht auch schüchterne<br />

Menschen, die ihre Hemmungen<br />

gekonnt überspielen?<br />

Das ist richtig. Viele Schauspieler<br />

sind eigentlich extrem schüchterne<br />

Menschen, obwohl sie täglich vor<br />

Publikum auf der Bühne stehen.<br />

Aber dort spielen sie lediglich ihre<br />

Rolle. Extravertiertes Verhalten können<br />

sich Schüchterne mit zunehmendem<br />

Alter aneignen. Auch der<br />

Klassenclown hat letztlich nur eine<br />

Möglichkeit gefunden, sich vor<br />

anderen zu präsentieren. Er geht<br />

damit aber keine ernsthaften Kontakte<br />

ein.<br />

Können diese Kinder keine Freundschaften<br />

schliessen?<br />

Sagen wir, es fällt ihnen sehr schwer,<br />

da ihr soziales Misstrauen so stark<br />

ausgeprägt ist. Das kleinste Anzeichen<br />

von Abneigung oder Zurückweisung<br />

von dem oder der Auserwählten<br />

wird als Ablehnung ge deutet<br />

und führt zum Rückzug. Deshalb<br />

haben schüchterne Kinder meist<br />

wenige Freunde, die ihnen sehr<br />

wichtig sind und von denen sie<br />

extrem viel erwarten.<br />

«Wer im<br />

Jugendalter den<br />

Anschluss nicht<br />

findet, bleibt auch<br />

als Erwachsener<br />

isoliert.»<br />

Von wie vielen Kindern, denen es so<br />

ergeht, sprechen wir?<br />

Im Kindergarten ist anfänglich ein<br />

Drittel der Buben und Mädchen auffällig<br />

schüchtern. In der Primarschule<br />

werden dann etwa 16 Prozent der<br />

Schülerinnen und Schüler eines<br />

Jahrgangs als schüchtern wahrgenommen.<br />

Mädchen und Buben sind<br />

dabei übrigens gleich oft betroffen.<br />

Diese Schüchternheit nimmt bei vielen<br />

Betroffenen mit der Zeit ab. Bei<br />

rund 8 Prozent bleiben die Hemmungen<br />

und die Angst vor Zurückweisung<br />

allerdings erhalten. Wenn<br />

diese Kinder im Jugendalter den<br />

Anschluss immer noch nicht finden,<br />

isoliert bleiben, dann stabilisiert sich<br />

ihre Schüchternheit. Dann bleibt<br />

man mit grosser Wahrscheinlichkeit<br />

auch als Erwachsener isoliert.<br />

Wird Schüchternheit vererbt?<br />

Während meiner Forschungstätigkeit<br />

habe ich beobachtet, dass in den<br />

meisten Fällen schon die Eltern<br />

schüchtern waren. Das war auch die<br />

Aussage der Mütter und Väter in<br />

unseren Kursen: «Ich war früher<br />

genauso.» Lassen Sie mich den<br />

Zusammenhang so erklären: Es gibt<br />

ein Hemmungs- und ein Annäherungssystem,<br />

und je nachdem, wie<br />

die Einschätzungen sind, wird entweder<br />

das eine oder das andere aktiviert.<br />

Bei Schüchternen ist die<br />

Schwelle tiefer und die Hemmungen<br />

werden früher aktiviert.<br />

Wie muss man das verstehen?<br />

Der Amerikaner und Entwicklungspsychologe<br />

Jerome Kagan hat in den<br />

80er-Jahren Babys Mobiles vorgehalten.<br />

Die einen waren interessiert,<br />

haben mit Greifen und Glucksen<br />

freudig reagiert, während sich andere<br />

weinend weggedreht haben. Für<br />

sie waren diese Reize zu viel. Diese<br />

Kinder haben eine so niedrige Reizschwelle,<br />

dass sie von Reizen, die von<br />

aussen kommen, recht schnell überfordert<br />

werden.<br />

Und diese niedrige Reizschwelle ist die<br />

genetische Komponente?<br />

Ja, sie wird von den Eltern vererbt.<br />

Wie sich gezeigt hat, neigen besonders<br />

Kinder, die gegenüber fremden<br />

Personen eine tiefere Reizschwelle<br />

haben, zu späterer Schüchternheit.<br />

Ob es so weit kommt, hängt stark<br />

von der Erziehungsumgebung ab.<br />

Eltern, die früher selber schüchtern<br />

waren, reagieren häufig ängstlich<br />

und überbehütend und verstärken<br />

so die Hemmungstendenzen beim<br />

Kind. Schüchternheit kann gleichzeitig<br />

vererbt und anerzogen sein.<br />

Was gelingt Kindern mit einer höheren<br />

Reizschwelle besser?<br />

Es muss viel mehr passieren, um<br />

diese Kinder aus der Ruhe zu bringen.<br />

Sie können ihr Handeln besser<br />

strukturieren und ausrichten auf das,<br />

was wirklich passiert, während Kinder<br />

mit einer niedrigen Reizschwelle<br />

(vorschnell) auf Signale reagieren.<br />

Für Schüchterne ist es so, dass der<br />

36 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


«Schüchterne<br />

Kinder bleiben<br />

hinter ihren<br />

Möglichkeiten<br />

zurück», sagt<br />

Georg Stöckli.<br />

«Blick des anderen» primär Beurteilung<br />

und damit Bedrohung signalisiert<br />

– nicht etwa Interesse und<br />

Wohlwollen.<br />

Haben Schüchterne auch Stärken –<br />

die weniger schüchternen Menschen<br />

fehlen?<br />

Schüchterne Menschen werden oft<br />

als sehr empathisch beschrieben, sie<br />

sind gute Zuhörer und Beobachter.<br />

Und verstehen Sie mich nicht falsch,<br />

auch Hemmungen sind nicht nur<br />

negativ zu bewerten. Wenn es mehr<br />

Hemmungen gäbe, wäre unsere Welt<br />

sicher um einige Konflikte ärmer.<br />

Das Problem ist nur, dass diese Hemmungen<br />

in Situationen auftreten, die<br />

für das persönliche «Vorankommen»<br />

der schüchternen Person entscheidend<br />

wären.<br />

So bleiben schüchterne Menschen<br />

hinter ihren Möglichkeiten zurück. Im<br />

Hinblick auf die Schule ist ein solches<br />

Verhalten fatal.<br />

Leider. Diese Kinder bleiben im<br />

Unterricht passiv, machen nicht mit<br />

und können somit nicht zeigen, was<br />

sie eigentlich im Stande sind zu leisten.<br />

Ihre Noten sind schlechter, als<br />

sie ohne dieses schüchterne Verhalten<br />

wären. Viele Lehrpersonen re ­<br />

agieren genervt auf diese Kinder, die<br />

sich nicht äussern. Andere Kinder<br />

und Jugendliche haben feine Antennen<br />

für eine solche Stimmung: «Er<br />

oder sie ist anders als wir.» In einem<br />

ungünstigen Umfeld kann dies bis<br />

zu Mobbing führen.<br />

Sie sprechen in Ihren Büchern von den<br />

«vergessenen Kindern».<br />

Damit Unterricht stattfinden kann,<br />

müssen erst einmal diejenigen Schüler<br />

ruhiggestellt werden, die stören.<br />

Dabei gehen die stillen, zurückhaltenden<br />

Kinder unter – oder sind<br />

sogar in ihrem passiven Verhalten<br />

erwünscht. Sie machen keinen Klamauk,<br />

sind ruhig. Das führt dazu,<br />

dass die Probleme dieser Kinder<br />

nicht gesehen werden. Was Schüchterne<br />

brauchen, ist eine Umgebung<br />

der Vertrautheit. Anders als zu Hause<br />

ist diese Vertrautheit in der Schule<br />

nicht gegeben, und durch die<br />

Klassengrösse sind die Lehrerinnen<br />

und Lehrer nicht in der Lage, eine<br />

Vertrautheit zu schaffen.<br />

Dabei wäre es gerade in der Schule<br />

wichtig, dass es den Lehrpersonen<br />

gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung<br />

aufzubauen.<br />

Leider hören diese Kinder schon im<br />

Kindergarten von Lehrpersonen,<br />

dass sie sich besser beteiligen sollen,<br />

was nicht gerade zu einer Verbesserung<br />

führt. Wenn die Eltern >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>37


Monatsinterview<br />

>>> dann auch noch solche Signale<br />

aussenden, wird es ganz schlimm:<br />

«Mach doch, sei doch, tu doch.» Das<br />

heisst für das Kind: «So, wie du bist,<br />

bist du nicht gut». Und das ist natürlich<br />

eine fatale Botschaft.<br />

Was könnten Lehrpersonen stattdessen<br />

tun?<br />

Es wäre wichtig, dass Lehrerinnen<br />

und Lehrer mit den Kindern besprechen,<br />

wie sie sich im Unterricht besser<br />

beteiligen können, und einen<br />

Weg finden, wie sie das Kind unterstützen.<br />

So könnten beispielsweise<br />

anstehende Vorträge gemeinsam<br />

vorbesprochen werden. Man sollte<br />

dem Kind zu verstehen geben, dass<br />

auch andere Ängste haben, vor der<br />

Klasse zu sprechen, und dass das<br />

ganz normal ist. Man sollte ihm vermitteln,<br />

dass man es in seinem<br />

Wesen akzeptiert, aber es Schritt für<br />

Schritt weiterbringen möchte.<br />

Eine zeitaufwendige Sache.<br />

So zeitaufwendig ist das nicht. Zwei<br />

bis drei Mal pro Woche am Ende des<br />

Unterrichts kurz mit einem schüchternen<br />

Kind Aufträge durchsprechen,<br />

das können Lehrpersonen<br />

leisten.<br />

In Ihrer Funktion als Leiter der Forschungsstelle<br />

Kind und Schule an der<br />

Universität Zürich haben Sie das<br />

«Soziale Fitness-Training» entwickelt.<br />

Ein Programm, das schüchternen Kin-<br />

dern helfen soll, sich in der Schule zu<br />

öffnen und ihre Hemmungen hinter<br />

sich zu lassen.<br />

Während meiner Forschungszeit zu<br />

diesem Thema sind immer wieder<br />

Eltern mit der Frage auf mich zugekommen:<br />

«Was können wir nun<br />

gegen die Schüchternheit unseres<br />

«Mein Wunsch ist,<br />

dass Fachpersonen<br />

regelmässig mit<br />

diesen Kindern an<br />

ihren Schulen<br />

arbeiten.»<br />

Sohnes, unserer Tochter tun?» Da<br />

habe ich gemerkt, dass es mit der<br />

reinen Forschung nicht getan ist –<br />

und dieses Programm entwickelt, in<br />

dem wir mit den Kindern bei uns an<br />

der Universität gearbeitet haben,<br />

damit sie den Erwartungen, die an<br />

sie gestellt werden, gerecht werden<br />

können. Es braucht ja eigentlich<br />

nicht viel: sich gelegentlich melden,<br />

sich einbringen, mitmachen, in der<br />

Pause nicht abseitsstehen, sondern<br />

mit anderen etwas gemeinsam<br />

machen. Für diese Kurse sind Familien<br />

aus der gesamten Deutschschweiz<br />

zu uns gekommen. Leider<br />

werden Sie heute nicht mehr angeboten.<br />

Unter anderem aus diesem Grund<br />

haben Sie in diesem Frühjahr das<br />

Buch «Sozial fit – SoFiT! Mutmacher<br />

gegen Hemmzwerg. Sozialarbeit an<br />

Schulen: Ein Trainingsprogramm für<br />

sozial ängstliche Schülerinnen und<br />

Schüler» herausgegeben ...<br />

... um es an Sozialarbeiter und Heilpädagogen<br />

an Schulen abzugeben.<br />

Mein Wunsch wäre es, dass diese<br />

Fachpersonen regelmässig mit<br />

schüchternen Kindern an ihrer<br />

Schule arbeiten.<br />

Was kann ich als Vater oder Mutter eines<br />

schüchternen Kindes tun?<br />

Erst einmal sollten Sie Ihrem Kind<br />

zuhören. Aussagen wie «alle anderen<br />

in der Klasse sind blöd» deuten<br />

schon darauf hin, dass etwas nicht<br />

stimmt. Denn das kann nicht sein.<br />

Eine Schulklasse ist im Grunde der<br />

beste Ort, um Freunde zu finden, da<br />

man über einen längeren Zeitraum<br />

immer wieder mit denselben Menschen<br />

Zeit verbringt.<br />

Sollte man sein Kind ermutigen, auf<br />

andere zuzugehen?<br />

Es lohnt sich, als Mutter oder Vater<br />

eines betroffenen Kindes die Frage<br />

zu stellen: Wie distanziert bin ich<br />

Die stellvertretende<br />

Chefredaktorin<br />

Evelin Hartmann im<br />

Gespräch mit Georg<br />

Stöckli.<br />

Zur Person<br />

Prof. Dr. Georg Stöckli war von<br />

2009 bis 2015 Leiter der<br />

Forschungsstelle Kind und Schule am<br />

Institut für Erziehungswissenschaft<br />

der Universität Zürich.<br />

38 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


eigentlich selbst anderen Menschen<br />

gegenüber? Wenn man seinem Kind<br />

sagt, dass es doch eigentlich ganz<br />

einfach ist, es aber selbst nicht praktiziert,<br />

dann ist das ein Widerspruch,<br />

den das Kind durchschaut. Natürlich<br />

gehört es dazu, hin und wieder ein<br />

anderes Kind zu sich nach Hause<br />

einzuladen, gemeinsam zu essen und<br />

dem eigenen Kind zu zeigen, dass<br />

man in diesen Situationen auch entspannt<br />

sein kann. Solche Tischsituationen<br />

eignen sich dafür sehr gut:<br />

Das Kind ist anwesend, muss aber<br />

nicht aktiv handeln. Das ist ein guter<br />

Anfang.<br />

Für Ihr Programm haben Sie den Mutmacher<br />

entwickelt, der dem schüchternen<br />

Kind hilft, gegen den sogenannten<br />

Hemmzwerg zu kämpfen.<br />

Dieser Hemmzwerg ist ein sehr hartnäckiger<br />

Zwerg (lacht). Es ging mir<br />

darum, die Schüchternheit von der<br />

Person des Kindes zu trennen. Es ist<br />

der Hemmzwerg, der dem schüchternen<br />

Kind das Leben schwermacht.<br />

Doch mithilfe des Mutmachers kann<br />

der Hemmzwerg be kämpft werden.<br />

Eltern rate ich, die Mutmacher ihrer<br />

Kinder zu werden und mit ihnen<br />

Situationen zu erleben, nach denen<br />

sie sagen können: «Da warst du jetzt<br />

aber richtig mutig!» Und: «Du bist<br />

viel mutiger, als du denkst!» Und das<br />

kann dann ein Anschlusspunkt an<br />

die eigene Mutmacherei sein.<br />

>>><br />

«Mutmacher gegen Hemmzwerg»<br />

Georg Stöckli entwickelte ein Trainingsprogramm, das<br />

schüchterne Kinder darin unterstützt, ihre Hemmungen<br />

und Ängste zu überwinden. Das Programm wurde mit<br />

Schülerinnen und Schülern der vierten bis sechsten<br />

Klassen erprobt. Die abschliessende Auswertung zeigte,<br />

dass sich diese Kinder nach dem Training mutiger<br />

fühlten als zuvor.<br />

In zehn Trainingseinheiten werden Übungen<br />

angeboten, die den Kindern zum einen ermöglichen,<br />

ihre eigenen Hemmungen zu erkennen. Mithilfe der<br />

Figur des Hemmzwergs können Kinder über die<br />

Ursachen ihrer Probleme nachdenken. Zum anderen<br />

werden die Kinder aufgefordert, ihre Passivität zu<br />

überwinden und Eigeninitiative zu zeigen. Ein<br />

persönlicher Mutmacher hilft den Kindern dabei.<br />

Georg Stöckli: Sozial fit – SoFiT! Mutmacher gegen<br />

Hemmzwerg. Sozialarbeit an Schulen: Ein<br />

Trainingsprogramm für sozial ängstliche Schülerinnen<br />

und Schüler. Lehrmittelverlag Zürich, 2016.<br />

www.lmz.ch<br />

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Das ist Service.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>39


Psychologie & Gesellschaft<br />

Buben lernen anders als Mädchen<br />

Damit beide Geschlechter in der Familie und in der Schule auf die<br />

Rechnung kommen, braucht es ein Bewusstsein dafür, dass es<br />

Unterschiede zwischen Mädchen und Buben gibt. Text: Susan Edthofer<br />

Schule als Institution und Buben harmonieren<br />

nicht immer miteinander. Mädchen scheinen<br />

besser in dieses Konzept zu passen. Buben und<br />

Mädchen entwickeln sich unterschiedlich, und<br />

auch ihre Bedürfnisse, Vorlieben und Befindlichkeiten<br />

sind anders. Dies bedeutet, dass beim Thema<br />

Chancengleichheit nicht nur die soziale Herkunft, sondern<br />

auch das Geschlecht eine Rolle spielt.<br />

Mädchen sind eine Nasenlänge voraus<br />

Bereits beim Schuleintritt haben die Mädchen die Nase<br />

vorn. Bei der Einschulung beträgt der Entwicklungsvorsprung<br />

etwa ein bis drei Jahre, ein Unterschied, der sich<br />

erst im Laufe der Schulzeit ausgleicht. Nicht verwunderlich<br />

also, dass der Unterricht für die Buben womöglich<br />

zum Stressfaktor wird. In einem Artikel von «Focus<br />

Schule» aus dem Jahr 2009 steht: «Mädchen sind nicht<br />

schlauer, aber ‹schulklüger›.» Diese Aussage bringt es<br />

auf den Punkt. Beispielsweise entwickeln sich Feinmotorik<br />

und Grobmotorik bei Mädchen und Buben in<br />

unterschiedlichen Zeitfenstern. Das erklärt, warum<br />

Buben oft Mühe haben, still zu sitzen, schön zu schreiben<br />

und geduldig auszumalen. Hinzu kommt, dass die<br />

Art und Weise, wie Inhalte vermittelt werden, Buben<br />

eher langweilt. Auch wenn bei Mädchen der Bewegungsdrang<br />

ebenfalls hoch ist, können sie besser damit umgehen,<br />

dass Wissen oft durch Reden weitergegeben wird.<br />

Beiden Geschlechtern gerecht werden<br />

Immer wieder ist die Frage zu hören, ob getrennte Klassen<br />

beiden Geschlechtern mehr entsprechen würden.<br />

Mittlerweile sprechen sich viele Fachleute für eine zeitweilige<br />

Trennung aus. Schulen, die diese Lösung praktizieren,<br />

stellen fest, dass den Bedürfnissen von Buben<br />

und Mädchen besser entsprochen werden kann. Entgegen<br />

der gängigen Meinung schneiden Mädchen beispielsweise<br />

in Mathematik bis zehn Jahre ungefähr gleich<br />

gut ab. Erst nachher überholen die Jungs sie. Scheinbar<br />

liegt es also nicht an den Fähigkeiten, dass sich Mädchen<br />

in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern in<br />

gemischten Klassen eher zurückhalten. Auch Buben<br />

könnten ihre kommunikativen Stärken besser zeigen,<br />

wenn die Klassen im Sprachunterricht<br />

teilweise getrennt wären.<br />

Deutliche Unterschiede bestehen im<br />

Denken und Handeln: Mädchen macht<br />

es keine Mühe, Vorgaben zu folgen.<br />

Buben hingegen möchten Dinge ausprobieren<br />

und erst nachher ihre Schlüsse<br />

ziehen. Auch das Selbstwertgefühl der beiden Geschlechter<br />

entwickelt sich unterschiedlich: Mädchen versuchen<br />

sich vor allem über die Leistung zu definieren und<br />

dadurch ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Für Buben<br />

hängt die Stellung in der Gruppe stark mit ihrem Selbstwertgefühl<br />

zusammen. Eltern und Lehrpersonen, die<br />

Kinder mit diesem Wissen unterrichten und erziehen,<br />

tragen dazu bei, das Lernen zu vereinfachen.<br />

Was Eltern tun können – vier Tipps<br />

«Mädchen scheinen<br />

besser ins Konzept<br />

Schule zu passen.»<br />

Susan Edthofer ist Redaktorin<br />

im Bereich Kommunikation<br />

von Pro Juventute.<br />

• Um beiden Geschlechtern gerecht zu werden, hilft es, sich der<br />

Unterschiede im Verhalten von Mädchen und Buben zu<br />

vergewissern. Wenn Sie die Stärken Ihres Kindes kennen, fällt es<br />

Ihnen leichter, seine schwächeren Seiten zu fördern.<br />

• Geben Sie Ihrem Sohn Gelegenheit, das Lernen durch Bewegung<br />

aufzulockern. Kopfrechnen kann man beispielsweise beim<br />

Treppensteigen, und Wörter lassen sich hüpfend lernen.<br />

• Fördern Sie im Gespräch mit Ihrem Sohn und anhand von Bildern<br />

und Situationen gezielt seine emotionalen Kompetenzen.<br />

• Mädchen fühlen sich schnell minderwertig. Stärken Sie das<br />

Selbstvertrauen Ihrer Tochter und achten Sie beispielsweise darauf,<br />

dass nicht bloss die Männer für handwerkliche Belange zuständig<br />

sind. Ermuntern Sie Ihre Tochter, in sogenannte Männerdomänen<br />

vorzustossen.<br />

Pro Juventute Elternberatung<br />

Bei Pro Juventute Elternberatung können Eltern und Bezugspersonen von<br />

Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder online<br />

(www.projuventute-elternberatung.ch) Fragen zum Familienalltag, zu<br />

Erziehung und Schule stellen. Ausser den normalen Telefongebühren fallen<br />

keine Kosten an. In den Elternbriefen und Extrabriefen finden Eltern<br />

Informationen für den Erziehungsalltag. Mehr Infos: www.projuventute.ch<br />

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Kolumne<br />

Wenn Kinder das Familienbett belagern<br />

Was tun, wenn Kinder nachts auf Wanderschaft gehen, Betten getauscht werden<br />

und Eltern nicht zur Ruhe kommen? Dann braucht es eine klare Botschaft und<br />

elterliche Führung, sagt Jesper Juul.<br />

Jesper Juul<br />

ist Familientherapeut und Autor<br />

zahlreicher internationaler Bestseller<br />

zum Thema Erziehung und Familien.<br />

1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />

nach dem Schulabschluss zur See, war<br />

später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />

und Barkeeper. Nach der<br />

Lehrerausbildung arbeitete er als<br />

Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />

und bildete sich in den Niederlanden<br />

und den USA bei Walter Kempler zum<br />

Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />

leidet Juul an einer Entzündung der<br />

Rückenmarksflüssigkeit und sitzt<br />

im Rollstuhl.<br />

Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />

Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />

Ehe geschieden.<br />

Eine Leserin schreibt: Ich<br />

finde mich immer wieder<br />

in Situationen, in<br />

denen es mir schwerfällt,<br />

herauszufinden, was für<br />

die Kinder gut ist und was nicht. Im<br />

Dschungel der vielen Ratgeber und<br />

der mehr oder weniger schlauen<br />

Bücher über Kinder fühle ich mich<br />

verloren. Sie helfen mir nicht.<br />

Hier unser Problem: Die Nächte<br />

sind für uns Erwachsene sehr unangenehm,<br />

aber ich weiss wirklich<br />

nicht, wie wir das ändern sollen. Wir<br />

sind eine Patchworkfamilie: mein<br />

Mann, mein fünfjähriger Sohn und<br />

unsere gemeinsame, zehn Monate<br />

alte Tochter und ich. Jedes zweite<br />

Wochenende ist mein Sohn bei seinem<br />

Vater. An manchen Wochenenden<br />

sind auch die älteren Kinder<br />

meines Mannes bei uns. Die eigentlichen<br />

Schwierigkeiten erleben wir<br />

aber in den Nächten unter der<br />

Woche.<br />

Die beiden Kinder schlafen dann<br />

bei mir im Doppelbett, mein Mann<br />

schläft auf einer Matratze im Kin­<br />

Wir wollen nicht, dass unser<br />

Sohn sich fürchtet, möchten<br />

aber auch nicht nachts ständig<br />

geweckt werden – was tun?<br />

derzimmer. Oder er schläft zusammen<br />

mit unserer gemeinsamen<br />

Tochter im Doppelbett und ich mit<br />

meinem Sohn auf der Matratze im<br />

Kinderzimmer. Die Kinder lieben<br />

diese Aufteilung. Mein Mann und<br />

ich nicht. Wir sind sogar ziemlich<br />

frustriert davon.<br />

Da der Grössere früher Angst<br />

hatte, alleine zu schlafen, kam er<br />

immer zu uns ins Bett. Mit der Zeit<br />

wurde dies zu einem Platzproblem.<br />

Aus diesem Grund fanden wir die<br />

beschriebene Lösung. Nun wacht<br />

unsere Kleine in der Nacht aber<br />

immer wieder auf, und mein Sohn<br />

wird dadurch in seinem Schlaf<br />

gestört. Mittlerweile sind wir alle<br />

sehr müde.<br />

Wir wollen nicht, dass unser<br />

Gros ser sich fürchtet, aber auch<br />

nicht, dass wir ständig in der Nacht<br />

von einem Fünfjährigen aufgeweckt<br />

werden. Ich habe einfach nicht mehr<br />

die Kraft für dieses Chaos.<br />

Antwort von Jesper Juul<br />

Was für ein Durcheinander! Ich<br />

kann sehr gut verstehen, dass Sie und<br />

Ihr Mann frustriert sind. Sie müssen<br />

die unterschiedlichsten Bedürfnisse<br />

und Wünsche vieler Familienmitglieder<br />

unter einen Hut bringen –<br />

auch Ihre eigenen.<br />

So wie Sie die Entwicklung<br />

beschreiben, müssen Sie das Gefühl<br />

haben, dass Sie mit Ihren Bestrebungen<br />

gescheitert sind, vor allem<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

42 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


nachts. Dabei sind Ihre Kinder auf<br />

sich selbst gestellt, weil es ihren<br />

Eltern nicht gelingt, die eigenen<br />

Bedürfnisse zu stillen, weil Sie sich<br />

mehr oder weniger für die Bedürfnisse<br />

Ihrer Kinder aufgeben.<br />

Ihre Kinder haben offensichtlich<br />

unterschiedliche Schlafwünsche.<br />

Doch was sie brauchen, ist nicht die<br />

Erfüllung ihrer Wünsche, sondern<br />

eine klare Botschaft von Ihnen als<br />

Eltern. Jetzt braucht es sozusagen<br />

die elterliche Führung. Konzentrieren<br />

Sie sich dabei auf Ihr Wissen<br />

über die Bedürfnisse Ihrer Kinder<br />

und Ihre Fähigkeit, ihnen Ihre Grenzen<br />

zu zeigen.<br />

In Ihrer speziellen Situation als<br />

Patchworkfamilie sollte keines der<br />

Kinder bis auf Ihre gemeinsame<br />

kleine Tochter bei Ihnen im Bett<br />

schlafen. Der fünfjährige Sohn hat<br />

vermutlich keine Angst, er ist es einfach<br />

nicht gewohnt, alleine zu schlafen.<br />

Es wird schon einige abendliche<br />

«Besuche» an seinem Bett brauchen,<br />

bis er tatsächlich alleine ein- und<br />

auch durchschläft.<br />

Zuerst müssen Sie und Ihr Mann<br />

sich gemeinsam klar darüber werden,<br />

was Sie wollen. Sobald Sie das<br />

wissen, berufen Sie ein Familientreffen<br />

ein, an dem alle Mitglieder teilnehmen.<br />

Zuerst erzählen Sie, wie<br />

frustriert und erschöpft Sie sind und<br />

dass Sie die Verantwortung dafür<br />

übernehmen. Dann teilen Sie den<br />

Kindern Ihre Entscheidung mit und<br />

erlauben Ihnen, darauf zu reagieren.<br />

Aber diskutieren Sie nicht zu lange<br />

darüber! Die Entscheidung ist gefallen,<br />

und dabei bleibt es.<br />

Falls Sie jetzt denken, dass das ein<br />

zu hartes Vorgehen ist – keine Sorge.<br />

Sie haben schon sehr lange jeden<br />

möglichen Respekt für die Bedürfnisse<br />

der Kinder gezeigt. Sie haben<br />

eine wunderbare Komfortzone für<br />

alle geschaffen und die Beteiligten<br />

liebevoll umsorgt.<br />

Nun ist es an Ihnen, Prioritäten<br />

zu setzen. Fast die Hälfte aller einbis<br />

fünfjährigen Kinder dieser Welt<br />

schläft in der Nacht unruhig und<br />

unregelmässig. Auch viele Ratgeber<br />

und Bücher zum Thema können das<br />

nicht ändern. Selbst jene nicht, die<br />

sich ausschliesslich auf die Bedürfnisse<br />

der Kinder, deren Eigenarten<br />

und schlechten Gewohnheiten konzentrieren.<br />

Der Grund ist einfach: In diesem<br />

turbulenten Alter können die besten<br />

Eltern der Welt keine Ordnung und<br />

Harmonie in die inneren Zustände<br />

ihrer Sprösslinge bringen. Was Sie<br />

aber machen können, ist, verlässliche<br />

und sichere Rahmenbedingungen<br />

zu schaffen.<br />

Es wird einige abendliche<br />

Besuche neben dem Bett Ihres<br />

Sohnes brauchen, bis er alleine<br />

ein- und durchschläft.<br />

Haben auch Sie eine Frage an Jesper Juul,<br />

die er persönlich beantworten soll?<br />

Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch oder<br />

einen Brief an: Schweizer ElternMagazin<br />

Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97,<br />

8008 Zürich<br />

Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />

in Zusammenarbeit mit<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>43


Kolumne<br />

F***** im Club<br />

Michèle Binswanger<br />

Die studierte Philosophin ist Journalistin<br />

und Buchautorin. Sie schreibt zu<br />

Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder<br />

und lebt in Basel.<br />

Spotify ist eine segensreiche Erfindung. Sich für Musik zu interessieren<br />

war nie so einfach wie heute. Als Teenager in den Achtzigerjahren<br />

war dies eine weitaus kompliziertere Angelegenheit,<br />

denn um überhaupt an neue Musik heranzukommen, brauchte<br />

man zunächst weniger musikalische als soziale Fähigkeiten.<br />

Man musste an die Menschen herankommen, die einem neue Musik zeigen<br />

konnten, und das waren allesamt Nerds. Oder Kerle, die ich nicht<br />

verstand, wie der Wizard vom einzig coolen Plattenladen in der Kleinstadt,<br />

in der ich aufwuchs. An Samstagnachmittagen lungerte ich vor<br />

dem Plattenladen herum und kaum je wagte ich es, den Wizard persönlich<br />

anzusprechen, der mich vielleicht in die Geheimnisse neuer Musik<br />

eingeweiht hätte.<br />

Heute ist das anders. Dank Spotify brauche ich nicht mehr bis am<br />

Samstagnachmittag zu warten und ich brauche auch keine Nerds mehr.<br />

Alles, was ich wissen muss, sagt mir der Algorithmus, der immer neue<br />

Empfehlungen macht und auch immer wieder für Überraschungen sorgt.<br />

So war das neulich, als plötzlich dieser Track durch meine Boxen bretterte.<br />

Er hatte ordentlich Druck und eine interessante Story: Ein paar<br />

Mädels erzählen, wie sie sich für den Ausgang aufbrezeln und dann grölend<br />

durch die Strassen ziehen. Ich hörte interessiert und angetan zu, bis<br />

der Refrain kam, mit süssen Stimmchen über wummerndem Bass:<br />

«Ich geh heut mit meinen Fotzen in’ Club<br />

Wir kommen rein und jedes Opfer hier kuckt<br />

Dieser Scheiss fickt deine Boxen kaputt<br />

denn ich bin heut mit meinen Fotzen im Club»<br />

Hm. Als Erstes sah ich mich um, ob meine Kinder mithörten. Sie wissen<br />

nämlich, dass ich aggressiven und vulgären Deutschrap nicht ausstehen<br />

kann. Weil ich das Glück habe, mit einer Tochter gesegnet zu sein, die<br />

Musik ebenfalls liebt und deren Musikgeschmack sich mit meinem überschneidet,<br />

war dies noch nie ein Problem. Nun war mir klar, was hier aus<br />

den Boxen kam, war einigermassen prekär. F***** – in keinem anderen<br />

Kontext würde ich den Ausdruck in meinem Haushalt dulden. Aber ich<br />

konnte mir nicht helfen, ich mochte den Song. Irgendwie war das Punk<br />

oder eine vulgärfeministische Variante davon. Und wenn es sexistisch<br />

war, warum gefiel es mir dann irgendwie? War das jetzt vielleicht Zeichen<br />

einer Midlife-Crisis? Dann hörte ich den Track noch einmal an – laut.<br />

Meine Tochter ist 16 Jahre alt, und das Letzte, was man sich in diesem<br />

Alter wünscht, ist eine vulgäre Mutter. Deshalb bemühe ich mich, mit<br />

allem diskret zu sein, was sie in Verlegenheit bringen könnte. Deshalb<br />

zeigte ich meiner Tochter den Track nicht. Bis wir eines Abends miteinander<br />

in Streit gerieten. Sie zog sich beleidigt ins Zimmer zurück – und<br />

wenig später bretterte «F***** im Club» aus ihrem Zimmer. Offensichtlich<br />

versuchte sie, mich zu provozieren. Aber ich fand es nur lustig.<br />

Ich habe keine Ahnung, ob das richtig ist. Ob ich mir Sorgen machen<br />

soll, dass sie solche Musik hört, oder darüber, dass sie mich damit nicht<br />

einmal provozieren kann. Weil ich es selbst höre. Aber eines ist klar:<br />

Spotify ist wirklich eine segensreiche Erfindung.<br />

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />

44 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Öpfelfarm Honig,<br />

Steinbrunn<br />

Dass dieser Honig besonders<br />

raffiniert schmeckt, liegt nicht<br />

zuletzt auch daran, dass ganze<br />

24 Bienenvölker daran arbeiten.<br />

Bündner Honig, Brusio<br />

Die Blütenpracht der Bündner<br />

Wiesen kann man bei einem<br />

Spaziergang geniessen. Oder als<br />

Honig auf dem Brot.<br />

Miel du Jura Suisse<br />

Ein Honig aus einer wilden<br />

Region, der auf dem Brot<br />

aber ganz sanft und ausgewogen<br />

schmeckt.<br />

Don Mario, Camignolo<br />

Fast noch besser fürs Gemüt<br />

als die Tessiner Sonne ist dieses<br />

süsse Meisterwerk der Tessiner<br />

Bienen.<br />

Waldhonig Region<br />

Wasserschloss, Rüfenach<br />

Anders als das Wasserschloss ist<br />

der Honig dieser Region<br />

vor allem eine Attraktion für<br />

den Gaumen.<br />

Miel genevois<br />

Im eigentlich so diplomatischen<br />

Genf gibt es – ganz undiplomatisch<br />

ausgedrückt – einen der<br />

besten Honige überhaupt.<br />

Kündig Waldhonig, Matzwil<br />

Nicht nur auf sportliche<br />

Wanderer, sondern auch<br />

auf aktive Bienen stösst man<br />

am Frienisberg.<br />

Blütenhonig aus dem<br />

ZH-Oberland, Grüt<br />

Besonders schnelle Zürcher Bienen<br />

machen diesen Honig, dem<br />

eine besonders entschleunigende<br />

Wirkung nachgesagt wird.


Ein Hund<br />

nach Mass<br />

für Joel<br />

Joel ist 7 Jahre alt. Er hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus –<br />

auf Abweichungen vom Gewohnten reagiert er mit Wut und Angst. Sein<br />

grösster Wunsch ist es, einen Hund zu bekommen, der ihm Sicherheit gibt.<br />

Joels Mutter ist alleinerziehend, vor fünf Jahren erkrankte sie an Krebs.<br />

Hier erzählt sie ihre Geschichte und bittet Sie, liebe Leserin, lieber Leser,<br />

um Ihre Unterstützung. Aufgezeichnet: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo


Erziehung & Schule<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>47


Erziehung & Schule<br />

Autisten sind oft unfähig, sich<br />

auf eine veränderte Situation<br />

einzulassen.<br />

Joel sitzt auf<br />

dem Boden. Ein<br />

Flugzeug am<br />

Himmel hat ihn<br />

«gereizt».<br />

Er reagiert mit<br />

einem Wutanfall.<br />

Jetzt ist es so. Ich bettle. Inzwischen<br />

kümmert es mich nicht<br />

mehr, was andere denken. Ich<br />

bin einfach nur froh, wenn<br />

ich Hilfe erhalte. Für Joel. Er<br />

ist inzwischen 7-jährig. Als er<br />

vor eineinhalb Jahren die Diagnose<br />

Asperger-Autismus erhielt, wusste<br />

ich, was auf mich zukommt.<br />

Krebs ist heilbar, Autismus nicht<br />

Auch Joels 14-jähriger Bruder ist<br />

autistisch. Mit ihm habe ich alles<br />

durchlebt, was Eltern autistischer<br />

Kinder durchleben können: die<br />

anfängliche Ratlosigkeit, die Abklärungen<br />

und vor allem die verzweifelte<br />

Suche nach Unterstützung. Sie<br />

führte uns durch einen Dschungel<br />

aus stationärer Psychiatrie, Pflegefamilie,<br />

Psychiatriespitex, aufsuchendem<br />

Psychiater und Sonderschule.<br />

Autismus wurde zu meinem<br />

Hauptfach in dieser Lebensschule:<br />

Ich suchte Hilfe in etlichen Weiterbildungen<br />

und Büchern. Daneben<br />

wollte ich aber auch meiner Tochter<br />

eine gute Mutter sein. Sie ist heute<br />

zwölf.<br />

Mitten in diesem Prozess steckte<br />

ich also, als Joel zweijährig ähnliche<br />

Anzeichen zu zeigen begann wie<br />

sein Bruder. Er wurde zunehmend<br />

überaktiver, eigensinniger und liess<br />

sich nicht mehr lenken. Zu viele Reize<br />

führten zu Ausrastern. Dann<br />

schrie er, hielt sich die Ohren zu,<br />

warf Dinge um sich, verkroch sich<br />

verzweifelt im Zimmer unter seiner<br />

Bettdecke und liess niemanden<br />

mehr an sich heran. Eine Abklärung<br />

zögerte ich hinaus. Vor fünf Jahren<br />

erkrankte ich an Krebs. Zusätzlich<br />

waren mein Mann und ich in Trennung.<br />

Das erschöpfte mich. Eine<br />

weitere Autismus-Diagnose hätte<br />

ich zu diesem Zeitpunkt nicht verkraftet.<br />

Inzwischen hat sich manches eingependelt:<br />

Die Krebsbehandlung ist<br />

abgeschlossen. Für meinen älteren<br />

Sohn habe ich eine tolle Pflegefamilie<br />

in der Nachbarschaft gefunden.<br />

Drei Tage die Woche verbringt er<br />

dort. Inzwischen geht er auch wieder<br />

in die öffentliche Schule. Mein<br />

Ex-Mann unterstützt mich an einem<br />

Abend unter der Woche und an den<br />

Wochenenden in der Kinderbetreuung.<br />

So auch meine Eltern. Sie leben<br />

im selben Haus. Mittags essen wir<br />

48 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


meist gemeinsam. Darüber bin ich<br />

froh, denn es kommt immer wieder<br />

zu Zwischenfällen. Es braucht nur<br />

wenig – zum Beispiel ein Salatblatt,<br />

das den Reis berührt. Schon fliegt<br />

der Teller. Ich versuche alles, um<br />

Joels Leid klein zu halten: immer<br />

dieselben Tagesabläufe, klare Strukturen,<br />

visuelle Anleitungen, wo<br />

immer möglich die Reize reduzieren.<br />

Und doch kann ich ihn nur<br />

beschränkt vor den Anfällen schützen.<br />

In den eigenen vier Wänden fällt die<br />

Fassade zusammen<br />

Seit Joel in die Schule geht, ist es<br />

noch schwieriger. Im Moment besucht<br />

er die Regelschule mit vier<br />

Stunden integrativer Förderung. Das<br />

ist für ihn eine grosse Herausforderung,<br />

oft eine Überforderung. Es<br />

kommt mir vor, als habe er ein gewisses<br />

Kontingent an Reizen, die er täglich<br />

verarbeiten kann. Viele davon<br />

begegnen ihm schon auf dem Schulweg.<br />

Ein Flugzeug am Himmel, ein<br />

Auto, das er noch nie gesehen hat,<br />

die Geräusche der Klassenkameraden<br />

– das alles strengt ihn sehr an.<br />

In der Schule sucht er Kontakt zu<br />

seinen Gspändli und stösst doch<br />

immer wieder an seine Grenzen,<br />

weil er Emotionen nicht lesen kann,<br />

Aussagen wortwörtlich versteht und<br />

nicht adäquat reagiert. Die Heilpädagogin<br />

hat die Eltern und somit die<br />

Klasse über Autismus aufgeklärt.<br />

Das war mir wichtig: Ich will, dass<br />

die Leute wissen: Es ist angeboren.<br />

Es ist nicht heilbar. Es ist kein Erziehungsfehler.<br />

Manchmal gelingt es Joel gut,<br />

sich in der Schule anzupassen. Darin<br />

ist er ein Spezialist – wie sein Bruder.<br />

Aber das kostet ihn unglaublich<br />

viel Energie. Zu Hause fällt die Fassade<br />

zusammen. Er verliert die Kontrolle<br />

und erträgt nichts mehr. Zu ­<br />

erst ist da der Tunnelblick, die<br />

Verzweiflung, und dann rennt er<br />

da von. Folge ich ihm, wird es nur<br />

schlimmer. Es kam schon vor, dass<br />

er in solchen Situationen Autos zer­<br />

kratzte und Pfosten umschlug. Das<br />

erschöpft ihn. Und mich ebenso.<br />

Autismus ist eine ständige Ausein<br />

andersetzung mit sich und anderen.<br />

Manchmal mag ich nichts mehr<br />

davon hören. Lasst mich in Ruhe<br />

damit, möchte ich dann am liebsten<br />

rufen. An anderen Tagen geht es gut.<br />

Aber Zeit für mich selbst habe ich<br />

kaum mehr. Oft holt mich Joel schon<br />

morgens um halb sechs aus dem<br />

Bett. Bis zum Abend bin ich pausenlos<br />

mit den Kindern beschäftigt.<br />

Sind alle drei anwesend, ist es nur<br />

noch ein Chaos. Manchmal würde<br />

ich gerne wieder meinen Hobbys<br />

oder meinem Beruf als Pflegefachfrau<br />

nachgehen. Im Moment arbeite<br />

ich drei Stunden die Woche im Büro<br />

meines Vaters. Immer am Dienstagabend,<br />

wenn mein Ex-Mann die<br />

Kinder ins Bett bringt.<br />

Das Angebot reicht nicht für alle<br />

Dass ein Hund eine beruhigende<br />

Wirkung auf Joel hat, merkte ich<br />

erstmals dank Sweetie – unserem<br />

kleinen Mops. Joel schläft besser,<br />

wenn Sweetie bei ihm im Zimmer<br />

ist. Das ist verständlich: Hunde sind<br />

leichter zu verstehen. Sie erwarten<br />

nichts. Dass aber Hunde bei Autisten<br />

tatsächlich therapeutisch eingesetzt<br />

werden, erfuhr ich erst vor Kurzem<br />

am Welt-Autismus-Tag. Da waren<br />

Familien mit Autismusbegleithunden<br />

dabei. Mir wurde bewusst:<br />

Genau das würde uns entlasten. Wir<br />

gehen alle drei Wochen zu einer Kinder-<br />

und Jugendpsychiaterin, erhalten<br />

zwei Stunden die Woche Hilfe<br />

von einer Familienbegleiterin und<br />

Joel besucht seit einem Jahr die Figurenspieltherapie.<br />

Der Hund könnte<br />

das unterstützende Angebot ergänzen<br />

und Joel im Alltag Sicherheit<br />

bieten.<br />

So ging das Rösslispiel von vorne<br />

los: suchen, reden, abklären. Eigentlich<br />

versuchte ich, Joel vorerst aus<br />

dem Hundethema rauszuhalten, um<br />

keine Hoffnungen zu schüren. Aber<br />

wie Autisten sind: Sie merken alles.<br />

Wir fassten zuerst eine An ­ >>><br />

So können Sie helfen:<br />

Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin<br />

des Schweizer ElternMagazins,<br />

will der Familie Bettschen bei der<br />

Beschaffung und Finanzierung<br />

eines Autismusbegleithundes für<br />

Joel helfen. Die Kosten betragen<br />

rund 30 000 Euro; 4000 Euro hat die<br />

Familie selber zusammengetragen.<br />

Es fehlen 26 000 Euro – rund<br />

30 000 Franken.<br />

Jede Spende ist willkommen:<br />

Stiftung Elternsein<br />

Seehofstrasse 6<br />

8008 Zürich<br />

Postkonto 88-508005-9<br />

IBAN: CH96 0900 0000 8850 8005 9<br />

Vermerk: Joel<br />

Oder:<br />

www.elternsein.ch<br />

Button «Jetzt spenden» anklicken<br />

Bemerkungen: Joel<br />

Die Stiftung Elternsein hofft auf Ihre<br />

Unterstützung. Wir informieren in<br />

der Dezember-Ausgabe, auf unserer<br />

Website www.fritzundfraenzi.ch<br />

und via Facebook und Twitter über<br />

den Spendenstand.<br />

Herzlichen Dank!<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>49


Erziehung & Schule<br />

>>> bieterin in Allschwil bei Basel<br />

ins Auge. Die Stiftung Schweizerische<br />

Schule für Blindenführhunde.<br />

Seit 2012 bildet sie Autismusbegleithunde<br />

aus. Sie war mir sofort sympathisch.<br />

Joel durfte mit einem<br />

Hund spazieren gehen und war hell<br />

begeistert. Das Problem ist: Die Stiftung<br />

wird überrannt von Anfragen,<br />

kann aber nur etwa acht Hunde pro<br />

Jahr anbieten. Einmal pro Halbjahr<br />

darf man an einer Auslosung teilnehmen.<br />

Vier bis fünf maximal<br />

zehnjährige Kinder werden gewählt<br />

und kommen auf die Warteliste. Von<br />

da an dauert es ungefähr zwei Jahre,<br />

bis man den Hund erhält. So lange<br />

kann ich nicht warten. Wir brauchen<br />

die Entlastung jetzt.<br />

Ich erweiterte die Suche über die<br />

Landesgrenze hinaus und stiess auf<br />

den deutschen Verein Patronus-<br />

Assistenzhunde. Er führt keine Wartelisten,<br />

sondern trifft die Auswahl<br />

seiner Kunden nach einer sorgfältigen<br />

Prüfung der Bewerbung und<br />

einem persönlichen Kennenlernen.<br />

Ausserdem hat er keine Altersbe-<br />

grenzung. So ergab das eine das<br />

andere. Im Frühling lernte ich Thomas<br />

Gross an einer Messe in Karlsruhe<br />

kennen. Er ist Vorsitzender des<br />

Vereins Patronus-Assistenzhunde.<br />

Im Sommer lud er uns für drei Tage<br />

nach Rostock ein, damit er Joel kennenlernen<br />

und sich ein Bild von<br />

seinen Anfällen machen konnte.<br />

Herr Gross entschied sich, mit uns<br />

zu arbeiten. Ende Jahr könnte Joel<br />

seinen Hund kriegen – sofern ich bis<br />

dahin die Finanzierung sichern<br />

kann.<br />

>>><br />

«Ein Hund für<br />

alle Fälle»<br />

Autismusbegleithunde bieten<br />

autistischen Kindern Sicherheit und<br />

ihren Eltern Entlastung. Die grosse<br />

Nachfrage verlängert jedoch die<br />

Wartezeit. Mit Unterstützung des<br />

deutschen gemeinnützigen Vereins<br />

Patronus-Assistenzhunde kommen<br />

Familien schneller zu ihrem Hund.<br />

Interview: Sarah King<br />

Herr Gross, der Verein Patronus-Assistenzhunde<br />

will mit der Ausbildung von Assistenzhunden<br />

Herzenswünsche erfüllen. Was<br />

unterscheidet Sie von anderen Anbietern?<br />

Wir können auf einen grossen Pool von Hundezüchtern<br />

und -trainern zurückgreifen. Das<br />

macht uns unabhängig und hat Vorteile für<br />

Familien. Zum einen können wir individuell den<br />

besten Trainer für ihr Kind aussuchen. Darauf<br />

legen wir grossen Wert. Zum anderen erlaubt<br />

uns der Pool, mehr Hunde auszubilden – im<br />

Moment etwa 20 bis 25 pro Jahr, ab nächstem<br />

Jahr dank zusätzlichen Trainern gar 50. Das<br />

verringert die Wartezeit. Etwa neun Monate<br />

nach dem Erstkontakt kann die Familie den<br />

Hund in Empfang nehmen.<br />

Wie sieht die Ausbildung eines Autismusbegleithundes<br />

aus?<br />

Die Ausbildung beginnt mit der Welpenauswahl:<br />

Die Trainer erkennen schon nach einer<br />

Woche anhand der Rudelstellung das Potenzial<br />

der Welpen. Nach neun Monaten Sozialisierung<br />

in einer Patenfamilie beginnt die einjährige<br />

Grundausbildung beim Assistenz -<br />

hundetrainer. Die ist für alle Hunde dieselbe.<br />

Die anschliessende Spezialausbildung richtet<br />

sich nach den Bedürfnissen der künftigen<br />

Besitzer. Gemeinsam legen wir fest, welche<br />

speziellen Fähigkeiten dem Hund antrainiert<br />

werden sollen. Die Dauer dieser Ausbildung<br />

variiert je nach Hund zwischen zehn und zwölf<br />

Monaten.<br />

Werden die Hunde «trocken» ausgebildet<br />

oder am Autisten selbst?<br />

Während der Grundausbildung verbringen die<br />

Hunde drei Tage die Woche in Psychiatrien,<br />

Altersheimen und Sonderschulen. Kommen<br />

die Hunde zur Familie, gibt es keine Krankheit,<br />

die sie noch nicht kennen. Am Ende der Grundausbildung<br />

kommt es zum ersten Kontakt mit<br />

dem autistischen Kind. Meist trifft der Hundetrainer<br />

anhand von zugeschickten Videos eine<br />

Vorauswahl und stellt dem Kind mögliche<br />

Hunde vor. Die Harmonie ist uns wichtig: Der<br />

Hund muss das Kind lieben und das Kind den<br />

Hund. Schliesslich gehen die beiden eine gut<br />

dreizehnjährige Beziehung ein.<br />

Betreuen Sie die Familien nach der Übergabe<br />

des Hundes weiter?<br />

Die Betreuung setzen wir ein Hundeleben lang<br />

fort. In den ersten drei Monaten nach der<br />

Übergabe findet zwei Mal eine Woche Schulung<br />

vor Ort statt. Reicht das nicht aus, setzen<br />

wir die Schulung fort: Wir müssen die Eltern<br />

und die betroffenen Kinder befähigen, mit<br />

dem Hund zu leben und mit ihm zu arbeiten.<br />

Danach können die Familien einmal im Jahr<br />

eine Nachschulung bei uns machen.<br />

Wie muss ein Autismusbegleithund<br />

beschaffen sein? Was für eine Rasse hat<br />

er? Was für einen Charakter?<br />

Wir arbeiten in der Regel mit den Rassen<br />

La brador und Golden Retriever. Wichtiger als<br />

die Rasse ist der Charakter des Hundes:<br />

Autismus begleithunde sollten ruhig, ausgeglichen,<br />

wachsam, wendig und leicht führbar<br />

sein. Sie müssen aber auch die Kraft haben,<br />

sich einem Kind in den Weg zu stellen oder in<br />

der Lage sein, ein Kind zu suchen.<br />

Wie geht eine Familie vor, die über den Verein<br />

Patronus-Assistenzhunde einen Hund<br />

erwerben möchte?<br />

Die Familie bewirbt sich mit einem Bewerbungsschreiben<br />

und einem Anamnesebogen.<br />

Nach einem persönlichen Kennenlernen entscheiden<br />

wir, ob wir mit dieser Familie arbeiten<br />

wollen. Fotos und Videos des autistischen Kindes<br />

geben Aufschluss darüber, mit welchem<br />

Hundetrainer wir in Kontakt treten. Dieser<br />

trifft die Auswahl der Hunde. Danach suchen<br />

wir gemeinsam nach Wegen der Finanzierung.<br />

Ein Autismusbegleithund kostet bis zu 30 000<br />

Euro. Der Betrag umfasst neben der Anschaffung<br />

des Hundes die Tierarztkosten und 350<br />

Stunden Ausbildung. Einberechnet sind weiter<br />

das Geschirr, die vierzehn Tage Zusammenschulung,<br />

Reise- und Übernachtungskosten<br />

sowie die Vor- und Nachbereitungszeit. Wir<br />

50 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

«In der Schweiz dauert es zwei Jahre, bis<br />

man einen Begleithund erhält», sagt Miriam<br />

Bettschen. «So lange kann ich nicht warten.<br />

Wir brauchen die Entlastung jetzt.»<br />

Alleinerziehend, an<br />

Krebs erkrankt,<br />

Mutter von zwei<br />

autistischen<br />

Kindern: Miriam<br />

Bettschen ist<br />

erschöpft.<br />

finanzieren uns durch Spenden und sind<br />

den Familien auch behilflich bei der<br />

Suche nach Stiftungen und Sponsoren.<br />

Gibt es Studien, welche die Wirksamkeit<br />

eines Autismusbegleithundes<br />

nachweisen?<br />

Studien wurden vor allem in den USA<br />

durchgeführt. In Deutschland gibt es<br />

zum Beispiel eine Studie, die zeigt, dass<br />

sich 76 Prozent der Kinder mehr zu<br />

einem Hund als zu einem Therapeuten<br />

oder einem Spielzeug hingezogen fühlen.<br />

Nach dem Spielen mit dem Hund<br />

senken sich die Vitalfunktionen wie Puls<br />

und Blutdruck. Die Kinder werden ruhiger,<br />

ausgeglichener und die Anzahl der<br />

Anfälle geht zurück. Das entspricht auch<br />

unserer Erfahrung.<br />

Zur Person<br />

Thomas Gross ist zweiter Vorsitzender des<br />

gemeinnützigen Vereins Patronus-<br />

Assistenzhunde mit Sitz im deutschen<br />

Mönchhagen. Er ist verantwortlich für<br />

Marketing, Sponsoring und Fundraising und<br />

koordiniert den Prozess vom ersten<br />

Kennenlernen über die Hundeübergabe bis<br />

hin zur Nachbetreuung.<br />

www.patronus-assistenzhunde.de


52 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Fussball mag<br />

ich! Oder nicht?<br />

>>> 30 000 Euro kostet der<br />

Hund. 2000 kann ich selbst beisteuern.<br />

Für den Rest brauche ich Unterstützung.<br />

Lion-Clubs, Rotary-Clubs,<br />

Bekannte, Verwandte und über<br />

zwanzig Stiftungen habe ich bisher<br />

angeschrieben – mit mässigem Er -<br />

folg. Es fehlen immer noch 26 000<br />

Euro. Dann las ich im ElternMagazin<br />

den Artikel über Autismus und<br />

fasste mir ein Herz.<br />

Darum stehe ich nun da und bitte<br />

um Ihre Unterstützung.<br />

Eine individuell angepasste<br />

Ausbildung<br />

Die letzten Jahre befreiten mich von<br />

Illusionen. Autismus ist nicht heilbar.<br />

Auch ein Hund wird nicht alle<br />

Probleme lösen. Aber ein Hund hilft<br />

mir da, wo ich alleine nicht klarkomme:<br />

Er sucht Joel, wenn er wegrennt,<br />

verlangsamt ihn im Strassenverkehr<br />

oder spurt ihm den Weg durch Menschenansammlungen.<br />

Es wird zwar<br />

Joels Hund sein, aber die Befehle<br />

gebe ich. Einen wichtigen kenne ich<br />

schon: «Ponte». Wenn sich Joel in<br />

einem Anfall unter die Bettdecke<br />

verkriecht und niemanden an sich<br />

heranlässt, wird sich der Hund auf<br />

diesen Befehl hin sachte auf Joel<br />

legen. Zuerst nur auf seine Beine,<br />

dann auf seinen ganzen Körper.<br />

Es ist bekannt, dass sich Autisten<br />

in solchen Anfällen nicht mehr spüren.<br />

Sie brauchen Widerstand. Der<br />

sanfte Druck des Hundes kann sie<br />

beruhigen. Der Hund sucht im Alltag<br />

immer wieder Kontakt zum<br />

Kind und holt es so aus seiner Welt<br />

raus. Wofür wir den Hund alles<br />

brauchen und welche Fähigkeiten er<br />

haben muss, bestimmen Joel und ich<br />

gemeinsam. Der Hundetrainer bil-<br />

Joel besucht die<br />

Regelschule mit<br />

vier Stunden<br />

integrativer<br />

Förderung.<br />

«Ein Autismusbegleithund<br />

wird nicht alle Probleme<br />

lösen. Aber er hilft mir,<br />

wo ich mit Joel allein<br />

nicht mehr klarkomme»,<br />

sagt die Mutter.<br />

det ihn dann nach unseren Bedürfnissen<br />

aus.<br />

Nach der Übergabe erhalten wir<br />

eine einwöchige Schulung bei uns zu<br />

Hause. Der Hundetrainer begleitet<br />

uns durch die verschiedenen Alltagssituationen<br />

und zeigt uns, wie<br />

wir mit dem Hund arbeiten müssen.<br />

Da Autismusbegleithunde in Le -<br />

bensmittelgeschäften erlaubt sind,<br />

redet der Trainer mit den Geschäftsführenden<br />

und trainiert mit dem<br />

Hund die einzelnen Wege. Vielleicht<br />

kann Joel den Hund an speziellen<br />

Tagen auch in die Schule mitnehmen.<br />

Zum Beispiel bei Prüfungen<br />

oder ausserordentlichen Veranstaltungen.<br />

Was ich mir erhoffe?<br />

Nach Erfahrung der Fachleute<br />

kann ein Autismusbegleithund die<br />

Anfälle des Autisten um 50 Prozent<br />

reduzieren. Schon mit 10 Prozent<br />

weniger wäre ich erleichtert. Vielleicht<br />

können sogar die Geschwister<br />

vom Hund profitieren. Und ich. Ein<br />

Hund, der einem ab und zu seine<br />

Schnauze auf das Bein legt – tut das<br />

nicht jedem gut?<br />

>>><br />

Sarah King<br />

arbeitet in einer psychiatrischen Klinik in<br />

Bern. Sie ist freie Journalistin und Autorin<br />

des Autismus-Dossiers der August-Ausgabe<br />

von Fritz+Fränzi.<br />

Irgendwann kommt in fast jedem<br />

Kinderleben der Wunsch auf,<br />

den Gspänli in einen Verein zu<br />

folgen. Sei es ein Fussballclub,<br />

Ballettstunden oder die Pfadi.<br />

Doch was, wenn es dem Kind da<br />

nicht gefällt? Damit ein Kind<br />

herausfinden kann, welche Sport -<br />

arten ihm gefallen, geht es nicht<br />

ohne ausprobieren. Einerseits tun<br />

die Kleinen das im Sportunterricht<br />

in der Schule. In der Freizeit<br />

jedoch sind auch die Eltern<br />

gefragt: Diese können viel Unterstützung<br />

bieten, wenn es um<br />

die liebste Freizeitbeschäftigung<br />

ihrer Söhne und Töchter geht.<br />

Im Ratgeber «Bewegung, Spiel<br />

und Spass in der ganzen Familie»<br />

erfahren Sie, wie Sie Ihr Kind<br />

durch eine bewegte Kindheit begleiten<br />

können – und dabei<br />

auch selber davon profitieren!<br />

Den Ratgeber «Bewegung, Spiel<br />

und Spass in der ganzen<br />

Familie» der EGK-Gesundheitskasse<br />

erhalten Sie unter:<br />

www.egk.ch/spiel-und-spass<br />

Lukas Zahner<br />

Departement für Sport,<br />

Bewegung und Gesundheit<br />

der Universität Basel<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>


Erziehung & Schule<br />

Eine Frage der Perspektive<br />

Erwachsene sollten öfter mal den Blickwinkel wechseln und die Dinge aus der Sicht von Kindern und<br />

Jugendlichen betrachten. Insbesondere, wenn es um Schule und Beruf geht. Text: Bruno Rupp<br />

«Auch ich habe mich immer<br />

wieder zur Aussage ‹Das<br />

ist doch nicht normal!›<br />

verleiten lassen.»<br />

Bruno Rupp ist Primarlehrer, Schulleiter,<br />

Mitglied der Leitungskonferenz Bildung Bern<br />

und Mitglied der LCH-Geschäftsleitung.<br />

Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern.<br />

Es lohnt sich, die Perspektive<br />

zu wechseln, Dinge mit einer<br />

anderen Brille anzuschauen –<br />

mit der des Kindes.<br />

selbe Brille zu schauen. Beide kommunizieren<br />

auf derselben Ebene<br />

miteinander.<br />

Wie oft hören Kinder oder<br />

Jugendliche von den Eltern Sätze<br />

wie «Das sehe ich aber anders»,<br />

«Wie kannst du nur!», «Das ist doch<br />

nicht normal!». In solchen Momenten<br />

und Situationen sehen beide<br />

«die Welt» mit verschiedenen<br />

Augen.<br />

Erwachsene müssen Wege in die<br />

Selbständigkeit aufzeigen<br />

Als Vater von drei heute erwachsenen<br />

Kindern habe auch ich mich<br />

immer wieder zur Aussage «Das ist<br />

doch nicht normal!» verleiten lassen.<br />

Eine Aussage, die jungen Menschen<br />

die Botschaft vermittelt, dass ich als<br />

Erwachsener und Vater selbstredend<br />

weiss, was «normal» ist. Aus meiner<br />

Sicht eben.<br />

Wie sieht es aber aus Sicht des<br />

Jugendlichen aus? Kenne ich seine<br />

Sichtweise und Begründung für sein<br />

«abnormales» Verhalten? Könnte es<br />

sein, dass sein Verhalten aus seiner<br />

Sicht vielleicht gar nicht so abnormal<br />

ist? Sollte es mich nicht interessieren,<br />

aus welchen Gründen, Erfahrungen<br />

oder mit welcher Absicht<br />

der Jugendliche eine andere Vorstellung<br />

von «normal» und «abnormal»,<br />

von «richtig» oder «falsch» hat?<br />

Als Eltern und Lehrpersonen ist<br />

es unsere Pflicht, Kindern und<br />

Jugendlichen Wege in die Selbständigkeit<br />

zu zeigen, sie auf dem Weg<br />

zur Mündigkeit zu unterstützen und<br />

Sie kennen doch bestimmt<br />

das Spiel «Ich sehe was,<br />

was du nicht siehst», das<br />

Kinder oft auf langen Fahrten<br />

im Zug oder im Auto<br />

spielen. Es ist mehr als ein Zeitvertreib.<br />

Das Kind und der erwachsene<br />

Mitspieler versuchen, die Welt oder<br />

zumindest einen kleinen Teil der<br />

Welt mit den Augen des anderen zu<br />

sehen. Beide versuchen, durch diezu<br />

begleiten. Wir haben hier eine<br />

Vorbildfunktion. Was vermitteln wir<br />

denn für Werte und Haltungen,<br />

wenn wir diese einfach unreflektiert<br />

aufgrund unserer Stärke als Erwachsene<br />

den Jungen überstülpen?<br />

Aufgrund meiner langen Erfahrung<br />

als Vater, Erzieher und Lehrer<br />

bin ich überzeugt, dass es sich<br />

immer wieder lohnt, die Perspektive<br />

zu wechseln und die Dinge mit einer<br />

anderen Brille anzuschauen: mit der<br />

Brille des Kindes respektive des<br />

Jugendlichen.<br />

Die Welt mit den Augen des<br />

anderen zu sehen, ist wichtig und<br />

hilfreich. Eine Situation aus einer<br />

anderen Richtung oder Perspektive<br />

zu sehen, bedeutet, die eigene Blickrichtung<br />

zu verändern und sich in<br />

die Situation des anderen zu versetzen<br />

und hineinzudenken.<br />

Einfühlungsvermögen oder<br />

Empathie ist die Fähigkeit und<br />

Bereitschaft, Empfindungen, Ge ­<br />

danken, Emotionen, Motive und<br />

Persönlichkeitsmerkmale einer<br />

an deren Person zu erkennen und zu<br />

ver stehen. Zur Konfliktlösung<br />

kommt dieser Fähigkeit eine wichtige<br />

Bedeutung zu. Perspektivenwechsel<br />

verbunden mit Einfühlungsvermögen<br />

und Empathie<br />

öffnet den Weg für ein anderes Verständnis<br />

und für neue, andere Ideen.<br />

Als Schulleiter habe ich immer<br />

wieder die Aufgabe, Gespräche zwischen<br />

Eltern und Lehrpersonen zu<br />

moderieren. Gespräche, in welchen<br />

die Teilnehmenden unterschiedliche<br />

54 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Ansichten zu einem Problem und<br />

verschiedene Erwartungen und Vorstellungen<br />

von dessen Lösung<br />

haben.<br />

Oftmals geht es um unterschiedliche<br />

Vorstellungen und Erwartungen<br />

einer Schülerin oder eines Schülers<br />

und seiner Eltern an die Schule.<br />

Eines von vielen klassischen Beispielen<br />

ist der Übertrittsentscheid<br />

von der Primarstufe in die Sekundarstufe.<br />

Die Eltern möchten, dass<br />

ihr Kind die Schullaufbahn unbedingt<br />

in der Sekundarschule weiterführt<br />

und im Anschluss das Gymnasium<br />

besuchen kann. Begründung<br />

der Eltern: Dem Jugendlichen stehen<br />

nach der Realschule weniger<br />

Chancen und Möglichkeiten offen.<br />

Der Abschluss der Matura steht<br />

nicht zur Verfügung. Die Matura «in<br />

der Tasche» zu haben, ist sowieso<br />

besser, als eine (Berufs-)Lehre zu<br />

machen.<br />

Erfahrungen lassen sich nicht<br />

übertragen<br />

Als Erwachsener kann ich solche<br />

Überlegungen nachvollziehen. Ein<br />

Jugendlicher sieht das möglicherweise<br />

aber ganz anders. Vielleicht hat<br />

er andere Interessen. Vielleicht<br />

waren seine Leistungen in der Primarschule<br />

nicht so brillant; er gehörte<br />

vielleicht meistens zu den so -<br />

genannt schlechteren Schülern.<br />

Er folgserlebnisse blieben vielfach<br />

aus. Seine Interessen liegen vielleicht<br />

in anderen Gebieten. Er möchte vielleicht<br />

eine handwerkliche oder eine<br />

künstlerische Laufbahn einschlagen.<br />

Er möchte einmal erfolgreich und<br />

glücklich sein können. Er möchte<br />

vielleicht ... Fragen über Fragen, die<br />

ich besprochen und beantwortet<br />

haben möchte. Antworten, die ich<br />

benötige, um die Sichtweise des<br />

Jugendlichen und seiner Eltern zu<br />

verstehen und sie bei der Entscheidfindung<br />

beraten und unterstützen zu<br />

können<br />

Einen Entscheid über einen<br />

anderen Menschen zu fällen, ohne<br />

seine Perspektive und Sichtweise zu<br />

Eltern sollten vermeiden,<br />

ihre Wunschvorstellungen<br />

und Ziele auf das eigene<br />

Kind zu übertragen.<br />

kennen, ist meistens nicht zielführend<br />

und erfolgreich. Man kann als<br />

Erwachsener nicht einfach seine<br />

persön lichen Ziele und Wunschvorstel<br />

lungen auf das Kind oder den<br />

Jugendlichen übertragen.<br />

Als Eltern sehen wir uns immer<br />

wieder mit Konflikten und Meinungsverschiedenheiten<br />

mit unseren<br />

Kindern und Jugendlichen konfrontiert.<br />

Wir sind immer wieder<br />

herausgefordert – das ist auch<br />

anstrengend und verleitet auch einmal<br />

dazu, eine Lösung zu diktieren.<br />

Wir sprechen ja aus Erfahrung.<br />

Es stimmt: Wir haben in unserem<br />

Leben schon viele Erfahrungen<br />

gemacht. Aus Erfahrungen kann<br />

man zwar lernen, man kann sie sich<br />

zu Nutze machen. Man kann sie<br />

aber niemals auf einen anderen<br />

Menschen übertragen und ihm<br />

damit ersparen, sie selbst zu machen.<br />

Wir können uns jedoch mit jungen<br />

Menschen über ihre und unsere<br />

Erfahrungen in ähnlichen und vergleichbaren<br />

Situationen austauschen.<br />

Nehmen wir uns die Zeit dazu.<br />

Zeigen wir Interesse und Empathie.<br />

Es fühlt sich unbestritten gut an,<br />

sich von anderen Menschen verstanden<br />

zu fühlen. Voraussetzung für<br />

gegenseitiges Verständnis ist ein<br />

Perspektivenwechsel; die Bereitschaft<br />

und das Interesse, die Welt<br />

auch aus der Sicht des Mitmenschen<br />

sehen und verstehen zu wollen.<br />

Nehmen wir doch diese Vorbildfunktion<br />

wahr. Es lohnt sich!<br />

FUNCTIONALITY IS<br />

PART OF OUR FAMILY<br />

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>55<br />

ESTABLISHED 1884


In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post<br />

Erziehung & Schule<br />

R_CH_SCHR_IB_NG:<br />

So macht sie Spass!<br />

Um die Orthografie in den Griff zu bekommen, brauchen Kinder Motivation zum Dranbleiben.<br />

Das Motto ist: Lernen durch Anwenden! Drei Praxistipps.<br />

Text: Johanna Oeschger<br />

Geheimschrift<br />

Zuerst wird das Alphabet in Geheimschrift<br />

codiert: Für jeden (oder die häufigsten)<br />

Buchstaben steht ein Symbol<br />

oder eine Zahl – damit verschlüsselt der<br />

Schreiber eine Nachricht. Der Empfänger<br />

versucht, den Code zu knacken. So<br />

prägen sich Wörter mit kniffliger<br />

Schreibweise besser im Gedächtnis ein.<br />

Galgenmännchen<br />

Ein Spieler denkt sich ein Wort aus und<br />

zeichnet für jeden Buchstaben einen<br />

Strich auf das Blatt. Der andere Spieler<br />

errät nun Buchstabe für Buchstabe das<br />

Wort. Kommt der Buchstabe im Wort<br />

vor, wird er beim entsprechenden Strich<br />

eingetragen. Liegt der Ratende falsch,<br />

wird in zehn Schritten ein Galgen (oder<br />

eine Blume, ein Tier, ein Haus usw.)<br />

gezeichnet.<br />

Buchstaben fühlen<br />

Ein Spieler schreibt einen Buchstaben<br />

oder ein Wort auf den Rücken des anderen<br />

Spielers, dieser muss das Geschriebene<br />

erraten. Buchstabenentdecker<br />

nehmen dabei bewusst die typischen<br />

Linien und Kurven der Buchstaben<br />

wahr.<br />

Die Rechtschreibung entwickelt sich in Phasen: Kinder ab etwa drei Jahren schreiben Wörter noch aus<br />

dem Gedächtnis. Mit fünf bis sieben Jahren beginnen sie, Laute in Buchstaben zu übersetzen. Ab der<br />

2. oder 3. Klasse lernen sie, Rechtschreibregeln anzuwenden. Korrekturen sind also nur sinnvoll, wenn die<br />

Kinder sie nachvollziehen können: Jüngeren Kindern kann man z. B. beim Vorschreiben Laut für Laut<br />

vorlesen und so zeigen, wie sich Buchstaben und Laute aufeinander beziehen. Fortgeschrittene Schreiber<br />

kann man auf Regelmässigkeiten hinweisen, wie dass man für einen langen i-Laut meistens ie schreibt.<br />

Für Kinder, die bereits etwas mit der Schrift vertraut sind, können Schreibspiele auf motivierende Art das<br />

Augenmerk auf die Schreibweise von Wörtern lenken.<br />

App-Tipp<br />

Wort-Zauberer<br />

Diese App verwandelt Buchstaben in Laute: Die Kinder bilden<br />

eigene Wörter und lassen sie vom «Wort-Zauberer» vorlesen<br />

oder sie fügen Buchstaben zu Wörtern zusammen, die ihnen<br />

diktiert werden. Für iPhone/iPad erhältlich. Kosten: Fr. 3.–.<br />

Johanna Oeschger<br />

ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin,<br />

unterrichtet Deutsch und Englisch auf der<br />

Sekundarstufe II und arbeitet als<br />

Mediendidaktikerin bei LerNetz.<br />

Bild: iStockphoto<br />

56 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Stiftung Elternsein<br />

Bauchfrei durch den Winter<br />

Ellen Ringier über Erziehungsmethoden ihrer Mutter und warum sie ihre<br />

Töchter nicht davon abhielt, im Winter in Turnschuhen aus dem Haus zu gehen.<br />

Bild: Maurice Haas / 13 Photo<br />

Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />

die Stiftung Elternsein.<br />

Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />

In der zweiten Primarklasse schickte<br />

mich Lehrer Halder eines Tages um<br />

10 Uhr wieder nach Hause. Zuvor hatte<br />

er mich vor der ganzen Klasse lächerlich<br />

gemacht. Es war ein Wintertag, ich<br />

trug Knie socken. Dieser Umstand hatte<br />

ihn so erbost, dass er es angemessen<br />

fand, mir vor meinen Mitschülerinnen<br />

und Mitschülern Folgendes an meine<br />

Eltern mitzugeben: Falls ich im Winter je wieder mit<br />

Kniesocken in der Schule erscheine, werde er die Vormundschaftsbehörde<br />

benachrichtigen.<br />

Meine Mutter hatte trotzdem nicht nachgegeben:<br />

Strumpfhosen zog sie mir weiter nur an, wenn es<br />

schneite und wenn wir Ski fahren gingen. Die Aufsichtsbehörde<br />

ist zum Glück trotzdem nie bei uns vorstellig<br />

geworden.<br />

Jahre später sprach ich meine Mutter auf den Vorfall<br />

mit Lehrer Halder an. Sie fragte zurück: Bist du in<br />

deiner Schulzeit je krank gewesen? In der Tat: Ich<br />

konnte mich nicht daran erinnern, je gefehlt zu haben<br />

– ausgenommen für eine Mandeloperation.<br />

Nun, Erziehung ist etwas Individuelles, und es ist<br />

für Aussenstehende nicht immer leicht zu erkennen,<br />

ob die gewählten Methoden gerade noch akzeptabel<br />

oder schon schädlich sind. Bei meiner Mutter galt das<br />

Credo: Kinder darf man niemals «verweichlichen»!<br />

Egal, ob es Bindfäden regnete oder Vorhänge schneite:<br />

Wir mussten bei jedem Wetter raus. Und die Fenster<br />

im Schlafzimmer standen in der Nacht zu jeder Jahreszeit<br />

speerangelweit offen. Schien uns drei Kindern<br />

die Raumtemperatur zu frisch, hiess es, wir sollten<br />

einen Pullover anziehen.<br />

Im Erwachsenenleben ist mir diese «Abhärtung»<br />

immer wieder zugutegekommen. Bei keinem Arbeitgeber<br />

war ich je länger als einen halben Tag krankheitshalber<br />

abwesend. Und ich war mein Leben lang –<br />

anders als die meisten Kolleginnen und Kollegen – frei<br />

von der ständigen Selbstbeobachtung, ob mir gerade<br />

zu heiss oder zu kalt ist. Es ist einfach, wie es ist.<br />

Meine Kinder machten das Fenster jeweils zu, sobald<br />

ich die Türe des Kinderzimmers zugemacht hatte.<br />

Frischluftzufuhr war definitiv nicht ihr Ding. Mehr als<br />

nur einmal ertappte ich eine meiner Töchter dabei,<br />

wie sie vor dem Zubettgehen die Bettwäsche föhnte.<br />

Ich glaube, es wäre ihr grösster Wunsch gewesen,<br />

einen Heizofen direkt neben dem Bett stehen zu<br />

haben.<br />

Trotzdem trugen sie zu Teenagerzeiten bauchfrei.<br />

Dazu zu jeder Jahreszeit Turnschuhe – zumindest<br />

sahen sie für mich immer danach aus –, was mit Stulpen<br />

über den Wollstrümpfen ausgeglichen wurde, die<br />

bei Regen und Schnee zusammen mit den Turnschuhen<br />

pflotschnass wurden. Übereinander angezogene<br />

Sweatshirts mit Kapuzen (Hoodies genannt) machten<br />

offenbar den zu meinen Zeiten gängigen und daher<br />

spiessigen Regen- oder Wintermantel wett.<br />

Es ist meine Überzeugung, dass man als Eltern<br />

nicht nur die psychische Resilienz, sondern auch die<br />

physische Robustheit fördern kann und muss. Gleichzeitig<br />

bin ich aber auch überzeugt, dass das Diktat der<br />

Peergroup in modischen Belangen bis zu einem<br />

gewissen Grad beachtet werden muss: Jugendliche<br />

wollen in der Regel das tragen, was die andern tragen.<br />

Es geht ums Selbstwertgefühl. Und dieses zu stärken,<br />

schien mir ebenso wichtig – wichtig genug jedenfalls,<br />

um den einen oder anderen Schnupfen in Kauf zu<br />

nehmen.<br />

STIFTUNG ELTERNSEIN<br />

«Eltern werden ist nicht schwer,<br />

Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />

Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />

Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein<br />

an. Sie richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern<br />

und Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen<br />

Eltern, Kindern, Lehrern und die Vernetzung der elternund<br />

erziehungsrelevanten Organisationen in der<br />

deutschs prachigen Schweiz. Die Stiftung Elternsein<br />

gibt das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus.<br />

www.elternsein.ch<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>57


Elterncoaching<br />

Wer sind eigentlich diese<br />

Leute in meinem Haus?<br />

Wer aufhört, sich gegenseitig kennenzulernen, wird sich fremd –<br />

das gilt auch für unsere engsten Beziehungen.<br />

Fabian Grolimund<br />

ist Psychologe und Autor («Mit<br />

Kindern lernen»). In der Rubrik<br />

«Elterncoaching» beantwortet<br />

er Fragen aus dem Familienalltag.<br />

Der 38-Jährige ist verheiratet<br />

und Vater eines Sohnes, 5,<br />

und einer Tochter, 2. Er lebt<br />

mit seiner Familie in Freiburg.<br />

www.mit-kindern-lernen.ch<br />

www.biber-blog.com<br />

Manchmal ist es gerade<br />

die enge Beziehung zum Kind,<br />

die es uns schwer macht,<br />

bestimmte Dinge zu sehen oder<br />

an uns heranzulassen.<br />

Zu Beginn einer Beziehung<br />

können wir einander<br />

gar nicht genug<br />

erzählen. Wir wollen<br />

die Gedanken, Träume<br />

und Ängste des Partners oder der<br />

Partnerin kennenlernen, die letzten<br />

Winkel seiner respektive ihrer Persönlichkeit<br />

ausloten. Alles ist neu<br />

und interessant, und wir befinden<br />

uns auf einer Entdeckungsreise. Mit<br />

den Jahren holt uns der Alltag ein.<br />

Die Beziehung läuft gut, doch<br />

man redet weniger miteinander. Die<br />

Gespräche werden flacher, und<br />

sobald Kinder dazukommen, geht es<br />

bald vorwiegend um Organisatorisches:<br />

Wer ist wann zu Hause? Wer<br />

fährt die Kinder wann wohin? Routine<br />

breitet sich aus. Gefangen im<br />

Alltag kann es uns passieren, dass<br />

wir Veränderungen nicht mehr mitbekommen,<br />

unser Bild des Gegenübers<br />

nicht mehr aktualisieren, die<br />

gemeinsame Entwicklung ins Stocken<br />

gerät – bis wir eines Tages feststellen,<br />

dass wir uns auseinandergelebt<br />

haben. Dabei kann uns gerade<br />

unsere gemeinsame Geschichte zum<br />

Verhängnis werden.<br />

Gemeinsame Geschichte kann uns<br />

verbinden, aber auch entfremden<br />

Wenn uns mit einem Menschen viele<br />

Jahre und eine gemeinsame Geschichte<br />

verbinden, gehen wir davon<br />

aus, dass wir ihn dadurch umso besser<br />

kennen. Wir wissen, woher er<br />

kam, was er erlebt und was ihn geprägt<br />

hat. Wir können auf gemeinsame<br />

Erfahrungen und viele Gespräche<br />

zurückblicken. Das ist etwas<br />

Wertvolles und Wunderbares, das<br />

uns verbinden kann.<br />

Es kann jedoch auch verhindern,<br />

dass wir die andere Person so sehen,<br />

wie sie ist. Wir haben uns ein Bild<br />

dieses Menschen gemacht, und es<br />

fällt uns entsprechend schwerer, zu<br />

sehen, was an ihm neu und anders<br />

ist. Wir können blind werden für<br />

Entwicklungen, die für Aussenstehende<br />

offensichtlich sind. Besonders<br />

eindrücklich beschreibt dies der<br />

Schriftsteller Daniel Pennac in seinem<br />

Buch «Schulkummer». Inzwischen<br />

einer der bekanntesten Autoren<br />

Frankreichs, war er in seiner<br />

Schulzeit ein schlechter Schüler, um<br />

den sich seine Mutter zeitlebens Sorgen<br />

machte.<br />

Pennac schildert im Epilog eine<br />

Szene, in der er mit seinem Bruder<br />

und seiner Mutter im Wohnzimmer<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

58 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


sitzt und sich einen Film über sein<br />

schriftstellerisches Werk anschaut:<br />

«Mama schaut sich also diesen Film<br />

an, neben ihr mein Bruder Bernard,<br />

der ihn für sie aufgenommen hat. Sie<br />

schaut sich den Film an, von der ersten<br />

bis zur letzten Minute, mit un ­<br />

verwandtem Blick, reglos in ihrem<br />

Sessel, mucksmäuschenstill, während<br />

es draussen Abend wird. Ende<br />

des Films. Abspann. Stille. Dann,<br />

während sie sich langsam zu<br />

Bernard hindreht: ‹Glaubst du, dass<br />

er es eines Tages schafft?›»<br />

Vielleicht haben Sie mit Ihren<br />

Eltern weniger drastische, aber ähnliche<br />

Erfahrungen gemacht und hätten<br />

bei Besuchen im Erwachsenenalter<br />

manchmal am liebsten gesagt:<br />

«Du behandelst mich, als wäre ich<br />

noch immer sechzehn!»<br />

Phasen, die intensiv waren und in<br />

denen wir viel Zeit miteinander verbracht<br />

haben, prägen unsere Wahrnehmung.<br />

Vielleicht hilft uns dieser<br />

Gedanke dabei, bei Besuchen nachsichtiger<br />

mit unseren Eltern zu sein.<br />

Das Bewusstsein um die Macht der<br />

Erinnerungen kann uns aber auch<br />

dabei helfen, uns selbst mehr zu öffnen<br />

und uns immer wieder vorzunehmen,<br />

genau hinzuschauen und<br />

hinzuhören, damit wir wichtige Entwicklungen<br />

bei anderen mitbekommen.<br />

Erinnerungen sind aber nicht die<br />

einzige Hürde, wenn es darum geht,<br />

uns auf Nahestehende einzulassen.<br />

Wir haben es doch gut!<br />

Als seine Frau die Scheidung einleitete,<br />

meinte ein Bekannter zu mir:<br />

«Aber wir hatten es doch immer gut<br />

miteinander!» Davon war er felsenfest<br />

überzeugt. Doch seine Frau sah<br />

das anders, und zwar seit Jahren.<br />

Bezeichnend ist das «Wir» in seinem<br />

Satz. Studien zeigen, dass wir<br />

in engen Beziehungen dazu neigen,<br />

unsere Gefühle auf andere zu übertragen.<br />

Das passiert uns auch bei<br />

unseren Kindern, wie Dr. Belén<br />

López-Pérez von der Plymouth University<br />

zeigen konnte. Sie liess Eltern<br />

einschätzen, wie glücklich ihre Kinder<br />

sind. Dabei zeigte sich: Die Einschätzung<br />

der Eltern stimmte nicht<br />

besonders gut mit der Einschätzung<br />

der Kinder und Jugendlichen überein,<br />

dafür mit der Selbsteinschätzung<br />

der Eltern. Glückliche Eltern<br />

überschätzten das Glück ihrer Kinder,<br />

während unzufriedene es unterschätzten.<br />

Die unbewusste Annahme,<br />

dass es unserer Familie in etwa<br />

so geht wie uns, verstellt uns den<br />

Blick.<br />

Wünsche verzerren unsere<br />

Wahrnehmung<br />

Zu guter Letzt stehen uns auch unsere<br />

Wünsche im Weg. Die meisten<br />

Eltern überschätzen ihre Kinder systematisch.<br />

Sie halten sie für leistungsfähiger,<br />

intelligenter, musikalischer<br />

oder sportlicher, als sie es<br />

tatsächlich sind. Bis zu einem gewissen<br />

Grad ist das auch nicht schädlich.<br />

Wie eine Studie von Eddie Brummelman<br />

zeigt, überschätzen einige<br />

Eltern – besonders diejenigen, die<br />

sich selbst als etwas Besonderes<br />

sehen – ihre Kinder jedoch sehr<br />

stark. Das kann zu Problemen führen,<br />

weil sie in der Folge erwarten,<br />

dass ihr Kind aus der Menge heraussticht<br />

und Grosses leistet. Warnungen<br />

anderer Bezugspersonen, z. B.<br />

der Lehrpersonen, dass die Eltern<br />

ihr Kind überfordern, führen bei<br />

diesen Eltern meist nur zu Ärger<br />

und Unglauben. Zu hohe Erwartungen<br />

können ein Kind unter Druck<br />

setzen, den viele Eltern wiederum<br />

nicht wahrnehmen.<br />

Eine Vielzahl von Studien zeigt:<br />

Kindern und Jugendlichen geht es<br />

heute im Allgemeinen gut. Sie sind<br />

mit ihrem Leben zufrieden und<br />

kommen mit den Anforderungen<br />

zurecht. Es gibt jedoch auch Kinder<br />

und Jugendliche, die hohen Belastungen<br />

ausgesetzt sind und von<br />

denen mehr erwartet wird, als sie<br />

leisten können. In diesem Zusammenhang<br />

fand ich eine Studie von<br />

Holger Ziegler der Universität Bielefeld<br />

bedrückend. Er untersuchte<br />

Glückliche Eltern überschätzen<br />

das Glück ihrer Kindern,<br />

während unzufriedene<br />

es unterschätzen.<br />

über tausend Kinder und ihre Eltern<br />

und mass dabei den Stresslevel der<br />

Kinder. Bei den besonders belasteten<br />

Kindern liess er die Eltern den<br />

Stress der Kinder einschätzen. Dabei<br />

zeigte sich: 87 Prozent der Eltern<br />

nahmen den Druck der Kinder nicht<br />

wahr, obwohl diese deutliche Symptome<br />

zeigten. Ein Grossteil dieser<br />

Eltern glaubte sogar, das eigene<br />

Kind nicht genug zu fördern.<br />

Ich kenne mein Kind immer noch<br />

am besten!<br />

In vielerlei Hinsicht stimmt der Satz<br />

«die Eltern kennen ihr Kind am besten».<br />

Aber manchmal ist es gerade<br />

die enge Beziehung zum Kind, die<br />

es uns schwer macht, bestimmte<br />

Dinge zu sehen oder an uns heranzulassen.<br />

Was von unseren Vorstellungen,<br />

unserem eigenen Empfinden<br />

oder unseren Wünschen abweicht,<br />

nehmen wir als Eltern teilweise<br />

weniger wahr als Aussenstehende.<br />

Das Wissen darum kann uns<br />

dazu verhelfen, neugierig und offen<br />

zu bleiben und uns darum zu bemühen,<br />

unsere Kinder und unseren<br />

Partner, unsere Partnerin immer<br />

wieder neu kennenzulernen.<br />

In der nächsten Ausgabe:<br />

Unterschiedliche Erziehungstile – Problem oder<br />

Chance?<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>59


Erziehung & Schule<br />

Aggressive Kinder –<br />

was ist normal?<br />

Wutanfälle, herumschreien, das kleine Geschwister hauen – wer Kinder erzieht,<br />

kennt diese Ausbrüche. Was aber, wenn die Aggression extrem wird? Text: Jacqueline Esslinger<br />

Welche Form von<br />

aggressivem<br />

Verhalten bei<br />

Kindern auftritt,<br />

ist stark<br />

altersabhängig. Bereits Säuglinge ab<br />

rund sechs Monaten können Ärger<br />

ausdrücken, sie verfolgen jedoch<br />

keine Schädigungsabsicht. Im zwei­<br />

ten und dritten Lebensjahr hingegen<br />

sind Wutanfälle und aggressives<br />

Verhalten nicht ungewöhnlich und<br />

richten sich oft gezielt gegen Er ­<br />

wachsene und andere Kinder. Ab<br />

dem Grundschulalter sind ge ­<br />

schlechtstypische Muster bei der<br />

Ag gressionsäusserung sichtbar:<br />

Buben scheinen eher offene und<br />

körperliche Formen von Aggression<br />

zu zeigen. Bei Mädchen hingegen<br />

kommen häufiger verdeckte sowie<br />

verbale Formen vor. Beispiele sind<br />

Lügen und die Verbreitung von<br />

Gerüchten, etwa um einer Person zu<br />

schaden oder sie auszuschliessen.<br />

Aggressives Verhalten im Kindes-<br />

und Jugendalter wurde in gross<br />

Bild: Adam Burn / 13 Photo<br />

60 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


angelegten Studien wie beispielsweise<br />

der KiGGS/BELLA-Studie bei bis<br />

zu acht Prozent der unter 17-Jährigen<br />

festgestellt. Es zeigt sich nicht<br />

nur in physischen Angriffen, sondern<br />

auch in verbaler Gewalt, Mobbing<br />

und Diebstählen.<br />

In der Adoleszenz ist aggressives<br />

Verhalten in der Regel weniger häufig<br />

zu beobachten. Im Gegensatz zu<br />

kleinen Kindern, die Emotionen<br />

oder Impulse direkt ausdrücken,<br />

werden im Laufe der Jahre Selbstkontrolle<br />

und hemmende Mechanismen<br />

gelernt. Allerdings fällt das<br />

aggressive Verhalten oft heftiger aus<br />

als im Kleinkindalter, bedingt durch<br />

zunehmende körperliche Kraft,<br />

mehr Freiheiten ausser Haus und<br />

grössere finanzielle Ressourcen.<br />

Entsprechend tritt die höchste Frequenz<br />

von aggressivem Verhalten<br />

im Vorschulalter auf, die gravierendsten<br />

Ausprägungen jedoch in<br />

Im Vorschulalter ist die höchste<br />

Frequenz von Aggression zu<br />

beobachten, in der Adoleszenz<br />

die gravierendste Ausprägung.<br />

der Jugendzeit und im frühen<br />

Erwachsenenalter.<br />

Unter oppositionellem Trotzverhalten<br />

wird wiederholt trotziges,<br />

ungehorsames und verweigerndes<br />

sowie feindseliges Verhalten gegenüber<br />

Autoritätspersonen zusammengefasst.<br />

Auch dies zählt zu<br />

aggressivem Verhalten, da oppositionelle<br />

Kinder schnell wütend<br />

reagieren und ausrasten und sich<br />

Regeln widersetzen. In Abgrenzung<br />

dazu tendieren Kinder mit einer<br />

Störung des Sozialverhaltens zu Einschüchterungen,<br />

Körperverletzung,<br />

Von Kindern, die stark oppositionell<br />

auffällig sind, entwickelt rund die<br />

Hälfte eine Störung des Sozialverhaltens.<br />

Zeigt ein Kind schon sehr<br />

jung Muster von Aggressivität,<br />

behält es diese oft bei und läuft<br />

Gefahr, delinquent zu werden. Tritt<br />

das strafrechtlich auffällige Verhalten<br />

schon früh auf, etwa im Alter<br />

von 14 Jahren, steigt die Wahrscheinlichkeit<br />

für dauerhaftes kriminelles<br />

Verhalten. Oppositionelles<br />

Verhalten ist jedoch ein typisches<br />

Merkmal der frühen Kindheit<br />

(Trotzalter) und der Adoleszenz.<br />

Waffengebrauch und Tierquälerei. Eine Diagnose im Sinne einer >>>


Erziehung & Schule<br />

Oppositionelles Verhalten<br />

ist ein typisches Merkmal<br />

der frühen Kindheit und<br />

der Adoleszenz.<br />

>>> Verhaltens störung wird deshalb<br />

erst in Betracht gezogen, wenn<br />

Aggression häufiger sowie mit<br />

schwerwiegenderen Folgen auftritt<br />

als bei anderen Kindern und es für<br />

die Entwicklungsstufe des Kindes<br />

angemessen wäre. Das Verhalten<br />

muss über einen Zeitraum von sechs<br />

Monaten auftreten und familiäre,<br />

soziale oder schulische Bereiche<br />

drastisch beeinträchtigen.<br />

Für aggressives Verhalten bei<br />

Kindern gibt es vielfältige Ursachen.<br />

Diese müssen unbedingt im Einzelfall<br />

untersucht werden. Die klassische<br />

Absicht der Aggression wird als<br />

egoistische Durchsetzung eigener<br />

Bedürfnisse und bewusste Schädigung<br />

und Verletzung anderer<br />

beschrieben. Aggressives Verhalten<br />

kann jedoch auch Ausdruck von<br />

Angst und Unsicherheit sein. Diese<br />

Kinder fühlen sich schneller bedroht<br />

und angegriffen als andere. Sie handeln<br />

aus einer eigenen Abwehrhaltung,<br />

bedingt durch soziale Un ­<br />

sicherheit, heraus. So nehmen diese<br />

Kinder Bedrohungen vermehrt<br />

wahr und reagieren übersensibel.<br />

Zweifel an der Zuneigung<br />

Bedrohliche Situationen lösen ein<br />

inneres Spannungsgefühl aus, ein<br />

Wutausbruch soll diese Spannung<br />

wieder abbauen. Betroffene Kinder<br />

scheinen an der Zuneigung ihres<br />

Umfelds zu zweifeln und erwarten<br />

nicht selten übermässige soziale<br />

Anerkennung. Aggressives Verhalten<br />

wird so zum Mittel, um sich<br />

Respekt zu verschaffen. Dies funktioniert<br />

besonders gut, wenn das<br />

Umfeld mit Respekt, Angst oder<br />

sogar Unterwürfigkeit antwortet. Je<br />

öfter dann soziale Angst mit aggressivem<br />

Verhalten gelöst wird, desto<br />

stabiler wird das Muster, auch in<br />

Zukunft aggressiv zu handeln.<br />

Ein weiterer möglicher Auslöser<br />

von aggressivem Verhalten kann<br />

eine Krise im sozialen Umfeld des<br />

Kindes sein, beispielsweise Konflikte<br />

in der Paarbeziehung der Eltern<br />

oder Stress in der Familie. Dies<br />

bedeutet nicht, dass alle partnerschaftlichen<br />

Konflikte oder Stress<br />

dazu führen, dass ein Kind aggressiv<br />

wird. Es wurde aber festgestellt, dass<br />

Kinder in Familienkrisen eher zu<br />

aggressivem Verhalten neigen.<br />

Familien in Belastungssituationen<br />

sind besonders gefährdet, da schwere<br />

Belastungen das Erziehungsver­<br />

halten und die Kapazität der Eltern<br />

beeinflussen. Zeigen die Eltern<br />

selbst manchmal aggressives Verhalten,<br />

wird dies zu einer hohen Wahrscheinlichkeit<br />

vom Kind übernommen,<br />

auch wenn die Situationen<br />

verschieden sind oder sich die<br />

Aggression nicht gegen das Kind,<br />

sondern gegen Erwachsene richtet.<br />

Weitere Ursachen sind Vernachlässigung<br />

und Misshandlung,<br />

manchmal jedoch auch eine Veränderung<br />

der Lebenssituation wie zum<br />

Beispiel ein Umzug in eine neue<br />

Stadt und ein Schulwechsel.<br />

Auch genetische Faktoren spielen<br />

eine Rolle. Kinder mit aggressivem<br />

Verhalten weisen meist eine mangelnde<br />

Impulskontrolle und niedrige<br />

Frustrationstoleranz auf. Kinder<br />

mit ADHS haben ein höheres Risiko<br />

für oppositionelles Trotzverhalten.<br />

So zeigen zwei von drei Kindern mit<br />

hyperkinetischer Störung auch<br />

aggressives Verhalten. Darüber hinaus<br />

scheinen impulsive Jugendliche<br />

weniger schnell aus ihren Erfahrungen<br />

zu lernen und Konsequenzen<br />

schlechter abschätzen zu können.<br />

Das Kind wird schnell zum Störelement<br />

seines sozialen Umfeldes, es<br />

wird als aggressiv und unkontrollierbar<br />

erlebt. Nicht selten ist das<br />

Kind deshalb weniger beliebt und<br />

wird selbst Opfer aggressiver Handlungen.<br />

Es kann ein Teufelskreis der<br />

Aggression und Unbeliebtheit entstehen.<br />

Kinder und Jugendliche gesucht!<br />

Eine neue Studie (7 Tage) der Universität Freiburg<br />

möchte den Zusammenhang zwischen Regulationsschwierigkeiten<br />

und der Konzentration von Stresshormonen<br />

im Körper untersuchen. Dazu sammeln wir<br />

Speichelproben (kurz auf einer Watterolle kauen,<br />

anonymes Senden ins Labor) von vielen Kindern. Die<br />

Proben werden ergänzt durch Fragen über das<br />

momentane Befinden von Eltern(teil) und Kind.<br />

Mitmachen können alle Familien mit Kindern und<br />

Jugendlichen zwischen 8 und 15 Jahren! Besonders<br />

aufrufen möchten wir Eltern von Kindern mit ADHS oder<br />

aggressivem Verhalten. Alle anderen Kinder werden für<br />

den Vergleich gesucht. Machen auch Sie mit! Mit Ihrer<br />

Teilnahme leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur<br />

Forschung über Regulierungsschwierigkeiten.<br />

Sie erhalten Studienergebnisse sowie 50 Franken<br />

(Gutschein) für Ihr Kind. – Kontakt: lama@unifr.ch oder<br />

über die Website fns.unifr.ch/lama<br />

62 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Aus der Perspektive der Kinder sind<br />

meistens die Eltern, die Lehrer, die<br />

anderen Kinder Schuld für ihre<br />

Reaktion. Häufig beurteilen sie selbst<br />

ihr Verhalten als nicht aggressiv.<br />

Mütter und Väter finden es jedoch<br />

herausfordernd, mit diesen Kindern<br />

Zeit zu verbringen, ebenso wie eine<br />

positive Beziehung zu ihnen aufzubauen.<br />

Ein weiterer Teufelskreis:<br />

Intensive Kinder mit beanspruchendem<br />

Verhalten sorgen für gestresste<br />

und/oder überanstrengte Eltern. Ist<br />

dieser Punkt erreicht, wird es schwierig,<br />

sensibel auf das Kind einzugehen,<br />

immer angemessen zu reagieren<br />

und emotional verfügbar zu bleiben.<br />

Kinder spüren solche Veränderungen.<br />

Oft versuchen sie, emotionale<br />

Aufmerksamkeit durch Provokation<br />

zu erlangen.<br />

Langfristig bewirkt aggressives<br />

Verhalten bei Kindern eine Einschränkung<br />

ihres Verhaltens und<br />

verhindert dadurch die Ausbildung<br />

der Fähigkeit, ein Problem konfliktfrei<br />

zu lösen. Es wird empfohlen,<br />

extremes Verhalten so früh wie<br />

möglich mit einer Fachperson zu<br />

besprechen. Aggressive Kinder<br />

haben ein hohes Risiko, von Gleichaltrigen<br />

abgelehnt zu werden, sowie<br />

für schulischen Misserfolg.<br />

Oft kann eine aussenstehende<br />

Person helfen – ein Berater oder eine<br />

Psychologin sowie andere Fachspezialisten<br />

können den Teufelskreis<br />

durchblicken und helfen, sich im<br />

Falle von Provokationen richtig zu<br />

verhalten. Sprechen Sie zudem mit<br />

der Lehrperson Ihres Kindes! Sie<br />

sieht es einen Grossteil des Tages<br />

und kann wichtige Informationen<br />

geben über Situationen, in denen<br />

das Verhalten auftritt, oder über vermutete<br />

Einflussfaktoren.<br />

Es ist wichtig, dass Eltern mit<br />

dem Kind üben, wie es Konflikte<br />

anders lösen kann. Hierbei ist konsequentes<br />

Reagieren und Intervenieren<br />

bedeutsam. Die Hilfestellung für<br />

alternative Umgangsweisen und Lob<br />

dafür sowie die eigene Vorbildhaltung<br />

sind erfolgversprechend, denn<br />

auch die Kinder sind oft mit ihrer<br />

eigenen Reaktion nicht wirklich<br />

glücklich. Das Kind zu fragen, was<br />

es braucht und zugrunde liegende<br />

Probleme zu ermitteln, gibt Aufschluss<br />

über mögliche Lösungen.<br />

Deshalb muss das Kind unbedingt<br />

miteinbezogen werden.<br />

>>><br />

Jacqueline Esslinger<br />

ist Psychologin und Doktorandin an der<br />

Universität Freiburg. Sie leitet eine neue Studie<br />

zur Regulation bei Kindern mit ADHS und<br />

aggressivem Verhalten.<br />

Infoabend:<br />

21. Nov.<br />

«Ihr Aus- und Weiterbildungsinstitut<br />

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Abschluss der Berufsausbildung.<br />

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Erziehung & Schule<br />

Wie Mathematik <br />

Freude macht<br />

Der Ansatz der «befreienden Pädagogik» zielt darauf ab, Kinder<br />

in ihrer Lebenswelt abzuholen. Das weckt Freude am<br />

Lernen und Lehren – mit überraschenden Erfolgen. Text: Stefan Meyer<br />

Mathematik<br />

beibringen?<br />

Ohne Druck und<br />

aus Erfahrungen<br />

lernt sichs<br />

besser.<br />

Leiterspiel im<br />

Kindergarten.<br />

Bild: S. Meyer<br />

Achten Sie einmal ge ­<br />

nau auf die Rutschbahnen<br />

in Ihrem<br />

Quartier. Wie viele<br />

Stufen haben sie? Auf<br />

die wievielte Stufe muss Ihre Tochter<br />

steigen, damit sie gleich gross ist wie<br />

Mama? Warum rutscht man auf der<br />

nassen Fläche schneller als auf der<br />

trockenen? Warum ist eine Rutschbahn<br />

schnell und die andere langsam?<br />

Wenn Sie solche Fragen im<br />

geeigneten Moment des Spielens<br />

und der Freude an den Bewegungen<br />

einstreuen, dann wird Ihr Kinder<br />

die eine oder andere aufgreifen –<br />

weil es erkennt, dass seine Interessen<br />

wirklich ernst genommen werden.<br />

Auch Abzählverse können Kinder<br />

dazu animieren, die Zahlen zu<br />

verwenden und auf neue Situationen<br />

zu übertragen: «Eins, zwei, drei,<br />

Der vierjährige Junge konnte<br />

nur bis zwei zählen. In seinem<br />

Lieblingsspiel wusste er jedoch<br />

genau, wie viel sechs Kühe sind.<br />

64 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


vier, fünf, sechs, sieben, Rutschbahn<br />

runter, du kannst fliegen.» Lehrpersonen<br />

berichten, dass der freudvolle<br />

Umgang mit der Rutschbahn Kindergarten-<br />

und Unterstufenkinder<br />

beseelt habe – und sie selber auch.<br />

Hand aufs Herz: Ziehen Sie selbst<br />

nicht auch freudvolles Lernen der<br />

Belehrung und dem Ab arbeiten von<br />

Stoff vor?<br />

Der brasilianische Pädagoge Paulo<br />

Freire fand heraus, dass das Vermitteln<br />

von Stoff durch Druck und<br />

die Meinung, dass Bildung Belehrung<br />

bedeute, Hauptfaktoren dafür<br />

sind, dass Interessen und Bedürfnisse<br />

der Lernenden unterdrückt werden.<br />

Das demotiviert und kann<br />

schlimme Folgen haben: von innerer<br />

Kündigung bis hin zu schweren<br />

Lernstörungen. Kinder reden dann<br />

zwar, aber immer mit dem Gefühl,<br />

dass das, was sie sagen, keine Bedeutung<br />

hat. Informationen werden<br />

nicht abgespeichert: Sie gehen zum<br />

einen Ohr rein und zum anderen<br />

wieder raus. Diese Mechanismen<br />

wirken auch auf Erziehende und<br />

Lehrpersonen destruktiv. Der Psychologe<br />

Paul Watzlawick nannte<br />

solche existenziellen Situationen<br />

«Spiel ohne Ende» – ein Teufelskreis,<br />

der entsteht, wenn Menschen<br />

nicht wissen, wie negative Mechanismen<br />

und Geschehnisse gestoppt<br />

werden können.<br />

Lesen und Schreiben in acht<br />

Wochen<br />

Auf diesen Erkenntnissen basierend<br />

hat Paulo Freire Methoden für die<br />

Alphabetisierung entwickelt, von<br />

denen Millionen Brasilianerinnen<br />

und Brasilianer profitieren konnten.<br />

Als Erstes erforschte er die Interessen<br />

und die Lebenserfahrungen >>><br />

Das flexible Interview<br />

Die gleichnamige Website der Interkantonalen<br />

Hochschule für Heilpädagogik HfH lädt dazu<br />

ein, mit der Methode des flexiblen Interviews zu<br />

arbeiten und zu forschen. Es werden bewährte<br />

Gesellschaftsspiele beschrieben, bei denen<br />

die Methode angewandt werden kann, und es<br />

wird gezeigt, wie Geldwerte oder Bruchzahlen<br />

besprochen werden können. Die Website informiert<br />

auch über die Methode «Empathie und Verstehen»<br />

von Nicola Cuomo. Ebenso wird auf ein<br />

Entwicklungsprojekt verwiesen, bei dem Kinder<br />

mit den Methoden von Paulo Freire Deutsch als<br />

Zweitsprache lernten. Zahlreiche Beobachtungen<br />

zeigen, wie freie Konversationen und auch das<br />

Freispiel den Unterricht positiv beeinflussen.<br />

www.interview.hfh.ch<br />

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nach der Behandlung.<br />

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Erziehung & Schule<br />

Wenn wir lernen wollen, wie<br />

man konkrete Probleme<br />

meistert, braucht es neue,<br />

kreative Methoden.<br />

>>> der Lernenden, ganz nach<br />

dem Motto: «Erst forschen, dann<br />

lehren.» Nach einer Analyse integrierte<br />

er die gesammelten Themen<br />

in Lese- und Schreibprojekte. Diese<br />

waren so erfolgreich, dass die Personen<br />

nach rund acht Wochen lesen<br />

und schreiben konnten. Ein weiterer<br />

wichtiger Aspekt seiner Methode ist<br />

der Dialog. Ein echter Dialog verändert<br />

die Beziehungen und die Emotionen<br />

der beteiligten Personen,<br />

während Belehrung einfach das<br />

«Spiel ohne Ende» fortsetzt.<br />

«Erst forschen, dann lehren»<br />

wurde auch zum Motto in der Ausbildung<br />

von Schulischen Heilpädagoginnen<br />

und Heilpädagogen an<br />

der Interkantonalen Hochschule für<br />

Heilpädagogik HfH. Dabei gingen<br />

die Dozierenden von einer Forschungsmethode<br />

aus, welche der<br />

Genfer Psychologe Jean Piaget mitseinen<br />

Mitarbeiterinnen entwickelt<br />

hat. Er nannte sie kritische Methode,<br />

später wurde sie auch flexibles Interview<br />

genannt (siehe Box Seite 65).<br />

Dabei gilt es, die Denkprozesse eines<br />

Kindes bestmöglich zur Sprache zu<br />

bringen, indem es auch zum Handeln<br />

motiviert wird. In einer freundschaftlichen<br />

Konversation werden<br />

die Bedeutungen von Gedanken und<br />

Handlungen fortlaufend besprochen<br />

und weiterentwickelt. Mit der Zeit<br />

konnte diese Methode immer besser<br />

in die Lehre der HfH und die Schulpraxis<br />

integriert werden.<br />

Lehren aus dem Bauernhof<br />

Wie funktioniert das genau? Lassen<br />

Sie mich zwei Fallbeispiele nennen:<br />

In Mathematikstunden im Kindergarten<br />

wurde bei einem vierjährigen<br />

Jungen festgestellt, dass er die Zahlen<br />

erst bis zwei kannte. Man befürchtete,<br />

dass er geistig entwicklungsverzögert<br />

sein könnte. Bei flexiblen<br />

Interviews entdeckte die Heilpädagogin,<br />

dass der Junge in seinem Lieblingsspiel<br />

mit dem Bauernhof sehr<br />

wohl wusste, wie viel sechs Kühe<br />

sind.<br />

Diese Entdeckung hatte Auswirkungen<br />

auf die Lehre: Der Junge und<br />

andere Kinder bekamen die Gelegenheit,<br />

Mathematik und Geometrie<br />

ausgehend vom Bauernhof oder<br />

anderen Lieblingsspielen zu lernen.<br />

Die Lehrpersonen hatten den Druck<br />

von Belehrung und Stofffülle überwunden,<br />

weil sie den Bauernhof als<br />

Sachthema für die mathematische<br />

Bildung erforscht hatten. Gleichzeitig<br />

hatten sie eingesehen, wie relativ<br />

belehrende Didaktik und deren Vorurteile<br />

sind, wenn Ressourcen der<br />

Kinder miteinbezogen werden.<br />

Das zweite Beispiel handelt von<br />

Erfahrungen, die Eltern und Lehrpersonen<br />

in Spiel- und Hausaufgabensituationen<br />

gesammelt haben.<br />

Sie lernten in einem Workshop, mit<br />

dem flexiblen Interview das Belehren<br />

zu überwinden und Gesellschaftsspiele<br />

für Kinder mit Behinderungen<br />

zugänglich zu machen.<br />

Dadurch wurden die Dialoge mit<br />

den Kindern sachlicher und freudvoller.<br />

Das Können hatte sich frei<br />

und wirkungsvoll entwickelt.<br />

Die Beispiele deuten an, dass Psychologen,<br />

Erziehende oder Lehrpersonen<br />

mit Kindern und Jugendlichen<br />

umgehen, als würden sie mit<br />

Freunden sprechen. Dabei lösen sie<br />

Probleme, mit denen ein Kind konfrontiert<br />

ist, und arbeiten gleichzeitig<br />

mit Materialien (oder Spielsachen)<br />

sowie mit Notizen. Die<br />

Richtigkeit der Resultate ist ein<br />

Nebenprodukt. Das freundschaftliche<br />

Klima ist reicher an sozialen<br />

Beziehungen und Emotionen als das<br />

Klima der Belehrung. Die Selbstbestimmung<br />

des Kindes ist angemessen<br />

integriert und nicht ausgeschlossen.<br />

So gelingt es in kürzester<br />

Zeit, Lebenserfahrungen und Interessen<br />

zu erforschen und für die Pädagogik<br />

nutzbar zu machen.<br />

Eine komplexe und schwierige<br />

Aufgabe steht an, wenn Fachpersonen,<br />

Lehrpersonen, Eltern und Lernende<br />

wahrnehmen, dass die Integration<br />

von Kindern, die anders sind<br />

als der Durchschnitt, nicht recht<br />

gelingen will. Betrachten wir die<br />

Aussage der Mutter eines Sohnes<br />

mit Trisomie 21. Sie blickte in einem<br />

Podiumsgespräch zufrieden auf die<br />

schulische Integration ihres Kindes<br />

zurück. Dass sie ihren Jungen jedoch<br />

vier Mal jeden Tag holen und bringen<br />

musste, belastete sie sehr. Wie<br />

wäre es, wenn Fachpersonen in ähnlichen<br />

Fällen nach Ressourcen im<br />

Quartier oder in der Gemeinde forschen<br />

würden? Wären andere Eltern<br />

oder ein Restaurant bereit, einer<br />

Familie mit einem Kind mit Behinderung<br />

zu helfen, auch wenn es nur<br />

um den Schulweg oder das Mittagessen<br />

geht? Paul Watzlawick betonte<br />

in einem Vortrag, dass der Ausweg<br />

aus dem «Spiel ohne Ende» über<br />

einfache Handlungen ge schieht.<br />

Die Entwicklung von integrativer<br />

Bildung und Erziehung erfordert<br />

neue Methoden (siehe Box S. 67).<br />

Das beginnt bei der Diagnose der<br />

Ressourcen der Kinder, der Eltern,<br />

der Grosseltern, in der Schule und<br />

im Quartier. Es ist einfacher, Defizite<br />

zu diagnostizieren und diese isoliert<br />

zu behandeln. Gemeinhin<br />

denkt man dann, dass das Kind oder<br />

die Jugendlichen mit Behandlungen<br />

66 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


«versorgt» seien und sich die Sachlage<br />

verbessern werde. Doch häufig<br />

ist das ein Trugschluss.<br />

Unkonventionelle Methoden<br />

Wenn wir lernen wollen, wie man<br />

konkrete Probleme meistert, braucht<br />

es neue, kreative, dialogische und<br />

unkonventionelle Methoden. Das<br />

Interesse an der Sache, an den Kompetenzen,<br />

an Beziehungen und an<br />

der Selbstbestimmung steht dabei<br />

im Zentrum. Wenn in Besprechungen<br />

oder Supervisionen festgestellt<br />

wird, dass eine Entwicklung ausbleibt<br />

und Freude oder das Gefühl<br />

von Freiheit fehlen, müssen die Projekte,<br />

die Ziele, die Beziehungen und<br />

die Methoden nochmals überarbeitet<br />

werden. Dieses Vorgehen lehnt<br />

sich an das Integrationskonzept<br />

«Empathie und Verstehen» des Bologneser<br />

Pädagogen Nicola Cuomo an.<br />

Zurück zur Mathematik: Georg Cantor,<br />

der Begründer der Mengenlehre,<br />

schrieb einmal: «Das Wesen der<br />

Mathematik liegt gerade in ihrer<br />

Freiheit.» Er hätte sich über den<br />

Anblick einer Kindergartengruppe<br />

gefreut, die auf einem Platz Zahlenfelder<br />

zu einem riesigen Hüpfspiel<br />

aufgemalt hatte, das bis zu einer Million<br />

reichte. Solche Aktionen sind<br />

Sternstunden der befreienden Pädagogik.<br />

>>><br />

Stefan Meyer<br />

lic. phil., ist Dozent im Masterstudiengang<br />

Sonderpädagogik SHP, Schwerpunkt<br />

Pädagogik bei Schulschwierigkeiten, an der<br />

Interkantonalen Hochschule für<br />

Heilpädagogik. Eine Liste mit empfohlener<br />

Literatur und Links kann angefordert werden<br />

über: Stefan.Meyer@hfh.ch.<br />

Das MKT-Testsystem<br />

Ausgehend von den Prinzipien der befreienden<br />

Pädagogik, des flexiblen Interviews und des<br />

Integrationskonzepts Empathie und Verstehen<br />

wurde auch ein Testsystem für die Diagnose<br />

und Förderung in Mathematik von der<br />

1. bis zur 9. Klasse entwickelt und normiert.<br />

Im Kern befassen sich die verschiedenen<br />

Testmethoden nicht nur mit kognitiven Fachkompetenzen,<br />

sondern mit der Empathie und<br />

dem Verstehen von Mathematik im Bildungssystem.<br />

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Do sier<br />

Der 9-jährige Emilio<br />

hat Autismus. Rituale<br />

bestimmen sein<br />

Leben. Mehrmals am<br />

Tag geht er in den<br />

Wäscheraum und<br />

beobachtet die<br />

drehenden Trommeln.<br />

Programmierende<br />

Primarschüler?<br />

An der Bläsi-Schule<br />

Basel ist das<br />

bereits Realität.<br />

Digital & Medial<br />

Digital & Medial<br />

Dossier sier<br />

«Wir halten an alten<br />

Lernvorstellungen fest»<br />

«Bei Pflegekindern ist<br />

das Thema Autismus<br />

sehr wichtig»<br />

(Dossier «Autismus», Heft 8/<strong>2017</strong>)<br />

Das andere Kind –<br />

leben mit Autismus<br />

Eine Störung für die einen, eine Wesensart für die anderen<br />

und eine Herausforderung für a le. Das ist Autismus.<br />

Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist davon betroffen.<br />

Was heisst das für das Kind? Was für seine Eltern?<br />

Und vor a lem: Wer hilft?<br />

Text: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />

10 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August <strong>2017</strong> 1<br />

Unsere Fachstelle hat gerade heute wieder Ihr tolles Magazin<br />

erhalten. Vielen Dank! Wir legen Ihr Heft gerne auf und verteilen es<br />

auch gezielt an Eltern, die vom aktuellen Thema direkt betroffen sind.<br />

Gerade bei Pflegekindern ist dieses Thema sehr wichtig.<br />

Cécile Manser, Pflegekinder-Aktion, St. Gallen (via Mail)<br />

«Schule und<br />

Elternhaus müssen<br />

zusammen Lösungen<br />

suchen»<br />

« Wenn es<br />

wehtut,<br />

lache ich»<br />

Rauswurf aus dem Chat, beleidigende und bedrohliche<br />

Textnachrichten: Cybermobbing hinterlässt keine blauen<br />

Flecken, richtet aber bei betro fenen Kindern und<br />

Jugendlichen viel Leid an. So auch bei der 14-jährigen Laila*.<br />

Sie lässt ihre Mu ter Renata Weiss* beschreiben,<br />

wie sehr Eltern mitleiden.<br />

Aufgezeichnet: Sarah King Bilder: Stephan Ra po / 13 Photo<br />

68 September <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

(Thema Mobbing: «Wenn es weh tut, lache ich»,<br />

9/<strong>2017</strong>)<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi September <strong>2017</strong> 69<br />

Das Beste ist, wenn Schule und Elternhaus gemeinsam Lösungswege<br />

suchen und gehen! Weder nur Schule noch nur Elternhaus<br />

können alleine genug Schutz bieten.<br />

«Erziehung zur Menschlichkeit!»<br />

(Dossier «Autismus», Heft 8/<strong>2017</strong>)<br />

Karin Holzherr-Widmer (via Facebook)<br />

Sie geben einen sehr guten Einblick in die Welt von autistischen<br />

Menschen. Wie beim Thema Depression (mein Lebensthema) ist<br />

es wichtig, die Gesellschaft umfassend zu informieren. Am besten<br />

durch Kontakte mit Beziehungspersonen und – soweit das möglich<br />

ist – mit Betroffenen. Und möglichst früh. Schon im Kindergarten –<br />

eben auf kindgerechte und nicht überfordernde Weise: Erziehung<br />

zur Menschlichkeit!<br />

Reinhard (auf www.fritzundfraenzi.ch)<br />

Anzeige<br />

«Der Artikel<br />

macht mir Mut»<br />

Die digitale<br />

Schule<br />

Schon bald benötigen wir in 90 Prozent<br />

a ler Berufe digitale Kompetenzen.<br />

Wie bereiten die Schweizer Schulen<br />

unsere Kinder auf diese Berufswelt vor?<br />

Warum ist es so schwierig, digitales<br />

Lernen einzuführen? Und lernt man am<br />

Tablet besser als mit dem Schulheft?<br />

Eine Spurensuche.<br />

Text: Bianca Fritz, Virginia Nolan (Porträts)<br />

Bilder: Rita Palanikumar / 13 Photo<br />

10 Oktober <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/<strong>2017</strong>)<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Oktober <strong>2017</strong> 1<br />

Bild: Christian Aeberhard / 13 Photo<br />

Danke. Unsere Tochter hat seit gestern ihr eigenes Handy,<br />

und der Artikel macht mir Mut...<br />

Gymnasium | Sekundarschule A<br />

Mittelschulvorbereitung > www.nsz.ch<br />

Info-Abend<br />

Mittwoch, 8. November, 18 Uhr<br />

Irene (auf www.fritzundfraenzi.ch)<br />

...von der 1. Sek bis zur Matura<br />

68 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Wo die Familie<br />

zusammenkommt,<br />

musiziert sichs<br />

be ser.<br />

Leserbriefe<br />

«Wir haben uns die Zähne<br />

ausgebissen»<br />

(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/<strong>2017</strong>)<br />

Digitale Kompetenz umfasst unterschiedliche Bereiche. Der<br />

Umgang mit sozialen Medien ist nur ein Aspekt. Was ist beispielsweise<br />

mit der Organisation sämtlicher technischer Geräte<br />

inklusive Foto- und Musikverwaltung in einem Haushalt mit<br />

mehreren Desktops? Bei diesem Thema haben wir Eltern uns<br />

schon die Zähne ausgebissen. Zum guten Glück haben wir etwas<br />

Ahnung. Dennoch bin ich der Meinung, dass dies dringend ins Fach<br />

ICT gehört. Wir haben immer mehr Daten, die wir auch privat<br />

verwalten müssen. In der Schweiz haben wir zudem einen Mangel<br />

an ausgewiesenen Programmierern. Die Zukunft hat begonnen<br />

und wird noch digitaler. Ich danke Ihnen für diese Ausgabe von<br />

Fritz+Fränzi und den Anstoss. Es muss sich dringend etwas tun!<br />

«Freue mich darauf,<br />

Erkenntnisse aus der<br />

Lektüre umzusetzen»<br />

(«Spielen statt üben»,<br />

Heft 10/<strong>2017</strong>)<br />

Spielen statt üben!<br />

Ein Kind möchte ein Instrument lernen. Die Eltern unterstützen diesen Wunsch, mieten<br />

ein Instrument und melden das Kind bei der Musikschule an. Bald folgt die Ernüchterung:<br />

das Kind will nicht üben. Damit zu Hause Musik sta t Streit erklingt, brauchen kleine<br />

Anfänger die richtige Unterstützung. Text und Bilder: Siby le Dubs<br />

Ich möchte mich bedanken bei euch. Eigentlich lese ich keine<br />

Erziehungsratgeber, aber Ihr greift so vielseitige Themen auf, da ist<br />

immer mindestens ein Artikel dabei, der mich brennend interessiert<br />

und mich auch zum Nachdenken und Umdenken anregt. Ich bin<br />

sowohl beruflich als auch persönlich begeistert vom Schweizer<br />

ElternMagazin. Auch dass es so breit gestreut wird in Schulen und<br />

Institutionen, finde ich toll. Aus der aktuellen Oktober-Ausgabe konnte<br />

ich etwas mitnehmen zum Thema Medienerziehung und Musik<br />

spielen. Freue mich darauf, es umzusetzen. Macht unbedingt so<br />

weiter.<br />

Gabriela Fust (via Facebook)<br />

Sonja, Zürich (per Mail)<br />

«Mir kam ‹Entschulung der Gesellschaft›<br />

in den Sinn»<br />

(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/<strong>2017</strong>)<br />

Danke für die unaufgeregten Aussagen von Philippe Wampfler. Seine<br />

Aussage «Auch die Wandtafel ist ein Medium» sagt vieles aus, wie<br />

Medien für den Unterricht sinnvoll genutzt werden können.<br />

Beim Lesen kam mir Ivan Illichs Buch «Entschulung der Gesellschaft»<br />

in den Sinn: «Einzurichten sind netzartige Strukturen, auch Beziehungsstrukturen,<br />

die allen freien Zugang zu allem ermöglichen, was<br />

für formales Lernen genutzt werden kann (Dinge, Orte, Prozesse,<br />

Verfahren, Ereignisse und Informationen). Die Pädagogen begleiten<br />

die Schülerinnen und Schüler dabei als ‹primus inter pares› auf<br />

schwierigen intellektuellen Erkundungsreisen.» (Zusammenfassung<br />

aus Ivan Illichs «Entschulung der Gesellschaft», eine Streitschrift<br />

(6. Auflage). München: C.H. Beck. (Im Original erschienen 1971:<br />

Deschooling Society).<br />

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Das Magazin der Reformierten<br />

Christian Hügli-Sassones (via LinkedIn)<br />

Schreiben Sie uns!<br />

Ihre Meinung ist uns wichtig. Sie erreichen<br />

uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch oder<br />

Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong><br />

www.brefmagazin.ch


Rubrik<br />

70 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Unser Leben<br />

Erziehung & Schule<br />

mit Maél<br />

Der achtjährige Maél kann sich nicht alleine waschen oder<br />

anziehen, trägt Windeln und muss ständig überwacht werden –<br />

er kam mit Downsyndrom auf die Welt. Seine Mutter erzählt<br />

vom Alltag mit ihrem behinderten Kind und dessen gesundem<br />

Bruder Elias und wie Maél es immer wieder schafft,<br />

ihre Sorgen und Zweifel zu zerstreuen.<br />

Text: Barbara Stotz Würgler Bilder: Samuel Trümpy / 13 Photo<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>71


Erziehung & Schule<br />

Zum dritten Mal habe ich<br />

Maél an diesem Morgen<br />

aufgefordert, sich die<br />

Schuhe anzuziehen und<br />

für die Schule bereit zu<br />

machen. Sein Schulbus hält jeden<br />

Tag pünktlich um 7.45 Uhr vor<br />

unserem Haus. Maél besucht die<br />

dritte Klasse der heilpädagogischen<br />

Schule in einem Nachbardorf.<br />

Endlich setzt er sich auf den Stuhl<br />

bei der Garderobe und nimmt einen<br />

Schuh in die Hand. Als er fertig ist,<br />

stelle ich fest: Der linke Schuh sitzt<br />

am rechten Fuss – und umgekehrt.<br />

Auf meine Frage, ob er das extra<br />

gemacht habe, setzt Maél ein schelmisches<br />

Lächeln auf.<br />

Wenige Minuten später eilen wir<br />

– die Schuhe habe ich ihm inzwischen<br />

richtig an die Füsse gesteckt<br />

– nach draussen, der Bus steht mit<br />

laufendem Motor da. Ich helfe Maél<br />

beim Einsteigen und gurte ihn an.<br />

Durch das Fenster werfen wir uns<br />

Kusshände zu. Maél strahlt. Entweder<br />

am Mittag oder am späteren<br />

Nachmittag wird er wieder nach<br />

Hause zurückkehren.<br />

Das verflixte 47. Chromosom<br />

«Alles Glück», sagt mein Sohn<br />

manchmal zu mir und drückt mir<br />

einen dicken, nassen Kuss auf die<br />

Backe. Ein unbeschreibliches Gefühl.<br />

Für mich stecken in diesem Satz und<br />

in dieser Geste so viel Dankbarkeit,<br />

Liebe und auch Bestätigung dafür,<br />

dass wir Eltern vieles richtig machen<br />

mit unserem «besonderen» Kind.<br />

Dass unser älterer Sohn mit 47<br />

Chromosomen anstatt mit 46 (siehe<br />

Box Seite 77) ausgestattet ist, wirkt<br />

sich auf sein Aussehen sowie seine<br />

geistige und körperliche Entwicklung<br />

aus. Er gleicht anderen Knaben<br />

mit dem Downsyndrom mehr, als<br />

dass er seinem sechsjährigen Bruder<br />

Elias oder uns Eltern ähnelt.<br />

Sein Kopfumfang ist kleiner, seine<br />

Nase flach. Die typische Lidfalte<br />

an den Augen verleiht ihm einen<br />

leicht asiatischen Einschlag. Seine<br />

Muskeln sind weniger stark als bei<br />

normalen Kindern. Diese sogenannte<br />

Muskelhypotonie ist auch der<br />

Grund dafür, dass Maél erst mit<br />

knapp drei Jahren laufen lernte.<br />

Grobmotorisch ist unser Sohn<br />

gut aufgestellt: Er liebt Spielplätze<br />

mit Kletteranlagen, Seilbahnen,<br />

Rutschbahnen und Schaukeln. Als<br />

Vierjähriger lernte er mit dem Micro<br />

Scooter zu fahren. Später entdeckte<br />

er das Laufrad, und seit etwa<br />

eineinhalb Jahren ist er mit seinem<br />

Fahrrad unterwegs – wenn auch<br />

noch mit Stützrädern. Dies ermöglicht<br />

es uns als Familie, kleinere Ausfahrten<br />

in der nahen Umgebung zu<br />

machen.<br />

Ein turbulenter Start für alle<br />

Im feinmotorischen Bereich ist der<br />

Entwicklungsrückstand im Vergleich<br />

zu Kindern ohne Trisomie 21<br />

bedeutend grösser: Einen Stift richtig<br />

zu halten oder mit der Schere zu<br />

schneiden, sind Dinge, die Maél<br />

schwerfallen und die er auch so gut<br />

wie möglich meidet. Dafür bedient<br />

er das Tablet mit seinen Spielen und<br />

Apps mit Leichtigkeit.<br />

Nach einer problemlosen<br />

Schwangerschaft kam Maél am<br />

1. April 2009 um 13 Uhr zur Welt.<br />

Wegen abfallender Herztöne musste<br />

er per Notfallkaiserschnitt auf die<br />

Welt geholt werden. Nachdem ich<br />

mein Baby begrüsst hatte, stand ein<br />

Kinderarzt nervös neben mir: Maél<br />

war etwas blau angelaufen, musste<br />

genauer untersucht werden.<br />

Noch erwähnte niemand die Diagnose<br />

Trisomie 21. Dann die Mitteilung:<br />

Maél muss in die Neonatologie<br />

eines grösseren Spitals verlegt werden.<br />

Es dauerte über 24 Stunden, bis<br />

auch ich in dasselbe Spital gebracht<br />

wurde. Endlich standen mein Mann<br />

und ich neben dem Brutkasten.<br />

Nackt, mit Magensonde und Sauerstoffschlauch<br />

versehen sowie einem<br />

Neugeborenen-Ausschlag, sah unser<br />

Baby ganz schön ramponiert aus.<br />

Wegen Anpassungsstörungen musste<br />

Maél für längere Zeit hospitalisiert<br />

bleiben. >>><br />

Auf meine Frage, ob er die Schuhe<br />

extra falsch angezogen habe,<br />

antwortet Maél mit einem<br />

schelmischen Lächeln.<br />

Trisomie 21 – Infos und Buchtipps<br />

Der Verein Insieme 21 setzt sich für Menschen mit<br />

Trisomie 21 und deren Angehörige ein. Er ist die<br />

erste Anlaufstelle für neubetroffene Familien und<br />

unterhält in der ganzen Schweiz Regionalgruppen:<br />

www.insieme21.ch<br />

www.ds-infocenter.de (Deutschland)<br />

www.down-syndrom.at (Österreich)<br />

Etta Wilken: «Menschen mit Down-Syndrom<br />

in Familie, Schule und Gesellschaft»<br />

Etta Wilken ist Professorin für Behindertenpädagogik<br />

und befasst sich seit vielen Jahren<br />

intensiv mit Trisomie 21. Sie hat auch Bücher über<br />

Sprachförderung und Kommunikation bei Kindern<br />

und Jugendlichen mit Trisomie 21 herausgegeben.<br />

André Frank Zimpel: «Trisomie 21. Was wir von<br />

Menschen mit Down-Syndrom lernen können»<br />

André Frank Zimpel, Professor für Erziehungswissenschaft,<br />

befasst sich mit dem Lern verhalten<br />

von Menschen mit Trisomie 21. In seinem Buch fasst<br />

er die Ergebnisse und Erkenntnisse einer Studie mit<br />

über tausend Personen mit Trisomie 21 zusammen.<br />

Informationen über pränatale Diagnostik<br />

Insieme Schweiz hat diesen Sommer ein neues<br />

Online-Tool lanciert. Dieses bietet werdenden Eltern<br />

einen Überblick über vorgeburtliche Tests. Die<br />

kompakten, leicht verständlichen Infos sowie eine<br />

Vielzahl von weiterführenden Fach- und Beratungsstellen<br />

sind unter www.vorgeburtliche-tests.ch<br />

zu finden.<br />

In Zusammenarbeit mit der PH Bern entwickelte<br />

Insieme Schweiz das Ideenset «Vielfalt begegnen»<br />

mit dem Ziel, Schülerinnen und Schülern Einblicke<br />

in die Lebenswelt von Menschen mit einer<br />

Beeinträchtigung zu ermöglichen.<br />

www.phbern.ch/ideenset-vielfalt-begegnen<br />

72 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Maél und sein<br />

jüngerer Bruder<br />

Elias sind ein<br />

gutes Gespann –<br />

besonders wenn es<br />

darum geht, die<br />

Eltern zu ärgern.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>73


Erziehung & Schule<br />

>>> Die Diagnose Trisomie 21<br />

traf uns wie ein Blitz. Während ich<br />

mit Traurigkeit und Verzweiflung<br />

reagierte, wurde mein Mann<br />

wütend. In der Schwangerschaft hatte<br />

ich mich zwar mit dem Thema<br />

Downsyndrom auseinandergesetzt.<br />

Doch der Ersttrimestertest, der ein<br />

Risiko von 1:1600 auswies, gab keinen<br />

Anlass für weitere vorgeburtliche<br />

Abklärungen. Auch die Nackenfalte<br />

schien im Ultraschall unauffällig.<br />

Und jetzt war ich auf einen<br />

Schlag Mutter eines Babys mit Trisomie<br />

21 geworden. Das sass.<br />

Oft stellte ich mir in den folgenden<br />

Monaten die Frage, ob es besser<br />

gewesen wäre, wenn wir schon während<br />

der Schwangerschaft Bescheid<br />

gewusst hätten. Eine Frage, die sehr<br />

schwer zu beantworten ist. Und für<br />

uns bald keine Rolle mehr spielte –<br />

Maél war ja jetzt da, und wir arrangierten<br />

uns nach und nach mit der<br />

Situation.<br />

Die Nachricht, Eltern eines behinderten<br />

Kindes geworden zu sein,<br />

löste in uns zahlreiche Fragen aus.<br />

Werden wir mit der Pflege und<br />

Betreuung unseres Kindes zurechtkommen?<br />

Wie entwickelt sich ein<br />

Kind mit Downsyndrom? Wie<br />

reagieren die Freunde und Bekannten,<br />

die sich mit uns auf unser Baby<br />

gefreut hatten? Das Gedankenkarussell<br />

drehte unablässig. Ich fand keinen<br />

Schlaf, war weinerlich und<br />

dünnhäutig.<br />

Grosses Glück mit der Gesundheit –<br />

und doch Stammgast in der Klinik<br />

Die ersten Monate zu Hause mit<br />

Maél waren geprägt davon, dass er<br />

sehr schlecht trank. Als er drei<br />

Monate alt war, durfte ich mit ihm<br />

eine Physiotherapie machen. Als er<br />

ein halbes Jahr alt war, begann die<br />

Heilpädagogische Früherziehung:<br />

Jede Woche besuchte uns ein Heilpädagoge<br />

zu Hause und förderte<br />

Maéls Fähigkeiten.<br />

Die Früherziehung dauerte bis<br />

zum Eintritt in den Kindergarten.<br />

Das Aufgleisen der Therapien gab<br />

uns Eltern das Gefühl, endlich etwas<br />

für unser Kind tun zu können. Nach<br />

und nach fiel uns aber auf, dass Maél<br />

vermehrt schrie. Das Trinken verweigerte<br />

er nun vollends. Als wir<br />

mit der gepackten Tasche bei unserer<br />

Kinderärztin im Behandlungszimmer<br />

sassen, meldete sie uns im<br />

Spital an – wo Maél notfallmässig<br />

aufgenommen und über eine<br />

Magensonde ernährt werden musste.<br />

Seine Speiseröhre war komplett<br />

entzündet, er hatte die Refluxkrankheit<br />

entwickelt. Noch heute<br />

bekommt Maél täglich Magensäureblocker.<br />

Ansonsten haben wir grosses<br />

Glück, dass Maél organisch gesund<br />

ist. Oftmals leiden Kinder mit Trisomie<br />

21 an Herzfehlern oder >>><br />

«Kinder mit Trisomie<br />

21 können uns die<br />

Augen öffnen»<br />

Der Mediziner Urs Zimmermann<br />

sagt, dass die Gesellschaft von<br />

Kindern mit Trisomie 21 profitieren<br />

kann. Trotzdem sieht er grosse<br />

Vorteile in der Möglichkeit, dass<br />

der Gendefekt heute sehr früh<br />

festgestellt werden kann.<br />

Interview: Barbara Stotz Würgler<br />

Herr Zimmermann, wie hat sich die Zahl<br />

der Geburten mit Trisomie 21 in den<br />

letzten Jahren in der Schweiz entwickelt?<br />

Zuverlässige Zahlen sind schwierig zu<br />

bekommen. Wir können davon ausgehen,<br />

dass in der Schweiz pro Jahr zwischen 70<br />

und 90 Kinder mit Downsyndrom zur Welt<br />

kommen. Diese Zahlen sind in den letzten<br />

Jahren konstant geblieben.<br />

Mit dem vor fünf Jahren eingeführten<br />

nichtinvasiven Praena-Test kann Trisomie<br />

Die Diagnose Trisomie 21<br />

traf uns wie ein Blitz. Ich<br />

reagierte mit Verzweiflung,<br />

mein Mann mit Wut.<br />

«Es ist schön,<br />

mit ihm Zeit zu<br />

verbringen»,<br />

sagt Maéls<br />

Mutter. «Er gibt<br />

uns sehr viel<br />

zurück.»<br />

21 in einem sehr frühen Stadium der<br />

Schwangerschaft festgestellt werden.<br />

Warum sind die Geburten mit Trisomie 21<br />

dennoch nicht stärker rückläufig?<br />

Es hängt damit zusammen, dass die<br />

Trisomie-21-Schwangerschaften insgesamt<br />

enorm zugenommen haben. In der Schweiz<br />

sammelt einzig der Kanton Waadt diese<br />

Daten systematisch, um sie in eine europäische<br />

Studie einzuspeisen. Hier haben sich<br />

die Schwangerschaften mit Trisomie 21 im<br />

Zeitraum zwischen 1989 bis 2012 verdreifacht.<br />

Dies hat damit zu tun, dass heutzutage<br />

viele Frauen erst im höheren Alter schwanger<br />

werden oder die Familienplanung erst im<br />

höheren Alter abschliessen.<br />

Wie viele Frauen behalten ihr Kind,<br />

wenn sie von der Diagnose erfahren?<br />

Wir müssen davon ausgehen, dass in Europa<br />

neun von zehn Frauen ihr ungeborenes Kind<br />

abtreiben, wenn sie erfahren, dass es das<br />

Downsyndrom hat.<br />

Sehen Sie auch einen Vorteil darin, dass<br />

man heute Trisomie 21 schon so früh beim<br />

ungeborenen Kind nachweisen kann?<br />

Grundsätzlich ist es eine riesige Chance, um<br />

sich mit diesem Thema früh auseinanderzu-<br />

74 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Rubrik<br />

setzen. Oftmals wird diese aber verpasst,<br />

da es offenbar immer noch für viele eine<br />

Selbstverständlichkeit ist, ein Kind abzutreiben,<br />

wenn irgendetwas nicht stimmt. Dabei<br />

wäre es so wertvoll, sich Gedanken zu<br />

machen über mögliche Behinderungen oder<br />

Andersartigkeiten beim Kind. Denn letztlich<br />

kann einem Kind immer etwas zustossen,<br />

das zu einer Behinderung führt, beziehungsweise<br />

das Kind kann sich anders entwickeln,<br />

als man es sich gewünscht hat. Was dann?<br />

Einen anderen Vorteil der frühen Diagnose<br />

sehe ich darin, dass sich Familien bewusst<br />

entscheiden, ein Leben mit einem Kind mit<br />

Trisomie 21 zu führen. Diese Eltern stehen<br />

mit einem neuen Selbstbewusstsein hinter<br />

ihren Kindern.<br />

Die Lebensqualität der Kinder mit<br />

Downsyndrom ist in den letzten Jahren<br />

deutlich besser geworden. Warum?<br />

Es hat eine klare Haltungsänderung<br />

stattgefunden. Früher hat man bei einem<br />

Kind mit Downsyndrom überlegt, ob es sich<br />

überhaupt lohnt, einen Herzfehler zu<br />

operieren oder eine Chemotherapie zu<br />

machen. Heute ist es keine Frage mehr, man<br />

geht proaktiv vor, sucht gezielt nach<br />

Risikofaktoren und interveniert so schnell<br />

wie möglich. Daneben wird heute auch<br />

versucht, Kinder mit Trisomie 21 maximal zu<br />

fördern und zu integrieren.<br />

Was geben Sie werdenden Eltern mit auf<br />

den Weg, die erfahren haben, dass ihr<br />

ungeborenes Kind Trisomie 21 hat?<br />

Zum einen geht es darum, die vielen Informationen<br />

verständlich zu machen und den<br />

Eltern eine Vorstellung davon zu vermitteln,<br />

wie ihr Leben mit einem Kind mit Trisomie 21<br />

aussehen könnte. Daneben rege ich dazu an,<br />

die eigenen Werte zu ergründen, aber auch<br />

die gemeinsamen Werte als Paar – und falls<br />

bereits vorhanden mit dem Rest der Familie.<br />

Was bedeutet es für uns, Kinder zu haben?<br />

Welche Werte wollen wir ihm mit auf den Weg<br />

geben? Dann wird oft schnell klar, ob ein Kind<br />

mit Downsyndrom Platz in dieser Familie hat.<br />

Diese «Wertearbeit» empfehle ich übrigens<br />

allen Eltern, und zwar bereits bevor sie das<br />

erste Kind bekommen.<br />

Was können wir Ihrer Meinung nach von<br />

Kindern mit Trisomie 21 lernen?<br />

Diese Kinder zwingen uns, sie in ihrer<br />

maximalen Individualität zu erkennen und zu<br />

fördern. Andere Kinder würden genauso<br />

profitieren, wenn man ihnen so unvoreingenommen<br />

und individuell begegnen würde.<br />

Kinder mit Trisomie 21 können uns die<br />

Augen öffnen, wie man grundsätzlich mit<br />

Kindern umgehen sollte. Wenn unsere<br />

Schulen so individuell und offen gestaltet<br />

wären, dass auch Trisomie-21-Kinder sie<br />

besuchen könnten, hätte man zum Beispiel<br />

weniger Kinder, die Ritalin nehmen.<br />

Zur Person<br />

Urs Zimmermann, 52, ist seit fünf Jahren<br />

Chefarzt Neonatologie und Kinder- und<br />

Jugendmedizin am Spital Bülach. Vor seiner<br />

Tätigkeit in Bülach war er mehr als zehn Jahre<br />

Leiter der Klinik für Neonatologie und Chefarzt<br />

im Departement Kinder- und Jugendmedizin<br />

am Kantonsspital Winterthur. Er lebt in Bülach<br />

und ist Vater von drei erwachsenen Kindern.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>75


Erziehung & Schule<br />

>>> Missbildungen im Darmtrakt.<br />

In den ersten vier Lebensjahren<br />

war Maél dennoch ständiger<br />

Gast in der Kinderklinik. Er litt zum<br />

Teil unter heftigen Atemwegsinfekten,<br />

benötigte Sauerstoff und musste<br />

künstlich ernährt werden. Die<br />

traumatische Erfahrung mit dem<br />

Reflux hatte dazu geführt, dass er bei<br />

jedem Infekt die Nahrungsaufnahme<br />

verweigerte.<br />

Nebst den vielen Spitalaufenthalten<br />

waren die ersten Jahre bis zum<br />

Kindergarteneintritt von seinem<br />

Therapieplan bestimmt. Nebst der<br />

Früherziehung und der Physiotherapie<br />

kam ab etwa drei Jahren zwei<br />

Mal wöchentlich Logopädie hinzu.<br />

Maél erhielt mit 14 Monaten erstmals<br />

Paukenröhrchen ins Trommelfell.<br />

Auf diese Weise sind seine<br />

Ohren besser belüftet und er hört<br />

besser. Mit zwei Jahren wurde er<br />

zum Brillenträger, was ihn glücklicherweise<br />

nicht stört. Probleme mit<br />

Augen und Ohren sind häufig bei<br />

Kindern mit dem Downsyndrom.<br />

Unterschätzte Intelligenz<br />

Maél war als Kleinkind schwierig zu<br />

lesen respektive zu verstehen. Er<br />

konnte Hunger, Schmerz oder<br />

Müdigkeit nicht ausdrücken, es war<br />

für uns ein ständiges Rätselraten.<br />

Noch mit zwei Jahren sprach er kein<br />

Wort. Wir hatten aber den Eindruck,<br />

dass er gut versteht, was wir zu ihm<br />

sagen.<br />

Von unseren Heilpädagogen<br />

erfuhren wir von der Gebärdensammlung<br />

«Wenn mir die Worte<br />

fehlen» für kognitiv beeinträchtigte<br />

Menschen von der Schweizer Heilpädagogin<br />

Anita Portmann. Die<br />

Gebärden für Essen, Schlafen, Spie-<br />

Maél hat die Angewohnheit<br />

auszubüxen. Er trägt deshalb<br />

eine Plakette mit Name<br />

und Telefonnummer auf sich.<br />

len, Nach-draussen-Gehen sowie<br />

für sämtliche Bauernhoftiere waren<br />

die ersten Begriffe, die wir Maél im<br />

Alter von zweieinhalb Jahren beibrachten.<br />

Die Bewegungen mit den<br />

Händen auszuführen, bereitete ihm<br />

zu Beginn noch Mühe. Aber er<br />

konnte endlich kommunizieren!<br />

Im zweiten Kindergartenjahr<br />

lernte Maél mit Unterstützung von<br />

Piktogrammen, in Zwei- und Drei-<br />

Wort-Sätzen zu sprechen. Heute<br />

drückt er sich ohne Hilfsmittel aus.<br />

Kinder mit Downsyndrom haben<br />

oftmals eine überlange Zunge und<br />

einen schmalen Mundraum. Beides<br />

ist nicht gerade förderlich für die<br />

Aussprache, erschwerend kommt<br />

eine schlaffe Mundmuskulatur hinzu.<br />

Maéls Wortschatz ist um ein<br />

Vielfaches grösser, als er in der Lage<br />

ist, sich verbal auszudrücken. Seine<br />

Intelligenz wird deshalb häufig<br />

unterschätzt.<br />

«Mittelgradig hilflos»<br />

Im Alltag benötigt Maél in vielen<br />

Bereichen Unterstützung. Die Invalidenversicherung<br />

stuft ihn als «mittelgradig<br />

hilflos» ein und entrichtet<br />

Hilflosenentschädigung, seit er zwei<br />

Jahre alt ist. Eine Person gilt als hilflos,<br />

«wenn sie wegen Beeinträchtigung<br />

der Gesundheit für alltägliche<br />

Lebensverrichtungen dauernd der<br />

Hilfe Dritter oder der persönlichen<br />

Überwachung bedarf». Die Höhe der<br />

Leistung hängt vom Grad der Unterstützung<br />

ab und ist in leicht, mittel<br />

und hoch abgestuft.<br />

Der Alltag mit Maél erfordert von<br />

uns Eltern, aber auch von allen weiteren<br />

Bezugspersonen permanente<br />

Präsenz. Maél ist noch nicht in der<br />

Lage, selbständig auf die Toilette zu<br />

gehen, zu duschen, sich in einer<br />

sinnvollen Zeitspanne ganz – und<br />

richtig – an- oder auszuziehen.<br />

Besonders auf Spiel- oder anderen<br />

öffentlichen Plätzen muss er stets im<br />

Auge behalten werden. Leider verhält<br />

er sich gegenüber anderen Kindern<br />

oftmals aggressiv. Weil er sich<br />

nach wie vor weigert, feste Nahrung<br />

zu essen, müssen wir alle Mahlzeiten<br />

pürieren oder speziell für ihn zubereiten.<br />

Es dauerte Jahre, bis er so<br />

weit war, selber seinen Brei oder sein<br />

Müesli zu löffeln.<br />

Und Maél hat die Angewohnheit<br />

auszubüxen. Wenn wir Glück haben<br />

zu Fuss, wenn wir Pech haben mit<br />

dem Velo oder Trottinett. Kürzlich<br />

hat er es zum ersten Mal geschafft,<br />

den Schlüssel im Schloss der Haustüre<br />

zu drehen. Nun trägt er am<br />

Handgelenk eine Silberkette mit<br />

einer Plakette, auf der sein Name<br />

und unsere Telefonnummern eingraviert<br />

sind.<br />

Von Anfang an besuchte ich mit<br />

Maél das Familienzentrum unseres<br />

Wohnortes. Bis zu drei Mal<br />

wöchentlich hatte er dort Kontakt<br />

mit anderen, «normalen» Kindern.<br />

Auch für mich als Mutter, die immer<br />

wieder von Verzweiflung und<br />

Zukunftsängsten heimgesucht wurde,<br />

war der Treff eine gute Möglichkeit,<br />

unter die Leute zu kommen.<br />

Vor der Einschulung wägten wir<br />

die Vor- und Nachteile einer Integration<br />

in die Regelschule und einer<br />

Sonderschulung ab. Für uns stand<br />

immer nur unser Sohn im Zentrum.<br />

Schliesslich meldeten wir ihn für die<br />

heilpädagogische Schule an. Unsere<br />

Entscheidung haben wir noch keinen<br />

Tag bereut; die Schule ist zu<br />

seinem zweiten Zuhause geworden.<br />

Langjährige Bekannte ziehen<br />

sich zurück<br />

Als wir nach Maéls Geburt unser<br />

Umfeld über die Behinderung unseres<br />

Kindes ins Bild setzten, fielen die<br />

Reaktionen unterschiedlich aus. Viele<br />

wussten schlichtweg nicht, wie<br />

man auf eine solche Nachricht<br />

reagiert. Ob man zum Beispiel gratulieren<br />

soll (ja, man soll). Einige<br />

langjährige Bekannte zogen sich<br />

zurück. Auch heute noch ist die<br />

meistgestellte Frage: «Habt ihr es<br />

vorher gewusst?»<br />

Wenn wir mit Maél unterwegs<br />

sind, fallen die Reaktionen fast ausschliesslich<br />

positiv aus. Besonders<br />

76 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Kinder reagieren gut auf ihn. Er ­<br />

wachsene dagegen können auch mal<br />

ganz schön nerven. Indem sie starren<br />

und flüstern. Zum Glück kommt<br />

dies selten vor. Oder vielleicht nehme<br />

ich es gar nicht mehr so wahr.<br />

Etwas salopp ausgedrückt hat Trisomie<br />

21 den Vorteil, dass man den<br />

betroffenen Menschen ihr Handicap<br />

auf den ersten Blick ansieht.<br />

Als unser zweiter Sohn Elias am<br />

20. April 20<strong>11</strong> zur Welt kam, war<br />

unser Glück perfekt. Natürlich stand<br />

schon früh die Frage im Raum, was<br />

denn wäre, wenn auch unser zweites<br />

Kind mit einem Handicap zur Welt<br />

käme. Da es sich bei Maél aber um<br />

keine erblich bedingte Chromosomenveränderung<br />

handelt, war das<br />

Risiko, nochmals ein Baby mit Trisomie<br />

21 zu bekommen, nicht er ­<br />

höht.<br />

Anfangs war Maél ziemlich eifersüchtig<br />

auf das neue Familienmitglied.<br />

Er traktierte den kleinen Bruder<br />

oft und riss ihm die Haare<br />

büschelweise aus. Aber wie so vieles<br />

legte sich auch diese Phase. Die Brüder<br />

gewöhnten sich nach und nach<br />

aneinander. Elias lernte bald, sich zu<br />

wehren. Rasend schnell überholte er<br />

seinen älteren Bruder in der Entwicklung,<br />

sprach mit eineinhalb<br />

Jahren bereits in ganzen Sätzen. Die<br />

zwei fanden Wege, miteinander zu<br />

kommunizieren, zu spielen, es lustig<br />

zu haben. Ein besonders gutes Ge ­<br />

spann sind sie, wenn sie gemeinsam<br />

uns Eltern ärgern wollen.<br />

Elias macht gerne mit seinen Kollegen<br />

ab. Wir haben ein offenes<br />

Haus, die Kinder dürfen zu uns zum<br />

Spielen kommen, wann immer wir<br />

da sind und Zeit haben. Die meisten<br />

nehmen zur Kenntnis, dass Elias’<br />

Bruder speziell ist. Elias kann dies<br />

schon gut erklären.<br />

Als einmal ein Kind auf einem<br />

Spielplatz sagte, Maél sei «komisch»,<br />

erwiderte Elias: «Dä Maél isch halt<br />

eifach de Maél.» Er war da etwa vierjährig.<br />

Ihn stört es höchstens, wenn<br />

wir Eltern uns seiner Meinung nach<br />

zu intensiv um seinen Bruder küm­<br />

Als ein Kind auf dem Spielplatz<br />

sagte, Maél sei komisch, erwiderte<br />

Bruder Elias: «Dä Maél isch halt<br />

eifach de Maél.»<br />

mern. Dabei achten wir fest darauf,<br />

dass unser Jüngster ja nicht zu kurz<br />

kommt. Wann immer möglich<br />

machen wir ein getrenntes Programm.<br />

Kein Kind gleich wie das andere<br />

Wichtig zu wissen, war und ist für<br />

mich als Mutter, dass sich Kinder mit<br />

Trisomie 21 noch viel weniger miteinander<br />

vergleichen lassen als sogenannt<br />

normale Kinder: Die Heterogenität<br />

von Menschen mit Trisomie<br />

21 ist enorm. Einige lernen schon als<br />

Kind fast normal sprechen, andere<br />

finden ein Leben lang nicht zur Lautsprache.<br />

Einige entwickeln eine hohe<br />

Selbständigkeit, andere brauchen ein<br />

Leben lang Unterstützung.<br />

Wie kommt es bei unserem Sohn<br />

heraus? Da Maél, im Grunde ein<br />

ausgeglichenes Kind, immer häufiger<br />

Phasen mit sehr herausforderndem<br />

Verhalten hat, lassen wir ihn<br />

zur Zeit gerade durch einen Kinderpsychiater<br />

abklären. Wenn ich mit<br />

Maél zusammen bin, kann ich solche<br />

und andere Probleme aber gut<br />

beiseite schieben und mit ihm den<br />

Moment geniessen, er gibt uns<br />

Eltern sehr viel zurück.<br />

Wir setzen uns keine unerreichbaren<br />

Ziele. Was aber auch nicht<br />

bedeutet, dass wir nichts von ihm<br />

erwarten. Wir freuen uns über jeden<br />

noch so kleinen Schritt, den es vorwärtsgeht.<br />

Wenn Maél ein neues<br />

Wort aussprechen kann. Wenn er<br />

die Schuhe endlich richtig anzieht.<br />

Maél macht seinen Weg, einfach auf<br />

seine Weise und in seinem Tempo.<br />

«Alles Glück», sagt Maél. Und<br />

wischt einmal mehr alle meine<br />

Zweifel und Sorgen beiseite.<br />

>>><br />

Was ist Trisomie 21?<br />

Ungefähr jedes 700. Kind kommt mit Trisomie 21 zur<br />

Welt. Der Name rührt daher, dass bei den<br />

betroffenen Menschen das Chromosom 21 nicht wie<br />

gewöhnlich zwei Mal, sondern drei Mal vorhanden<br />

ist. Dieses zusätzliche Chromosom – insgesamt 47<br />

statt 46 – hat zur Folge, dass sich ein betroffenes<br />

Kind deutlich anders entwickelt als ein Kind mit der<br />

gewöhnlichen Anzahl Chromosomen.<br />

Häufig leiden Menschen mit Trisomie 21 an<br />

angeborenen Herzfehlern oder einer Missbildung<br />

des Magen-Darm-Trakts. Typisch sind auch der<br />

schwache Muskeltonus, eine verzögerte sprachliche<br />

Entwicklung und eine kognitive Beeinträchtigung.<br />

Per 1. März 2016 hat der Bund die Trisomie 21 in die<br />

Liste der Geburtsgebrechen aufgenommen. Somit<br />

übernimmt die Invalidenversicherung alle nötigen<br />

medizinischen Behandlungen, welche damit<br />

einhergehen, und setzt sich für die gesellschaftliche<br />

Eingliederung ein.<br />

Der ebenfalls häufig verwendete Ausdruck<br />

Downsyndrom geht auf den Arzt John Langdon<br />

Down zurück, der die Trisomie 21 im Jahre 1866<br />

erstmals ausführlich erforschte und beschrieb.<br />

Zur Person<br />

Barbara Stotz Würgler, 42, ist Journalistin und<br />

Präsidentin des Elternforums der Heilpädagogischen<br />

Schule Bezirk Bülach. Bei ihren vielen Kontakten zu<br />

Eltern mit Kindern mit den verschiedensten<br />

Behinderungen stellt sie immer wieder fest, wie<br />

anspruchsvoll das Leben mit Kindern mit Handicap<br />

ist – aber auch, wie bereichernd es sein kann.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>77


Ernährung & Gesundheit<br />

Generation kurzsichtig<br />

Statt draussen zu spielen, verbringen Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit in<br />

geschlossenen Räumen an Smartphone, Spielkonsole und Co. Das hat auch Auswirkungen<br />

auf die Augen. Was Eltern beachten sollten. Text: Anja Lang<br />

Kurzsichtigkeit<br />

hat zwischen<br />

2000 und 2010<br />

weltweit um<br />

fast 30 Prozent<br />

zugenommen.<br />

Lara liest für ihr Leben<br />

gern, aber was in der<br />

Schule vorne an der Tafel<br />

steht, kann sie nur schwer<br />

entziffern. Wenn sie die<br />

Augen zusammenkneift, geht es<br />

etwas besser, aber das ist anstrengend,<br />

denn Lara ist kurzsichtig. Das<br />

heisst: In die Nähe sieht die Primarschülerin<br />

gut, weiter entfernte Dinge<br />

kann sie dagegen nur unscharf<br />

erkennen.<br />

Wie Lara geht es immer mehr Kindern<br />

und Jugendlichen. «Von 2000<br />

bis 2010 wurde eine weltweite<br />

Zunahme von Kurzsichtigkeit um<br />

fast 30 Prozent festgestellt», weiss Dr.<br />

Vera Schmit-Eilenberger, Fachärztin<br />

für Augenheilkunde mit Schwerpunkt<br />

Kinderophthalmologie und<br />

Netz hauterkrankungen aus Dübendorf<br />

im Kanton Zürich.<br />

Vor allem in einigen Ländern<br />

Asiens und Südostasiens hat Kurz-<br />

78 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Bild: iStockphoto<br />

sichtigkeit, fachsprachlich Myopie<br />

genannt, inzwischen nahezu epidemische<br />

Ausmasse angenommen. «In<br />

Teilen Chinas, Singapurs oder Taiwans<br />

sind bereits bis zu 90 Prozent<br />

der jungen Erwachsenen kurzsichtig»,<br />

sagt Vera Schmit-Eilenberger.<br />

Jeder zweite «Digital Native» ist<br />

kurzsichtig<br />

Vor rund 60 Jahren lag der Anteil<br />

der Kurzsichtigen in der Bevölkerung<br />

hier noch bei etwa 10 bis 20<br />

Prozent. Aber auch in Europa und<br />

den USA nimmt Myopie immer stärker<br />

zu. In den USA ist die Zahl der<br />

Kurzsichtigen in den letzten 30 Jahren<br />

um 66 Prozent angestiegen. In<br />

Europa zeigt sich gemäss einer 2015<br />

vorgestellten Studie des European<br />

Eye Epidemiology Consortium ein<br />

ähnlicher Trend: In der Altersklasse<br />

der 25- bis 29-Jährigen – also der<br />

«Digital Natives» – ist bereits fast<br />

jeder Zweite kurzsichtig.<br />

Je höher die Bildung, desto mehr<br />

Kurzsichtige gibt es<br />

Lange Zeit dachte man, dass vor<br />

allem die Vererbung bei der Entstehung<br />

von Kurzsichtigkeit entscheidend<br />

ist. «Bis heute sind etwa zwei<br />

bis drei Dutzend Genorte gefunden<br />

worden, die für Myopie verantwort-<br />

lich sind», sagt Vera Schmit-Eilenberger.<br />

«Damit ist nachweislich eine<br />

genetische Disposition gegeben,<br />

wenn Mutter oder Vater kurzsichtig<br />

sind.»<br />

Dennoch: Die explosionsartige<br />

Zunahme von Kurzsichtigkeit innerhalb<br />

weniger Jahrzehnte kann nicht<br />

darauf zurückzuführen sein. Studien<br />

haben untersucht, welchen Einfluss<br />

Umweltfaktoren auf die Ausbildung<br />

einer Kurzsichtigkeit haben. «Dabei<br />

hat sich herauskristallisiert, dass<br />

besonders langanhaltende Augen-<br />

Naharbeit sowie zu wenig Tageslicht<br />

die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit<br />

fördern», erklärt die Fachärztin.<br />

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt<br />

auch die Gutenberg-Gesundheitsstudie<br />

für Deutschland von 2015.<br />

Demnach steigt die Zahl der Kurzsichtigen<br />

mit der Anzahl der Bildungsjahre.<br />

Immer öfter fehlt der Weitblick<br />

Erste Symptome einer beginnenden<br />

Kurzsichtigkeit treten häufig bereits<br />

in der Kindheit auf. «Bis Ende der<br />

Kindergartenzeit sind die meisten<br />

Kinder noch normalsichtig», so Vera<br />

Schmit-Eilenberger. «Das ändert<br />

sich oft in der Primarschule. Man<br />

spricht deshalb von der sogenannten<br />

Schulmyopie, die typischerweise im<br />

Wenig Tageslicht und lange<br />

Augen-Naharbeit fördern<br />

Kurzsichtigkeit.<br />

Alter von 8 bis 15 Jahren auftritt.»<br />

Also genau in der Altersphase, in der<br />

Kinder durch Schulzeit und Hausaufgaben<br />

viel Zeit in geschlossenen<br />

Räumen mit Lesen, Schreiben und<br />

Lernen – also Augen-Naharbeit –<br />

verbringen.<br />

Dazu kommt die in dieser Altersklasse<br />

besonders beliebte Nutzung<br />

elektronischer Medien in der Freizeit.<br />

Das führt dazu, dass viele Kinder<br />

und Jugendliche hierzulande<br />

täglich bis zu acht Stunden und<br />

mehr bei Kunstlicht im Nahsichtmodus<br />

verbringen. «Wenn das<br />

Auge überwiegend Sehangebote<br />

bekommt, die nur wenige Zentimeter<br />

entfernt sind, reagiert es irgendwann<br />

mit Längenwachstum», betont<br />

Kinderaugenärztin. Schmit-Eilenberger.<br />

«Dies passiert umso >>><br />

vormals Lichter der Welt<br />

25.-26.<strong>11</strong>.17 Zürich<br />

Hallenstadion<br />

24.-25.03.18 Basel<br />

St. Jakobshalle<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

www.goodnews.ch<br />

www.apassionata.com<br />

November <strong>2017</strong>79


Ernährung & Gesundheit<br />

>>> stärker, je länger die Nahfixation<br />

dauert und je näher sich das<br />

fixierte Objekt befindet.»<br />

Tageslicht hat schützende Wirkung<br />

Ausserdem weiss man inzwischen<br />

auch, dass der Mangel an Tageslicht<br />

eine wichtige Rolle bei der Entstehung<br />

von Kurzsichtigkeit spielt.<br />

«Kürzlich veröffentlichte Studien<br />

haben ‹Outdoor activity› als eine<br />

Schlüssel-Umwelt-Determinante für<br />

die Myopie-Entwicklung identifiziert»,<br />

erklärt Schmit-Eilenberger.<br />

Wie genau Tageslicht vor Kurzsichtigkeit<br />

schützt, ist noch nicht eindeutig<br />

geklärt. Allerdings ist Tageslicht<br />

bis zu 100 Mal intensiver als künstliches<br />

Licht, und intensives Licht<br />

fördert die Ausschüttung des Botenstoffs<br />

Dopamin in der Netzhaut. In<br />

Tieruntersuchungen an Hühnern<br />

konnte ein Zusammenhang zwischen<br />

Dopamin und dem Längenwachstum<br />

des Augapfels beobachtet<br />

werden, weshalb man davon ausgeht,<br />

dass die Dopamin-Ausschüttung<br />

durch Tageslicht das zu starke Längenwachstum<br />

des Augapfels bremst.<br />

Ist das Auge einmal länger ge -<br />

wachsen und damit kurzsichtig, lässt<br />

sich dieser Schritt nicht wieder<br />

umkehren. Deshalb ist es wichtig,<br />

Umweltfaktoren, die nachweislich<br />

das Längenwachstum des Auges fördern,<br />

frühzeitig zu meiden. «Dazu<br />

gehört, dass sich Kinder und<br />

Jugendliche möglichst viel im Freien<br />

aufhalten, damit der Körper genügend<br />

schützendes Tageslicht abbekommt»,<br />

rät die Dübendorfer<br />

Augenärztin. «Bei der Augen-Naharbeit<br />

sollten ausserdem regelmässig<br />

Pausen eingelegt werden. Dabei den<br />

Blick ruhig auch mal in die Ferne<br />

schweifen lassen.» Hilfreich ist auch,<br />

den Leseabstand nicht zu kurz zu<br />

halten. «Mindestens 30 Zentimeter<br />

sollten es sein, besser mehr», betont<br />

Vera Schmit-Eilenberger. Hier kann<br />

zum Beispiel schon ein grösserer<br />

Monitor helfen. «Jedes Kind ab dem<br />

dritten Lebensjahr sollte ausserdem<br />

augenfachärztlich untersucht werden,<br />

um versteckte Sehfehler zu<br />

erkennen, die unbehandelt nach<br />

dem siebten Lebensjahr zu bleibenden<br />

Sehschwächen führen können»,<br />

appelliert die Kinderaugenärztin.<br />

«Dasselbe gilt für Kinder kurz vor<br />

der Einschulung und natürlich,<br />

wenn erste Anzeichen von Kurzsichtigkeit<br />

auftreten.»<br />

Unterkorrektur hilft nicht<br />

Da Kurzsichtigkeit typischerweise<br />

voranschreitet, wird meist in regelmässigen<br />

Abständen eine neue Sehhilfe<br />

benötigt. Diese sollte die Kurzsichtigkeit<br />

immer maximal gut<br />

korrigieren. «Der Mythos, dass ein<br />

Fortschreiten der Myopie durch eine<br />

Unterkorrektion von Brille oder<br />

Kontaktlinsen verhindert werden<br />

kann, hält sich leider immer noch<br />

hartnäckig», beklagt Vera Schmit-<br />

Eilenberger. «Prospektive klinische<br />

Studien zeigen jedoch, dass eine<br />

Unterkorrektion der Myopie das<br />

Voranschreiten nicht verhindern, ja<br />

im Gegenteil sogar anheizen kann.»<br />

Eine relativ neue Therapie zur<br />

Behandlung von Kurzsichtigkeit ist<br />

die Gabe von niedrig dosierten<br />

Atropin-Tropfen. Sie sollen helfen,<br />

das vermehrte Längenwachstum des<br />

Augapfels zu bremsen. «In grossen<br />

Studien konnte durch die Behandlung<br />

mit Atropin tatsächlich eine<br />

Reduktion des Voranschreitens der<br />

Kurzsichtigkeit um etwa eine Dioptrie<br />

pro Jahr gemessen werden»,<br />

weiss die Augenexpertin. «Nach<br />

dem Ende der Behandlung bildete<br />

sich der positive Erfolg allerdings<br />

wieder zurück.»<br />

Eine andere Möglichkeit für die<br />

Verlangsamung der Myopie sind<br />

sogenannte Ortho-K-Linsen. Diese<br />

Kontaktlinsen werden nur über<br />

Nacht getragen und sollen eine zeitlich<br />

begrenzte Abflachung der zentralen<br />

Hornhaut bewirken, um die<br />

Sehschärfe tagsüber zu normalisieren.<br />

«Diese Methode wird vor<br />

allem von Augenoptikern befürwortet»,<br />

sagt Vera Schmit-Eilenberger.<br />

«Augenärzte bemängeln jedoch<br />

Viele Kinder verbringen<br />

bis zu acht Stunden<br />

im Nahsichtmodus.<br />

hohe Kosten und das Infektionsrisiko.<br />

Auch fehlt bislang eine aussagekräftige,<br />

kontrollierte Langzeitstudie,<br />

die den positiven Effekt<br />

bestätigen würde.»<br />

>>><br />

Kurzsichtigkeit – was ist das?<br />

Kurzsichtigkeit ist die häufigste Art der Fehlsichtigkeit.<br />

Sie wird in den meisten Fällen durch ein zu starkes<br />

Längenwachstum des Auges verursacht. Der<br />

Brennpunkt, also das schärfste Bild, entsteht dann<br />

nicht mehr direkt auf der Netzhaut, sondern kurz<br />

davor, so dass weiter entfernte Objekte entsprechend<br />

unscharf wahrgenommen werden. Nah gelegene<br />

Objekte werden dagegen einwandfrei gesehen. Ist<br />

der Augapfel nur einen Millimeter zu lang, beträgt die<br />

Höhe der Kurzsichtigkeit bereits rund drei Dioptrien.<br />

Damit sieht der Kurzsichtige Objekte nur noch bis<br />

zu einer Entfernung von rund 30 Zentimetern scharf.<br />

Typisch für Kurzsichtigkeit ist ausserdem ein<br />

Voranschreiten bis etwa zum 30. Lebensjahr.<br />

Erste Anzeichen früh erkennen<br />

Folgende Symptome können auf eine beginnende<br />

Kurzsichtigkeit hinweisen:<br />

• Häufiges Blinzeln und Zusammenkneifen der Augen,<br />

um weiter entfernte Gegenstände zu fokussieren<br />

• Klagen über schlechtes Sehen von weiter entfernten<br />

Objekten, z. B. schlechte Sicht an die Tafel<br />

• Nahes Heranrutschen an den Fernseher, um besser<br />

zu sehen<br />

• Wiederkehrende Kopfschmerzen und<br />

Ermüdungs erscheinungen<br />

Anja Lang<br />

ist Medizinjournalistin und Mutter von drei Kindern.<br />

Das Problem mit der zunehmenden Nutzung<br />

elektronischer Medien bei Kindern und Jugendlichen<br />

kennt sie selbst nur zu gut.<br />

80 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Publireportage<br />

Dank dem breiten Angebot an Schweizer Milchprodukten findet sich für jedes Bedürfnis etwas Passendes.<br />

Das Beste für Eltern und Kinder<br />

Für echte Milch gibt’s keinen Ersatz<br />

Milch ist ein nährstoffreiches, gesundes Grundnahrungsmittel für<br />

alle, besonders aber für Kinder. Glücklicherweise gibt es auch bei<br />

Laktoseintoleranz passende Lösungen, denn auf Milchprodukte<br />

zu verzichten ist keine gute Idee.<br />

Mehr erfahren?<br />

Weitere Informationen<br />

und Tipps bei Unverträglichkeiten<br />

unter<br />

www.swissmilk.ch/<br />

unvertraeglichkeiten<br />

Eltern wollen für ihre Kinder natürlich das Beste.<br />

Wenn sie vermuten, dass ihr Kind bestimmte<br />

Lebensmittel nicht verträgt, streichen sie diese oft<br />

in guter Absicht vom Menüplan oder ersetzen sie<br />

durch Alternativen. Das ist aber nicht immer eine<br />

gute Lösung.<br />

Fragen Sie Ihren Arzt<br />

Klagt ein Kind häufig über Bauchweh, liegt die<br />

Vermutung nahe, dass ein Lebensmittel schuld ist.<br />

Oft folgen dann Selbstdiagnosen und individuelle<br />

Ernährungsexperimente. Diese können aber Nährstoffmängel<br />

nach sich ziehen und führen meist<br />

nur kurzfristig zu einer Besserung. Sinnvoller ist es,<br />

die Beschwerden durch eine Fachperson abklären<br />

zu lassen, denn die Gründe können vielfältig sein.<br />

Wenn tatsächlich eine Laktoseintoleranz vorliegt –<br />

die bei Kindern jedoch nur äusserst selten vorkommt<br />

–, dann sollten Milchprodukte nicht gestrichen,<br />

sondern gezielt ausgewählt werden. Es gibt<br />

ein grosses Angebot an passenden, fermentierten<br />

Milchprodukten. Gut verträglich sind Hart- und<br />

Halbhartkäse wie etwa Emmentaler oder Tilsiter<br />

sowie alle Jogurtsorten.<br />

Pflanzendrinks sind kein Milchersatz<br />

Keine gute Lösung ist es, Milch durch Pflanzendrinks<br />

zu ersetzen. Die Ernährungswissenschaft<br />

zeigt immer wieder, dass insbesondere Kinder<br />

von Milch profitieren. Drei Milchportionen täglich<br />

unterstützen den Aufbau und die Entwicklung von<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November <strong>2017</strong><br />

Knochen und Muskeln. Zudem liefern sie generell<br />

viele Nährstoffe in idealem Verhältnis zueinander,<br />

was für ein gesundes Wachstum äusserst vorteilhaft<br />

ist.<br />

Niemand kann heute abschätzen, wie sich der<br />

Ersatz von Kuhmilch durch Pflanzendrinks langfristig<br />

auf die Gesundheit von Kindern auswirken<br />

wird. Es gibt dafür weder Langzeitstudien noch<br />

genügend Erfahrung. Ernährungsfachpersonen<br />

und Kinderärzte schätzen das Risiko eines Nährstoffmangels<br />

mit Folgen für die körperliche und<br />

geistige Entwicklung der Kinder als hoch ein. Denn<br />

Pflanzendrinks sind nährstoffarm und enthalten<br />

keine Baustoffe für das Wachstum.<br />

!<br />

Milchprodukte bei Laktoseintoleranz<br />

Milch liefert ein reichhaltiges Spektrum an<br />

Inhaltsstoffen. Davon profitieren Personen<br />

jeden Alters, insbesondere aber Kinder.<br />

Milchprodukte tragen viel zu einer gesunden<br />

Ernährung bei. Deshalb sollten sie auch bei<br />

Laktoseintoleranz auf dem Menüplan zu finden<br />

sein. Welche Milchprodukte besonders<br />

geeignet sind, erfahren Sie unter<br />

www.swissmilk.ch/unvertraeglichkeiten ><br />

Laktoseintoleranz > verträgliche Milchprodukte.<br />

Wer von einer Laktoseintoleranz<br />

betroffen ist, wählt<br />

am besten gereiften Käse.<br />

Auch Jogurt wird häufig gut<br />

vertragen.<br />

Schweizer Milch ist ein<br />

Naturprodukt, sie wird<br />

standortgerecht auf Familienbetrieben<br />

produziert<br />

und braucht nur kurze<br />

Transportwege.<br />

Milch liefert Eiweiss, Kalzium,<br />

Vitamine und Fette für den<br />

Aufbau von Muskeln und<br />

Knochen. Drei Portionen am<br />

Tag sind genau richtig.


Digital & Medial<br />

Anderen beim<br />

Spielen zuschauen<br />

Sogenannte Let’s Player sind bei Teenagern voll im Trend. Nur: Was<br />

finden Jugendliche daran, anderen beim Videospielen zuzuschauen?<br />

Und was heisst das für die Eltern? Text: Stephan Petersen<br />

Daniels Mutter ist ge ­<br />

nervt. Gerade erst<br />

hat sie ihren 13-jährigen<br />

Sohn von der<br />

Spielkonsole loseisen<br />

können. Jetzt sitzt er am Smartphone.<br />

«Was machst du denn da?»,<br />

fragt sie ihn. «Ich schaue mir nur<br />

schnell dieses Video an.» Sie blickt<br />

über seine Schulter: «Ist das ein<br />

Video über ein Computerspiel?» –<br />

«Ja, ein Let’s Play!», lautet die Antwort.<br />

«Du hast doch gerade erst<br />

gespielt! Und das sieht nicht so aus,<br />

als ob es ein Spiel für Dreizehnjährige<br />

wäre. Mach jetzt dein Natel<br />

aus!» Daniel seufzt extra laut und<br />

legt das Smartphone zur Seite.<br />

Schreckensschreie und zusammengebissene<br />

Zähne live<br />

So wie Daniel schauen Millionen<br />

Jugendliche sogenannte Let’s Plays.<br />

Bei Let’s play wird live gespielt.<br />

Das heisst: Der Spieler hat das<br />

Game vorher noch nie gespielt.<br />

Let’s Play bedeutet «Lass uns spielen».<br />

Es sind Videos, in denen Games<br />

vorgeführt und kommentiert werden.<br />

Man schaut anderen Spielern<br />

beim Spielen zu. Vorläufer dieses<br />

Trends waren die 2006 von Spielern<br />

im Forum der US-amerikanischen<br />

Webseite «Something Awful» veröffentlichten<br />

Bilder aus von ihnen<br />

gespielten Games. Die anderen<br />

Forumsteilnehmer konnten direkt<br />

darauf antworten und Anregungen<br />

geben, wie die Spieler weiter agieren<br />

sollten. Mit der zunehmenden Verbreitung<br />

des Videoportals Youtube<br />

entstand die Idee, den kompletten<br />

Spielverlauf beim Gamen zu filmen<br />

und zu kommentieren.<br />

Heute filmen die Spieler sich<br />

meist noch zusätzlich selbst. So<br />

hören die Zuschauer nicht nur die<br />

Kommentare, sondern sehen auch<br />

die Reaktionen des Spielers auf das<br />

Geschehen: zusammengebissene<br />

Zähne in kniffligen Szenen und kurze<br />

Schreckensschreie, wenn Unvorhergesehenes<br />

geschieht. Das Besondere<br />

an Let’s Plays: Es wird live<br />

gespielt. Das bedeutet hier: Der<br />

Spieler hat das Game vorher noch<br />

nie gezockt und erlebt gemeinsam<br />

mit dem Zuschauer sämtliche Situationen<br />

zum ersten Mal.<br />

Was als kleiner Spass für ein paar<br />

Dutzend Zuschauer begann, ist in<br />

den vergangenen Jahren zu einem<br />

Millionen-Trend insbesondere bei<br />

Teenagern geworden. 50 Prozent<br />

aller Let’s-Play-Zuschauer sind zwischen<br />

13 und 17 Jahre alt. Mit rund<br />

30 Prozent machen junge Erwachsene<br />

zwischen 18 und 25 Jahren die<br />

zweitgrösste Gruppe aus. Das Pu blikum<br />

ist also jung. Und noch etwas<br />

fällt auf: Je nach Schätzungen und<br />

Umfragen sind 70 bis 80 Prozent der<br />

Zuschauer männlich.<br />

Let’s play als Entscheidungshilfe<br />

Eltern zeigen sich besorgt über den<br />

Trend. Die meisten stehen Games an<br />

sich schon skeptisch gegenüber. Nun<br />

fragen sie sich: Ist es sinnvoll, dass<br />

mein Kind passiv Videos über Computerspiele<br />

konsumiert, anstatt<br />

wenigstens selbst aktiv zu sein und<br />

kreative Lösungsstrategien in einem<br />

Game zu finden? «In den seltensten<br />

Fällen werden Let’s Plays nur angeschaut,<br />

ohne dass man selbst gamt»,<br />

relativiert Isabel Willemse, Medienpsychologin<br />

an der Zürcher Hoch­<br />

82 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Rubrik<br />

Die Hälfte der Zuschauer<br />

sind unter 18, ein Drittel<br />

ist zwischen 18 und 26.<br />

Die meisten sind männlich.<br />

Anzeige<br />

Bild: iStockphoto<br />

schule für Angewandte Wissenschaften<br />

(ZHAW). Weiter führt sie aus:<br />

«Meist dienen sie als Entscheidungshilfe,<br />

ob man sich das Game besorgen<br />

soll, oder man lernt hier Tricks<br />

und Kniffe kennen.» Die Aussage<br />

deckt sich mit Umfragen unter<br />

jugendlichen Let’s-Play-Zuschauern.<br />

Andere Gründe für den Konsum der<br />

Videospiele können fehlende Zeit<br />

oder auch zu wenig Taschengeld für<br />

das neueste Game sein.<br />

Die Zuschauer ziehen aus dem<br />

passiven Zuschauen genauso viel<br />

Freude wie aus der aktiven Handlung.<br />

Interpassivität (also delegiertes<br />

Geniessen) ist bei Erwachsenen<br />

ebenfalls sehr gut bekannt. Zum<br />

Beispiel schauen ja viele ein Fussballspiel<br />

im Fernsehen an, >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong><br />

Neues Profil:<br />

Naturwissenschaften<br />

+<br />

(Magna)<br />

Kurzgymnasium<br />

Musisches Profil<br />

Profil Philosophie/Pädagogik/Psychologie<br />

Profil Naturwissenschaften + (Magna)<br />

Schnuppermorgen Di 28. Nov. <strong>2017</strong>, 7.50-12.30 Uhr<br />

Infoabende Mo 6. und Do 30. Nov. <strong>2017</strong>, 19.15 Uhr und<br />

Di 9. Januar 2018, 18.15 Uhr<br />

Gymnasium Unterstrass beim Schaffhauserplatz in Zürich<br />

www.unterstrass.edu


Digital & Medial<br />

Tipps für Eltern<br />

>>> anstatt selbst über den grünen<br />

Rasen zu rennen.<br />

Problematisch wird es allerdings,<br />

wenn die Kids sich Videos über<br />

Games ansehen, die nicht ihrem<br />

Alter entsprechen. «Es ist unmöglich,<br />

die etwa 400 Stunden Videomaterial,<br />

die jede Minute auf Youtube<br />

hochgeladen werden, auf Altersfreigaben<br />

zu überprüfen. Daher ist der<br />

Jugendschutz von Anbieterseite<br />

(Youtube) nicht gewährleistet. Umso<br />

mehr sind die Eltern gefordert»,<br />

erläutert Isabel Willemse. Doch<br />

Problematisch wird es,<br />

wenn sich Kids Videos über<br />

Games ansehen, die nicht<br />

ihrem Alter entsprechen.<br />

• Die Altersbeschränkung für Youtube liegt bei 13 Jahren. Eine<br />

kindgerechte Alternative ist die App YouTube Kids.<br />

• Auf der Youtube-Website in den Einstellungen<br />

«Eingeschränkter Modus» aktivieren. Dieser sperrt für Kinder<br />

unangemessene Inhalte. Achtung: Der Filter bietet keine<br />

hundertprozentige Sicherheit.<br />

• Kinder möglichst nicht mit Youtube allein lassen, da immer<br />

sofort das nächste Video abgespielt wird und sie auf diese<br />

Weise rasch bei nicht kindgerechten Inhalten landen.<br />

• Mit den Kindern und Jugendlichen besprechen, was sie auf<br />

Youtube schauen.<br />

• Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz vermitteln,<br />

damit sie mit den gesehenen Inhalten richtig umgehen<br />

können. Die Aussagen und Moralvorstellungen ihrer<br />

Lieblings-Let’s-Player kritisch beleuchten.<br />

• Gemeinsam über die Einnahmequellen des Lieblings-Let’s-<br />

Players diskutieren und die Objektivität der Let’s Player<br />

hinterfragen. Gute Alternativen für Spielebesprechungen<br />

sind klassische Videospiel-Magazine.<br />

• Kids, die selbst Let’s Plays erstellen möchten, über<br />

Urheberrechte (Games und Musik) aufklären.<br />

nicht nur die Games, sondern auch<br />

der Einfluss der Let’s Player – also<br />

der Spieler selbst – können problematisch<br />

sein. So fiel etwa PewDie-<br />

Pie, der weltweit mit 57 Millionen<br />

Abonnenten auf Youtube beliebteste<br />

Let’s Player, in jüngster Zeit mit rassistischen<br />

Kommentaren auf.<br />

Immer gut drauf und leicht<br />

überdreht – aber unabhängig?<br />

Ein nicht zu unterschätzender<br />

Grund für den Erfolg eines Let’s<br />

Plays ist die Persönlichkeit des Let’s<br />

Players. «Die Videos müssen witzig<br />

sein», findet Daniel. Tatsächlich<br />

ähneln sich die erfolgreichsten Let’s<br />

Player in ihrer Moderationsweise. Sie<br />

sind immer gut drauf, leicht überdreht,<br />

reden viel und machen lustige<br />

Kommentare und Grimassen.<br />

Bei den Jugendlichen kommt das<br />

sehr gut an. Um die erfolgreichsten<br />

Let’s Player hat sich deshalb ein<br />

regelrechter Starkult entwickelt.<br />

Umfragen zeigen, dass rund 75 Prozent<br />

der Follower davon überzeugt<br />

sind, dass Let’s Player ihre eigene,<br />

unabhängige Meinung äussern.<br />

Das ist bei unbekannten Let’s<br />

Playern wohl meistens der Fall. Bei<br />

den beliebtesten Let’s Playern, die<br />

mit den Videos ihr Geld verdienen,<br />

darf man jedoch skeptisch sein.<br />

Denn längst haben Game-Hersteller<br />

die Kanäle der meistgesehenen Youtuber<br />

als hervorragende Werbemöglichkeit<br />

erkannt. Es gibt kostenlose<br />

Spiele und Hardware, Product<br />

Placement, PR-Aktionen und Werbeverträge.<br />

Wie unabhängig werden<br />

Die beliebtesten Let’s Player<br />

• In der Schweiz: Diablox9 mit<br />

1,7 Millionen Abonnenten<br />

(viele davon aus Frankreich)<br />

• Im deutschsprachigen Raum: Gronkh<br />

mit 4,6 Millionen Abonnenten<br />

• Weltweit: PewDiePie mit 57 Millionen<br />

Abonnenten<br />

84 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


diese Let’s Player wohl noch sein?<br />

Let’s Player sind Vorbilder, viele<br />

Jugendliche eifern ihnen nach.<br />

Neben dem passiven Schauen möchten<br />

viele Kids selbst eigene Let’s<br />

Plays erstellen. Auf diese Weise teilen<br />

sie ihre Erlebnisse mit Gleichgesinnten,<br />

agieren als Experten zu<br />

ihrem Lieblingsspiel und sind Teil<br />

einer Community, von der es im<br />

Idealfall viele «Likes» als Bestätigung<br />

gibt.<br />

Aber wie sieht das rechtlich aus?<br />

Zurzeit dulden die meisten Spielehersteller<br />

die Nutzung ihrer Games<br />

für Let’s Plays, da sie den Nutzen des<br />

Werbeeffekts als hoch einstufen.<br />

Aber die Games und die bewegten<br />

Bilder bleiben ihr Eigentum. Let’s<br />

Player befinden sich in einer rechtlichen<br />

Grauzone, wenn sie Spielmaterial<br />

aufnehmen oder gar verändern.<br />

Besondere Vorsicht bezüglich<br />

des Urheberrechts ist bei Musik<br />

geboten. Einige Youtuber sahen sich<br />

schon mit Abmahnungskosten konfrontiert,<br />

weil sie für ihre selbst er -<br />

stellten Videos Songs ihrer Mu -<br />

sikstars genutzt hatten. Im Zweifel<br />

gilt immer: Lieber einmal zu oft bei<br />

Herstellern nachfragen.<br />

>>><br />

Stephan Petersen<br />

ist studierter Historiker und freier Journalist.<br />

Zu seinen Themen gehören unter anderem<br />

Videospiele und Familie. Er ist Vater zweier<br />

Kinder im Alter von sieben und elf Jahren.<br />

Gamehersteller stellen den<br />

Let’s Playern kostenlos<br />

Hardware und Spiele zu<br />

Verfügung. Da stellt sich die<br />

Frage der Unabhängigkeit.<br />

Wie sieht so<br />

ein Let’s play<br />

aus? Starten Sie die<br />

aktuelle Fritz+Fränzi-App<br />

und folgen Sie unserem<br />

Link zu einem Video<br />

von Gronkh.<br />

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Teilnahmeschluss: 30. November <strong>2017</strong><br />

Teilnahme per SMS: Stichwort FF PITZTAL an 959 senden (30 Rp./SMS)


Digital & Medial<br />

Gesundheitsbewusst?<br />

App-solut!<br />

Gesundheits-Apps sind die neuen<br />

Medizinratgeber, Ernährungsberater und<br />

Bewegungstrainer – für Erwachsene. Sind<br />

sie auch für Kinder und Jugendliche<br />

geeignet? Text: Michael In Albon<br />

Bild: dolgachov<br />

Zehntausende Gesundheits-Apps<br />

tummeln<br />

sich in den Stores von<br />

Android und Apple.<br />

Verführerisch. Doch<br />

Apps können nur unterstützen und<br />

keine eine eindeutige Diagnose liefern.<br />

Ich habe einige nützliche Apps<br />

für Eltern, Kinder und Teenager<br />

herausgesucht und nenne Ihnen am<br />

Schluss des Beitrags drei Prüfmerkmale<br />

für Apps.<br />

Zweiteiler für junge Familien<br />

Die App «Baby & Essen» bietet Eltern<br />

einen Essensfahrplan und nennt<br />

die Entwicklungsschritte im ersten<br />

Le bensjahr mit Tipps für den Alltag.<br />

Stillende Mütter erhalten Ernährungstipps<br />

und Informationen zur<br />

Allergievorbeugung. Die Fortsetzung<br />

«Kind & Essen» unterstützt mit<br />

Ratschlägen zu gesunder Ernährung<br />

und gesundem Aufwachsen von eins<br />

bis drei. Den App-Zweiteiler gibt es<br />

kostenlos für iOS und Android.<br />

Medizinratgeber<br />

Die App «Homöopathie für Kinder»<br />

ist ein Nachschlagewerk. Die<br />

Schnelldiagnose hilft, eine passende<br />

homöopathische Auswahl zu treffen.<br />

Dafür berücksichtigt die Medizin-<br />

App typische Kinderbeschwerden<br />

wie Schnupfen, Husten oder Fieber.<br />

Sie bietet zudem Erste-Hilfe-Informationen<br />

bei ansteckenden Kinderkrankheiten<br />

und Verletzungen sowie<br />

ein Globuli-Glossar. Die App gibt es<br />

für iOS als Lite-Version gratis, die<br />

Vollversion für vier Franken.<br />

Lern-App Anatomie<br />

Die preisgekrönte App «Der menschliche<br />

Körper» ermöglicht mit einfach<br />

gehaltenen, animierten Bildern anatomische<br />

Einblicke in sechs Themengebiete:<br />

Skelett, Muskeln, Nerven,<br />

Kreislauf, Atmung und Verdauung.<br />

Textfelder mit entsprechenden In -<br />

forma tionen kann man sich einblenden<br />

lassen. Ausserdem gibt es interaktive<br />

Module zu Herz, Gehirn und<br />

Auge. Die App ist für iOS erhältlich,<br />

als Lite-Version kostenlos, als Vollversion<br />

für vier Franken.<br />

Bewegung und Ernährung<br />

Die App «Gorilla Schweiz» gibt<br />

Jugendlichen Tipps für mehr Bewegung,<br />

ausgewogene Ernährung und<br />

nachhaltigen Konsum. Freestyle-<br />

Profis zeigen in kurzen Filmen Basics<br />

und Tricks in den Sportarten Slalomboarden,<br />

Streetskaten, Breakdance,<br />

Bike, Frisbee, Freeski und Footbag.<br />

Und Kochvideos unterstützen Teenager<br />

beim Zubereiten von leckeren<br />

Gerichten. Die App gibt es kostenlos<br />

für iOS und Android.<br />

Navigation im App-Wald<br />

Beim Entscheid, ob eine App etwas<br />

taugt, hilft Medienkompetenz. Und<br />

da sind einmal mehr die Eltern als<br />

Vorbilder und Wegbereiter gefragt.<br />

Längst nicht alle Gesundheits-Apps<br />

wurden von Fachleuten erstellt. Deshalb<br />

empfehle ich, vor dem Download<br />

ein wenig nachzuforschen. Und<br />

zwar so: In den App-Stores von An -<br />

droid oder Apple finden Sie und Ihre<br />

Teenager kurze Angaben zur App<br />

und einen Link auf die Website des<br />

Anbieters. Prüfen Sie hier folgende<br />

drei Merkmale.<br />

1. Klicken Sie ins Impressum: Wer<br />

steckt hinter der App?<br />

2. Suchen Sie die Quellenangaben:<br />

Von welcher Organisation oder<br />

aus welchem Kreis von Fachleuten<br />

stammen die Informationen und<br />

Empfehlungen?<br />

3. Datenschutz: Welche persönlichen<br />

Daten von Ihnen werden<br />

gespeichert?<br />

Michael In Albon<br />

ist Beauftragter Jugendmedienschutz<br />

und Experte Medienkompetenz von<br />

Swisscom.<br />

Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive<br />

Lernmodule für den kompetenten Umgang mit<br />

digitalen Medien im Familienalltag.<br />

swisscom.ch/medienstark<br />

86 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Unsere<br />

Kinderschürzen sind<br />

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Service<br />

Vielen Dank<br />

an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />

Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsor<br />

Dr. iur. Ellen Ringier<br />

Walter Haefner Stiftung<br />

Credit Suisse AG<br />

Rozalia Stiftung<br />

UBS AG<br />

UBS AG<br />

Impressum<br />

17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />

Herausgeber<br />

Stiftung Elternsein,<br />

Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />

www.elternsein.ch<br />

Präsidentin des Stiftungsrates:<br />

Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />

Tel. 044 400 33 <strong>11</strong><br />

(Stiftung Elternsein)<br />

Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />

ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 01 01<br />

Redaktion<br />

Nik Niethammer (Chefredaktor),<br />

Evelin Hartmann (stv. Chefredaktorin),<br />

Bianca Fritz (Leitung Online),<br />

Florian Blumer, Claudia Landolt,<br />

Irena Ristic, Florina Schwander, Leo Truniger<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />

Verlag<br />

Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,<br />

Tel. 044 277 72 62,<br />

info@fritzundfraenzi.ch,<br />

verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />

www.fritzundfraenzi.ch<br />

Anzeigenverkauf<br />

Corina Sarasin, Tel. 044 277 72 67,<br />

c.sarasin@fritzundfraenzi.ch<br />

Jacqueline Zygmont, Tel. 044 277 72 65,<br />

j.zygmont@fritzundfraenzi.ch<br />

Anzeigenadministration<br />

Dominique Binder, Tel. 044 277 72 62,<br />

d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />

Art Direction/Produktion<br />

Partner & Partner, Winterthur<br />

Bildredaktion<br />

13 Photo AG, Zürich<br />

Korrektorat<br />

Brunner Medien AG, Kriens<br />

Auflage<br />

(WEMF/SW-beglaubigt <strong>2017</strong>)<br />

total verbreitet 102 108<br />

davon verkauft 24 846<br />

Preis<br />

Jahresabonnement Fr. 68.–<br />

Einzelausgabe Fr. 7.50<br />

iPad pro Ausgabe Fr. 3.–<br />

Abo-Service<br />

Galledia Verlag AG Berneck<br />

Tel. 0800 814 813, Fax 058 344 92 54<br />

abo.fritzundfraenzi@galledia.ch<br />

Für Spenden<br />

Stiftung Elternsein, 8008 Zürich<br />

Postkonto 87-447004-3<br />

IBAN: CH40 0900 0000 8744 7004 3<br />

Inhaltspartner<br />

Institut für Familienforschung und -beratung<br />

der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen<br />

und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und<br />

Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation /<br />

Elternnotruf / Pro Juventute / Interkantonale<br />

Hochschule für Heilpädagogik Zürich /<br />

Schweizerisches Institut für Kinder- und<br />

Jugendmedien<br />

Stiftungspartner<br />

Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule<br />

Zürich / Elternbildung CH / Marie-Meierhofer-<br />

Institut für das Kind / Schule und Elternhaus<br />

Schweiz / Schweizerischer Verband<br />

alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV /<br />

Kinderlobby Schweiz / kibesuisse Verband<br />

Kinderbetreuung Schweiz<br />

24 Stunden<br />

Hilfe und Beratung<br />

für Eltern und andere Bezugspersonen<br />

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Spendenkonto: Postcheck 80-32539-6,<br />

IBAN ZKB CH29 0070 0<strong>11</strong>1 4010 1823 1<br />

www.elternnotruf.ch<br />

24h@elternotruf.ch<br />

(Festnetztarif)


Buchtipps<br />

Der beste Papa<br />

der Welt kann<br />

sogar auf<br />

Giraffen reiten.<br />

Britta Nonnast:<br />

Michi und Papa<br />

– 10 wunderwarme<br />

Mutmach-<br />

Abenteuer<br />

Der fünfjährige<br />

Michi und sein<br />

Papa erleben in diesen warmherzigen<br />

Vorlesegeschichten die ganz<br />

normalen Abenteuer des Alltags.<br />

Und wenn Michi nachts böse Träume<br />

quälen, weiss sein aufmerksamer<br />

Papa immer einen Rat.<br />

Gulliver <strong>2017</strong>, Fr. 14.90,<br />

ab 5 Jahren<br />

Als Rollenvorbilder haben (vor)lesende<br />

Väter in der Lesesozialisation ihrer Söhne<br />

eine wichtige Funktion. Zum Vorlesen<br />

eignen sich alle Bücher, die beiden<br />

gefallen – trotzdem präsentieren wir Ihnen<br />

hier Geschichten über spezielle, verrückte<br />

und besonders enge Vater-Sohn-Teams.<br />

Wenn der Vater mit dem Sohne<br />

Christian<br />

Tielmann: Der<br />

Tag, an dem wir<br />

Papa umprogrammierten<br />

Statt des sicherheitsfanatischen<br />

Vaters kümmert<br />

sich plötzlich ein Roboter um Carlo<br />

und seine Schwester – und den kann<br />

man so umprogrammieren, dass er<br />

alles erlaubt! Ein Lesespass mit<br />

vielen Slapstick-Momenten.<br />

dtv junior <strong>2017</strong>, Fr. 16.90,<br />

ab 7 Jahren<br />

Bilder:ZVG<br />

In der Scheune wohnt ein<br />

Rudel Tiger, auf dem Müllhaufen<br />

eine Giraffe, die gerne<br />

Betten frisst, und im Wald der<br />

Urahne, dem Masarin, Loranga<br />

und Dartanjang zu Weihnachten<br />

ein paar Körnchen hinstreuen. Im<br />

Schwimmbecken schwimmen<br />

Hechte, und ab und zu schaut Gustav,<br />

der Gefängnisinsasse, auf eine<br />

Tasse Kaffee vorbei.<br />

Und es geht noch verrückter:<br />

Denn der Junge Masarin ist der vernünftigste<br />

Bewohner des kleinen<br />

Idylls in Schweden. Sein Papa<br />

Loranga trägt gerne einen Teewärmer<br />

auf dem Kopf, hört laut Popmusik<br />

und ändert die Spielregeln stets<br />

zu seinen Gunsten. Grossvater Dartanjang<br />

hält sich mal für einen<br />

India nerhäuptling, mal für einen<br />

Hund und trägt den lieben langen<br />

Tag Zahlen in erdachte Tabellen ein.<br />

Gegessen wird Schokoladenpudding<br />

mit Rahm, und arbeiten muss hier<br />

niemand («Und wer soll bitte schön<br />

Popmusik hören, wenn ich nicht zu<br />

Hause bin? Ich frag ja nur.»).<br />

Herrlich verdreht sind die Loranga-Geschichten<br />

von Barbro Lindgren.<br />

Dass sie in den Siebzigerjahren<br />

entstanden sind, erkennt man an der<br />

fröhlichen Lust, mit der Autoritäten<br />

ignoriert und Machtverhältnisse<br />

umgekehrt werden.<br />

Jetzt sind die zwei Bände in<br />

einem Buch neu übersetzt auf<br />

Deutsch erschienen. Ein Vorlesespass<br />

für wilde Väter und brave Söhne<br />

– oder umgekehrt.<br />

Barbro Lindgren:<br />

Loranga: Der<br />

beste Papa der<br />

Welt.<br />

Woow Books<br />

<strong>2017</strong>,<br />

Fr. 21.90,<br />

ab 7 Jahren<br />

Gudrun Skretting:<br />

Mein Vater, das<br />

Kondom und<br />

andere nicht ganz<br />

dichte Sachen<br />

Anton ist überzeugt:<br />

Sein Vater braucht<br />

eine neue Frau. Da kommt es nicht<br />

nur im Strickkurs zu Verwicklungen,<br />

und eine urkomische Szene reiht sich<br />

in diesem kurzweiligen Jugendroman<br />

an die nächste.<br />

Carlsen 2016, Fr. 21.90,<br />

ab 12 Jahren<br />

Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />

Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />

Instituts für Kinder- und<br />

Jugendmedien SIKJM.<br />

Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind<br />

weitere B uch empfehlungen zu finden.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

November <strong>2017</strong>89


Eine Frage – drei Meinungen<br />

Unsere Söhne sind im Fussballverein. Der Elfjährige seit ein paar Jahren,<br />

der Neunjährige seit einigen Monaten – mit grossem Erfolg. Der Kleine scheint<br />

ein Naturtalent zu sein und wird vom Trainer ständig gelobt. Das setzt dem<br />

Älteren zu. Wir wollen uns natürlich mit unserem jüngeren Sohn freuen –<br />

ohne den älteren zu verletzen. Wie machen wir das am besten?<br />

Klaus, 39, Olten SO<br />

Nicole Althaus<br />

Es ist wohl eine der härtesten<br />

Lektionen, die der Mensch im<br />

Leben zu lernen hat: Es gibt<br />

immer jemanden, der etwas<br />

besser kann als man selbst.<br />

Und nicht jeder ist in jedem<br />

Fach begabt. Aber jeder hat<br />

irgendwo Stärken. Freuen Sie<br />

sich mit dem Jüngeren über<br />

seinen Erfolg. Und loben Sie den Grossen in einem<br />

Feld, in dem er den Kleinen übertrumpft. Es findet sich<br />

ganz bestimmt eines.<br />

Tonia von Gunten<br />

Freuen Sie sich mit dem<br />

Jüngeren, doch stärken Sie<br />

das Selbstwertgefühl des<br />

Älteren und sagen Sie: «Wie<br />

ist das für dich, wenn dein<br />

Bruder vom Trainer so gelobt<br />

wird und du nicht? Ist sicher<br />

enttäuschend für dich, du<br />

spielst ja schon viel länger<br />

Fussball.» Trösten Sie ihn nicht damit, indem Sie seine<br />

andern Fähigkeiten aufzählen: «Dafür bist du gut in<br />

Mathe!», sondern finden Sie zusammen heraus, ob er<br />

sich noch fürs Fussballspielen begeistert oder nicht. Es<br />

ist schön, wenn Kinder sich in der Freizeit mit Dingen<br />

beschäftigen dürfen, die ihnen Spass machen.<br />

Peter Schneider<br />

Die Erfahrung, dass der<br />

Jüngste besser tschuttet,<br />

werden Sie dem Älteren nicht<br />

ersparen können. Das merkt<br />

er schliesslich auch selber.<br />

Freuen Sie sich mit dem<br />

Jüngeren und freuen Sie sich<br />

– bei anderer Gelegenheit –<br />

auch mit dem Älteren, und<br />

haben Sie Verständnis dafür, dass ihm der Erfolg des<br />

Bruders Bauchschmerzen bereitet; aber machen Sie<br />

keine Aktionen der Ausgewogenheit daraus. Denn das<br />

wäre für den Älteren eine Herablassung.<br />

Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin<br />

und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am<br />

Sonntag». Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir<br />

eltern» und hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.<br />

ch» initiiert und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter<br />

von zwei Kindern, 16 und 12.<br />

Tonia von Gunten, 44, ist Elterncoach, Pädagogin<br />

und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />

Programm, das frische Energie in die Familien<br />

bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />

stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />

und Mutter von zwei Kindern, <strong>11</strong> und 8.<br />

Peter Schneider, 59, ist praktizierender<br />

Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />

andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />

für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />

ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />

der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />

erwachsenen Sohnes.<br />

Haben Sie auch eine Frage?<br />

Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />

Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO<br />

90 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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■ Lern- und Medientipps von ausgewiesenen Fachleuten und Experten.<br />

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