11/2017
Fritz + Fränzi Fritz + Fränzi
Fr. 7.50 11/November 2017 Hemmzwerg Wie schüchternen Kindern geholfen werden kann Downsyndrom Mein Leben mit Maél, 8 – eine Mutter erzählt Fleisch, Milch, Ei Was ist gut für mein Kind – und was nicht?
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- Seite 50 und 51: Erziehung & Schule >>> bieterin in
Fr. 7.50 <strong>11</strong>/November <strong>2017</strong><br />
Hemmzwerg<br />
Wie schüchternen<br />
Kindern geholfen<br />
werden kann<br />
Downsyndrom<br />
Mein Leben mit<br />
Maél, 8 – eine<br />
Mutter erzählt<br />
Fleisch,<br />
Milch, Ei<br />
Was ist gut für mein Kind – und was nicht?
Illustration von Björn Berg © Bildmakarna Berg AB<br />
Originaltitel: «Winter in Lönneberga», Text bearbeitet von Tristan Berger<br />
TICKETS GEWINNEN!<br />
www.oekk.ch/kimu<br />
Unsere Krankenversicherung unterstützt<br />
«Neues von Michel aus Lönneberga» und «Die kleine Hexe».<br />
Zwei Kindermusicals, die der ganzen Familie Spass machen.
Editorial<br />
Bild: Geri Born<br />
Nik Niethammer<br />
Chefredaktor<br />
«Wenn Sie uns versprechen,<br />
dass Sie nicht alles glauben,<br />
was Ihr Kind von der<br />
Schule erzählt, versprechen<br />
wir Ihnen, dass wir nicht<br />
alles glauben, was Ihr Kind<br />
von zu Hause erzählt.»<br />
Notiz an der Wandtafel in einer österreichischen<br />
Grundschule, aufgeschrieben anlässlich eines<br />
Elternabends.<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Am 4. September erreichte mich eine E-Mail von Miriam Bettschen aus Frutigen BE: «Mit<br />
grossem Interesse habe ich Ihren Bericht über Autismus gelesen. Sie haben den Nagel auf<br />
den Kopf getroffen! Ich bin selber mit einem Autisten verheiratet und zwei unserer drei Kinder<br />
leiden unter Autismus. Für unseren siebenjährigen Sohn Joel wünschen wir uns sehnlichst<br />
einen Autismusbegleithund. In der Schweiz wartet man Jahre auf so einen Hund. Für<br />
Joel wäre der Hund aber jetzt wichtig und nötig. Bitte helfen Sie uns.»<br />
Dem Schreiben war ein Spendenaufruf beigelegt, mit dem Frau Bettschen bei Freunden,<br />
Verwandten und Stiftungen Geld gesammelt hatte – wenig erfolgreich: Statt der benötigten<br />
34 500 Franken für die Ausbildung und Anschaffung eines Autismusbegleithundes waren<br />
lediglich 4000 Franken zusammengekommen.<br />
«Für Joel ist es schwierig, mit Emotionen umzugehen und angemessen zu reagieren», erzählt<br />
die dreifache Mutter. «Unser Sohn ist schnell reizüberflutet. Kleinste Veränderungen werfen<br />
ihn aus der Bahn. Dann schreit er, wirft mit Gegenständen um sich, schlägt sich selbst.»<br />
Fachleute schätzen, dass ein Begleithund die Anfälle von Autisten um die Hälfte reduzieren<br />
kann. «Hat Joel einen Anfall und verkriecht sich unter der Bettdecke,<br />
würde sich der Hund auf mein Kommando sachte auf Joel legen; zuerst<br />
nur auf seine Beine, dann auf seinen ganzen Körper», sagt Miriam Bettschen.<br />
«Es ist bekannt, dass Autisten bei Anfällen nichts mehr spüren. Sie<br />
brauchen Widerstand. Der Druck des Hundes beruhigt sie.»<br />
Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins<br />
Fritz+Fränzi, unterstützt Miriam Bettschen bei der Finanzierung ihres<br />
grossen Wunsches. Wie die Familie zu ihrem Begleithund kommt und<br />
wie Sie helfen können, hat unsere Autorin Sarah King aufgeschrieben.<br />
Ein Hund nach Mass für Joel – ab Seite 46.<br />
In eigener Sache: Zweimal im Jahr veröffentlicht die WEMF AG die<br />
Leserschaftsstudie MACH-Basic; sie gibt Aufschluss darüber, welche Zeitungen<br />
und Zeitschriften Leser verlieren. Und welche zulegen. Die Zahlen<br />
für unser Magazin in der Übersicht:<br />
• 21 Prozent mehr Leserinnen und Leser innerhalb eines Jahres<br />
(MACH-Basic <strong>2017</strong>-2: 178 000 vs. MACH-Basic 2016-2: 147 000)<br />
• Zunahme der verkauften Auflage gegenüber dem Vorjahr um 34 Prozent<br />
(WEMF-Auflagenbulletin <strong>2017</strong>: 24 846 Exemplare vs. 2016: 18 572 Exemplare)<br />
• Zunahme der verkauften Auflage gegenüber 2015 um satte 143 Prozent<br />
(Basis 2015: 10 224 Exemplare)<br />
Ihr Zuspruch macht uns stolz. Und motiviert uns, Ihnen auch in Zukunft ein treuer Wegbegleiter<br />
zu sein. Für Ihr Vertrauen danke ich Ihnen sehr herzlich.<br />
Ihr Nik Niethammer<br />
850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org
Fr. 7.50 <strong>11</strong>/November <strong>2017</strong><br />
Inhalt<br />
Ausgabe <strong>11</strong> / November <strong>2017</strong><br />
Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />
fritzundfraenzi.ch und<br />
facebook.com/fritzundfraenzi.<br />
Psychologie & Gesellschaft<br />
40 Typisch Mädchen, typisch Buben?<br />
Buben lernen anders als Mädchen.<br />
Warum es wichtig ist, die Unterschiede<br />
zu kennen, und wie Sie damit umgehen<br />
können.<br />
Augmented Reality<br />
Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert<br />
erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und<br />
Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />
10<br />
Bild: Filipa Peixeiro / 13 Photo<br />
Dossier: Ernährung<br />
10 Zu Tisch, bitte!<br />
Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme:<br />
Es ist Wissenschaft und Glaubensfrage,<br />
Geschmackssache und Kulturgut, es<br />
verbindet Familien oder spaltet sie.<br />
Wir haben sieben Ernährungsmythen auf<br />
den Prüfstand gestellt – mit teilweise<br />
überraschenden Erkenntnissen.<br />
32 Schön entspannt bleiben<br />
Die Ernährungspsychologin Katja Kröller<br />
plädiert für Gelassenheit, wenn Kinder<br />
plötzlich zu Früchte- und Gemüsemuffeln<br />
werden.<br />
Hemmzwerg<br />
Wie schüchternen<br />
Kindern geholfen<br />
werden kann<br />
Downsyndrom<br />
Mein Leben mit<br />
Maél, 8 – eine<br />
Mutter erzählt<br />
Fleisch,<br />
Milch, Ei<br />
Was ist gut für unsere Kinder – und was nicht?<br />
Cover<br />
Viele Kinder greifen<br />
gerne nach Fleisch,<br />
Milch und Ei – doch<br />
ist das auch gesund?<br />
Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo, Daniel Winkler / 13 Photo, Samuel Trümpy / 13 Photo, Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />
4
36<br />
46<br />
70<br />
Georg Stöckli, warum sind gewisse Kinder<br />
übermässig schüchtern?<br />
Joel, 7, hat Asperger. Ein Begleithund würde<br />
ihm und seiner Mutter den Alltag erleichtern.<br />
«Wenn ich mit Maél zusammen bin, zählt<br />
nur der Moment», sagt Barbara Stotz.<br />
Erziehung & Schule<br />
46 Ein Begleithund für Joel<br />
Joel hat das Asperger-Syndrom,<br />
eine Variante des Autismus. Ein<br />
Begleithund könnte ihm helfen, sich<br />
im Leben beser zurechtzufinden.<br />
Die Stiftung Elternsein startet eine<br />
grosse Spendenaktion.<br />
54 Eine Frage der Sicht<br />
Für das Verständnis von Kindern ist<br />
ein Perspektivenwechsel nötig.<br />
56 Freude an der Rechtschreibung<br />
Drei Praxistipps.<br />
60 Schlagen, treten, beissen<br />
Was Eltern bei extremer Aggression<br />
ihres Kindes tun können.<br />
64 Freude am Rechnen<br />
Die «befreiende Pädagogik» kann<br />
Kinder fürs Lernen begeistern.<br />
70 Leben mit Downsyndrom<br />
Eine Mutter erzählt, wie die<br />
genetische Veranlagung ihres Kindes<br />
die Familie verändert und prägt.<br />
Digital & Medial<br />
82 Anderen beim Spielen zuschauen<br />
Let’s Player sind Jugendliche, die sich<br />
während des Gamens filmen. Deren<br />
Youtube-Filme sind bei Teenagern<br />
äusserst beliebt.<br />
86 Sind Gesundheits-Apps<br />
sinnvoll?<br />
Drei Tipps, worauf es ankommt.<br />
Ernährung & Gesundheit<br />
78 Generation kurzsichtig<br />
Die Zahl der Schulkinder, die eine<br />
Brille brauchen, steigt weltweit.<br />
Warum? Und kann Kurzsichtigkeit<br />
verhindert werden?<br />
Rubriken<br />
03 Editorial<br />
06 Entdecken<br />
34 Monatsinterview<br />
Der Erziehungswissenschaftler Georg<br />
Stöckli ist Experte für Schüchternheit.<br />
42 Jesper Juul<br />
Wie kommen Eltern zu Schlaf, wenn<br />
Kinder das Familienbett belagern?<br />
44 Michèle Binswanger<br />
Unsere Kolumnistin ist irritiert, dass<br />
eine Teenie-Girlband mit sehr<br />
explizitem Wortschatz sie fasziniert.<br />
57 Stiftung Elternsein<br />
Ellen Ringier über ihre Mutter, die sie<br />
auch im Winter in Kniesocken zur<br />
Schule schickte, und warum sie<br />
Verständnis hat für die Modemacken<br />
ihrer Töchter.<br />
58 Fabian Grolimund<br />
Wer aufhört, sich gegenseitig<br />
kennenzulernen, wird sich fremd –<br />
das gilt auch für unsere engsten<br />
Beziehungen.<br />
68 Leserbriefe<br />
90 Eine Frage – drei Meinungen<br />
Was tun, wenn der jüngere Bruder<br />
besser Fussball spielt als der ältere?<br />
Service<br />
85 Verlosung<br />
88 Sponsoren/Impressum<br />
89 Buchtipps<br />
91 Abo<br />
Die nächste Ausgabe erscheint<br />
am 1. Dezember <strong>2017</strong>.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>5
Entdecken<br />
So entspannt ist Bern<br />
3 FRAGEN<br />
Wo wollen Sie wohnen? Dort, wo das Leben<br />
möglichst entspannt ist? Dann sollten Sie nach<br />
Bern ziehen. Laut einer Studie im Auftrag der<br />
mobilen Wäscherei und Reinigung Zipjet in<br />
Berlin ist Bern die stressfreiste Stadt der<br />
Schweiz. Untersucht wurden rund 500 Städte<br />
nach Kriterien wie psychische Gesundheit der<br />
Bewohner, Arbeitslosigkeit, Schulden pro Kopf,<br />
Anzahl Sonnenstunden,<br />
Anzahl Grünflächen,<br />
Gleichstellung,<br />
Sicherheit, Umweltbelastung<br />
und Bevölkerungsdichte.<br />
Bern<br />
schaffte es auf Platz<br />
vier. Der erste Platz<br />
ging an Stuttgart.<br />
an Daniel Hess, Co-Leiter des Vereins Glücksschule<br />
«Schüler sollen an sich glauben können»<br />
Der Verein «Glücksschule» setzt sich für eine öffentliche Schule ein,<br />
in der Kinder mit Freude lernen und in die sie gerne gehen. Wie diese<br />
aussehen soll, erklärt Vereinsleiter Daniel Hess.<br />
Interview: Evelin Hartmann<br />
Daniel Hess, im Januar 2015 kam Ihr Buch «Glücksschule» auf den<br />
Markt. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Buch?<br />
Ich habe in dieser Zeit als Berufsschullehrer gearbeitet und war entsetzt,<br />
wie viele Schüler bereits mit der Schule innerlich abgeschlossen hatten.<br />
Zu dieser Zeit kam auch mein ältester Sohn in die Schule und wollte schon<br />
nach wenigen Wochen nicht mehr hingehen. «Ich werde dort krank», waren<br />
seine Worte. Mir wurde bewusst, wie viele schulische und gesellschaftliche<br />
Strukturen nicht dem Glück aller Menschen dienen. Ich wollte ein Buch<br />
schreiben, welches das Glück jedes Menschen ins Zentrum stellt.<br />
2015 wurde der gleichnamige Verein gegründet. Mit welchem Ziel?<br />
Der Verein setzt sich für einen Wandel an der öffentlichen Schule ein:<br />
Es müssen am Ende der Schulzeit nicht alle das Gleiche können, sondern<br />
jeder Schüler sollte vor allem an die eigenen Fähigkeiten glauben.<br />
Das ist doch die wichtigste Ressource jedes Menschen!<br />
Wie sieht heute Ihre Arbeit konkret aus?<br />
In der gesamten Schweiz gibt es inzwischen mehrere Regionalgruppen.<br />
Wir wollen die Menschen für eine andere Schulkultur sensibilisieren,<br />
bieten aber auch für Lehrpersonen oder Eltern konkrete erste Schritte an.<br />
Ausserdem beraten wir Schulen, die unser Programm im Schulalltag<br />
umsetzen wollen, und führen Kongresse, Vorträge und Kurse durch. Auch<br />
möchten wir eine Beratungsstelle aufbauen, die Eltern unterstützt,<br />
deren Kinder in der Schule Probleme haben, sowie Schulen und Lehrpersonen,<br />
die Probleme mit Lernenden oder Schulklassen haben.<br />
www.gluecksschule.ch<br />
71 Prozent der Familien<br />
mit Kindern unter 15 Jahren sorgen<br />
privat für das Alter vor.<br />
(Quelle: Umfrage der AXA Winterthur,<br />
bei der 500 Familien in der Schweiz befragt wurden)<br />
Auf Jobsuche? Eine neue<br />
Hotline soll helfen<br />
40 000 Jugendliche in der Schweiz sind ohne Job. Um diesen<br />
jungen Menschen eine Anlaufstelle zu bieten, startet «Check<br />
Your Chance», der Dachverein gegen Jugendarbeitslosigkeit,<br />
nun die Helpline GO4JOB, unter der sich ein Team aus<br />
Jugendpsychologen den Fragen und Nöten junger Arbeitssuchender<br />
annimmt. Und das rund<br />
um die Uhr. GO4JOB wurde in<br />
Zusammenarbeit zwischen «Check<br />
Your Chance» und dem Arbeitgeberverband<br />
entwickelt und wird von Pro<br />
Juventute betrieben.<br />
Beratung per Helpline 0800464562<br />
oder E-Mail: beratung@go4job.ch<br />
www.check-your-chance.ch<br />
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die aktuelle<br />
Fritz+Fränzi-App,<br />
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und sehen Sie einen<br />
Film über<br />
«Check Your Chance».<br />
Bilder: ZVG, Bern Tourismus<br />
6 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erfüllen Sie Kinderwünsche<br />
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in die gewünschte Filiale liefern lassen
Entdecken<br />
«Elterntaxis sind nicht nur<br />
ein grosses Ärgernis,<br />
sondern auch für Erziehungsdefizite<br />
verantwortlich.<br />
Man nimmt den Kindern so die<br />
Möglichkeit, den Umgang<br />
mit Gefahren zu lernen.»<br />
(Beat W. Zemp in einem Interview auf www.aargauerzeitung.ch)<br />
Beat W. Zemp ist Präsident<br />
des Dachverbands der<br />
Lehrerinnen und Lehrer<br />
Schweiz (LCH)<br />
Kinder und Lernen<br />
Entdecken, staunen und viel Neues ausprobieren –<br />
die «Kinder und Lernen»-Messe geht in die nächste<br />
Runde und lockt mit einer Ausstellung rund um Baby-,<br />
Kinder- und Jugendthemen. So informiert beispielsweise<br />
der Sprachreisenanbieter fRilingue über sein<br />
Angebot für Schüler und Studenten in den USA,<br />
England oder Frankreich oder<br />
der Club Chess4Kids über<br />
Schachkurse für junge Spieler.<br />
Dabei gilt es natürlich viel<br />
auszuprobieren und zu testen.<br />
Die nächsten Messen «Kinder<br />
und Lernen» finden am 19.<br />
November in Aarau und am<br />
26. November in Zürich statt.<br />
www.kinderundlernen.ch<br />
Wie die Mutter, so das Kind ...<br />
... zumindest, wenn es ums Schlafverhalten geht. Ein Forscherteam um<br />
Natalie Urfer-Maurer von der Universität Basel hat untersucht, wie<br />
Ein- und Durchschlafprobleme der Eltern mit der Schlafqualität der Kinder<br />
zusammenhängen. Dafür analysierten die Forscher den Schlaf von<br />
knapp 200 Kindern im Primarschulalter und befragten ihre Eltern zur<br />
eigenen Schlafqualität und der ihres Nachwuchses.Dabei stiessen die<br />
Forschenden auf einen Zusammenhang zwischen der Schlafqualität der<br />
Mütter und jener ihrer Kinder: Die Kinder von Müttern, die von Schlaf -<br />
problemen berichteten, schliefen später ein, schliefen weniger lang und<br />
befanden sich weniger lang im Tiefschlaf. Der Nachwuchs könnte sich das<br />
Schlafverhalten von den Eltern abschauen, oder abendlicher Streit in der<br />
Familie könnte das Einschlafen erschweren, so die Forscher. Zwischen der<br />
Schlafqualität von Vätern und jener ihrer Kinder wurde übrigens kein<br />
Zusammenhang gefunden.<br />
«Doktor, was fehlt ihm?»<br />
Bei einem Arztbesuch mit ihren Kindern sind<br />
Eltern oft überbehütend und «managen» das<br />
gesamte Prozedere, von der Anmeldung über die<br />
Untersuchung bis zur Besprechung der Befunde.<br />
Das mag bei kleinen Kindern angebracht sein,<br />
doch selbst bei Jugendlichen lassen zumindest<br />
amerikanische Eltern diesen kaum Freiräume. Eine<br />
für die USA repräsentative Befragung der University<br />
of Michigan von 1517 Müttern und Vätern 13-<br />
bis 18-jähriger Teenager ergab, dass fast 40 Prozent<br />
der Eltern den Medizinern alle Fragen selbst stellen.<br />
Nur 15 Prozent gaben an, dass ihre Tochter<br />
oder ihr Sohn körperliche oder emotionale Probleme<br />
mit seinem Arzt unter vier Augen bespricht.<br />
Um ein Bewusstsein für seine eigene Gesundheitsvorsorge<br />
zu entwickeln, wäre aber genau dies wichtig,<br />
erklären die Forscher.<br />
Bilder: Glowimages RM / Alamy Stock Photo, Hero Images / Plainpicture, ZVG<br />
8 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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ist gluten- und laktosefrei.<br />
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10 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Du bist, was du isst<br />
Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme: Es ist Wissenschaft und<br />
Glaubensfrage, Geschmacks sache und Kulturgut, es verbindet Familien<br />
oder spaltet sie. Was zu essen, ist gesund? Und womit schaden wir<br />
unseren Kindern? Eine Einordnung. Text: Virginia Nolan Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong><strong>11</strong>
Dossier<br />
12 <br />
November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Die Forschung zeigt:<br />
Jugendliche mit hohem<br />
Milchkonsum haben<br />
ein höheres Risiko für<br />
Knochenbrüche.<br />
Macht Milch wirklich<br />
stark? Ist<br />
Fleisch gut für<br />
mein Kind? Gilt<br />
es, Zucker um<br />
jeden Preis zu vermeiden?<br />
Alte, tief in unserer Gesellschaft<br />
verankerte Weisheiten darüber, was<br />
gesund ist und was nicht, sind ins<br />
Wanken geraten. Dies macht uns<br />
bisweilen ratlos: Was dürfen wir<br />
überhaupt noch essen? Und vor<br />
allem: Was sollen wir unseren Kindern<br />
zu essen geben?<br />
Als Autorin, die oft über Ernährung<br />
schreibt, gelangte ich mit der<br />
Zeit zur Erkenntnis: Der goldene<br />
Mittelweg ist der richtige, auch beim<br />
Essen. Doch was heisst das genau?<br />
Und stimmt das überhaupt? Ich<br />
machte mich auf Spurensuche – und<br />
stellte sieben Mythen auf den Prüfstand<br />
der Wissenschaft.<br />
1. «Milch macht stark»<br />
Kaum ein Lebensmittel spielt in der<br />
Kinderernährung eine so zentrale<br />
Rolle wie Milch. «Milch macht<br />
stark» ist fest in den Köpfen verankert.<br />
Erst recht, wenn es um die<br />
Ernährung von Kindern und<br />
Jugendlichen geht. Milch gilt als<br />
wichtige Kalziumlieferantin, die<br />
Knochen und Zähne stärkt. Die<br />
Milchempfehlungen der Schweizerischen<br />
Gesellschaft für Ernährung<br />
(SGE) variieren nach Alter des Kindes.<br />
Demgemäss sollten Zehn- bis<br />
Zwölfjährige drei Portionen verschiedener<br />
Milchprodukte pro Tag<br />
zu sich nehmen. Als eine Portion<br />
gelten 2 Deziliter Milch, 150 bis 200<br />
Gramm Joghurt, Quark oder Hüttenkäse,<br />
30 Gramm Halbhart- oder<br />
Hartkäse oder 60 Gramm Weichkäse.<br />
Daraus resultiert eine Tagesmenge<br />
von bis zu 460 Gramm.<br />
Milchtrinker werden grösser<br />
«Ein so hoher Milchkonsum wird<br />
oft mit der Kalziumversorgung<br />
gerechtfertigt. Demnach soll Milch<br />
die Knochen stärken und Brüchen<br />
vorbeugen», sagt Walter Willett,<br />
Professor für Ernährungswissenschaft<br />
und Epidemiologie an der<br />
Harvard School of Public Health in<br />
Boston. «Dafür gibt es aber keine<br />
wissenschaftlichen Beweise.» Der<br />
72-jährige Willett ist der meistzi -<br />
tierte Ernährungswissenschaftler<br />
und er forscht, wie Ernährung und<br />
Krankheit zusammenhängen.<br />
«Der Mythos, wonach Kinder<br />
viele Milchprodukte konsumieren<br />
sollten, um ihre Knochen zu stärken,<br />
scheint der Realität definitiv<br />
nicht standzuhalten», sagt Willett.<br />
«Wir wissen heute, dass Jugendliche<br />
mit einem hohen Milchkonsum ein<br />
höheres Risiko für Knochenbrüche<br />
im Erwachsenenalter haben.» Ein<br />
wahrscheinlicher Grund dafür sei,<br />
dass ein hoher Milchkonsum in der<br />
Kindheit zu längeren Knochen führe<br />
– die damit anfälliger seien für<br />
Brüche.<br />
Dass Milchtrinker grösser werden,<br />
gilt als unumstritten. Grösser<br />
bedeutet aber nicht unbedingt<br />
gesünder. «Gross gewachsene Menschen<br />
haben ein erhöhtes Risiko für<br />
bestimmte Krebsarten», sagt Susannah<br />
Brown vom World Cancer<br />
Research Fund. «Der Risikofaktor<br />
ist nicht die Körpergrösse selbst,<br />
sondern der Wachstumsprozess, den<br />
wir bis ins Erwachsenenalter durchlaufen.»<br />
Wie gross ein Mensch werde,<br />
hänge auch von der Ernährung<br />
in Kindheit und Jugend ab. So<br />
begünstige eine stark proteinreiche<br />
Kost ein rasanteres Wachstum und<br />
eine höhere Körpergrösse, auch<br />
übergewichtige Kinder wüchsen<br />
tendenziell schneller. Zudem setzt<br />
die Pubertät früher ein.<br />
Keinen Bedarf mehr für Milch<br />
nach der Stillzeit<br />
«Solche Entwicklungen sind eine<br />
unmittelbare oder indirekte Folge<br />
unserer Ernährung als Kind», sagt<br />
Brown. «Dabei spielen erhöhte Spiegel<br />
von Wachstums- und Sexualhormonen<br />
eine Schlüsselrolle.» Diese<br />
Hormone beeinflussten Körpergrösse<br />
und Geschlechtsmerkmale,<br />
aber auch das Verhalten unserer<br />
Zellen – und so das Risiko für Krebs.<br />
Was hat das mit der Milch zu tun?<br />
«Wir wissen, dass ein hoher Konsum<br />
von Milchprodukten die Konzentration<br />
von Wachstums faktoren<br />
im Blut erhöht», sagt Ernährungswissenschaftler<br />
Walter Willett. Im<br />
Fokus steht dabei der Wachstumsfaktor<br />
IGF-1, der die Zellteilung<br />
beschleunigt. Ein erhöhter Spiegel<br />
von IGF-1 geht nachweislich mit<br />
einem gesteigerten Risiko für gewisse<br />
Krebsarten einher. Warum mehr<br />
von diesem Botenstoff im Blut hat,<br />
wer ausgiebig Milchprodukte konsumiert,<br />
ist gemäss Willett noch<br />
nicht geklärt. Im Verdacht stünden<br />
jedoch Wachstumshormone in der<br />
Kuhmilch.<br />
Auch Muttermilch enthält<br />
Wachstumshormone. Nach der Stillzeit<br />
jedoch, etwa ab dem dritten<br />
Lebensjahr, habe der Mensch keinen<br />
Bedarf mehr für Milch: «Dann ist<br />
rasantes Wachstum nicht >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>13
Dossier<br />
>>> mehr wünschenswert, sondern<br />
mit gesundheitlichen Risiken<br />
verbunden.»<br />
Steigender Östrogenspiegel<br />
in der Milch<br />
Als solche bezeichnet die Harvard-<br />
Forscherin Ganmaa Davaasambuu<br />
auch die in der Kuhmilch enthaltenen<br />
Sexualhormone, vor allem<br />
Ös trogene. Problematisch ist gemäss<br />
Davaasambuu nicht Milch per se,<br />
sondern das Produkt einer hochmodernen<br />
Milchwirtschaft, die Kühe<br />
dauerträchtig hält und fast ununterbrochen<br />
melkt. «Mit fortschreitender<br />
Trächtigkeit», sagt Davaasambuu,<br />
«steigt der Östrogenspiegel in<br />
der Milch.»<br />
Die Forscherin analysierte nebst<br />
westlicher Hochleistungsmilch auch<br />
Rohmilch aus der Mongolei: Diese<br />
hatte eine bis zu 33 Mal tiefere Konzentration<br />
an weiblichen >>><br />
Problematisch ist Milch als<br />
Produkt einer hochmodernen<br />
Milchwirtschaft, die Kühe<br />
dauerträchtig hält und fast<br />
ununterbrochen melkt.<br />
Dem Zucker auf<br />
der Spur<br />
Anita und Martin haben das Leben ohne Zucker auf<br />
Probe gewagt. Die Mutter des 6-jährigen Noah* und<br />
des 3-jährigen Nico und ihr Partner befanden den<br />
Versuch als wohltuend, aber alltagsuntauglich. Jetzt<br />
praktiziert die Patchworkfamilie einen Mittelweg.<br />
Anita: Ich habe kein Problem damit, zwischendurch ein<br />
Stück Kuchen zu essen. Da weiss ich wenigstens auf<br />
Anhieb, dass Zucker drin ist. Problematisch finde ich, dass<br />
wir Zucker auch da finden, wo ihn keiner vermutet. Martin:<br />
Hüttenkäse, Brot, Würzmischungen, Trockenfleisch – überall<br />
ist versteckter Zucker drin. Wollen wir den weglassen, wirds<br />
schnell kompliziert. Da komme ich beim Einkaufen nicht<br />
ohne Anitas Hilfe zurecht, ganz ehrlich. Anita: Fruktose,<br />
Gerstenmalz, Saccharose, Raffinose – Zucker hat viele<br />
Namen, dies sind nur ein paar davon. Es muss sich gut<br />
informieren, wer zuckerfrei leben will. Martin: Wir haben<br />
es 40 Tage lang durchgezogen, einfach als Versuch. Für<br />
mich war das Neuland. Anita: Ich beschäftige mich schon<br />
länger mit dem Thema und verdanke der Zuckerreduktion<br />
ein besseres, gesünderes Körpergefühl. Martin: Ich habe<br />
in den 40 Tagen gut sieben Kilo abgenommen, aber darum<br />
ging es mir nicht: Vor allem war ich wacher, konzentrierter,<br />
fitter. Anita: Wir begannen, viele Nahrungsmittel selbst herzustellen:<br />
Brot, Joghurt, Würzmischungen oder Aufstriche<br />
etwa. Als berufstätige Mutter war mir das auf Dauer jedoch<br />
zu anstrengend. Die optimale Ernährungsweise soll auch<br />
familientauglich sein. Diese Herausforderung thematisiere<br />
ich auch auf meinem Blog runningmami.ch. Martin: Gelohnt<br />
hat sich unser Versuch aber trotzdem. Da hat ein Umdenken<br />
stattgefunden. Anita: Auf jeden Fall. Wir haben vieles daraus<br />
in unseren Alltag integriert. So habe ich zum Beispiel ein<br />
zuckerfreies Brot gefunden, das auch die Kinder mögen, und<br />
Fruchtjoghurts kaufe ich nicht mehr. Ich möchte nicht, dass<br />
meine Kinder ihren täglichen Zuckerbedarf schon nach dem<br />
Frühstück gedeckt haben. Noah: Mein Lieblingsessen sind<br />
Gummibärchen. Anita: Mein Sohn liefert die Antwort gleich<br />
selbst: Nein, die Kinder mussten unseren Versuch nicht<br />
mitmachen. Die Naschbox stand ihnen weiterhin offen. Da<br />
dürfen sie ab und zu was Süsses rausnehmen. Martin: Anita<br />
und ich werden unsere zuckerfreien 40 Tage aber definitiv<br />
wiederholen. Ich bin leider rückfällig geworden und merke es<br />
auch – die verflixte Schokolade …<br />
* Namen der Kinder von der Redaktion geändert<br />
14 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Anita und Martin<br />
lebten 40 Tage<br />
zuckerfrei. Das<br />
bedeutete auch<br />
Verzichten auf<br />
Trockenfleisch<br />
und Hüttenkäse.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November <strong>2017</strong>15
Dossier<br />
Das<br />
Lieblings essen<br />
von David<br />
(rechts hinten)<br />
und Anna (vorne)<br />
ist Durian – eine<br />
Stinkfrucht.<br />
16 <br />
November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Forscher bezeichnen zwei<br />
Portionen Milchprodukte<br />
pro Tag – egal welcher Art –<br />
als massvoll.<br />
>>> Geschlechtshormonen. Kühe<br />
in der Mongolei werden nicht künstlich<br />
besamt und nur in den ersten<br />
drei Monaten einer Trächtigkeit<br />
gemolken. «Die Milch, die wir heute<br />
konsumieren, hat kaum noch<br />
etwas mit der Milch zu tun, die<br />
unsere Vorfahren tranken», sagt<br />
Davaasambuu.<br />
Milch ist gesund – für<br />
mangelernährte Kinder<br />
«Uns fehlen viele Antworten auf die<br />
Frage, wie der Konsum von Milchprodukten<br />
in der Kindheit die<br />
Gesundheit beeinflusst», sagt Willett.<br />
«Bis weitere Informationen vorliegen,<br />
ist Masshalten ein guter Mittelweg.»<br />
Als massvoll bezeichnet der Forscher<br />
Mengen von täglich höchstens<br />
zwei Portionen Milchprodukten,<br />
egal welcher Art. «Milch enthält<br />
wichtige Nährstoffe wie Protein oder<br />
Kalzium», schreiben die Forscher<br />
Willett und David Ludwig im Fachmagazin<br />
JAMA. Kindern, die von<br />
Mangelernährung betroffen seien,<br />
könne Milch gesundheitliche Vorteile<br />
bieten. «Bei Kindern aber, die<br />
bereits eine hochwertige Er >>><br />
Roh und natürlich: Essen<br />
wie unsere Vorfahren<br />
Die Patchworkfamilie von Sandra und Tanja ernährt<br />
sich von Rohkost. Wenn Luca*, 12, David, 9, oder<br />
die 6-jährigen Mia und Anna Geburtstag feiern, ist<br />
sogar der Kuchen roh.<br />
Tanja: Ich ernähre mich nun schon so lange von Rohkost,<br />
dass ich kaum mehr weiss, wie es vorher war. Sandra:<br />
Auch ich fing in späten Teenagerjahren damit an, nachdem<br />
diese Ernährungsweise meinem Vater zu einer besseren<br />
Gesundheit verholfen hatte. Ich könnte mir nicht mehr vorstellen,<br />
anders zu leben. Tanja: Unsere Kinder kennen seit<br />
Geburt nichts anderes. Im Sommer sind wir dank unserem<br />
Garten fast selbstversorgend. Sandra: Je nach Lust der<br />
Kinder kaufen wir aber auch mal etwas dazu, Melonen oder<br />
exotische Früchte zum Beispiel. David: Mein Lieblingsessen<br />
ist Durian. Anna: Meines auch! Tanja: Die Stinkfrucht ist der<br />
ungeschlagene Favorit der Kinder. Wahrscheinlich, weil wir<br />
sie so selten essen. Mia: Ich esse am liebsten Geburtstagskuchen.<br />
Sandra: Der Kuchen ist ein Highlight für die Kinder.<br />
Ich mache einen Boden aus Datteln und Nüssen und eine<br />
Füllung aus frischen Früchten und Nüssen. Tanja: Als Rohkost<br />
gelten Naturprodukte, die nicht über 40 Grad erwärmt<br />
wurden. Wir essen auch Trockenfleisch, rohe Eier von unseren<br />
Hühnern und Rohmilch, die Sandra zu Quark verarbeitet.<br />
Sandra: Wir essen alles in natürlicher Form, so, wie unsere<br />
Vorfahren gegessen haben und es Wildtiere noch heute tun.<br />
Dadurch bleiben unserer Nahrung wichtige Enzyme und<br />
Nährstoffe erhalten. Tanja: Die Milch kann ich eigentlich<br />
nicht mit mir vereinbaren, weil es unnatürlich ist, Muttermilch<br />
einer anderen Art zu trinken. Sandra: Bisher haben<br />
die Kinder noch nie den Wunsch geäussert, etwas zu essen,<br />
das sie zu Hause nicht bekommen. Ich wüsste nicht, wie<br />
ich darauf reagieren würde. Luca: Bei Oma habe ich früher<br />
einmal heimlich Brot und Teigwaren gegessen. Tanja: Dass<br />
es heimlich war, fand ich nicht so toll. Da gabs Diskussionen<br />
mit meiner Mutter. Luca: Heute esse ich aus Überzeugung<br />
roh. Meine Freunde haben das schnell begriffen. Ich kann<br />
problemlos bei denen essen: Ein paar Äpfel und Bananen hat<br />
jeder daheim. Sandra: Drei unserer Kinder werden zu Hause<br />
unterrichtet, David besucht die Schule. Wenn dort ein Kind<br />
Geburtstag feiert, nimmt die Lehrerin Nüsse für ihn mit. Mir<br />
wäre es lieb, könnten wir unsere Kinder noch lange von der<br />
industriellen Nahrung fernhalten. Tanja: Klar könnten wir<br />
sagen: Jetzt kochen wir das Gemüse halt einmal. Aber wir<br />
haben bei Freunden gesehen, dass die Hemmschwelle, auch<br />
andere Sachen zu probieren, dann abnimmt. Rohkost gibt<br />
klar vor, was drinliegt – dass Süsskram und Industrienahrung<br />
da nicht dazugehören, finden wir als Mütter prima.<br />
*Namen der Kinder von der Redaktion geändert<br />
17
Dossier<br />
>>><br />
«Bio-Qualität garantiert uns<br />
ein hohes Mass an Sicherheit,<br />
dass Fleisch nicht mit<br />
Antibiotika belastet ist», sagt<br />
Kinderarzt Josef Laimbacher.<br />
nährung mit grünblättrigen<br />
Früchten, Gemüsen, Nüssen und<br />
Samen sowie guten Proteinquellen<br />
geniessen, können die Vorzüge der<br />
Milch ihre etwaigen gesundheitlichen<br />
Risiken möglicherweise nicht<br />
aufwiegen.»<br />
2. «Fleisch muss sein»<br />
Wer heutzutage kein Fleisch isst,<br />
erweckt damit kaum mehr Aufsehen.<br />
Wo immer wir speisen, sind<br />
vegetarische Optionen gang und<br />
gäbe. Es wird auch kaum mehr angezweifelt,<br />
dass eine fleischlose Ernährung<br />
nicht zwangsläufig zu Mangelerscheinungen<br />
führt.<br />
Nicht ganz so entspannt sind wir<br />
jedoch, wenn es um Kinder geht. Es<br />
bleibt die Frage im Raum: Braucht<br />
unser Nachwuchs Fleisch, um<br />
gesund zu wachsen?<br />
«Fleisch ist ein hochwertiges Nahrungsmittel,<br />
reich an Protein, Eisen<br />
und anderen Vitalstoffen», sagt Josef<br />
Laimbacher, Chefarzt für Kinderund<br />
Jugendmedizin am Ostschweizer<br />
Kinderspital und Mitglied der<br />
Eidgenössischen Ernährungskommission.<br />
$<br />
Um Fleischkonsum propagieren<br />
zu können, müsste aber eine wichtige<br />
Voraussetzung stimmen. Für<br />
Laimbacher ist das Bio-Qualität:<br />
«Sie garantiert uns ein hohes Mass<br />
an Sicherheit, dass das Fleisch nicht<br />
mit Antibiotika oder Rückständen<br />
aus kontaminiertem Tierfutter be -<br />
lastet ist.»<br />
Seien diese Bedingungen erfüllt,<br />
stelle Fleisch in der Kinderernährung<br />
eine wertvolle Quelle für<br />
essenzielle Aminosäuren dar. Das<br />
sind Proteinbausteine, die im >>><br />
Allergie oder<br />
Intoleranz?<br />
Blähungen, Hautausschläge oder<br />
Atemnot: Manche Menschen<br />
reagieren empfindlich bis sehr<br />
heftig auf bestimmte Lebensmittel.<br />
Dann kann eine Allergie vorliegen<br />
oder eine Intoleranz. Die beiden<br />
Formen der Reaktion auf<br />
Inhaltsstoffe unterscheiden sich<br />
grundlegend voneinander.<br />
Eine Nahrungsmittelallergie beruht<br />
auf einer Abwehrreaktion des Körpers<br />
gegenüber harmlosen pflanzlichen oder<br />
tierischen Eiweissen (Allergenen). Die<br />
von unserem Organismus gebildeten<br />
Antikörper lösen bei jeglichem Kontakt<br />
mit den Allergenen – oft reichen nur<br />
Spuren davon – eine allergische Reaktion<br />
aus. Sie variiert je nach Schweregrad der<br />
Allergie von Juckreiz über Hautekzeme<br />
oder Verdauungsbeschwerden bis hin<br />
zum sogenannten anaphylaktischen<br />
Schock, der schwersten Form einer allergischen<br />
Reaktion, die im schlimmsten Fall<br />
zu Atem- und Kreislaufstillstand führt.<br />
Im Fall der Nahrungsmittelallergien ist<br />
die gefühlte Betroffenheit weit höher als<br />
die tatsächliche, wie Zahlen des Allergiezentrums<br />
Schweiz zeigen: So geben bei<br />
Umfragen jeweils 20 Prozent der Bevölkerung<br />
an, auf bestimmte Nahrungsmittel<br />
allergisch zu sein, nachweislich<br />
davon betroffen sind allerdings lediglich<br />
2 bis 8 Prozent.<br />
Nahrungsmittelintoleranz ist ein Sammelbegriff<br />
für verschiedene, nicht<br />
allergisch bedingte Reaktionen auf<br />
Nahrungsmittel. Dabei bildet der Körper<br />
keine Antikörper, sondern ihm fehlt stattdessen<br />
die Fähigkeit, einen bestimmten<br />
Stoff zu verdauen, beziehungsweise er<br />
hat diese Fähigkeit ganz oder teilweise<br />
verloren. Ein bekanntes Beispiel für eine<br />
Nahrungsmittelintoleranz ist die Zöliakie<br />
oder Glutenintoleranz. Dabei können<br />
Betroffene das Klebereiweiss in verschiedenen<br />
Getreidesorten nicht verdauen,<br />
was zu einer Schädigung der Dünndarmschleimhaut<br />
führt. Bei der Laktoseintoleranz,<br />
einer weiteren bekannten Störung,<br />
fehlt Betroffenen ein Verdauungsenzym,<br />
um Milchzucker zu spalten. Anstatt ins<br />
Blut gelangt der Milchzucker unverdaut<br />
in den Dickdarm und wird dort von<br />
Bakterien vergoren, was zu Blähungen,<br />
Bauchkrämpfen, Durchfall, Verstopfung<br />
oder Erbrechen führen kann.<br />
Eine Nahrungsmittelintoleranz führt<br />
nicht zu einer lebensbedrohlichen<br />
Situation, kann für Betroffene aber<br />
sehr einschränkend und unangenehm<br />
sein. Die Symptome sind vielfältig, zu<br />
den häufigsten gehören Verdauungsbeschwerden<br />
wie Bauchschmerzen, Blähungen,<br />
Durchfall oder Verstopfung sowie<br />
Unwohlsein. Je nach Form der Intoleranz<br />
sind in der Schweiz bis zu 20 Prozent der<br />
Bevölkerung betroffen.<br />
Mehr Informationen: www.aha.ch<br />
18 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August November <strong>2017</strong>19
Dossier<br />
Einer für alle:<br />
Obwohl Mutter<br />
Sandra<br />
«Ella-konform»<br />
kocht, essen alle<br />
aus demselben<br />
Topf.<br />
20 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Familiensolidarität mit<br />
der Allergikerin<br />
Ella Macher, 16, aus Bäretswil ZH leidet an schweren<br />
Lebensmittelallergien. Ihre Eltern Sandra und<br />
Andreas sowie Bruder Flynn, 12, stellten deshalb<br />
auch den eigenen Speiseplan auf den Kopf.<br />
Sandra: Ihr erster Griessbrei kostete Ella fast das Leben.<br />
Sie bekam einen Ausschlag, ihr Hals schwoll zu, sie verlor das<br />
Bewusstsein. Ella hatte als Baby einen allergischen Schock.<br />
Es stellte sich heraus, dass sie hochallergisch auf Weizen<br />
war – sowie auf Nüsse, Eier und Milch. Ella: Heute sind<br />
meine Reaktionen nicht mehr lebensbedrohlich. Ich hatte<br />
neulich sogar Brot probiert – und nachher nur Bauchweh.<br />
Experimentieren läuft nicht immer gleich gut. Andreas: Als<br />
du Milchschaum probiert hattest, warst du zwei Tage ausser<br />
Gefecht. Sandra: Solche Reaktionen waren früher gang und<br />
gäbe. Nur schon, wenn ein anderes Kind Glace gegessen<br />
hatte und Ella mit ungewaschenen Fingern berührte,<br />
reagierte sie mit Nesselfieber. Ella: Daran erinnere ich mich<br />
kaum mehr. Sandra: Mich dagegen prägt die Angst, dass Ella<br />
etwas Falsches erwischen könnte, bis heute. Ich schärfte der<br />
Kindergärtnerin ein, dass Ella nicht einmal die Blockflöte mit<br />
anderen teilen darf, Lehrer und Eltern von Schulfreunden<br />
wurden informiert, Spezialessen fürs Klassenlager organisiert.<br />
Ich war jahrelang wie auf Nadeln. Ella: Dass Mama<br />
nicht aus der Rolle meiner Beschützerin herauskann, ist ein<br />
grosses Thema zwischen uns. Andreas: Es führt auch zu<br />
Konflikten zwischen uns Eltern, weil ich es unterstütze, wenn<br />
Ella experimentieren will. Als Arzt interessieren mich ihre<br />
Reaktionen eher, als dass sie mich ängstigen. Gleichzeitig<br />
verstehe ich Sandra, weil der Umgang mit Ellas Allergien<br />
im Alltag vor allem an ihr hängt. Sandra: Früher kochte ich<br />
zu jeder Mahlzeit zwei verschiedene Gerichte. Irgendwann<br />
wuchs mir das über den Kopf, mittlerweile pflegt auch<br />
Andreas als Vegetarier eine spezielle Ernährung. Flynn:<br />
Wir essen meist alle «Ella-konform» – das ist bei uns ein<br />
fester Begriff. Manchmal gibts für mich und Papa etwas<br />
Käse dazu. Sandra: Flynn hat in den vergangenen Jahren oft<br />
zurückstecken müssen, ich hatte keine Kapazität, auf seine<br />
Essenswünsche einzugehen. Flynn: Manchmal motze ich<br />
auch. Meist sehe ich es positiv: Ellas Allergien machten uns<br />
erfinderisch – und Kochen spannender. Sandra: Der vegane<br />
Trend hat uns viele neue Produkte beschert. Ella: Es gibt aber<br />
leider auch den Trend, Pseudo-Allergien an die grosse Glocke<br />
zu hängen. Ich kann nicht verstehen, wie Leute sich damit<br />
interessant machen möchten, wo ich stets nur eines wollte:<br />
ja nicht auffallen mit meinen Allergien.<br />
Vegan lebende Kinder sollten<br />
täglich etwa einen Viertel<br />
mehr Pflanzenprodukte essen<br />
als traditionell ernährte<br />
Altersgenossen.<br />
>>> Körper unter anderem am<br />
Muskelaufbau sowie an der Produktion<br />
von Enzymen, Hormonen und<br />
Antikörpern beteiligt sind.<br />
Es geht auch ohne<br />
Geht es auch ohne? «Grundsätzlich<br />
ja», sagt Laimbacher. Ein Kind vegetarisch<br />
zu ernähren, bedeute allerdings<br />
nicht nur, Fleischprodukte<br />
vom Speiseplan zu streichen, sondern<br />
diese durch eine ausgewogene<br />
Mischkost zu ersetzen. So seien<br />
Milchprodukte, Eier, Hülsenfrüchte,<br />
Getreide und Nüsse gute Proteinlieferanten<br />
und deckten dabei auch<br />
essenzielle Aminosäuren ab. «Proteinmangel<br />
ist in unseren Breitengraden<br />
kein Thema mehr», sagt Laimbacher.<br />
Daran ändere auch die<br />
zunehmende Beliebtheit der fleischlosen<br />
Kost nichts.<br />
Ihren Bedarf an Vitamin B12,<br />
zentral für die Blutbildung und die<br />
Funktion des Nervensystems, müssten<br />
vegetarisch lebende Kinder über<br />
Milchprodukte und Eier decken.<br />
«Eine ausgewogene Ernährung, die<br />
ohne Fleisch auskommt, aber andere<br />
Tierprodukte miteinschliesst», so<br />
Laimbacher, «deckt die Nährstoffbedürfnisse<br />
des wachsenden Kindes<br />
gut ab.»<br />
3. «Veganer sind<br />
Rabeneltern»<br />
Aber was ist mit der veganen Ernährung,<br />
die sämtliche Nahrungsmittel<br />
tierischen Ursprungs ausschliesst?<br />
In den Medien lesen wir von Müttern<br />
und Vätern, die ihre Kinder mit<br />
Trockenobst fütterten, bis diese spitalreif<br />
waren, von einem Baby, das<br />
durch Pflanzenkost verhungerte,<br />
weil ihm die Eltern keine >>><br />
21
Dossier<br />
Vegane Ernährung kann bei<br />
fehlendem Fachwissen zu<br />
Hirnschädigungen führen.<br />
>>> Säuglingsmilch anboten, nachdem<br />
das Stillen nicht funktioniert<br />
hatte.<br />
Auch am Ostschweizer Kinderspital<br />
mussten schon Kinder behandelt<br />
werden, bei denen die vegane<br />
Ernährung zu schweren Entwicklungsdefiziten<br />
geführt hatte: «Die<br />
meisten davon waren Babys und<br />
Kleinkinder mit irreversiblen Hirnschädigungen,<br />
ausgelöst durch einen<br />
Mangel an Vitamin B12 der Mutter<br />
während Schwangerschaft und Stillzeit.»<br />
Laimbacher betont allerdings,<br />
dass diese Patienten Einzelfälle darstellten,<br />
von denen er in den letzten<br />
Jahren keine mehr gesehen habe:<br />
«Dies ist vermutlich einer intensiveren<br />
Aufklärung zu verdanken.» Das<br />
Bild der veganen Rabeneltern, das<br />
von den Medien kolportiert werde,<br />
sei überzogen.<br />
Seitan und Bohnen haben mehr<br />
Proteine als Fleisch<br />
Eine rein pflanzliche Kost, sagt<br />
Laimbacher, biete durchaus gewisse<br />
gesundheitliche Vorteile, gerade in<br />
Bezug auf Zivilisationskrankheiten<br />
wie Übergewicht. Trotzdem rät der<br />
Jugendmediziner nicht dazu, Kinder<br />
entsprechend zu ernähren: «Weil die<br />
vegane Ernährung schlicht keine<br />
massentaugliche Empfehlung ist. Sie<br />
setzt ein gutes Fachwissen der Eltern<br />
voraus und die Bereitschaft, dafür<br />
einen höheren zeitlichen Aufwand<br />
zu betreiben.» Dazu gehörten die<br />
Beratung durch eine qualifizierte<br />
Ernährungsfachkraft sowie regelmäs<br />
sige Kontrollen beim Kinderarzt<br />
– inklusive Laboruntersuchungen.<br />
Eltern, die auf Pflanzenkost setzen,<br />
müssen die Ernährung ihrer<br />
Kinder sorgfältig zusammenstellen,<br />
damit diese alle wichtigen Nährstoffe<br />
in der richtigen Menge bekommen.<br />
Nüsse, Samen, Hülsenfrüchte<br />
und daraus hergestellte Produkte<br />
wie Tofu liefern Eiweiss und Kalzium<br />
und je nach Sorte auch pflanzliches<br />
Eisen. Auch Vollkorngetreide<br />
sind gute Proteinlieferanten. Manche<br />
Bohnen oder das aus Weizenprotein<br />
hergestellte Fleischersatzprodukt<br />
Seitan übertrumpfen mit<br />
ihrem Proteingehalt sogar Fleisch.<br />
In der Kalziumversorgung spielen<br />
zudem etwa grünes Blattgemüse<br />
und kalziumreiches Mineralwasser<br />
eine wichtige Rolle.<br />
Eisen können Veganer über Ge <br />
treideprodukte, Nüsse und Samen,<br />
Trockenobst, Spinat oder Rucola zu<br />
sich nehmen. Bestimmte Säuren wie<br />
Vitamin C helfen unserem Körper<br />
dabei, das Eisen aus Pflanzen besser<br />
absorbieren zu können. Die Bioverfügbarkeit<br />
von Nährstoffen – das,<br />
was der menschliche Körper davon<br />
effektiv aufnehmen kann – ist in<br />
pflanzlichen Quellen geringer als in<br />
tierischen. «Darum sollten vegan<br />
lebende Kinder täglich etwa einen<br />
Viertel mehr Pflanzenprodukte<br />
essen als traditionell ernährte<br />
Altersgenossen», sagt Laimbacher.<br />
B12 aus Tabletten<br />
Das für unsere Gesundheit zentrale<br />
Vitamin B12 kommt fast ausschliesslich<br />
in tierischen Produkten<br />
vor. Veganer kommen nicht umhin,<br />
es in künstlicher Form zu sich zu<br />
nehmen, beispielsweise in Tablettenform.<br />
«Diese Supplemente sind<br />
zwingend notwendig, um gesund zu<br />
bleiben», sagt Laimbacher. «Gut<br />
informierte Eltern wissen das.» Je<br />
nach Versorgungslage seien zudem<br />
weitere Supplemente nötig. «Ich verteufle<br />
den Veganismus nicht», sagt<br />
Kinderarzt Laimbacher. «Fachpersonen<br />
sollten dazu Stellung >>><br />
Fleischlos glücklich<br />
Die vegetarische Ernährung hat<br />
viele Facetten – eine Übersicht:<br />
Ovo-Lacto-Vegetarier essen Eier<br />
und Milchprodukte, aber nichts,<br />
was aus dem getöteten Tier hergestellt<br />
wird – also weder Fleisch<br />
und Fisch noch tierische Fette und<br />
Gelatine.<br />
Lacto-Vegetarier essen Michprodukte,<br />
aber keine Eier.<br />
Ovo-Vegetarier essen Eier, aber<br />
keine Milchprodukte.<br />
Veganer meiden von Fleisch<br />
über Milchprodukte bis hin zu<br />
Honig jegliche Nahrung tierischen<br />
Ursprungs. Viele verzichten auch<br />
auf tierische Produkte in Textilien<br />
oder Kosmetika.<br />
Frutarier essen nur Früchte,<br />
Gemüse, Nüsse und Samen, deren<br />
Ernte die Pflanze, von der sie<br />
stammen, nicht beschädigt. Dazu<br />
gehören Lebensmittel wie Beeren<br />
oder Bohnen, die gepflückt werden<br />
können, ohne die Pflanze zu zerstören.<br />
Tabu sind dagegen Karotten<br />
oder Kohl, weil beim Ernten die<br />
Wurzeln der Pflanzen ausgerissen<br />
werden.<br />
22 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November <strong>2017</strong>23
Dossier<br />
«Enkeltauglicher<br />
Umgang mit den<br />
Ressourcen»:<br />
Die Familie<br />
Heiligtag/<br />
Klingler isst<br />
vegan.<br />
24 <br />
November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Gemäss WHO rangiert<br />
verarbeitetes Fleisch auf<br />
derselben Gefahrenstufe<br />
wie Zigaretten und Asbest.<br />
>>> nehmen, und zwar auf differenzierte<br />
Art und Weise. Schliesslich<br />
geht es darum, eine wachsende<br />
Gruppe von Eltern, die ihre Kinder<br />
so ernähren, mit den nötigen Informationen<br />
auszustatten.»<br />
4. «Würste sind böse»<br />
Von Gammelfleisch bis zu Antibiotikarückständen<br />
– Fleisch stand<br />
schon oft in den Negativschlagzeilen,<br />
viele Konsumenten sind verunsichert.<br />
Für Aufruhr sorgte auch die<br />
WHO, als sie verarbeitetes Fleisch<br />
vor knapp zwei Jahren in die Gefahrenkategorie<br />
1 der krebserregenden<br />
Substanzen einstufte. Gemäss WHO<br />
stehen Wurst und Co. damit auf der<br />
gleichen Stufe mit krebserregenden<br />
Stoffen wie Tabakrauch, Asbest, Plutonium<br />
oder Röntgenstrahlen.<br />
Die WHO schickte ihrem Expertenbericht<br />
Erläuterungen für den<br />
Normalbürger hinterher. Darin präzisiert<br />
sie, was mit der Gefahrenstufe<br />
1 gemeint ist: «Diese Kategorie<br />
kommt zum Zug, wenn genügend<br />
und überzeugende wissenschaftliche<br />
Beweise vorliegen, dass die betreffende<br />
Substanz beim Menschen<br />
Krebs erzeugt.»<br />
Kein Fall für die Znünibox<br />
Wurst, Aufschnitt, Pastete, Trockenfleisch<br />
oder Fleischkonserven<br />
werden oft mit nitrit- oder >>><br />
Vegan leben für eine<br />
bessere Welt<br />
Sarah Heiligtag und Georg Klingler aus Hinteregg<br />
ZH führen mit dem vierjährigen Nils und der<br />
zweijährigen Indra einen Bauernhof der anderen<br />
Art: Der «Hof Narr» will zu Tierschutz und einem<br />
schonenden Umgang mit der Umwelt inspirieren.<br />
Dazu gehört auch die vegane Ernährungsweise.<br />
Sarah: Ich bin in einem vegetarischen Haushalt aufgewachsen.<br />
Mein Vater beschäftigte sich als Onkologe früh mit<br />
den gesundheitlichen Risiken von Fleischkonsum. Schon<br />
als Kind habe ich mich für Tiere eingesetzt. Dass man dazu<br />
nicht nur auf Fleisch, sondern auf sämtliche Tierprodukte<br />
verzichten sollte, wurde mir erst später klar. Prägend war in<br />
diesem Zusammenhang mein Philosophiestudium.<br />
Georg: Ich habe Umweltnaturwissenschaften studiert. Seit<br />
ich denken kann, wollte ich etwas tun für den Schutz unserer<br />
Lebensgrundlage und ein friedliches Zusammensein.<br />
Sarah: Bei mir war es Tierliebe, bei Georg die Sorge um die<br />
Umwelt, die uns zur veganen Lebensweise führte. Beides<br />
prägt unser Lebensprojekt «Hof Narr». Hier leben ehemalige<br />
Nutztiere, die vor dem Tod gerettet wurden. Georg: Die Auseinandersetzung<br />
mit den ethischen, gesundheitlichen und<br />
ökologischen Dimensionen der Landwirtschaftsindustrie<br />
sowie die Produktion von bio-veganen Lebensmitteln stehen<br />
auf dem Hof im Zentrum. Ganz im Bewusstsein, dass uns<br />
viele deshalb für Narren halten, wollen wir zu einem enkeltauglichen<br />
Umgang mit unseren Lebensgrundlagen inspirieren.<br />
Sarah: Die vegane Ernährung ist eine wichtige Voraussetzung<br />
dafür. Wir interpretieren sie auf sehr genussvolle<br />
Art und Weise: An unseren Buffets sind die Leute überrascht<br />
ob der Vielfalt, die ohne Tierprodukte möglich ist. Georg: Wir<br />
hoffen, dass wir damit positive Impulse geben können. Es<br />
braucht nämlich gar nicht so viel, um unseren Enkeln eine<br />
bessere Welt zu hinterlassen. Sarah: Wir finden nicht, dass<br />
jeder vegan leben muss. Aber ein zukunftstauglicher Trend<br />
sollte wohl in die Richtung gehen, dass wir uns überwiegend<br />
pflanzlich ernähren. Georg: Wer seine Kinder vegan ernährt,<br />
gerät gerne unter Generalverdacht. Aber vegan lebende<br />
Eltern aus unserem Umfeld informieren sich sehr gut, was<br />
die Gesundheit ihrer Kinder angeht. Sarah: Mir wäre lieber,<br />
Nils würde die anderen Kinder nicht so oft fragen, was sie<br />
essen. Ich möchte nicht, dass er durch unsere Ernährungsweise<br />
als anders wahrgenommen wird. Wobei, was heisst<br />
schon anders? Es gibt doch zig Eigenschaften, die den einen<br />
vom anderen unterscheiden. Wir zwingen unseren Kindern<br />
nichts auf: Wenn sie an ein Geburtstagsfest gehen, sollen sie<br />
vom Kuchen essen dürfen – ganz egal, was dieser enthält.<br />
25
Salamibrötchen und<br />
Würstchen haben in der<br />
Znünibox nichts verloren.<br />
>>> nitrathaltigem Pökelsalz konserviert.<br />
Diese Verbindungen wandelt<br />
unser Körper in Nitrosamine<br />
um, die als höchst krebserregend<br />
gelten.<br />
Dass verarbeitetes Fleisch auf<br />
gleicher Gefahrenstufe rangiert wie<br />
Zigaretten, heisst laut WHO, dass in<br />
beiden Fällen ein klarer statistischer<br />
Zusammenhang zwischen dem Risikofaktor<br />
und dem Auftreten von<br />
Krebserkrankungen besteht – aber<br />
nicht, dass von Wurst das gleiche<br />
Risiko ausgeht wie von Zigaretten.<br />
So gehen laut WHO jedes Jahr<br />
34 000 Krebstodesfälle – dabei steht<br />
Dickdarmkrebs im Vordergrund –<br />
weltweit auf verarbeitetes Fleisch<br />
zurück. Im gleichen Zeitraum sterben<br />
eine Million Menschen weltweit<br />
infolge Rauchens an Krebs.<br />
Forscher der Universität Zürich<br />
untersuchten bereits vor der WHO<br />
den Zusammenhang zwischen dem<br />
Konsum von verarbeitetem Fleisch<br />
und dem Risiko für Krebs und Herz-<br />
Kreislauf-Erkrankungen. Ihr Fazit:<br />
Die kritische Grenze liegt bei 40<br />
Gramm. Diese Menge ist rasch<br />
erreicht, mahnt Studien-Mitautorin<br />
Sabine Rohrmann: «Eine durchschnittliche<br />
Scheibe Schinken oder<br />
Salami wiegt schon 20 bis 30<br />
Gramm.»<br />
Was bedeuten diese Befunde für<br />
Eltern? In Panik sollten sie uns nicht<br />
versetzen – wohl aber zur Mässigung<br />
anhalten: Wir können weiterhin<br />
bräteln gehen – in der kindlichen<br />
Znünibox haben Würstchen<br />
und Salamibrötchen aber nichts<br />
verloren.<br />
26 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
5. «Rotes Fleisch ist<br />
ungesund»<br />
Auch rotes Fleisch hat einen ramponierten<br />
Ruf, nachdem es die WHO<br />
zum gleichen Zeitpunkt, wie sie vor<br />
Würsten warnte, auf Gefahrenstufe<br />
2a setzte. Konkret bedeutet dies,<br />
dass rotes Fleisch aufgrund der<br />
aktuellen Datenlage «wahrscheinlich<br />
krebserregend» ist, möglicherweise<br />
aber weitere Faktoren hineinspielen.<br />
Im Vordergrund steht<br />
wieder das Darmkrebsrisiko, das<br />
durch verschiedene Faktoren be <br />
stimmt wird.<br />
Im Verdacht stehen hohe Mengen<br />
an Eisen und schädliche Substanzen,<br />
die beim Braten, Kochen<br />
und besonders beim Grillieren und<br />
Räuchern von Fleisch entstehen.<br />
Laut WHO könnte pro 100 Gramm<br />
roten Fleischs, die jemand täglich<br />
verzehrt, das Darmkrebs risiko um<br />
18 Prozent steigen – falls sich rotes<br />
Fleisch tatsächlich als krebserregend<br />
erweist. Die WHO betont, dass das<br />
Risiko für den Einzelnen klein sei<br />
– der Befund aber relevant für eine<br />
Gesellschaft, in der viele Menschen<br />
grosse Mengen an Fleisch ässen.<br />
Weniger ist mehr<br />
Die Eidgenössische Ernährungskommission<br />
reagierte auf die Forschungslage<br />
und spricht sich generell<br />
für eine Reduktion des Fleischkonsums<br />
aus, besonders von rotem und<br />
vor allem von verarbeitetem Fleisch.<br />
Die SGE empfiehlt Erwachsenen,<br />
nicht mehr als zwei- bis dreimal pro<br />
Woche Fleisch zu essen, für Kinder<br />
von zehn bis zwölf Jahren sollen es<br />
höchstens fünfmal pro Woche sein.<br />
Jugendmediziner Josef Laimbacher<br />
sagt, auch Kinder seien mit >>><br />
Publireportage: Swisscom Prepaid Kids<br />
Die Gesellschaft für<br />
Ernährung empfiehlt Kindern<br />
im Alter von fünf bis zwölf<br />
Jahren, höchstens fünfmal pro<br />
Woche Fleisch zu essen.<br />
Endformat: 210x141 mm / Satzspiegel 190x123 mm<br />
Kinder: Das sind die wichtigsten Handy-Regeln, die man kennen muss<br />
«Die Vorbildrolle der Eltern ist eminent wichtig»<br />
Herr In Albon, ist ein Handy für<br />
Primarschüler sinnvoll?<br />
Dient es lediglich zur Unterhaltung,<br />
empfiehlt es sich nicht. Wenn das Kind<br />
erreichbar sein soll, etwa nach dem<br />
Fussballtraining, oder wenn es einen<br />
langen Schulweg hat, hingegen schon.<br />
Denn es gibt dem Kind die Möglichkeit,<br />
seine Umgebung selbstständig<br />
zu erkunden.<br />
Jeder zweite Primarschüler in der Schweiz besitzt ein<br />
eigenes Handy. Wie regelt man den digitalen Konsum bei<br />
Kindern? Medienkompetenz-Experte Michael In Albon<br />
beantwortet die wichtigsten Fragen.<br />
Michael In Albon ist Jugendmedienschutz-Beauftragter bei Swisscom und Experte für<br />
Medienkompetenz.<br />
Wie behalten Eltern die Kosten im<br />
Griff?<br />
Am einfachsten sind sicherlich Prepaid-Lösungen.<br />
Das Kind kann nur so<br />
viele Dienste nutzen, wie es der Betrag<br />
erlaubt. Mit einem Prepaid-Abo kann<br />
man sich nicht verschulden.<br />
Wie wichtig ist ein «Handy-<br />
Aufklärungsgespräch»?<br />
Sehr wichtig. Kinder sollten verstehen,<br />
zu welchem Zweck sie ein Handy bekommen<br />
und dass es ungeeignete Inhalte<br />
im Netz gibt. Vor allem brauchen<br />
sie Begleitung und Regeln.<br />
nur Geschichten hören oder auch Videos<br />
anschauen? Wenn ja, zuerst um<br />
Erlaubnis fragen. Das Festlegen der<br />
Regeln signalisiert dem Kind von Anfang<br />
an, dass es nicht alles mit diesem<br />
Gerät anstellen darf.<br />
Darf das Handy am Abend mit ins<br />
Kinderzimmer?<br />
Das Handy sollte nicht die ganze Zeit<br />
in Reichweite des Kindes sein. Ausserdem<br />
haben digitale Geräte, wie Tageslicht,<br />
einen hohen Anteil an «Blaulicht»,<br />
das die Produktion des Schlafhormons<br />
Melatonin hemmt. Als Faustregel<br />
gilt: Eine Stunde vor dem Schlafengehen<br />
keine Handys oder Fernseher,<br />
im Idealfall zwei Stunden.<br />
fragt. Eltern haben teilweise selber<br />
Mühe, das Handy wegzulegen. Dabei<br />
ist die Vorbildrolle der Eltern eminent<br />
wichtig! Es ist erstaunlich, wie wenig<br />
Eltern bereit sind, ihr eigenes Konsumverhalten<br />
zu Gunsten des Kindes<br />
zu ändern.<br />
Welche Vorteile hat es für Eltern,<br />
wenn ihr Kind ein Handy hat?<br />
Der Alltag ist einfacher zu organisieren.<br />
Das Kind kann anrufen, wenn es<br />
abgeholt werden soll oder wenn es<br />
sich verspätet. Dass das Kind erreichbar<br />
ist, wenn es allein unterwegs ist,<br />
gibt Eltern eine gewisse Ruhe.<br />
inOne mobile prepaid kids:<br />
Kann man ein Handy kindergerecht<br />
Das beruhigende Gefühl, nur<br />
einstellen?<br />
einen Anruf entfernt zu sein<br />
Das Internet lässt sich grundsätzlich<br />
sperren. Allerdings funktionieren dann<br />
Mit inOne mobile prepaid kids<br />
auch Apps wie etwa der SBB-Fahrplan,<br />
kann Ihr Kind bis zu 5 Swisscomsation<br />
WhatsApp oder die Synchroni- Welche?<br />
Nummern im Inland kostenlos<br />
des Familienkalenders nicht. Ganz wichtig: Die Zeit limitieren. Das<br />
anrufen und sich so jederzeit bei<br />
Je nach Anbieter gibt es spezielle Handy soll nicht den ganzen Tag zur<br />
Ihnen melden. Mehr Infos zum<br />
Kindersicherungen oder Kindermodi. Verfügung stehen. Apps ebenfalls limitieren.<br />
Besteht die Gefahr, dass sich<br />
Angebot und zum Engagement<br />
Dort können Eltern einstellen, worauf<br />
Und: Auch wenn es sich um ein Kind nur noch für sein Handy von Swisscom im Bereich Medien-<br />
die Kinder Zugriff haben oder wie kostenlose handelt, keine Apps ohne interessiert?<br />
kompetenz:<br />
lange sie surfen dürfen. Auf Youtube Erlaubnis herunterladen. Regeln Sie Ja. Wenn ein Kind immer häufiger zum www.swisscom.ch/prepaidkids<br />
findet Das Schweizer man viele ElternMagazin Video-Tutorials. Fritz+Fränzi den November Youtube-Umgang: <strong>2017</strong>27<br />
Darf mein Kind Gerät greift, sind Alternativen ge-
Dossier<br />
«Das<br />
Familienmodell,<br />
mit dem ich<br />
aufwuchs, ist mir<br />
ein Vorbild», sagt<br />
Tochter Silva (l.).<br />
Enger Zusammenhalt<br />
dank Selbstversorgung<br />
Als junge Eltern realisierten Sabine und Markus<br />
Lanfranchi in Verdabbio GR ihren Traum vom Leben<br />
als Selbstversorger. Silva, 26, Lüzza, 13, und ihre<br />
Eltern erzählen, wie dieses Lebensmodell die<br />
Familie eng zusammenschweisste.<br />
Markus: Selbstversorger zu sein, ist für mich eine politische<br />
Entscheidung. Einkaufen ist wie abstimmen: Mit jedem<br />
Franken, den ich ausgebe, erhält irgendein Unternehmen<br />
meine Stimme. Sabine: Wir bewirtschaften acht Hektaren<br />
Land, die sich übers ganze Dorf verteilen. Wir halten 35<br />
Schafe, 2 Esel, 2 Schweine, Hühner und Enten sowie 5 bis<br />
10 Bienenvölker. Unseren Lebensunterhalt verdienen wir<br />
mit Schafmilchprodukten, Lammfleisch, Honig und Grappa.<br />
Markus: Sabine und ich lernten uns mit 19 kennen. Sie<br />
arbeitete in der Werbung, ich als Metallkonstrukteur. Wir<br />
wollten mehr vom Leben. Sabine: Unsere ersten bäuerlichen<br />
Versuche starteten wir 1986 im Engadin, drei Jahre später<br />
gingen wir als frischgebackene Eltern von Dylan nach Neuseeland.<br />
Dort kam 1991 Silva zur Welt. Später machte ein<br />
Erdbeben unsere ganze Aufbauarbeit zunichte. Wir zogen<br />
zurück in die Schweiz. Markus: 1993, gerade war Selina<br />
geboren, kauften wir an diesem Steilhügel einen ersten<br />
kleinen Landstreifen. Sabine: Wir nahmen unser Leben als<br />
Selbstversorger und Biobauern in Angriff.<br />
Markus: Im Dorf begegnete man unserem Ansinnen nicht<br />
gerade freundlich. Die meisten Bauern hatten ihren Beruf<br />
an den Nagel gehängt, weil sie von der Landwirtschaft<br />
nicht leben konnten. Und da kamen wir, zwei naive Junge,<br />
die meinten, es besser zu können. Aber wir hatten Narrenfreiheit,<br />
und die geniessen wir bis heute. Was wir auch<br />
machen, es ist da: dieses Vertrauen, dass alles gut kommt.<br />
Sabine: Für unsere Kinder – als viertes kam 1997 Rubina<br />
dazu – war unser Familienleben nicht immer leicht. Damit<br />
etwas auf den Tisch kam, mussten sie täglich mitanpacken.<br />
Silva: Mir hat das nicht geschadet. Ich wusste früh, was<br />
Arbeiten bedeutet, das hat mir nur Vorteile gebracht. Lüzza:<br />
Ich habe es heute viel einfacher: Im Sommer muss ich beim<br />
Heuen helfen, sonst hält sich der Aufwand in Grenzen. Ich<br />
kümmere mich um die Enten und die Hühner. Ich finde es<br />
super, dass in unserem Garten leckeres Essen wächst: Man<br />
gibt die Pasta in den Topf und holt den Rest vor der Haustür.<br />
Trotzdem möchte ich später nicht als Selbstversorger leben.<br />
Silva: Mich freut es, dass Lüzza so beliebt ist in der Schule.<br />
Wir waren damals Aussenseiter und mussten uns immer<br />
beweisen. Lüzza: Ich bin kein Underdog, ich habe mich<br />
schnell mit Älteren angefreundet. Und ich zeige mit guten<br />
Schulnoten, dass ich etwas draufhabe. Silva: Wir Älteren<br />
sagen manchmal: Werd bloss kein Bully, Lüzza! Wir wissen<br />
nur zu gut, wie sich Mobbing anfühlt. Markus: Die Ablehnung<br />
durch die anderen hat uns aber auch zu einer verschworenen<br />
Gemeinschaft gemacht. Silva: Das stimmt, wir haben ein<br />
starkes Familiengefühl. Ich möchte zwar nicht als Selbstversorgerin<br />
leben, aber das Familienmodell, mit dem ich aufwuchs,<br />
ist mir ein Vorbild. Und meinem Mann übrigens auch.<br />
28 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Junge Frauen, die täglich mehr<br />
als einmal rotes Fleisch essen,<br />
haben ein 22 Prozent höheres<br />
Brustkrebsrisiko.<br />
>>> zwei bis drei Fleischportionen<br />
pro Woche gut bedient: «Sie brauchen<br />
nicht mehr.» Er resümiert:<br />
«Fleisch als Nährstoffquelle richtig<br />
zu nutzen, bedeutet vor allem, die<br />
Menge im Auge zu behalten.»<br />
6. «Weisses Fleisch ist<br />
besser»<br />
Junge Menschen seien besonders<br />
gefährdet durch etwaige Schadstoffe<br />
in ihrer Nahrung, sagt Ernährungswissenschaftler<br />
Walter Willett: «Dies<br />
zeigt sich eindrücklich in Bezug auf<br />
weibliche Jugendliche und ihr späteres<br />
Risiko für Brustkrebs.» In der<br />
Langzeitstudie «Nurses’ Health Study»<br />
analysierten Willett und seine<br />
Kollegen unter anderem den Zusammenhang<br />
von Ernährung und Brustkrebs.<br />
Dabei habe man sich lange auf<br />
die Ernährungsgewohnheiten von<br />
Frauen mittleren und älteren Alters<br />
konzentriert. Entsprechende Studien,<br />
so Willett, hätten keinen Zusammenhang<br />
zwischen Brustkrebs und<br />
dem Konsum von rotem Fleisch<br />
nahegelegt.<br />
Ein anderes Bild präsentierte sich<br />
den Forschern, als sie mithilfe alter<br />
Fragebögen die Ernährungsgewohnheiten<br />
von über 44 000 Frauen<br />
zum Zeitpunkt ihrer Adoleszenz<br />
rekonstruierten: Junge Frauen, die<br />
während Pubertät und Adoleszenz<br />
täglich mehr als einmal rotes Fleisch<br />
essen, haben ein 22 Prozent höheres<br />
Risiko, an Brustkrebs zu erkranken.<br />
Aus den Daten leiteten die Forscher<br />
eine interessante Prognose ab:<br />
Würden junge Frauen eine tägliche<br />
Portion rotes Fleisch durch Hülsenfrüchte,<br />
Nüsse, Geflügel oder Fisch<br />
ersetzen, würde ihr Brustkrebsrisiko<br />
um 14 Prozent sinken.<br />
Trotzdem bleibt offen, ob weisses<br />
Fleisch tatsächlich gesünder ist als<br />
rotes. Aber gebe es auch keine epidemiologische<br />
Studie, die einen<br />
Zusammenhang von weissem<br />
Fleisch und Krebs festgestellt hätte,<br />
so Ernährungswissenschaftler Willett.<br />
Derweil rät er den Eltern, auf<br />
Poulet und Fisch als tierische Proteinlieferanten<br />
zu setzen.<br />
7. «Alles bio, alles gut»<br />
Lebensmittel mit dem Knospen-Siegel<br />
sind keine Nischenpro- >>><br />
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Vertragen Sie selbst oder jemand<br />
in Ihrem Umfeld gewisse Lebensmittel<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>29
Dossier<br />
>>> dukte mehr. Tierfreunde setzen<br />
auf Bio, weil das Label für<br />
bessere Bedingungen für Nutztiere<br />
sorgt. Auch ein anderes Argument<br />
fällt bei Konsumenten ins Gewicht:<br />
Sie kaufen Bioprodukte, weil sie sich<br />
davon gesundheitliche Vorteile versprechen.<br />
Schliesslich dürfen Biobauern<br />
weder synthetische Pestizide<br />
verwenden noch Tiere mit hormonbelastetem<br />
Leistungsfutter pushen,<br />
um nur ein paar Beispiele zu nennen.<br />
Sind Bioprodukte also gesünder<br />
als Lebensmittel aus konventioneller<br />
Landwirtschaft? Von gesunden Produkten<br />
zu sprechen, sei wenig sinnvoll,<br />
sagt Urs Niggli, Direktor des<br />
Forschungsinstituts für biologischen<br />
Landbau in Frick: «Für unseren Ge <br />
sundheitszustand sind nicht einzelne<br />
Lebensmittel ausschlaggebend:<br />
Es ist die Art und Weise, wie wir uns<br />
ernähren.» Wer sich an die gängigen<br />
Empfehlungen halte, wenig Zucker,<br />
Fett und Fleisch sowie viel Früchte<br />
und Gemüse konsumiere, könne<br />
seinen Speiseplan als gesund<br />
betrachten, sagt der Agrarwissenschaftler.<br />
Bioprodukte seien also<br />
keine Gesundheitsgaranten, ebenso<br />
wenig könnten sie Auswirkungen<br />
einer schlechten Ernährung kompensieren.<br />
«Aber die Forschung<br />
zeigt», sagt Niggli, «dass sie einen<br />
Zusatznutzen bieten.»<br />
Das Tüpfelchen auf dem i<br />
Dazu gehört ein «massiv höherer»<br />
Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen,<br />
wie Niggli sagt. Pflanzen bilden<br />
diese bioaktiven Stoffe, um sich vor<br />
schädlichen Umwelteinflüssen zu<br />
schützen. Biopflanzen produzieren<br />
naturgemäss mehr davon, weil sie<br />
keine Schützenhilfe von Pflanzenschutzmitteln<br />
erhalten. Die meisten<br />
sekundären Pflanzenstoffe wirken als<br />
sogenannte Antioxidantien, von<br />
denen die Forschung annimmt, dass<br />
sie helfen, Alterserscheinungen oder<br />
gewissen Krankheiten vorzubeugen.<br />
«Ein Bioapfel enthält die Antioxidantien<br />
von anderthalb konventionellen<br />
Äpfeln», sagt Niggli.<br />
Auch Biofleisch und -milch punkten<br />
mit solchen Extras. «Im Vergleich zu<br />
Produkten aus konventioneller<br />
Landwirtschaft haben sie einen<br />
höheren Anteil an günstigen Fettsäuren»,<br />
sagt Niggli. Biokühe ernähren<br />
sich zu mindestens 90 Prozent<br />
von Gras oder Heu. Aus dem langfaserigen<br />
Raufutter bilden sie andere<br />
Moleküle als aus Kraftfutter. Weil<br />
Biolandwirten der vorbeugende<br />
Einsatz von Antibiotika oder Hormonen<br />
verboten ist, entfällt für den<br />
Konsumenten zudem das Risiko von<br />
solcherlei Überbleibseln in Fleisch<br />
und Milch.<br />
Bei Gemüse und Früchte zeigt<br />
sich zudem, dass Produkte mit Biolabel<br />
einen bis zu viermal niedrigeren<br />
Gehalt an Pestizidrückständen<br />
aufweisen. Auch die Konzentration<br />
von anderen Umweltgiften ist in<br />
Biogewächsen deutlich niedriger.<br />
Niggli betont aber, dass die gesetzlichen<br />
Grenzwerte für solche Sub <br />
stanzen in der Schweiz so gewählt<br />
seien, dass konventionell produzierte<br />
Früchte und Gemüse bedenkenlos<br />
gegessen werden könnten. Forscher<br />
der ETH hätten Hochrechnungen in<br />
Bezug auf Umweltgifte in konventionell<br />
produzierten Feldfrüchten<br />
angestellt – und seien der Auffassung,<br />
dass das von ihnen ausgehende<br />
Risiko ein Menschenleben um<br />
höchstens eine Woche verkürze.<br />
«Bio ist für eine gesunde Ernährung<br />
also kein Muss», sagt Urs Niggli,<br />
«aber sozusagen das Tüpfelchen auf<br />
dem i. Ich möchte deshalb nicht darauf<br />
verzichten.»<br />
Alles, aber mit Mass?<br />
Die Frage, was eine gesunde Ernährung<br />
ausmacht, lässt sich nie abschliessend<br />
beantworten. Ständig<br />
kommen neue Erkenntnisse dazu;<br />
für den Normalverbraucher sind sie<br />
nicht immer ein Segen. Den Überblick<br />
zu behalten, kann kaum unser<br />
Anspruch sein. Aber mir scheint, es<br />
wäre sinnvoll, dem Thema Ernährung<br />
zumindest ohne Scheuklappen<br />
zu begegnen. Das fängt damit an,<br />
Bio ist für eine gesunde<br />
Ernährung kein Muss,<br />
aber sozusagen das<br />
Tüpfelchen auf dem i.<br />
Wissenschaft nicht als Bevormundung<br />
zu sehen, sondern sie als das<br />
zu betrachten, was sie ist: ein Versuch,<br />
den menschlichen Körper und<br />
das, was wir ihm zuführen, besser zu<br />
verstehen.<br />
Mit ihren Erkenntnissen habe ich<br />
mich nun wochenlang beschäftigt<br />
– um nicht zu sagen: herumgeschlagen.<br />
Die Lektüre war zäh. Mich persönlich<br />
hat sie dennoch motiviert,<br />
Allgemeinplätze infrage zu stellen,<br />
selbst wenn Antworten fehlen. Darum<br />
schliesse ich hier auch nicht mit<br />
dem beliebten Credo, dass wir alles<br />
essen sollten, bloss mit Mass. Vielmehr<br />
glaube ich, dass wir da und<br />
dort ruhig umdenken dürfen, auch<br />
wenn es uns etwas geistige Flexibilität<br />
abverlangt. Schliesslich geht es<br />
um die Wurst: um unsere Gesundheit<br />
und die unserer Kinder.<br />
Virginia Nolan<br />
ist freie Autorin und Mutter einer 3-jährigen<br />
Tochter. Sie war ein Milch-Kind, wie es im<br />
Buche steht. Nach dieser Recherche war<br />
sie baff, wie sehr wir die gesundheitlichen<br />
Vorteile des Lebensmittels überschätzen.<br />
>>><br />
30 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>31
Dossier<br />
«Essen sollte frei von Druck sein»<br />
Wir können Kindern beibringen, gesundes Essen zu mögen, meint Ernährungspsychologin<br />
Katja Kröller. Das funktioniert aber nicht mit Brechstange und Gemüsequoten, sondern durch<br />
sinnliches Experimentieren – und mit der Macht der Gewohnheit. Text: Virginia Nolan<br />
Frau Kröller, was ist der schlimmste<br />
Fehler beim Versuch, Kinder für eine<br />
gesunde Ernährung zu begeistern?<br />
Vermutlich die Betonung des Gesunden.<br />
Essen sollte frei von Druck sein.<br />
Es hilft, wenn gerade heikle Esser es<br />
als zwanglose, eher nebensächliche<br />
Angelegenheit wahrnehmen. Eltern<br />
sollten ihre Bemühungen darauf lenken,<br />
Kindern vielfältige Geschmackswelten<br />
zu eröffnen, statt sich mit der<br />
Frage herumzuplagen, wie sie ihnen<br />
Gemüse unterjubeln können.<br />
Was prägt den Geschmack unserer<br />
Kinder?<br />
Seine ersten Geschmackserfahrungen<br />
macht das Kind während<br />
Schwangerschaft und Stillzeit. Wir<br />
wissen, dass Kinder, die möglichst<br />
früh eine Vielzahl von Geschmäckern<br />
kennenlernen, aufgeschlossenere<br />
Esser werden. Das gilt ganz<br />
besonders für die Zeit, in der wir sie<br />
ans Essen gewöhnen. In weiten Teilen<br />
der Welt essen bereits die Kleinsten,<br />
was die Grossen mögen.<br />
Wir können Kindern also beibringen,<br />
gesundes Essen zu mögen?<br />
Wenn wir Kindern Geschmackserlebnisse<br />
vorenthalten, ist es nicht<br />
erstaunlich, dass sie schwierige Esser<br />
werden. Geschmackspräferenzen<br />
lassen sich trainieren. Dies zeigt eindrücklich<br />
ein Forschungsprojekt, das<br />
ich begleitet habe. Dabei erhoben wir<br />
regelmässig die Gemüsevorlieben<br />
von 300 Kindergartenkindern und<br />
leiteten daraus eine Art Ranking ab.<br />
Wir untersuchten, ob sich diese Präferenzen<br />
durch sensorisches Training<br />
verändern liessen. Kohlrabi<br />
zum Beispiel erwies sich als eher<br />
unbeliebt. Die Kinder bekamen sie<br />
nun vier bis acht Wochen lang dreimal<br />
die Woche zu essen.<br />
Was passierte?<br />
Kohlrabi kletterte im Ranking nach<br />
oben, und zwar deutlich. Die Präferenz<br />
für ein Lebensmittel hängt also<br />
stark davon ab, wie gut wir es kennen.<br />
Wir mögen, was wir uns gewohnt<br />
sind. Wenn ich täglich angeboten<br />
bekomme, was ich nicht mag,<br />
werde ich irgendwann anfangen, es<br />
zu akzeptieren.<br />
Kein besonders motivierender Ansatz.<br />
So soll ja auch nicht die Ansage ans<br />
Kind lauten. Wenn unser Kind etwas<br />
verschmäht, sollte uns das als Eltern<br />
aber nicht daran hindern, das<br />
Lebensmittel weiterhin regelmässig<br />
auf den Tisch zu bringen, ganz ohne<br />
Aufheben. Das Kind muss es nicht<br />
essen, bleibt aber in Kontakt damit.<br />
«Studien zeigen, dass allein schon<br />
das Reden über den Geschmack<br />
eines Lebensmittels die Akzeptanz<br />
beim Kind fördert.»<br />
Allein damit brachten Sie Kinder dazu,<br />
Kohlrabi zu mögen?<br />
Nicht nur. Auch der sinnliche und<br />
haptische Kontakt zu Gemüse – Riechen,<br />
Schmecken, Anfassen – beeinflusst<br />
das Geschmacksempfinden.<br />
Wir bereiteten gemeinsam Gemüsesnacks<br />
zu, dachten uns Geschichten<br />
zu den lustigen Knollen aus,<br />
liessen die Kinder Gemüse malen<br />
oder mit verbundenen Aromen probieren.<br />
Diese Ratespiele offenbarten,<br />
dass Kinder unglaublich kreativ darin<br />
sind, Geschmäcker zu benennen.<br />
Das könnten sich Eltern zunutze<br />
machen.<br />
Inwiefern?<br />
Wir wollen von den Kindern nur<br />
wissen, ob es schmeckt. Wir könnten<br />
sie stattdessen einmal fragen, wie es<br />
schmeckt. Unsere Studie zeigte, dass<br />
allein schon Reden über den Geschmack<br />
eines Lebensmittels dessen<br />
Akzeptanz beim Kind fördert. Interessanterweise<br />
hatte selbst der Austausch<br />
über die geschmacklichen<br />
Nachteile eines Gemüses dazu beigetragen,<br />
dass die Kinder es am Ende<br />
lieber mochten als vorher. Dass<br />
Gemüse etwas Gesundes mit vielen<br />
Vitaminen ist, war in unserem Projekt<br />
übrigens mehr eine beiläufige<br />
Information, aber nicht die zentrale<br />
Botschaft.<br />
Was machen Eltern, wenn Teenager<br />
Gemüse und Salat verweigern?<br />
Auch hier gilt: geduldig bleiben,<br />
abwarten, gemeinsame Mahlzeiten<br />
anbieten. Die müssen je nach Alter<br />
nicht mehr täglich stattfinden, da<br />
lohnen sich Absprachen. Es kann<br />
32 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
wiederum helfen, gesundes Essen so<br />
anzubieten, dass Jugendliche es als<br />
beiläufig wahrnehmen. Ich denke da<br />
an Früchte oder Snackgemüse, von<br />
dem sich alle bedienen dürfen, während<br />
der Mahlzeit oder zwischendurch.<br />
Gelegentlich sind auch aufgepeppte<br />
Sandwiches oder das<br />
Lieblingsessen des Jugendlichen ein<br />
guter Kompromiss für die Familienmahlzeit.<br />
Es lohnt sich, wenn der<br />
Wochenspeiseplan von allen Familienmitgliedern<br />
mitbestimmt werden<br />
darf. Starre Vorgaben führen nur<br />
dazu, dass Jugendliche ihren Essensbedarf<br />
am Kiosk decken.<br />
Der Hang zu ungesundem Essen ist<br />
bei Jugendlichen meist ausgeprägt.<br />
Wächst sich das aus?<br />
Das tut es. Studien zeigen, dass die<br />
Ernährungsweise, die Eltern zu Hause<br />
vorleben, ihre Kinder im Erwachsenenalter<br />
massgeblich prägt. Also<br />
keine Sorge: Da bleibt was hängen.<br />
Bloss dauert es eben, bis dieser Effekt<br />
greift. Bis dahin mögen Jugendliche<br />
Gemüse komplett ablehnen – sie<br />
nehmen dadurch keinen Schaden.<br />
«Fünf am Tag» heisst die Botschaft<br />
der Schweizerischen Gesellschaft für<br />
Ernährung, wenn es um Gemüse und<br />
Früchte geht. Wie ist das mit Kindern<br />
zu schaffen?<br />
Gar nicht, vermutlich. Ich halte nicht<br />
viel davon, weil sie Eltern unter<br />
Druck setzt. Sehen sich Eltern aufgefordert,<br />
Quoten einzuhalten,<br />
erschwert ihnen das einen lustvollen<br />
Zugang zum Gemüse. Für Kinder ist<br />
der aber ausschlaggebend. Es ist<br />
schon viel getan, wenn wir versuchen,<br />
einmal am Tag Obst und einmal<br />
Gemüse zu essen. Es kann auch<br />
Tage geben, an denen das gerade<br />
nicht passt oder das Kind sich wehrt.<br />
Das ist nicht schlimm.<br />
Probieren ist Pflicht – wie halten Sie<br />
es damit?<br />
Zum Probieren kann man ein Kind<br />
höchstens ermuntern. Druck ist<br />
unangebracht. Kinder legen in ihren<br />
verschiedenen Entwicklungsstufen<br />
grossen Wert auf eigenständige Entscheidungen,<br />
und sie wissen auch,<br />
dass sie beim Essen die stärksten<br />
Einflussmöglichkeiten haben: Wir<br />
können Kinder zu vielem zwingen,<br />
aber wenn sie das Essen verweigern,<br />
sind wir machtlos. Wenn ein Kind<br />
nicht probieren will, sollten Eltern<br />
das akzeptieren. Wir können ihm<br />
aber gleichzeitig erklären, dass sich<br />
Geschmäcker durchaus ändern und<br />
ein weiterer Anlauf sich lohnen<br />
kann.<br />
Sollten wir Essen als Belohnung einsetzen?<br />
Es kommt darauf an. Wir tun uns<br />
keinen Gefallen, wenn wir dem Kind<br />
einen Nachtisch in Aussicht stellen,<br />
falls es den Broccoli aufisst. Durch<br />
die Belohnung bestätigen wir ihm,<br />
«Wenn ein Kind nicht<br />
probieren will, sollten<br />
Eltern das akzeptieren.»<br />
dass Broccoli-Essen eine ganz schön<br />
harte Angelegenheit ist, die nach<br />
Entschädigung verlangt. Belohnung<br />
mit Essen kann funktionieren, wenn<br />
die Handlung, die wir damit loben<br />
wollen, tatsächlich negativ besetzt ist<br />
– denken Sie etwa an die Glace nach<br />
überstandenem Arzttermin. Wir<br />
sollten aber auch diese Art der<br />
Belohnung sehr sparsam einsetzen.<br />
Essen soll nicht zum Trostpflaster<br />
werden.<br />
Zur Person<br />
Katja Kröller ist Professorin für<br />
Ernährungspsychologie an der Hochschule<br />
Anhalt in Bernburg (D). Der Fokus ihrer<br />
Forschung liegt auf psychologischen<br />
Ansätzen für individuelle<br />
Verhaltensänderungen und der dazu<br />
geeigneten Gesprächsführung.<br />
Im nächsten Heft:<br />
Generation Sandwich<br />
Bild: iStockphoto<br />
Sie sind eingeklemmt zwischen der Verantwortung<br />
für die eigenen Kinder und jener für ihre Eltern:<br />
Immer mehr Menschen müssen neben Familie und<br />
Beruf noch die Angehörigenpflege unter einen Hut<br />
bekommen. Unser Dossier im Dezember.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>33
Monatsinterview<br />
34 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
«Eltern sollten die<br />
Mutmacher ihrer<br />
Kinder werden»<br />
Acht Prozent der Schulkinder sind übermässig schüchtern, und das<br />
über eine lange Zeit. Aus der ständigen Angst heraus, schlecht beurteilt<br />
zu werden, verhalten sie sich im Unterricht meist passiv – mit fatalen<br />
Folgen, sagt Georg Stöckli. Der Erziehungswissenschaftler über stumme<br />
Beobachter, überbehütende Eltern und besonders hartnäckige<br />
Hemmzwerge. Interview: Evelin Hartmann Bilder: Daniel Winkler / 13 Photo<br />
Alte<br />
Wirkungsstätte:<br />
Georg Stöckli<br />
war Leiter der<br />
Forschungsstelle<br />
Kind und Schule<br />
an der Uni Zürich.<br />
Ein ständiges Wispern und Klappern<br />
erfüllt den grossen Saal, Studenten<br />
unterhalten sich, bestellen Kaffee und<br />
Gipfeli. «Oh, das habe ich mir anders<br />
vorgestellt», sagt Georg Stöckli, der<br />
den Lichthof der Universität Zürich als<br />
Ort für dieses Interview vorgeschlagen<br />
hatte. «Ansonsten stehen hier immer<br />
Tische und Stühle.» Heute jedoch wird<br />
hier für einen Stehapèro aufgetischt.<br />
Erziehungswissenschaftler und<br />
Journalistin wissen sich zu helfen,<br />
belegen einen der herumstehenden<br />
Bistro-Stehtische und führen das<br />
Gespräch im Stehen.<br />
Herr Stöckli, viele Kinder sind schüchtern.<br />
Stellt dieses Persönlichkeitsmerkmal<br />
überhaupt ein Problem dar?<br />
Es kommt darauf an, wie ausgeprägt<br />
das schüchterne Verhalten ist. Unter<br />
Schüchternheit versteht man grundsätzlich<br />
die Ängstlichkeit eines Menschen<br />
beim Knüpfen zwischenmensch<br />
licher Beziehungen.<br />
Schüch ternheit ist, solange sie kein<br />
Leiden verursacht, keine psychische<br />
Störung, sondern ein Ausdruck des<br />
Temperaments eines Menschen. Viele,<br />
besonders jüngere Kinder verhal<br />
ten sich in unbekannten Situationen<br />
zurückhaltend, insbesondere, wenn<br />
ein Kind in den Kindergarten oder<br />
die Schule kommt. Das geht meist<br />
vorüber, wenn es sich an die zunächst<br />
neue Lehrerin und den Klassenraum<br />
gewöhnt hat.<br />
Wann ist ein Kind zu schüchtern?<br />
Wenn der Erstklässler, um bei diesem<br />
Beispiel zu bleiben, obwohl er<br />
gerne Freundschaften schliessen<br />
«Solange sie kein<br />
Leiden verursacht,<br />
ist Schüchternheit<br />
keine Störung.»<br />
würde, sich auch nach Wochen<br />
zurückhält und selten den Kontakt<br />
zu seinen Mitschülern sucht und sich<br />
im Unterricht kaum bis gar nicht<br />
mündlich beteiligt. Wissenschaftlich<br />
ausgedrückt: Wenn sein Vermeidungsverhalten<br />
ausgeprägter ist als<br />
sein Annäherungsverhalten. >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>35
Monatsinterview<br />
>>> Warum verhalten sich Kinder<br />
denn auf diese Art und Weise?<br />
Übermässig schüchterne Buben und<br />
Mädchen haben Angst, negativ be <br />
wertet, ausgelacht und lächerlich<br />
gemacht zu werden. Sie haben Angst,<br />
nicht zu genügen und den Erwartungen<br />
anderer nicht gerecht zu werden.<br />
«Ich genüge nicht als Person.»<br />
Diese Angst führt dazu, dass sich<br />
schüchterne Kinder in Gegenwart<br />
anderer unbehaglich fühlen, angespannt<br />
sind und Hemmungen<br />
haben, sich beispielsweise in ein<br />
Spiel einzubringen. Sie bleiben in der<br />
Rolle des stummen Beobachters.<br />
Was steckt hinter dieser Angst?<br />
Ein stark angeschlagenes Selbstvertrauen.<br />
Die Vermeidung von sozialen<br />
Kontakten ist die Folge, ebenso<br />
wie eine mangelhafte Unterrichtsbeteiligung.<br />
Diese Kinder machen sich<br />
klein, sprechen, wenn überhaupt,<br />
nur ganz leise, haben keinen wirklich<br />
spürbaren Händedruck, meiden den<br />
Blickkontakt, und auf Fragen antworten<br />
sie schulterzuckend mit «ich<br />
weiss nicht». Was von Aussenstehenden<br />
oft negativ bewertet wird.<br />
Nach dem Motto: «Wo nichts rauskommt,<br />
ist auch nichts drin.»<br />
Schüchternen fehlt aber nicht einfach<br />
nur das richtige Skript für die<br />
sozialen Auftritte; das Problem liegt<br />
im Grunde tiefer. Oft kennen sie die<br />
passenden Dialoge und das, was man<br />
sagen könnte, sehr wohl, aber sie<br />
verzichten darauf, die Sätze und<br />
Bemerkungen auszusprechen, weil<br />
sie sich nicht dazu berechtigt und zu<br />
unbedeutend fühlen, ihre Meinung<br />
in eine Situation einzubringen. Oder<br />
sie fürchten, dass man ihnen widerspricht,<br />
was sie sofort beschämen<br />
würde.<br />
Aber gibt es nicht auch schüchterne<br />
Menschen, die ihre Hemmungen<br />
gekonnt überspielen?<br />
Das ist richtig. Viele Schauspieler<br />
sind eigentlich extrem schüchterne<br />
Menschen, obwohl sie täglich vor<br />
Publikum auf der Bühne stehen.<br />
Aber dort spielen sie lediglich ihre<br />
Rolle. Extravertiertes Verhalten können<br />
sich Schüchterne mit zunehmendem<br />
Alter aneignen. Auch der<br />
Klassenclown hat letztlich nur eine<br />
Möglichkeit gefunden, sich vor<br />
anderen zu präsentieren. Er geht<br />
damit aber keine ernsthaften Kontakte<br />
ein.<br />
Können diese Kinder keine Freundschaften<br />
schliessen?<br />
Sagen wir, es fällt ihnen sehr schwer,<br />
da ihr soziales Misstrauen so stark<br />
ausgeprägt ist. Das kleinste Anzeichen<br />
von Abneigung oder Zurückweisung<br />
von dem oder der Auserwählten<br />
wird als Ablehnung ge deutet<br />
und führt zum Rückzug. Deshalb<br />
haben schüchterne Kinder meist<br />
wenige Freunde, die ihnen sehr<br />
wichtig sind und von denen sie<br />
extrem viel erwarten.<br />
«Wer im<br />
Jugendalter den<br />
Anschluss nicht<br />
findet, bleibt auch<br />
als Erwachsener<br />
isoliert.»<br />
Von wie vielen Kindern, denen es so<br />
ergeht, sprechen wir?<br />
Im Kindergarten ist anfänglich ein<br />
Drittel der Buben und Mädchen auffällig<br />
schüchtern. In der Primarschule<br />
werden dann etwa 16 Prozent der<br />
Schülerinnen und Schüler eines<br />
Jahrgangs als schüchtern wahrgenommen.<br />
Mädchen und Buben sind<br />
dabei übrigens gleich oft betroffen.<br />
Diese Schüchternheit nimmt bei vielen<br />
Betroffenen mit der Zeit ab. Bei<br />
rund 8 Prozent bleiben die Hemmungen<br />
und die Angst vor Zurückweisung<br />
allerdings erhalten. Wenn<br />
diese Kinder im Jugendalter den<br />
Anschluss immer noch nicht finden,<br />
isoliert bleiben, dann stabilisiert sich<br />
ihre Schüchternheit. Dann bleibt<br />
man mit grosser Wahrscheinlichkeit<br />
auch als Erwachsener isoliert.<br />
Wird Schüchternheit vererbt?<br />
Während meiner Forschungstätigkeit<br />
habe ich beobachtet, dass in den<br />
meisten Fällen schon die Eltern<br />
schüchtern waren. Das war auch die<br />
Aussage der Mütter und Väter in<br />
unseren Kursen: «Ich war früher<br />
genauso.» Lassen Sie mich den<br />
Zusammenhang so erklären: Es gibt<br />
ein Hemmungs- und ein Annäherungssystem,<br />
und je nachdem, wie<br />
die Einschätzungen sind, wird entweder<br />
das eine oder das andere aktiviert.<br />
Bei Schüchternen ist die<br />
Schwelle tiefer und die Hemmungen<br />
werden früher aktiviert.<br />
Wie muss man das verstehen?<br />
Der Amerikaner und Entwicklungspsychologe<br />
Jerome Kagan hat in den<br />
80er-Jahren Babys Mobiles vorgehalten.<br />
Die einen waren interessiert,<br />
haben mit Greifen und Glucksen<br />
freudig reagiert, während sich andere<br />
weinend weggedreht haben. Für<br />
sie waren diese Reize zu viel. Diese<br />
Kinder haben eine so niedrige Reizschwelle,<br />
dass sie von Reizen, die von<br />
aussen kommen, recht schnell überfordert<br />
werden.<br />
Und diese niedrige Reizschwelle ist die<br />
genetische Komponente?<br />
Ja, sie wird von den Eltern vererbt.<br />
Wie sich gezeigt hat, neigen besonders<br />
Kinder, die gegenüber fremden<br />
Personen eine tiefere Reizschwelle<br />
haben, zu späterer Schüchternheit.<br />
Ob es so weit kommt, hängt stark<br />
von der Erziehungsumgebung ab.<br />
Eltern, die früher selber schüchtern<br />
waren, reagieren häufig ängstlich<br />
und überbehütend und verstärken<br />
so die Hemmungstendenzen beim<br />
Kind. Schüchternheit kann gleichzeitig<br />
vererbt und anerzogen sein.<br />
Was gelingt Kindern mit einer höheren<br />
Reizschwelle besser?<br />
Es muss viel mehr passieren, um<br />
diese Kinder aus der Ruhe zu bringen.<br />
Sie können ihr Handeln besser<br />
strukturieren und ausrichten auf das,<br />
was wirklich passiert, während Kinder<br />
mit einer niedrigen Reizschwelle<br />
(vorschnell) auf Signale reagieren.<br />
Für Schüchterne ist es so, dass der<br />
36 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
«Schüchterne<br />
Kinder bleiben<br />
hinter ihren<br />
Möglichkeiten<br />
zurück», sagt<br />
Georg Stöckli.<br />
«Blick des anderen» primär Beurteilung<br />
und damit Bedrohung signalisiert<br />
– nicht etwa Interesse und<br />
Wohlwollen.<br />
Haben Schüchterne auch Stärken –<br />
die weniger schüchternen Menschen<br />
fehlen?<br />
Schüchterne Menschen werden oft<br />
als sehr empathisch beschrieben, sie<br />
sind gute Zuhörer und Beobachter.<br />
Und verstehen Sie mich nicht falsch,<br />
auch Hemmungen sind nicht nur<br />
negativ zu bewerten. Wenn es mehr<br />
Hemmungen gäbe, wäre unsere Welt<br />
sicher um einige Konflikte ärmer.<br />
Das Problem ist nur, dass diese Hemmungen<br />
in Situationen auftreten, die<br />
für das persönliche «Vorankommen»<br />
der schüchternen Person entscheidend<br />
wären.<br />
So bleiben schüchterne Menschen<br />
hinter ihren Möglichkeiten zurück. Im<br />
Hinblick auf die Schule ist ein solches<br />
Verhalten fatal.<br />
Leider. Diese Kinder bleiben im<br />
Unterricht passiv, machen nicht mit<br />
und können somit nicht zeigen, was<br />
sie eigentlich im Stande sind zu leisten.<br />
Ihre Noten sind schlechter, als<br />
sie ohne dieses schüchterne Verhalten<br />
wären. Viele Lehrpersonen re <br />
agieren genervt auf diese Kinder, die<br />
sich nicht äussern. Andere Kinder<br />
und Jugendliche haben feine Antennen<br />
für eine solche Stimmung: «Er<br />
oder sie ist anders als wir.» In einem<br />
ungünstigen Umfeld kann dies bis<br />
zu Mobbing führen.<br />
Sie sprechen in Ihren Büchern von den<br />
«vergessenen Kindern».<br />
Damit Unterricht stattfinden kann,<br />
müssen erst einmal diejenigen Schüler<br />
ruhiggestellt werden, die stören.<br />
Dabei gehen die stillen, zurückhaltenden<br />
Kinder unter – oder sind<br />
sogar in ihrem passiven Verhalten<br />
erwünscht. Sie machen keinen Klamauk,<br />
sind ruhig. Das führt dazu,<br />
dass die Probleme dieser Kinder<br />
nicht gesehen werden. Was Schüchterne<br />
brauchen, ist eine Umgebung<br />
der Vertrautheit. Anders als zu Hause<br />
ist diese Vertrautheit in der Schule<br />
nicht gegeben, und durch die<br />
Klassengrösse sind die Lehrerinnen<br />
und Lehrer nicht in der Lage, eine<br />
Vertrautheit zu schaffen.<br />
Dabei wäre es gerade in der Schule<br />
wichtig, dass es den Lehrpersonen<br />
gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung<br />
aufzubauen.<br />
Leider hören diese Kinder schon im<br />
Kindergarten von Lehrpersonen,<br />
dass sie sich besser beteiligen sollen,<br />
was nicht gerade zu einer Verbesserung<br />
führt. Wenn die Eltern >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>37
Monatsinterview<br />
>>> dann auch noch solche Signale<br />
aussenden, wird es ganz schlimm:<br />
«Mach doch, sei doch, tu doch.» Das<br />
heisst für das Kind: «So, wie du bist,<br />
bist du nicht gut». Und das ist natürlich<br />
eine fatale Botschaft.<br />
Was könnten Lehrpersonen stattdessen<br />
tun?<br />
Es wäre wichtig, dass Lehrerinnen<br />
und Lehrer mit den Kindern besprechen,<br />
wie sie sich im Unterricht besser<br />
beteiligen können, und einen<br />
Weg finden, wie sie das Kind unterstützen.<br />
So könnten beispielsweise<br />
anstehende Vorträge gemeinsam<br />
vorbesprochen werden. Man sollte<br />
dem Kind zu verstehen geben, dass<br />
auch andere Ängste haben, vor der<br />
Klasse zu sprechen, und dass das<br />
ganz normal ist. Man sollte ihm vermitteln,<br />
dass man es in seinem<br />
Wesen akzeptiert, aber es Schritt für<br />
Schritt weiterbringen möchte.<br />
Eine zeitaufwendige Sache.<br />
So zeitaufwendig ist das nicht. Zwei<br />
bis drei Mal pro Woche am Ende des<br />
Unterrichts kurz mit einem schüchternen<br />
Kind Aufträge durchsprechen,<br />
das können Lehrpersonen<br />
leisten.<br />
In Ihrer Funktion als Leiter der Forschungsstelle<br />
Kind und Schule an der<br />
Universität Zürich haben Sie das<br />
«Soziale Fitness-Training» entwickelt.<br />
Ein Programm, das schüchternen Kin-<br />
dern helfen soll, sich in der Schule zu<br />
öffnen und ihre Hemmungen hinter<br />
sich zu lassen.<br />
Während meiner Forschungszeit zu<br />
diesem Thema sind immer wieder<br />
Eltern mit der Frage auf mich zugekommen:<br />
«Was können wir nun<br />
gegen die Schüchternheit unseres<br />
«Mein Wunsch ist,<br />
dass Fachpersonen<br />
regelmässig mit<br />
diesen Kindern an<br />
ihren Schulen<br />
arbeiten.»<br />
Sohnes, unserer Tochter tun?» Da<br />
habe ich gemerkt, dass es mit der<br />
reinen Forschung nicht getan ist –<br />
und dieses Programm entwickelt, in<br />
dem wir mit den Kindern bei uns an<br />
der Universität gearbeitet haben,<br />
damit sie den Erwartungen, die an<br />
sie gestellt werden, gerecht werden<br />
können. Es braucht ja eigentlich<br />
nicht viel: sich gelegentlich melden,<br />
sich einbringen, mitmachen, in der<br />
Pause nicht abseitsstehen, sondern<br />
mit anderen etwas gemeinsam<br />
machen. Für diese Kurse sind Familien<br />
aus der gesamten Deutschschweiz<br />
zu uns gekommen. Leider<br />
werden Sie heute nicht mehr angeboten.<br />
Unter anderem aus diesem Grund<br />
haben Sie in diesem Frühjahr das<br />
Buch «Sozial fit – SoFiT! Mutmacher<br />
gegen Hemmzwerg. Sozialarbeit an<br />
Schulen: Ein Trainingsprogramm für<br />
sozial ängstliche Schülerinnen und<br />
Schüler» herausgegeben ...<br />
... um es an Sozialarbeiter und Heilpädagogen<br />
an Schulen abzugeben.<br />
Mein Wunsch wäre es, dass diese<br />
Fachpersonen regelmässig mit<br />
schüchternen Kindern an ihrer<br />
Schule arbeiten.<br />
Was kann ich als Vater oder Mutter eines<br />
schüchternen Kindes tun?<br />
Erst einmal sollten Sie Ihrem Kind<br />
zuhören. Aussagen wie «alle anderen<br />
in der Klasse sind blöd» deuten<br />
schon darauf hin, dass etwas nicht<br />
stimmt. Denn das kann nicht sein.<br />
Eine Schulklasse ist im Grunde der<br />
beste Ort, um Freunde zu finden, da<br />
man über einen längeren Zeitraum<br />
immer wieder mit denselben Menschen<br />
Zeit verbringt.<br />
Sollte man sein Kind ermutigen, auf<br />
andere zuzugehen?<br />
Es lohnt sich, als Mutter oder Vater<br />
eines betroffenen Kindes die Frage<br />
zu stellen: Wie distanziert bin ich<br />
Die stellvertretende<br />
Chefredaktorin<br />
Evelin Hartmann im<br />
Gespräch mit Georg<br />
Stöckli.<br />
Zur Person<br />
Prof. Dr. Georg Stöckli war von<br />
2009 bis 2015 Leiter der<br />
Forschungsstelle Kind und Schule am<br />
Institut für Erziehungswissenschaft<br />
der Universität Zürich.<br />
38 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
eigentlich selbst anderen Menschen<br />
gegenüber? Wenn man seinem Kind<br />
sagt, dass es doch eigentlich ganz<br />
einfach ist, es aber selbst nicht praktiziert,<br />
dann ist das ein Widerspruch,<br />
den das Kind durchschaut. Natürlich<br />
gehört es dazu, hin und wieder ein<br />
anderes Kind zu sich nach Hause<br />
einzuladen, gemeinsam zu essen und<br />
dem eigenen Kind zu zeigen, dass<br />
man in diesen Situationen auch entspannt<br />
sein kann. Solche Tischsituationen<br />
eignen sich dafür sehr gut:<br />
Das Kind ist anwesend, muss aber<br />
nicht aktiv handeln. Das ist ein guter<br />
Anfang.<br />
Für Ihr Programm haben Sie den Mutmacher<br />
entwickelt, der dem schüchternen<br />
Kind hilft, gegen den sogenannten<br />
Hemmzwerg zu kämpfen.<br />
Dieser Hemmzwerg ist ein sehr hartnäckiger<br />
Zwerg (lacht). Es ging mir<br />
darum, die Schüchternheit von der<br />
Person des Kindes zu trennen. Es ist<br />
der Hemmzwerg, der dem schüchternen<br />
Kind das Leben schwermacht.<br />
Doch mithilfe des Mutmachers kann<br />
der Hemmzwerg be kämpft werden.<br />
Eltern rate ich, die Mutmacher ihrer<br />
Kinder zu werden und mit ihnen<br />
Situationen zu erleben, nach denen<br />
sie sagen können: «Da warst du jetzt<br />
aber richtig mutig!» Und: «Du bist<br />
viel mutiger, als du denkst!» Und das<br />
kann dann ein Anschlusspunkt an<br />
die eigene Mutmacherei sein.<br />
>>><br />
«Mutmacher gegen Hemmzwerg»<br />
Georg Stöckli entwickelte ein Trainingsprogramm, das<br />
schüchterne Kinder darin unterstützt, ihre Hemmungen<br />
und Ängste zu überwinden. Das Programm wurde mit<br />
Schülerinnen und Schülern der vierten bis sechsten<br />
Klassen erprobt. Die abschliessende Auswertung zeigte,<br />
dass sich diese Kinder nach dem Training mutiger<br />
fühlten als zuvor.<br />
In zehn Trainingseinheiten werden Übungen<br />
angeboten, die den Kindern zum einen ermöglichen,<br />
ihre eigenen Hemmungen zu erkennen. Mithilfe der<br />
Figur des Hemmzwergs können Kinder über die<br />
Ursachen ihrer Probleme nachdenken. Zum anderen<br />
werden die Kinder aufgefordert, ihre Passivität zu<br />
überwinden und Eigeninitiative zu zeigen. Ein<br />
persönlicher Mutmacher hilft den Kindern dabei.<br />
Georg Stöckli: Sozial fit – SoFiT! Mutmacher gegen<br />
Hemmzwerg. Sozialarbeit an Schulen: Ein<br />
Trainingsprogramm für sozial ängstliche Schülerinnen<br />
und Schüler. Lehrmittelverlag Zürich, 2016.<br />
www.lmz.ch<br />
tel.Dr.<br />
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jeden Tag rund um die Uhr. Im Akutfall oder bei Unsicherheit.<br />
Das ist Service.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>39
Psychologie & Gesellschaft<br />
Buben lernen anders als Mädchen<br />
Damit beide Geschlechter in der Familie und in der Schule auf die<br />
Rechnung kommen, braucht es ein Bewusstsein dafür, dass es<br />
Unterschiede zwischen Mädchen und Buben gibt. Text: Susan Edthofer<br />
Schule als Institution und Buben harmonieren<br />
nicht immer miteinander. Mädchen scheinen<br />
besser in dieses Konzept zu passen. Buben und<br />
Mädchen entwickeln sich unterschiedlich, und<br />
auch ihre Bedürfnisse, Vorlieben und Befindlichkeiten<br />
sind anders. Dies bedeutet, dass beim Thema<br />
Chancengleichheit nicht nur die soziale Herkunft, sondern<br />
auch das Geschlecht eine Rolle spielt.<br />
Mädchen sind eine Nasenlänge voraus<br />
Bereits beim Schuleintritt haben die Mädchen die Nase<br />
vorn. Bei der Einschulung beträgt der Entwicklungsvorsprung<br />
etwa ein bis drei Jahre, ein Unterschied, der sich<br />
erst im Laufe der Schulzeit ausgleicht. Nicht verwunderlich<br />
also, dass der Unterricht für die Buben womöglich<br />
zum Stressfaktor wird. In einem Artikel von «Focus<br />
Schule» aus dem Jahr 2009 steht: «Mädchen sind nicht<br />
schlauer, aber ‹schulklüger›.» Diese Aussage bringt es<br />
auf den Punkt. Beispielsweise entwickeln sich Feinmotorik<br />
und Grobmotorik bei Mädchen und Buben in<br />
unterschiedlichen Zeitfenstern. Das erklärt, warum<br />
Buben oft Mühe haben, still zu sitzen, schön zu schreiben<br />
und geduldig auszumalen. Hinzu kommt, dass die<br />
Art und Weise, wie Inhalte vermittelt werden, Buben<br />
eher langweilt. Auch wenn bei Mädchen der Bewegungsdrang<br />
ebenfalls hoch ist, können sie besser damit umgehen,<br />
dass Wissen oft durch Reden weitergegeben wird.<br />
Beiden Geschlechtern gerecht werden<br />
Immer wieder ist die Frage zu hören, ob getrennte Klassen<br />
beiden Geschlechtern mehr entsprechen würden.<br />
Mittlerweile sprechen sich viele Fachleute für eine zeitweilige<br />
Trennung aus. Schulen, die diese Lösung praktizieren,<br />
stellen fest, dass den Bedürfnissen von Buben<br />
und Mädchen besser entsprochen werden kann. Entgegen<br />
der gängigen Meinung schneiden Mädchen beispielsweise<br />
in Mathematik bis zehn Jahre ungefähr gleich<br />
gut ab. Erst nachher überholen die Jungs sie. Scheinbar<br />
liegt es also nicht an den Fähigkeiten, dass sich Mädchen<br />
in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern in<br />
gemischten Klassen eher zurückhalten. Auch Buben<br />
könnten ihre kommunikativen Stärken besser zeigen,<br />
wenn die Klassen im Sprachunterricht<br />
teilweise getrennt wären.<br />
Deutliche Unterschiede bestehen im<br />
Denken und Handeln: Mädchen macht<br />
es keine Mühe, Vorgaben zu folgen.<br />
Buben hingegen möchten Dinge ausprobieren<br />
und erst nachher ihre Schlüsse<br />
ziehen. Auch das Selbstwertgefühl der beiden Geschlechter<br />
entwickelt sich unterschiedlich: Mädchen versuchen<br />
sich vor allem über die Leistung zu definieren und<br />
dadurch ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Für Buben<br />
hängt die Stellung in der Gruppe stark mit ihrem Selbstwertgefühl<br />
zusammen. Eltern und Lehrpersonen, die<br />
Kinder mit diesem Wissen unterrichten und erziehen,<br />
tragen dazu bei, das Lernen zu vereinfachen.<br />
Was Eltern tun können – vier Tipps<br />
«Mädchen scheinen<br />
besser ins Konzept<br />
Schule zu passen.»<br />
Susan Edthofer ist Redaktorin<br />
im Bereich Kommunikation<br />
von Pro Juventute.<br />
• Um beiden Geschlechtern gerecht zu werden, hilft es, sich der<br />
Unterschiede im Verhalten von Mädchen und Buben zu<br />
vergewissern. Wenn Sie die Stärken Ihres Kindes kennen, fällt es<br />
Ihnen leichter, seine schwächeren Seiten zu fördern.<br />
• Geben Sie Ihrem Sohn Gelegenheit, das Lernen durch Bewegung<br />
aufzulockern. Kopfrechnen kann man beispielsweise beim<br />
Treppensteigen, und Wörter lassen sich hüpfend lernen.<br />
• Fördern Sie im Gespräch mit Ihrem Sohn und anhand von Bildern<br />
und Situationen gezielt seine emotionalen Kompetenzen.<br />
• Mädchen fühlen sich schnell minderwertig. Stärken Sie das<br />
Selbstvertrauen Ihrer Tochter und achten Sie beispielsweise darauf,<br />
dass nicht bloss die Männer für handwerkliche Belange zuständig<br />
sind. Ermuntern Sie Ihre Tochter, in sogenannte Männerdomänen<br />
vorzustossen.<br />
Pro Juventute Elternberatung<br />
Bei Pro Juventute Elternberatung können Eltern und Bezugspersonen von<br />
Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder online<br />
(www.projuventute-elternberatung.ch) Fragen zum Familienalltag, zu<br />
Erziehung und Schule stellen. Ausser den normalen Telefongebühren fallen<br />
keine Kosten an. In den Elternbriefen und Extrabriefen finden Eltern<br />
Informationen für den Erziehungsalltag. Mehr Infos: www.projuventute.ch<br />
40 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Nur solange Vorrat. Nicht kumulierbar mit anderen Rabatten.
Kolumne<br />
Wenn Kinder das Familienbett belagern<br />
Was tun, wenn Kinder nachts auf Wanderschaft gehen, Betten getauscht werden<br />
und Eltern nicht zur Ruhe kommen? Dann braucht es eine klare Botschaft und<br />
elterliche Führung, sagt Jesper Juul.<br />
Jesper Juul<br />
ist Familientherapeut und Autor<br />
zahlreicher internationaler Bestseller<br />
zum Thema Erziehung und Familien.<br />
1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />
nach dem Schulabschluss zur See, war<br />
später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />
und Barkeeper. Nach der<br />
Lehrerausbildung arbeitete er als<br />
Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />
und bildete sich in den Niederlanden<br />
und den USA bei Walter Kempler zum<br />
Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />
leidet Juul an einer Entzündung der<br />
Rückenmarksflüssigkeit und sitzt<br />
im Rollstuhl.<br />
Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />
Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />
Ehe geschieden.<br />
Eine Leserin schreibt: Ich<br />
finde mich immer wieder<br />
in Situationen, in<br />
denen es mir schwerfällt,<br />
herauszufinden, was für<br />
die Kinder gut ist und was nicht. Im<br />
Dschungel der vielen Ratgeber und<br />
der mehr oder weniger schlauen<br />
Bücher über Kinder fühle ich mich<br />
verloren. Sie helfen mir nicht.<br />
Hier unser Problem: Die Nächte<br />
sind für uns Erwachsene sehr unangenehm,<br />
aber ich weiss wirklich<br />
nicht, wie wir das ändern sollen. Wir<br />
sind eine Patchworkfamilie: mein<br />
Mann, mein fünfjähriger Sohn und<br />
unsere gemeinsame, zehn Monate<br />
alte Tochter und ich. Jedes zweite<br />
Wochenende ist mein Sohn bei seinem<br />
Vater. An manchen Wochenenden<br />
sind auch die älteren Kinder<br />
meines Mannes bei uns. Die eigentlichen<br />
Schwierigkeiten erleben wir<br />
aber in den Nächten unter der<br />
Woche.<br />
Die beiden Kinder schlafen dann<br />
bei mir im Doppelbett, mein Mann<br />
schläft auf einer Matratze im Kin<br />
Wir wollen nicht, dass unser<br />
Sohn sich fürchtet, möchten<br />
aber auch nicht nachts ständig<br />
geweckt werden – was tun?<br />
derzimmer. Oder er schläft zusammen<br />
mit unserer gemeinsamen<br />
Tochter im Doppelbett und ich mit<br />
meinem Sohn auf der Matratze im<br />
Kinderzimmer. Die Kinder lieben<br />
diese Aufteilung. Mein Mann und<br />
ich nicht. Wir sind sogar ziemlich<br />
frustriert davon.<br />
Da der Grössere früher Angst<br />
hatte, alleine zu schlafen, kam er<br />
immer zu uns ins Bett. Mit der Zeit<br />
wurde dies zu einem Platzproblem.<br />
Aus diesem Grund fanden wir die<br />
beschriebene Lösung. Nun wacht<br />
unsere Kleine in der Nacht aber<br />
immer wieder auf, und mein Sohn<br />
wird dadurch in seinem Schlaf<br />
gestört. Mittlerweile sind wir alle<br />
sehr müde.<br />
Wir wollen nicht, dass unser<br />
Gros ser sich fürchtet, aber auch<br />
nicht, dass wir ständig in der Nacht<br />
von einem Fünfjährigen aufgeweckt<br />
werden. Ich habe einfach nicht mehr<br />
die Kraft für dieses Chaos.<br />
Antwort von Jesper Juul<br />
Was für ein Durcheinander! Ich<br />
kann sehr gut verstehen, dass Sie und<br />
Ihr Mann frustriert sind. Sie müssen<br />
die unterschiedlichsten Bedürfnisse<br />
und Wünsche vieler Familienmitglieder<br />
unter einen Hut bringen –<br />
auch Ihre eigenen.<br />
So wie Sie die Entwicklung<br />
beschreiben, müssen Sie das Gefühl<br />
haben, dass Sie mit Ihren Bestrebungen<br />
gescheitert sind, vor allem<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
42 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
nachts. Dabei sind Ihre Kinder auf<br />
sich selbst gestellt, weil es ihren<br />
Eltern nicht gelingt, die eigenen<br />
Bedürfnisse zu stillen, weil Sie sich<br />
mehr oder weniger für die Bedürfnisse<br />
Ihrer Kinder aufgeben.<br />
Ihre Kinder haben offensichtlich<br />
unterschiedliche Schlafwünsche.<br />
Doch was sie brauchen, ist nicht die<br />
Erfüllung ihrer Wünsche, sondern<br />
eine klare Botschaft von Ihnen als<br />
Eltern. Jetzt braucht es sozusagen<br />
die elterliche Führung. Konzentrieren<br />
Sie sich dabei auf Ihr Wissen<br />
über die Bedürfnisse Ihrer Kinder<br />
und Ihre Fähigkeit, ihnen Ihre Grenzen<br />
zu zeigen.<br />
In Ihrer speziellen Situation als<br />
Patchworkfamilie sollte keines der<br />
Kinder bis auf Ihre gemeinsame<br />
kleine Tochter bei Ihnen im Bett<br />
schlafen. Der fünfjährige Sohn hat<br />
vermutlich keine Angst, er ist es einfach<br />
nicht gewohnt, alleine zu schlafen.<br />
Es wird schon einige abendliche<br />
«Besuche» an seinem Bett brauchen,<br />
bis er tatsächlich alleine ein- und<br />
auch durchschläft.<br />
Zuerst müssen Sie und Ihr Mann<br />
sich gemeinsam klar darüber werden,<br />
was Sie wollen. Sobald Sie das<br />
wissen, berufen Sie ein Familientreffen<br />
ein, an dem alle Mitglieder teilnehmen.<br />
Zuerst erzählen Sie, wie<br />
frustriert und erschöpft Sie sind und<br />
dass Sie die Verantwortung dafür<br />
übernehmen. Dann teilen Sie den<br />
Kindern Ihre Entscheidung mit und<br />
erlauben Ihnen, darauf zu reagieren.<br />
Aber diskutieren Sie nicht zu lange<br />
darüber! Die Entscheidung ist gefallen,<br />
und dabei bleibt es.<br />
Falls Sie jetzt denken, dass das ein<br />
zu hartes Vorgehen ist – keine Sorge.<br />
Sie haben schon sehr lange jeden<br />
möglichen Respekt für die Bedürfnisse<br />
der Kinder gezeigt. Sie haben<br />
eine wunderbare Komfortzone für<br />
alle geschaffen und die Beteiligten<br />
liebevoll umsorgt.<br />
Nun ist es an Ihnen, Prioritäten<br />
zu setzen. Fast die Hälfte aller einbis<br />
fünfjährigen Kinder dieser Welt<br />
schläft in der Nacht unruhig und<br />
unregelmässig. Auch viele Ratgeber<br />
und Bücher zum Thema können das<br />
nicht ändern. Selbst jene nicht, die<br />
sich ausschliesslich auf die Bedürfnisse<br />
der Kinder, deren Eigenarten<br />
und schlechten Gewohnheiten konzentrieren.<br />
Der Grund ist einfach: In diesem<br />
turbulenten Alter können die besten<br />
Eltern der Welt keine Ordnung und<br />
Harmonie in die inneren Zustände<br />
ihrer Sprösslinge bringen. Was Sie<br />
aber machen können, ist, verlässliche<br />
und sichere Rahmenbedingungen<br />
zu schaffen.<br />
Es wird einige abendliche<br />
Besuche neben dem Bett Ihres<br />
Sohnes brauchen, bis er alleine<br />
ein- und durchschläft.<br />
Haben auch Sie eine Frage an Jesper Juul,<br />
die er persönlich beantworten soll?<br />
Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch oder<br />
einen Brief an: Schweizer ElternMagazin<br />
Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97,<br />
8008 Zürich<br />
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>43
Kolumne<br />
F***** im Club<br />
Michèle Binswanger<br />
Die studierte Philosophin ist Journalistin<br />
und Buchautorin. Sie schreibt zu<br />
Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder<br />
und lebt in Basel.<br />
Spotify ist eine segensreiche Erfindung. Sich für Musik zu interessieren<br />
war nie so einfach wie heute. Als Teenager in den Achtzigerjahren<br />
war dies eine weitaus kompliziertere Angelegenheit,<br />
denn um überhaupt an neue Musik heranzukommen, brauchte<br />
man zunächst weniger musikalische als soziale Fähigkeiten.<br />
Man musste an die Menschen herankommen, die einem neue Musik zeigen<br />
konnten, und das waren allesamt Nerds. Oder Kerle, die ich nicht<br />
verstand, wie der Wizard vom einzig coolen Plattenladen in der Kleinstadt,<br />
in der ich aufwuchs. An Samstagnachmittagen lungerte ich vor<br />
dem Plattenladen herum und kaum je wagte ich es, den Wizard persönlich<br />
anzusprechen, der mich vielleicht in die Geheimnisse neuer Musik<br />
eingeweiht hätte.<br />
Heute ist das anders. Dank Spotify brauche ich nicht mehr bis am<br />
Samstagnachmittag zu warten und ich brauche auch keine Nerds mehr.<br />
Alles, was ich wissen muss, sagt mir der Algorithmus, der immer neue<br />
Empfehlungen macht und auch immer wieder für Überraschungen sorgt.<br />
So war das neulich, als plötzlich dieser Track durch meine Boxen bretterte.<br />
Er hatte ordentlich Druck und eine interessante Story: Ein paar<br />
Mädels erzählen, wie sie sich für den Ausgang aufbrezeln und dann grölend<br />
durch die Strassen ziehen. Ich hörte interessiert und angetan zu, bis<br />
der Refrain kam, mit süssen Stimmchen über wummerndem Bass:<br />
«Ich geh heut mit meinen Fotzen in’ Club<br />
Wir kommen rein und jedes Opfer hier kuckt<br />
Dieser Scheiss fickt deine Boxen kaputt<br />
denn ich bin heut mit meinen Fotzen im Club»<br />
Hm. Als Erstes sah ich mich um, ob meine Kinder mithörten. Sie wissen<br />
nämlich, dass ich aggressiven und vulgären Deutschrap nicht ausstehen<br />
kann. Weil ich das Glück habe, mit einer Tochter gesegnet zu sein, die<br />
Musik ebenfalls liebt und deren Musikgeschmack sich mit meinem überschneidet,<br />
war dies noch nie ein Problem. Nun war mir klar, was hier aus<br />
den Boxen kam, war einigermassen prekär. F***** – in keinem anderen<br />
Kontext würde ich den Ausdruck in meinem Haushalt dulden. Aber ich<br />
konnte mir nicht helfen, ich mochte den Song. Irgendwie war das Punk<br />
oder eine vulgärfeministische Variante davon. Und wenn es sexistisch<br />
war, warum gefiel es mir dann irgendwie? War das jetzt vielleicht Zeichen<br />
einer Midlife-Crisis? Dann hörte ich den Track noch einmal an – laut.<br />
Meine Tochter ist 16 Jahre alt, und das Letzte, was man sich in diesem<br />
Alter wünscht, ist eine vulgäre Mutter. Deshalb bemühe ich mich, mit<br />
allem diskret zu sein, was sie in Verlegenheit bringen könnte. Deshalb<br />
zeigte ich meiner Tochter den Track nicht. Bis wir eines Abends miteinander<br />
in Streit gerieten. Sie zog sich beleidigt ins Zimmer zurück – und<br />
wenig später bretterte «F***** im Club» aus ihrem Zimmer. Offensichtlich<br />
versuchte sie, mich zu provozieren. Aber ich fand es nur lustig.<br />
Ich habe keine Ahnung, ob das richtig ist. Ob ich mir Sorgen machen<br />
soll, dass sie solche Musik hört, oder darüber, dass sie mich damit nicht<br />
einmal provozieren kann. Weil ich es selbst höre. Aber eines ist klar:<br />
Spotify ist wirklich eine segensreiche Erfindung.<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
44 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Öpfelfarm Honig,<br />
Steinbrunn<br />
Dass dieser Honig besonders<br />
raffiniert schmeckt, liegt nicht<br />
zuletzt auch daran, dass ganze<br />
24 Bienenvölker daran arbeiten.<br />
Bündner Honig, Brusio<br />
Die Blütenpracht der Bündner<br />
Wiesen kann man bei einem<br />
Spaziergang geniessen. Oder als<br />
Honig auf dem Brot.<br />
Miel du Jura Suisse<br />
Ein Honig aus einer wilden<br />
Region, der auf dem Brot<br />
aber ganz sanft und ausgewogen<br />
schmeckt.<br />
Don Mario, Camignolo<br />
Fast noch besser fürs Gemüt<br />
als die Tessiner Sonne ist dieses<br />
süsse Meisterwerk der Tessiner<br />
Bienen.<br />
Waldhonig Region<br />
Wasserschloss, Rüfenach<br />
Anders als das Wasserschloss ist<br />
der Honig dieser Region<br />
vor allem eine Attraktion für<br />
den Gaumen.<br />
Miel genevois<br />
Im eigentlich so diplomatischen<br />
Genf gibt es – ganz undiplomatisch<br />
ausgedrückt – einen der<br />
besten Honige überhaupt.<br />
Kündig Waldhonig, Matzwil<br />
Nicht nur auf sportliche<br />
Wanderer, sondern auch<br />
auf aktive Bienen stösst man<br />
am Frienisberg.<br />
Blütenhonig aus dem<br />
ZH-Oberland, Grüt<br />
Besonders schnelle Zürcher Bienen<br />
machen diesen Honig, dem<br />
eine besonders entschleunigende<br />
Wirkung nachgesagt wird.
Ein Hund<br />
nach Mass<br />
für Joel<br />
Joel ist 7 Jahre alt. Er hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus –<br />
auf Abweichungen vom Gewohnten reagiert er mit Wut und Angst. Sein<br />
grösster Wunsch ist es, einen Hund zu bekommen, der ihm Sicherheit gibt.<br />
Joels Mutter ist alleinerziehend, vor fünf Jahren erkrankte sie an Krebs.<br />
Hier erzählt sie ihre Geschichte und bittet Sie, liebe Leserin, lieber Leser,<br />
um Ihre Unterstützung. Aufgezeichnet: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo
Erziehung & Schule<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>47
Erziehung & Schule<br />
Autisten sind oft unfähig, sich<br />
auf eine veränderte Situation<br />
einzulassen.<br />
Joel sitzt auf<br />
dem Boden. Ein<br />
Flugzeug am<br />
Himmel hat ihn<br />
«gereizt».<br />
Er reagiert mit<br />
einem Wutanfall.<br />
Jetzt ist es so. Ich bettle. Inzwischen<br />
kümmert es mich nicht<br />
mehr, was andere denken. Ich<br />
bin einfach nur froh, wenn<br />
ich Hilfe erhalte. Für Joel. Er<br />
ist inzwischen 7-jährig. Als er<br />
vor eineinhalb Jahren die Diagnose<br />
Asperger-Autismus erhielt, wusste<br />
ich, was auf mich zukommt.<br />
Krebs ist heilbar, Autismus nicht<br />
Auch Joels 14-jähriger Bruder ist<br />
autistisch. Mit ihm habe ich alles<br />
durchlebt, was Eltern autistischer<br />
Kinder durchleben können: die<br />
anfängliche Ratlosigkeit, die Abklärungen<br />
und vor allem die verzweifelte<br />
Suche nach Unterstützung. Sie<br />
führte uns durch einen Dschungel<br />
aus stationärer Psychiatrie, Pflegefamilie,<br />
Psychiatriespitex, aufsuchendem<br />
Psychiater und Sonderschule.<br />
Autismus wurde zu meinem<br />
Hauptfach in dieser Lebensschule:<br />
Ich suchte Hilfe in etlichen Weiterbildungen<br />
und Büchern. Daneben<br />
wollte ich aber auch meiner Tochter<br />
eine gute Mutter sein. Sie ist heute<br />
zwölf.<br />
Mitten in diesem Prozess steckte<br />
ich also, als Joel zweijährig ähnliche<br />
Anzeichen zu zeigen begann wie<br />
sein Bruder. Er wurde zunehmend<br />
überaktiver, eigensinniger und liess<br />
sich nicht mehr lenken. Zu viele Reize<br />
führten zu Ausrastern. Dann<br />
schrie er, hielt sich die Ohren zu,<br />
warf Dinge um sich, verkroch sich<br />
verzweifelt im Zimmer unter seiner<br />
Bettdecke und liess niemanden<br />
mehr an sich heran. Eine Abklärung<br />
zögerte ich hinaus. Vor fünf Jahren<br />
erkrankte ich an Krebs. Zusätzlich<br />
waren mein Mann und ich in Trennung.<br />
Das erschöpfte mich. Eine<br />
weitere Autismus-Diagnose hätte<br />
ich zu diesem Zeitpunkt nicht verkraftet.<br />
Inzwischen hat sich manches eingependelt:<br />
Die Krebsbehandlung ist<br />
abgeschlossen. Für meinen älteren<br />
Sohn habe ich eine tolle Pflegefamilie<br />
in der Nachbarschaft gefunden.<br />
Drei Tage die Woche verbringt er<br />
dort. Inzwischen geht er auch wieder<br />
in die öffentliche Schule. Mein<br />
Ex-Mann unterstützt mich an einem<br />
Abend unter der Woche und an den<br />
Wochenenden in der Kinderbetreuung.<br />
So auch meine Eltern. Sie leben<br />
im selben Haus. Mittags essen wir<br />
48 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
meist gemeinsam. Darüber bin ich<br />
froh, denn es kommt immer wieder<br />
zu Zwischenfällen. Es braucht nur<br />
wenig – zum Beispiel ein Salatblatt,<br />
das den Reis berührt. Schon fliegt<br />
der Teller. Ich versuche alles, um<br />
Joels Leid klein zu halten: immer<br />
dieselben Tagesabläufe, klare Strukturen,<br />
visuelle Anleitungen, wo<br />
immer möglich die Reize reduzieren.<br />
Und doch kann ich ihn nur<br />
beschränkt vor den Anfällen schützen.<br />
In den eigenen vier Wänden fällt die<br />
Fassade zusammen<br />
Seit Joel in die Schule geht, ist es<br />
noch schwieriger. Im Moment besucht<br />
er die Regelschule mit vier<br />
Stunden integrativer Förderung. Das<br />
ist für ihn eine grosse Herausforderung,<br />
oft eine Überforderung. Es<br />
kommt mir vor, als habe er ein gewisses<br />
Kontingent an Reizen, die er täglich<br />
verarbeiten kann. Viele davon<br />
begegnen ihm schon auf dem Schulweg.<br />
Ein Flugzeug am Himmel, ein<br />
Auto, das er noch nie gesehen hat,<br />
die Geräusche der Klassenkameraden<br />
– das alles strengt ihn sehr an.<br />
In der Schule sucht er Kontakt zu<br />
seinen Gspändli und stösst doch<br />
immer wieder an seine Grenzen,<br />
weil er Emotionen nicht lesen kann,<br />
Aussagen wortwörtlich versteht und<br />
nicht adäquat reagiert. Die Heilpädagogin<br />
hat die Eltern und somit die<br />
Klasse über Autismus aufgeklärt.<br />
Das war mir wichtig: Ich will, dass<br />
die Leute wissen: Es ist angeboren.<br />
Es ist nicht heilbar. Es ist kein Erziehungsfehler.<br />
Manchmal gelingt es Joel gut,<br />
sich in der Schule anzupassen. Darin<br />
ist er ein Spezialist – wie sein Bruder.<br />
Aber das kostet ihn unglaublich<br />
viel Energie. Zu Hause fällt die Fassade<br />
zusammen. Er verliert die Kontrolle<br />
und erträgt nichts mehr. Zu <br />
erst ist da der Tunnelblick, die<br />
Verzweiflung, und dann rennt er<br />
da von. Folge ich ihm, wird es nur<br />
schlimmer. Es kam schon vor, dass<br />
er in solchen Situationen Autos zer<br />
kratzte und Pfosten umschlug. Das<br />
erschöpft ihn. Und mich ebenso.<br />
Autismus ist eine ständige Ausein<br />
andersetzung mit sich und anderen.<br />
Manchmal mag ich nichts mehr<br />
davon hören. Lasst mich in Ruhe<br />
damit, möchte ich dann am liebsten<br />
rufen. An anderen Tagen geht es gut.<br />
Aber Zeit für mich selbst habe ich<br />
kaum mehr. Oft holt mich Joel schon<br />
morgens um halb sechs aus dem<br />
Bett. Bis zum Abend bin ich pausenlos<br />
mit den Kindern beschäftigt.<br />
Sind alle drei anwesend, ist es nur<br />
noch ein Chaos. Manchmal würde<br />
ich gerne wieder meinen Hobbys<br />
oder meinem Beruf als Pflegefachfrau<br />
nachgehen. Im Moment arbeite<br />
ich drei Stunden die Woche im Büro<br />
meines Vaters. Immer am Dienstagabend,<br />
wenn mein Ex-Mann die<br />
Kinder ins Bett bringt.<br />
Das Angebot reicht nicht für alle<br />
Dass ein Hund eine beruhigende<br />
Wirkung auf Joel hat, merkte ich<br />
erstmals dank Sweetie – unserem<br />
kleinen Mops. Joel schläft besser,<br />
wenn Sweetie bei ihm im Zimmer<br />
ist. Das ist verständlich: Hunde sind<br />
leichter zu verstehen. Sie erwarten<br />
nichts. Dass aber Hunde bei Autisten<br />
tatsächlich therapeutisch eingesetzt<br />
werden, erfuhr ich erst vor Kurzem<br />
am Welt-Autismus-Tag. Da waren<br />
Familien mit Autismusbegleithunden<br />
dabei. Mir wurde bewusst:<br />
Genau das würde uns entlasten. Wir<br />
gehen alle drei Wochen zu einer Kinder-<br />
und Jugendpsychiaterin, erhalten<br />
zwei Stunden die Woche Hilfe<br />
von einer Familienbegleiterin und<br />
Joel besucht seit einem Jahr die Figurenspieltherapie.<br />
Der Hund könnte<br />
das unterstützende Angebot ergänzen<br />
und Joel im Alltag Sicherheit<br />
bieten.<br />
So ging das Rösslispiel von vorne<br />
los: suchen, reden, abklären. Eigentlich<br />
versuchte ich, Joel vorerst aus<br />
dem Hundethema rauszuhalten, um<br />
keine Hoffnungen zu schüren. Aber<br />
wie Autisten sind: Sie merken alles.<br />
Wir fassten zuerst eine An >>><br />
So können Sie helfen:<br />
Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin<br />
des Schweizer ElternMagazins,<br />
will der Familie Bettschen bei der<br />
Beschaffung und Finanzierung<br />
eines Autismusbegleithundes für<br />
Joel helfen. Die Kosten betragen<br />
rund 30 000 Euro; 4000 Euro hat die<br />
Familie selber zusammengetragen.<br />
Es fehlen 26 000 Euro – rund<br />
30 000 Franken.<br />
Jede Spende ist willkommen:<br />
Stiftung Elternsein<br />
Seehofstrasse 6<br />
8008 Zürich<br />
Postkonto 88-508005-9<br />
IBAN: CH96 0900 0000 8850 8005 9<br />
Vermerk: Joel<br />
Oder:<br />
www.elternsein.ch<br />
Button «Jetzt spenden» anklicken<br />
Bemerkungen: Joel<br />
Die Stiftung Elternsein hofft auf Ihre<br />
Unterstützung. Wir informieren in<br />
der Dezember-Ausgabe, auf unserer<br />
Website www.fritzundfraenzi.ch<br />
und via Facebook und Twitter über<br />
den Spendenstand.<br />
Herzlichen Dank!<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>49
Erziehung & Schule<br />
>>> bieterin in Allschwil bei Basel<br />
ins Auge. Die Stiftung Schweizerische<br />
Schule für Blindenführhunde.<br />
Seit 2012 bildet sie Autismusbegleithunde<br />
aus. Sie war mir sofort sympathisch.<br />
Joel durfte mit einem<br />
Hund spazieren gehen und war hell<br />
begeistert. Das Problem ist: Die Stiftung<br />
wird überrannt von Anfragen,<br />
kann aber nur etwa acht Hunde pro<br />
Jahr anbieten. Einmal pro Halbjahr<br />
darf man an einer Auslosung teilnehmen.<br />
Vier bis fünf maximal<br />
zehnjährige Kinder werden gewählt<br />
und kommen auf die Warteliste. Von<br />
da an dauert es ungefähr zwei Jahre,<br />
bis man den Hund erhält. So lange<br />
kann ich nicht warten. Wir brauchen<br />
die Entlastung jetzt.<br />
Ich erweiterte die Suche über die<br />
Landesgrenze hinaus und stiess auf<br />
den deutschen Verein Patronus-<br />
Assistenzhunde. Er führt keine Wartelisten,<br />
sondern trifft die Auswahl<br />
seiner Kunden nach einer sorgfältigen<br />
Prüfung der Bewerbung und<br />
einem persönlichen Kennenlernen.<br />
Ausserdem hat er keine Altersbe-<br />
grenzung. So ergab das eine das<br />
andere. Im Frühling lernte ich Thomas<br />
Gross an einer Messe in Karlsruhe<br />
kennen. Er ist Vorsitzender des<br />
Vereins Patronus-Assistenzhunde.<br />
Im Sommer lud er uns für drei Tage<br />
nach Rostock ein, damit er Joel kennenlernen<br />
und sich ein Bild von<br />
seinen Anfällen machen konnte.<br />
Herr Gross entschied sich, mit uns<br />
zu arbeiten. Ende Jahr könnte Joel<br />
seinen Hund kriegen – sofern ich bis<br />
dahin die Finanzierung sichern<br />
kann.<br />
>>><br />
«Ein Hund für<br />
alle Fälle»<br />
Autismusbegleithunde bieten<br />
autistischen Kindern Sicherheit und<br />
ihren Eltern Entlastung. Die grosse<br />
Nachfrage verlängert jedoch die<br />
Wartezeit. Mit Unterstützung des<br />
deutschen gemeinnützigen Vereins<br />
Patronus-Assistenzhunde kommen<br />
Familien schneller zu ihrem Hund.<br />
Interview: Sarah King<br />
Herr Gross, der Verein Patronus-Assistenzhunde<br />
will mit der Ausbildung von Assistenzhunden<br />
Herzenswünsche erfüllen. Was<br />
unterscheidet Sie von anderen Anbietern?<br />
Wir können auf einen grossen Pool von Hundezüchtern<br />
und -trainern zurückgreifen. Das<br />
macht uns unabhängig und hat Vorteile für<br />
Familien. Zum einen können wir individuell den<br />
besten Trainer für ihr Kind aussuchen. Darauf<br />
legen wir grossen Wert. Zum anderen erlaubt<br />
uns der Pool, mehr Hunde auszubilden – im<br />
Moment etwa 20 bis 25 pro Jahr, ab nächstem<br />
Jahr dank zusätzlichen Trainern gar 50. Das<br />
verringert die Wartezeit. Etwa neun Monate<br />
nach dem Erstkontakt kann die Familie den<br />
Hund in Empfang nehmen.<br />
Wie sieht die Ausbildung eines Autismusbegleithundes<br />
aus?<br />
Die Ausbildung beginnt mit der Welpenauswahl:<br />
Die Trainer erkennen schon nach einer<br />
Woche anhand der Rudelstellung das Potenzial<br />
der Welpen. Nach neun Monaten Sozialisierung<br />
in einer Patenfamilie beginnt die einjährige<br />
Grundausbildung beim Assistenz -<br />
hundetrainer. Die ist für alle Hunde dieselbe.<br />
Die anschliessende Spezialausbildung richtet<br />
sich nach den Bedürfnissen der künftigen<br />
Besitzer. Gemeinsam legen wir fest, welche<br />
speziellen Fähigkeiten dem Hund antrainiert<br />
werden sollen. Die Dauer dieser Ausbildung<br />
variiert je nach Hund zwischen zehn und zwölf<br />
Monaten.<br />
Werden die Hunde «trocken» ausgebildet<br />
oder am Autisten selbst?<br />
Während der Grundausbildung verbringen die<br />
Hunde drei Tage die Woche in Psychiatrien,<br />
Altersheimen und Sonderschulen. Kommen<br />
die Hunde zur Familie, gibt es keine Krankheit,<br />
die sie noch nicht kennen. Am Ende der Grundausbildung<br />
kommt es zum ersten Kontakt mit<br />
dem autistischen Kind. Meist trifft der Hundetrainer<br />
anhand von zugeschickten Videos eine<br />
Vorauswahl und stellt dem Kind mögliche<br />
Hunde vor. Die Harmonie ist uns wichtig: Der<br />
Hund muss das Kind lieben und das Kind den<br />
Hund. Schliesslich gehen die beiden eine gut<br />
dreizehnjährige Beziehung ein.<br />
Betreuen Sie die Familien nach der Übergabe<br />
des Hundes weiter?<br />
Die Betreuung setzen wir ein Hundeleben lang<br />
fort. In den ersten drei Monaten nach der<br />
Übergabe findet zwei Mal eine Woche Schulung<br />
vor Ort statt. Reicht das nicht aus, setzen<br />
wir die Schulung fort: Wir müssen die Eltern<br />
und die betroffenen Kinder befähigen, mit<br />
dem Hund zu leben und mit ihm zu arbeiten.<br />
Danach können die Familien einmal im Jahr<br />
eine Nachschulung bei uns machen.<br />
Wie muss ein Autismusbegleithund<br />
beschaffen sein? Was für eine Rasse hat<br />
er? Was für einen Charakter?<br />
Wir arbeiten in der Regel mit den Rassen<br />
La brador und Golden Retriever. Wichtiger als<br />
die Rasse ist der Charakter des Hundes:<br />
Autismus begleithunde sollten ruhig, ausgeglichen,<br />
wachsam, wendig und leicht führbar<br />
sein. Sie müssen aber auch die Kraft haben,<br />
sich einem Kind in den Weg zu stellen oder in<br />
der Lage sein, ein Kind zu suchen.<br />
Wie geht eine Familie vor, die über den Verein<br />
Patronus-Assistenzhunde einen Hund<br />
erwerben möchte?<br />
Die Familie bewirbt sich mit einem Bewerbungsschreiben<br />
und einem Anamnesebogen.<br />
Nach einem persönlichen Kennenlernen entscheiden<br />
wir, ob wir mit dieser Familie arbeiten<br />
wollen. Fotos und Videos des autistischen Kindes<br />
geben Aufschluss darüber, mit welchem<br />
Hundetrainer wir in Kontakt treten. Dieser<br />
trifft die Auswahl der Hunde. Danach suchen<br />
wir gemeinsam nach Wegen der Finanzierung.<br />
Ein Autismusbegleithund kostet bis zu 30 000<br />
Euro. Der Betrag umfasst neben der Anschaffung<br />
des Hundes die Tierarztkosten und 350<br />
Stunden Ausbildung. Einberechnet sind weiter<br />
das Geschirr, die vierzehn Tage Zusammenschulung,<br />
Reise- und Übernachtungskosten<br />
sowie die Vor- und Nachbereitungszeit. Wir<br />
50 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
«In der Schweiz dauert es zwei Jahre, bis<br />
man einen Begleithund erhält», sagt Miriam<br />
Bettschen. «So lange kann ich nicht warten.<br />
Wir brauchen die Entlastung jetzt.»<br />
Alleinerziehend, an<br />
Krebs erkrankt,<br />
Mutter von zwei<br />
autistischen<br />
Kindern: Miriam<br />
Bettschen ist<br />
erschöpft.<br />
finanzieren uns durch Spenden und sind<br />
den Familien auch behilflich bei der<br />
Suche nach Stiftungen und Sponsoren.<br />
Gibt es Studien, welche die Wirksamkeit<br />
eines Autismusbegleithundes<br />
nachweisen?<br />
Studien wurden vor allem in den USA<br />
durchgeführt. In Deutschland gibt es<br />
zum Beispiel eine Studie, die zeigt, dass<br />
sich 76 Prozent der Kinder mehr zu<br />
einem Hund als zu einem Therapeuten<br />
oder einem Spielzeug hingezogen fühlen.<br />
Nach dem Spielen mit dem Hund<br />
senken sich die Vitalfunktionen wie Puls<br />
und Blutdruck. Die Kinder werden ruhiger,<br />
ausgeglichener und die Anzahl der<br />
Anfälle geht zurück. Das entspricht auch<br />
unserer Erfahrung.<br />
Zur Person<br />
Thomas Gross ist zweiter Vorsitzender des<br />
gemeinnützigen Vereins Patronus-<br />
Assistenzhunde mit Sitz im deutschen<br />
Mönchhagen. Er ist verantwortlich für<br />
Marketing, Sponsoring und Fundraising und<br />
koordiniert den Prozess vom ersten<br />
Kennenlernen über die Hundeübergabe bis<br />
hin zur Nachbetreuung.<br />
www.patronus-assistenzhunde.de
52 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Fussball mag<br />
ich! Oder nicht?<br />
>>> 30 000 Euro kostet der<br />
Hund. 2000 kann ich selbst beisteuern.<br />
Für den Rest brauche ich Unterstützung.<br />
Lion-Clubs, Rotary-Clubs,<br />
Bekannte, Verwandte und über<br />
zwanzig Stiftungen habe ich bisher<br />
angeschrieben – mit mässigem Er -<br />
folg. Es fehlen immer noch 26 000<br />
Euro. Dann las ich im ElternMagazin<br />
den Artikel über Autismus und<br />
fasste mir ein Herz.<br />
Darum stehe ich nun da und bitte<br />
um Ihre Unterstützung.<br />
Eine individuell angepasste<br />
Ausbildung<br />
Die letzten Jahre befreiten mich von<br />
Illusionen. Autismus ist nicht heilbar.<br />
Auch ein Hund wird nicht alle<br />
Probleme lösen. Aber ein Hund hilft<br />
mir da, wo ich alleine nicht klarkomme:<br />
Er sucht Joel, wenn er wegrennt,<br />
verlangsamt ihn im Strassenverkehr<br />
oder spurt ihm den Weg durch Menschenansammlungen.<br />
Es wird zwar<br />
Joels Hund sein, aber die Befehle<br />
gebe ich. Einen wichtigen kenne ich<br />
schon: «Ponte». Wenn sich Joel in<br />
einem Anfall unter die Bettdecke<br />
verkriecht und niemanden an sich<br />
heranlässt, wird sich der Hund auf<br />
diesen Befehl hin sachte auf Joel<br />
legen. Zuerst nur auf seine Beine,<br />
dann auf seinen ganzen Körper.<br />
Es ist bekannt, dass sich Autisten<br />
in solchen Anfällen nicht mehr spüren.<br />
Sie brauchen Widerstand. Der<br />
sanfte Druck des Hundes kann sie<br />
beruhigen. Der Hund sucht im Alltag<br />
immer wieder Kontakt zum<br />
Kind und holt es so aus seiner Welt<br />
raus. Wofür wir den Hund alles<br />
brauchen und welche Fähigkeiten er<br />
haben muss, bestimmen Joel und ich<br />
gemeinsam. Der Hundetrainer bil-<br />
Joel besucht die<br />
Regelschule mit<br />
vier Stunden<br />
integrativer<br />
Förderung.<br />
«Ein Autismusbegleithund<br />
wird nicht alle Probleme<br />
lösen. Aber er hilft mir,<br />
wo ich mit Joel allein<br />
nicht mehr klarkomme»,<br />
sagt die Mutter.<br />
det ihn dann nach unseren Bedürfnissen<br />
aus.<br />
Nach der Übergabe erhalten wir<br />
eine einwöchige Schulung bei uns zu<br />
Hause. Der Hundetrainer begleitet<br />
uns durch die verschiedenen Alltagssituationen<br />
und zeigt uns, wie<br />
wir mit dem Hund arbeiten müssen.<br />
Da Autismusbegleithunde in Le -<br />
bensmittelgeschäften erlaubt sind,<br />
redet der Trainer mit den Geschäftsführenden<br />
und trainiert mit dem<br />
Hund die einzelnen Wege. Vielleicht<br />
kann Joel den Hund an speziellen<br />
Tagen auch in die Schule mitnehmen.<br />
Zum Beispiel bei Prüfungen<br />
oder ausserordentlichen Veranstaltungen.<br />
Was ich mir erhoffe?<br />
Nach Erfahrung der Fachleute<br />
kann ein Autismusbegleithund die<br />
Anfälle des Autisten um 50 Prozent<br />
reduzieren. Schon mit 10 Prozent<br />
weniger wäre ich erleichtert. Vielleicht<br />
können sogar die Geschwister<br />
vom Hund profitieren. Und ich. Ein<br />
Hund, der einem ab und zu seine<br />
Schnauze auf das Bein legt – tut das<br />
nicht jedem gut?<br />
>>><br />
Sarah King<br />
arbeitet in einer psychiatrischen Klinik in<br />
Bern. Sie ist freie Journalistin und Autorin<br />
des Autismus-Dossiers der August-Ausgabe<br />
von Fritz+Fränzi.<br />
Irgendwann kommt in fast jedem<br />
Kinderleben der Wunsch auf,<br />
den Gspänli in einen Verein zu<br />
folgen. Sei es ein Fussballclub,<br />
Ballettstunden oder die Pfadi.<br />
Doch was, wenn es dem Kind da<br />
nicht gefällt? Damit ein Kind<br />
herausfinden kann, welche Sport -<br />
arten ihm gefallen, geht es nicht<br />
ohne ausprobieren. Einerseits tun<br />
die Kleinen das im Sportunterricht<br />
in der Schule. In der Freizeit<br />
jedoch sind auch die Eltern<br />
gefragt: Diese können viel Unterstützung<br />
bieten, wenn es um<br />
die liebste Freizeitbeschäftigung<br />
ihrer Söhne und Töchter geht.<br />
Im Ratgeber «Bewegung, Spiel<br />
und Spass in der ganzen Familie»<br />
erfahren Sie, wie Sie Ihr Kind<br />
durch eine bewegte Kindheit begleiten<br />
können – und dabei<br />
auch selber davon profitieren!<br />
Den Ratgeber «Bewegung, Spiel<br />
und Spass in der ganzen<br />
Familie» der EGK-Gesundheitskasse<br />
erhalten Sie unter:<br />
www.egk.ch/spiel-und-spass<br />
Lukas Zahner<br />
Departement für Sport,<br />
Bewegung und Gesundheit<br />
der Universität Basel<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>
Erziehung & Schule<br />
Eine Frage der Perspektive<br />
Erwachsene sollten öfter mal den Blickwinkel wechseln und die Dinge aus der Sicht von Kindern und<br />
Jugendlichen betrachten. Insbesondere, wenn es um Schule und Beruf geht. Text: Bruno Rupp<br />
«Auch ich habe mich immer<br />
wieder zur Aussage ‹Das<br />
ist doch nicht normal!›<br />
verleiten lassen.»<br />
Bruno Rupp ist Primarlehrer, Schulleiter,<br />
Mitglied der Leitungskonferenz Bildung Bern<br />
und Mitglied der LCH-Geschäftsleitung.<br />
Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern.<br />
Es lohnt sich, die Perspektive<br />
zu wechseln, Dinge mit einer<br />
anderen Brille anzuschauen –<br />
mit der des Kindes.<br />
selbe Brille zu schauen. Beide kommunizieren<br />
auf derselben Ebene<br />
miteinander.<br />
Wie oft hören Kinder oder<br />
Jugendliche von den Eltern Sätze<br />
wie «Das sehe ich aber anders»,<br />
«Wie kannst du nur!», «Das ist doch<br />
nicht normal!». In solchen Momenten<br />
und Situationen sehen beide<br />
«die Welt» mit verschiedenen<br />
Augen.<br />
Erwachsene müssen Wege in die<br />
Selbständigkeit aufzeigen<br />
Als Vater von drei heute erwachsenen<br />
Kindern habe auch ich mich<br />
immer wieder zur Aussage «Das ist<br />
doch nicht normal!» verleiten lassen.<br />
Eine Aussage, die jungen Menschen<br />
die Botschaft vermittelt, dass ich als<br />
Erwachsener und Vater selbstredend<br />
weiss, was «normal» ist. Aus meiner<br />
Sicht eben.<br />
Wie sieht es aber aus Sicht des<br />
Jugendlichen aus? Kenne ich seine<br />
Sichtweise und Begründung für sein<br />
«abnormales» Verhalten? Könnte es<br />
sein, dass sein Verhalten aus seiner<br />
Sicht vielleicht gar nicht so abnormal<br />
ist? Sollte es mich nicht interessieren,<br />
aus welchen Gründen, Erfahrungen<br />
oder mit welcher Absicht<br />
der Jugendliche eine andere Vorstellung<br />
von «normal» und «abnormal»,<br />
von «richtig» oder «falsch» hat?<br />
Als Eltern und Lehrpersonen ist<br />
es unsere Pflicht, Kindern und<br />
Jugendlichen Wege in die Selbständigkeit<br />
zu zeigen, sie auf dem Weg<br />
zur Mündigkeit zu unterstützen und<br />
Sie kennen doch bestimmt<br />
das Spiel «Ich sehe was,<br />
was du nicht siehst», das<br />
Kinder oft auf langen Fahrten<br />
im Zug oder im Auto<br />
spielen. Es ist mehr als ein Zeitvertreib.<br />
Das Kind und der erwachsene<br />
Mitspieler versuchen, die Welt oder<br />
zumindest einen kleinen Teil der<br />
Welt mit den Augen des anderen zu<br />
sehen. Beide versuchen, durch diezu<br />
begleiten. Wir haben hier eine<br />
Vorbildfunktion. Was vermitteln wir<br />
denn für Werte und Haltungen,<br />
wenn wir diese einfach unreflektiert<br />
aufgrund unserer Stärke als Erwachsene<br />
den Jungen überstülpen?<br />
Aufgrund meiner langen Erfahrung<br />
als Vater, Erzieher und Lehrer<br />
bin ich überzeugt, dass es sich<br />
immer wieder lohnt, die Perspektive<br />
zu wechseln und die Dinge mit einer<br />
anderen Brille anzuschauen: mit der<br />
Brille des Kindes respektive des<br />
Jugendlichen.<br />
Die Welt mit den Augen des<br />
anderen zu sehen, ist wichtig und<br />
hilfreich. Eine Situation aus einer<br />
anderen Richtung oder Perspektive<br />
zu sehen, bedeutet, die eigene Blickrichtung<br />
zu verändern und sich in<br />
die Situation des anderen zu versetzen<br />
und hineinzudenken.<br />
Einfühlungsvermögen oder<br />
Empathie ist die Fähigkeit und<br />
Bereitschaft, Empfindungen, Ge <br />
danken, Emotionen, Motive und<br />
Persönlichkeitsmerkmale einer<br />
an deren Person zu erkennen und zu<br />
ver stehen. Zur Konfliktlösung<br />
kommt dieser Fähigkeit eine wichtige<br />
Bedeutung zu. Perspektivenwechsel<br />
verbunden mit Einfühlungsvermögen<br />
und Empathie<br />
öffnet den Weg für ein anderes Verständnis<br />
und für neue, andere Ideen.<br />
Als Schulleiter habe ich immer<br />
wieder die Aufgabe, Gespräche zwischen<br />
Eltern und Lehrpersonen zu<br />
moderieren. Gespräche, in welchen<br />
die Teilnehmenden unterschiedliche<br />
54 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Ansichten zu einem Problem und<br />
verschiedene Erwartungen und Vorstellungen<br />
von dessen Lösung<br />
haben.<br />
Oftmals geht es um unterschiedliche<br />
Vorstellungen und Erwartungen<br />
einer Schülerin oder eines Schülers<br />
und seiner Eltern an die Schule.<br />
Eines von vielen klassischen Beispielen<br />
ist der Übertrittsentscheid<br />
von der Primarstufe in die Sekundarstufe.<br />
Die Eltern möchten, dass<br />
ihr Kind die Schullaufbahn unbedingt<br />
in der Sekundarschule weiterführt<br />
und im Anschluss das Gymnasium<br />
besuchen kann. Begründung<br />
der Eltern: Dem Jugendlichen stehen<br />
nach der Realschule weniger<br />
Chancen und Möglichkeiten offen.<br />
Der Abschluss der Matura steht<br />
nicht zur Verfügung. Die Matura «in<br />
der Tasche» zu haben, ist sowieso<br />
besser, als eine (Berufs-)Lehre zu<br />
machen.<br />
Erfahrungen lassen sich nicht<br />
übertragen<br />
Als Erwachsener kann ich solche<br />
Überlegungen nachvollziehen. Ein<br />
Jugendlicher sieht das möglicherweise<br />
aber ganz anders. Vielleicht hat<br />
er andere Interessen. Vielleicht<br />
waren seine Leistungen in der Primarschule<br />
nicht so brillant; er gehörte<br />
vielleicht meistens zu den so -<br />
genannt schlechteren Schülern.<br />
Er folgserlebnisse blieben vielfach<br />
aus. Seine Interessen liegen vielleicht<br />
in anderen Gebieten. Er möchte vielleicht<br />
eine handwerkliche oder eine<br />
künstlerische Laufbahn einschlagen.<br />
Er möchte einmal erfolgreich und<br />
glücklich sein können. Er möchte<br />
vielleicht ... Fragen über Fragen, die<br />
ich besprochen und beantwortet<br />
haben möchte. Antworten, die ich<br />
benötige, um die Sichtweise des<br />
Jugendlichen und seiner Eltern zu<br />
verstehen und sie bei der Entscheidfindung<br />
beraten und unterstützen zu<br />
können<br />
Einen Entscheid über einen<br />
anderen Menschen zu fällen, ohne<br />
seine Perspektive und Sichtweise zu<br />
Eltern sollten vermeiden,<br />
ihre Wunschvorstellungen<br />
und Ziele auf das eigene<br />
Kind zu übertragen.<br />
kennen, ist meistens nicht zielführend<br />
und erfolgreich. Man kann als<br />
Erwachsener nicht einfach seine<br />
persön lichen Ziele und Wunschvorstel<br />
lungen auf das Kind oder den<br />
Jugendlichen übertragen.<br />
Als Eltern sehen wir uns immer<br />
wieder mit Konflikten und Meinungsverschiedenheiten<br />
mit unseren<br />
Kindern und Jugendlichen konfrontiert.<br />
Wir sind immer wieder<br />
herausgefordert – das ist auch<br />
anstrengend und verleitet auch einmal<br />
dazu, eine Lösung zu diktieren.<br />
Wir sprechen ja aus Erfahrung.<br />
Es stimmt: Wir haben in unserem<br />
Leben schon viele Erfahrungen<br />
gemacht. Aus Erfahrungen kann<br />
man zwar lernen, man kann sie sich<br />
zu Nutze machen. Man kann sie<br />
aber niemals auf einen anderen<br />
Menschen übertragen und ihm<br />
damit ersparen, sie selbst zu machen.<br />
Wir können uns jedoch mit jungen<br />
Menschen über ihre und unsere<br />
Erfahrungen in ähnlichen und vergleichbaren<br />
Situationen austauschen.<br />
Nehmen wir uns die Zeit dazu.<br />
Zeigen wir Interesse und Empathie.<br />
Es fühlt sich unbestritten gut an,<br />
sich von anderen Menschen verstanden<br />
zu fühlen. Voraussetzung für<br />
gegenseitiges Verständnis ist ein<br />
Perspektivenwechsel; die Bereitschaft<br />
und das Interesse, die Welt<br />
auch aus der Sicht des Mitmenschen<br />
sehen und verstehen zu wollen.<br />
Nehmen wir doch diese Vorbildfunktion<br />
wahr. Es lohnt sich!<br />
FUNCTIONALITY IS<br />
PART OF OUR FAMILY<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>55<br />
ESTABLISHED 1884
In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post<br />
Erziehung & Schule<br />
R_CH_SCHR_IB_NG:<br />
So macht sie Spass!<br />
Um die Orthografie in den Griff zu bekommen, brauchen Kinder Motivation zum Dranbleiben.<br />
Das Motto ist: Lernen durch Anwenden! Drei Praxistipps.<br />
Text: Johanna Oeschger<br />
Geheimschrift<br />
Zuerst wird das Alphabet in Geheimschrift<br />
codiert: Für jeden (oder die häufigsten)<br />
Buchstaben steht ein Symbol<br />
oder eine Zahl – damit verschlüsselt der<br />
Schreiber eine Nachricht. Der Empfänger<br />
versucht, den Code zu knacken. So<br />
prägen sich Wörter mit kniffliger<br />
Schreibweise besser im Gedächtnis ein.<br />
Galgenmännchen<br />
Ein Spieler denkt sich ein Wort aus und<br />
zeichnet für jeden Buchstaben einen<br />
Strich auf das Blatt. Der andere Spieler<br />
errät nun Buchstabe für Buchstabe das<br />
Wort. Kommt der Buchstabe im Wort<br />
vor, wird er beim entsprechenden Strich<br />
eingetragen. Liegt der Ratende falsch,<br />
wird in zehn Schritten ein Galgen (oder<br />
eine Blume, ein Tier, ein Haus usw.)<br />
gezeichnet.<br />
Buchstaben fühlen<br />
Ein Spieler schreibt einen Buchstaben<br />
oder ein Wort auf den Rücken des anderen<br />
Spielers, dieser muss das Geschriebene<br />
erraten. Buchstabenentdecker<br />
nehmen dabei bewusst die typischen<br />
Linien und Kurven der Buchstaben<br />
wahr.<br />
Die Rechtschreibung entwickelt sich in Phasen: Kinder ab etwa drei Jahren schreiben Wörter noch aus<br />
dem Gedächtnis. Mit fünf bis sieben Jahren beginnen sie, Laute in Buchstaben zu übersetzen. Ab der<br />
2. oder 3. Klasse lernen sie, Rechtschreibregeln anzuwenden. Korrekturen sind also nur sinnvoll, wenn die<br />
Kinder sie nachvollziehen können: Jüngeren Kindern kann man z. B. beim Vorschreiben Laut für Laut<br />
vorlesen und so zeigen, wie sich Buchstaben und Laute aufeinander beziehen. Fortgeschrittene Schreiber<br />
kann man auf Regelmässigkeiten hinweisen, wie dass man für einen langen i-Laut meistens ie schreibt.<br />
Für Kinder, die bereits etwas mit der Schrift vertraut sind, können Schreibspiele auf motivierende Art das<br />
Augenmerk auf die Schreibweise von Wörtern lenken.<br />
App-Tipp<br />
Wort-Zauberer<br />
Diese App verwandelt Buchstaben in Laute: Die Kinder bilden<br />
eigene Wörter und lassen sie vom «Wort-Zauberer» vorlesen<br />
oder sie fügen Buchstaben zu Wörtern zusammen, die ihnen<br />
diktiert werden. Für iPhone/iPad erhältlich. Kosten: Fr. 3.–.<br />
Johanna Oeschger<br />
ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin,<br />
unterrichtet Deutsch und Englisch auf der<br />
Sekundarstufe II und arbeitet als<br />
Mediendidaktikerin bei LerNetz.<br />
Bild: iStockphoto<br />
56 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Stiftung Elternsein<br />
Bauchfrei durch den Winter<br />
Ellen Ringier über Erziehungsmethoden ihrer Mutter und warum sie ihre<br />
Töchter nicht davon abhielt, im Winter in Turnschuhen aus dem Haus zu gehen.<br />
Bild: Maurice Haas / 13 Photo<br />
Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />
die Stiftung Elternsein.<br />
Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />
In der zweiten Primarklasse schickte<br />
mich Lehrer Halder eines Tages um<br />
10 Uhr wieder nach Hause. Zuvor hatte<br />
er mich vor der ganzen Klasse lächerlich<br />
gemacht. Es war ein Wintertag, ich<br />
trug Knie socken. Dieser Umstand hatte<br />
ihn so erbost, dass er es angemessen<br />
fand, mir vor meinen Mitschülerinnen<br />
und Mitschülern Folgendes an meine<br />
Eltern mitzugeben: Falls ich im Winter je wieder mit<br />
Kniesocken in der Schule erscheine, werde er die Vormundschaftsbehörde<br />
benachrichtigen.<br />
Meine Mutter hatte trotzdem nicht nachgegeben:<br />
Strumpfhosen zog sie mir weiter nur an, wenn es<br />
schneite und wenn wir Ski fahren gingen. Die Aufsichtsbehörde<br />
ist zum Glück trotzdem nie bei uns vorstellig<br />
geworden.<br />
Jahre später sprach ich meine Mutter auf den Vorfall<br />
mit Lehrer Halder an. Sie fragte zurück: Bist du in<br />
deiner Schulzeit je krank gewesen? In der Tat: Ich<br />
konnte mich nicht daran erinnern, je gefehlt zu haben<br />
– ausgenommen für eine Mandeloperation.<br />
Nun, Erziehung ist etwas Individuelles, und es ist<br />
für Aussenstehende nicht immer leicht zu erkennen,<br />
ob die gewählten Methoden gerade noch akzeptabel<br />
oder schon schädlich sind. Bei meiner Mutter galt das<br />
Credo: Kinder darf man niemals «verweichlichen»!<br />
Egal, ob es Bindfäden regnete oder Vorhänge schneite:<br />
Wir mussten bei jedem Wetter raus. Und die Fenster<br />
im Schlafzimmer standen in der Nacht zu jeder Jahreszeit<br />
speerangelweit offen. Schien uns drei Kindern<br />
die Raumtemperatur zu frisch, hiess es, wir sollten<br />
einen Pullover anziehen.<br />
Im Erwachsenenleben ist mir diese «Abhärtung»<br />
immer wieder zugutegekommen. Bei keinem Arbeitgeber<br />
war ich je länger als einen halben Tag krankheitshalber<br />
abwesend. Und ich war mein Leben lang –<br />
anders als die meisten Kolleginnen und Kollegen – frei<br />
von der ständigen Selbstbeobachtung, ob mir gerade<br />
zu heiss oder zu kalt ist. Es ist einfach, wie es ist.<br />
Meine Kinder machten das Fenster jeweils zu, sobald<br />
ich die Türe des Kinderzimmers zugemacht hatte.<br />
Frischluftzufuhr war definitiv nicht ihr Ding. Mehr als<br />
nur einmal ertappte ich eine meiner Töchter dabei,<br />
wie sie vor dem Zubettgehen die Bettwäsche föhnte.<br />
Ich glaube, es wäre ihr grösster Wunsch gewesen,<br />
einen Heizofen direkt neben dem Bett stehen zu<br />
haben.<br />
Trotzdem trugen sie zu Teenagerzeiten bauchfrei.<br />
Dazu zu jeder Jahreszeit Turnschuhe – zumindest<br />
sahen sie für mich immer danach aus –, was mit Stulpen<br />
über den Wollstrümpfen ausgeglichen wurde, die<br />
bei Regen und Schnee zusammen mit den Turnschuhen<br />
pflotschnass wurden. Übereinander angezogene<br />
Sweatshirts mit Kapuzen (Hoodies genannt) machten<br />
offenbar den zu meinen Zeiten gängigen und daher<br />
spiessigen Regen- oder Wintermantel wett.<br />
Es ist meine Überzeugung, dass man als Eltern<br />
nicht nur die psychische Resilienz, sondern auch die<br />
physische Robustheit fördern kann und muss. Gleichzeitig<br />
bin ich aber auch überzeugt, dass das Diktat der<br />
Peergroup in modischen Belangen bis zu einem<br />
gewissen Grad beachtet werden muss: Jugendliche<br />
wollen in der Regel das tragen, was die andern tragen.<br />
Es geht ums Selbstwertgefühl. Und dieses zu stärken,<br />
schien mir ebenso wichtig – wichtig genug jedenfalls,<br />
um den einen oder anderen Schnupfen in Kauf zu<br />
nehmen.<br />
STIFTUNG ELTERNSEIN<br />
«Eltern werden ist nicht schwer,<br />
Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />
Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />
Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein<br />
an. Sie richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern<br />
und Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen<br />
Eltern, Kindern, Lehrern und die Vernetzung der elternund<br />
erziehungsrelevanten Organisationen in der<br />
deutschs prachigen Schweiz. Die Stiftung Elternsein<br />
gibt das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus.<br />
www.elternsein.ch<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>57
Elterncoaching<br />
Wer sind eigentlich diese<br />
Leute in meinem Haus?<br />
Wer aufhört, sich gegenseitig kennenzulernen, wird sich fremd –<br />
das gilt auch für unsere engsten Beziehungen.<br />
Fabian Grolimund<br />
ist Psychologe und Autor («Mit<br />
Kindern lernen»). In der Rubrik<br />
«Elterncoaching» beantwortet<br />
er Fragen aus dem Familienalltag.<br />
Der 38-Jährige ist verheiratet<br />
und Vater eines Sohnes, 5,<br />
und einer Tochter, 2. Er lebt<br />
mit seiner Familie in Freiburg.<br />
www.mit-kindern-lernen.ch<br />
www.biber-blog.com<br />
Manchmal ist es gerade<br />
die enge Beziehung zum Kind,<br />
die es uns schwer macht,<br />
bestimmte Dinge zu sehen oder<br />
an uns heranzulassen.<br />
Zu Beginn einer Beziehung<br />
können wir einander<br />
gar nicht genug<br />
erzählen. Wir wollen<br />
die Gedanken, Träume<br />
und Ängste des Partners oder der<br />
Partnerin kennenlernen, die letzten<br />
Winkel seiner respektive ihrer Persönlichkeit<br />
ausloten. Alles ist neu<br />
und interessant, und wir befinden<br />
uns auf einer Entdeckungsreise. Mit<br />
den Jahren holt uns der Alltag ein.<br />
Die Beziehung läuft gut, doch<br />
man redet weniger miteinander. Die<br />
Gespräche werden flacher, und<br />
sobald Kinder dazukommen, geht es<br />
bald vorwiegend um Organisatorisches:<br />
Wer ist wann zu Hause? Wer<br />
fährt die Kinder wann wohin? Routine<br />
breitet sich aus. Gefangen im<br />
Alltag kann es uns passieren, dass<br />
wir Veränderungen nicht mehr mitbekommen,<br />
unser Bild des Gegenübers<br />
nicht mehr aktualisieren, die<br />
gemeinsame Entwicklung ins Stocken<br />
gerät – bis wir eines Tages feststellen,<br />
dass wir uns auseinandergelebt<br />
haben. Dabei kann uns gerade<br />
unsere gemeinsame Geschichte zum<br />
Verhängnis werden.<br />
Gemeinsame Geschichte kann uns<br />
verbinden, aber auch entfremden<br />
Wenn uns mit einem Menschen viele<br />
Jahre und eine gemeinsame Geschichte<br />
verbinden, gehen wir davon<br />
aus, dass wir ihn dadurch umso besser<br />
kennen. Wir wissen, woher er<br />
kam, was er erlebt und was ihn geprägt<br />
hat. Wir können auf gemeinsame<br />
Erfahrungen und viele Gespräche<br />
zurückblicken. Das ist etwas<br />
Wertvolles und Wunderbares, das<br />
uns verbinden kann.<br />
Es kann jedoch auch verhindern,<br />
dass wir die andere Person so sehen,<br />
wie sie ist. Wir haben uns ein Bild<br />
dieses Menschen gemacht, und es<br />
fällt uns entsprechend schwerer, zu<br />
sehen, was an ihm neu und anders<br />
ist. Wir können blind werden für<br />
Entwicklungen, die für Aussenstehende<br />
offensichtlich sind. Besonders<br />
eindrücklich beschreibt dies der<br />
Schriftsteller Daniel Pennac in seinem<br />
Buch «Schulkummer». Inzwischen<br />
einer der bekanntesten Autoren<br />
Frankreichs, war er in seiner<br />
Schulzeit ein schlechter Schüler, um<br />
den sich seine Mutter zeitlebens Sorgen<br />
machte.<br />
Pennac schildert im Epilog eine<br />
Szene, in der er mit seinem Bruder<br />
und seiner Mutter im Wohnzimmer<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
58 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
sitzt und sich einen Film über sein<br />
schriftstellerisches Werk anschaut:<br />
«Mama schaut sich also diesen Film<br />
an, neben ihr mein Bruder Bernard,<br />
der ihn für sie aufgenommen hat. Sie<br />
schaut sich den Film an, von der ersten<br />
bis zur letzten Minute, mit un <br />
verwandtem Blick, reglos in ihrem<br />
Sessel, mucksmäuschenstill, während<br />
es draussen Abend wird. Ende<br />
des Films. Abspann. Stille. Dann,<br />
während sie sich langsam zu<br />
Bernard hindreht: ‹Glaubst du, dass<br />
er es eines Tages schafft?›»<br />
Vielleicht haben Sie mit Ihren<br />
Eltern weniger drastische, aber ähnliche<br />
Erfahrungen gemacht und hätten<br />
bei Besuchen im Erwachsenenalter<br />
manchmal am liebsten gesagt:<br />
«Du behandelst mich, als wäre ich<br />
noch immer sechzehn!»<br />
Phasen, die intensiv waren und in<br />
denen wir viel Zeit miteinander verbracht<br />
haben, prägen unsere Wahrnehmung.<br />
Vielleicht hilft uns dieser<br />
Gedanke dabei, bei Besuchen nachsichtiger<br />
mit unseren Eltern zu sein.<br />
Das Bewusstsein um die Macht der<br />
Erinnerungen kann uns aber auch<br />
dabei helfen, uns selbst mehr zu öffnen<br />
und uns immer wieder vorzunehmen,<br />
genau hinzuschauen und<br />
hinzuhören, damit wir wichtige Entwicklungen<br />
bei anderen mitbekommen.<br />
Erinnerungen sind aber nicht die<br />
einzige Hürde, wenn es darum geht,<br />
uns auf Nahestehende einzulassen.<br />
Wir haben es doch gut!<br />
Als seine Frau die Scheidung einleitete,<br />
meinte ein Bekannter zu mir:<br />
«Aber wir hatten es doch immer gut<br />
miteinander!» Davon war er felsenfest<br />
überzeugt. Doch seine Frau sah<br />
das anders, und zwar seit Jahren.<br />
Bezeichnend ist das «Wir» in seinem<br />
Satz. Studien zeigen, dass wir<br />
in engen Beziehungen dazu neigen,<br />
unsere Gefühle auf andere zu übertragen.<br />
Das passiert uns auch bei<br />
unseren Kindern, wie Dr. Belén<br />
López-Pérez von der Plymouth University<br />
zeigen konnte. Sie liess Eltern<br />
einschätzen, wie glücklich ihre Kinder<br />
sind. Dabei zeigte sich: Die Einschätzung<br />
der Eltern stimmte nicht<br />
besonders gut mit der Einschätzung<br />
der Kinder und Jugendlichen überein,<br />
dafür mit der Selbsteinschätzung<br />
der Eltern. Glückliche Eltern<br />
überschätzten das Glück ihrer Kinder,<br />
während unzufriedene es unterschätzten.<br />
Die unbewusste Annahme,<br />
dass es unserer Familie in etwa<br />
so geht wie uns, verstellt uns den<br />
Blick.<br />
Wünsche verzerren unsere<br />
Wahrnehmung<br />
Zu guter Letzt stehen uns auch unsere<br />
Wünsche im Weg. Die meisten<br />
Eltern überschätzen ihre Kinder systematisch.<br />
Sie halten sie für leistungsfähiger,<br />
intelligenter, musikalischer<br />
oder sportlicher, als sie es<br />
tatsächlich sind. Bis zu einem gewissen<br />
Grad ist das auch nicht schädlich.<br />
Wie eine Studie von Eddie Brummelman<br />
zeigt, überschätzen einige<br />
Eltern – besonders diejenigen, die<br />
sich selbst als etwas Besonderes<br />
sehen – ihre Kinder jedoch sehr<br />
stark. Das kann zu Problemen führen,<br />
weil sie in der Folge erwarten,<br />
dass ihr Kind aus der Menge heraussticht<br />
und Grosses leistet. Warnungen<br />
anderer Bezugspersonen, z. B.<br />
der Lehrpersonen, dass die Eltern<br />
ihr Kind überfordern, führen bei<br />
diesen Eltern meist nur zu Ärger<br />
und Unglauben. Zu hohe Erwartungen<br />
können ein Kind unter Druck<br />
setzen, den viele Eltern wiederum<br />
nicht wahrnehmen.<br />
Eine Vielzahl von Studien zeigt:<br />
Kindern und Jugendlichen geht es<br />
heute im Allgemeinen gut. Sie sind<br />
mit ihrem Leben zufrieden und<br />
kommen mit den Anforderungen<br />
zurecht. Es gibt jedoch auch Kinder<br />
und Jugendliche, die hohen Belastungen<br />
ausgesetzt sind und von<br />
denen mehr erwartet wird, als sie<br />
leisten können. In diesem Zusammenhang<br />
fand ich eine Studie von<br />
Holger Ziegler der Universität Bielefeld<br />
bedrückend. Er untersuchte<br />
Glückliche Eltern überschätzen<br />
das Glück ihrer Kindern,<br />
während unzufriedene<br />
es unterschätzen.<br />
über tausend Kinder und ihre Eltern<br />
und mass dabei den Stresslevel der<br />
Kinder. Bei den besonders belasteten<br />
Kindern liess er die Eltern den<br />
Stress der Kinder einschätzen. Dabei<br />
zeigte sich: 87 Prozent der Eltern<br />
nahmen den Druck der Kinder nicht<br />
wahr, obwohl diese deutliche Symptome<br />
zeigten. Ein Grossteil dieser<br />
Eltern glaubte sogar, das eigene<br />
Kind nicht genug zu fördern.<br />
Ich kenne mein Kind immer noch<br />
am besten!<br />
In vielerlei Hinsicht stimmt der Satz<br />
«die Eltern kennen ihr Kind am besten».<br />
Aber manchmal ist es gerade<br />
die enge Beziehung zum Kind, die<br />
es uns schwer macht, bestimmte<br />
Dinge zu sehen oder an uns heranzulassen.<br />
Was von unseren Vorstellungen,<br />
unserem eigenen Empfinden<br />
oder unseren Wünschen abweicht,<br />
nehmen wir als Eltern teilweise<br />
weniger wahr als Aussenstehende.<br />
Das Wissen darum kann uns<br />
dazu verhelfen, neugierig und offen<br />
zu bleiben und uns darum zu bemühen,<br />
unsere Kinder und unseren<br />
Partner, unsere Partnerin immer<br />
wieder neu kennenzulernen.<br />
In der nächsten Ausgabe:<br />
Unterschiedliche Erziehungstile – Problem oder<br />
Chance?<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>59
Erziehung & Schule<br />
Aggressive Kinder –<br />
was ist normal?<br />
Wutanfälle, herumschreien, das kleine Geschwister hauen – wer Kinder erzieht,<br />
kennt diese Ausbrüche. Was aber, wenn die Aggression extrem wird? Text: Jacqueline Esslinger<br />
Welche Form von<br />
aggressivem<br />
Verhalten bei<br />
Kindern auftritt,<br />
ist stark<br />
altersabhängig. Bereits Säuglinge ab<br />
rund sechs Monaten können Ärger<br />
ausdrücken, sie verfolgen jedoch<br />
keine Schädigungsabsicht. Im zwei<br />
ten und dritten Lebensjahr hingegen<br />
sind Wutanfälle und aggressives<br />
Verhalten nicht ungewöhnlich und<br />
richten sich oft gezielt gegen Er <br />
wachsene und andere Kinder. Ab<br />
dem Grundschulalter sind ge <br />
schlechtstypische Muster bei der<br />
Ag gressionsäusserung sichtbar:<br />
Buben scheinen eher offene und<br />
körperliche Formen von Aggression<br />
zu zeigen. Bei Mädchen hingegen<br />
kommen häufiger verdeckte sowie<br />
verbale Formen vor. Beispiele sind<br />
Lügen und die Verbreitung von<br />
Gerüchten, etwa um einer Person zu<br />
schaden oder sie auszuschliessen.<br />
Aggressives Verhalten im Kindes-<br />
und Jugendalter wurde in gross<br />
Bild: Adam Burn / 13 Photo<br />
60 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
angelegten Studien wie beispielsweise<br />
der KiGGS/BELLA-Studie bei bis<br />
zu acht Prozent der unter 17-Jährigen<br />
festgestellt. Es zeigt sich nicht<br />
nur in physischen Angriffen, sondern<br />
auch in verbaler Gewalt, Mobbing<br />
und Diebstählen.<br />
In der Adoleszenz ist aggressives<br />
Verhalten in der Regel weniger häufig<br />
zu beobachten. Im Gegensatz zu<br />
kleinen Kindern, die Emotionen<br />
oder Impulse direkt ausdrücken,<br />
werden im Laufe der Jahre Selbstkontrolle<br />
und hemmende Mechanismen<br />
gelernt. Allerdings fällt das<br />
aggressive Verhalten oft heftiger aus<br />
als im Kleinkindalter, bedingt durch<br />
zunehmende körperliche Kraft,<br />
mehr Freiheiten ausser Haus und<br />
grössere finanzielle Ressourcen.<br />
Entsprechend tritt die höchste Frequenz<br />
von aggressivem Verhalten<br />
im Vorschulalter auf, die gravierendsten<br />
Ausprägungen jedoch in<br />
Im Vorschulalter ist die höchste<br />
Frequenz von Aggression zu<br />
beobachten, in der Adoleszenz<br />
die gravierendste Ausprägung.<br />
der Jugendzeit und im frühen<br />
Erwachsenenalter.<br />
Unter oppositionellem Trotzverhalten<br />
wird wiederholt trotziges,<br />
ungehorsames und verweigerndes<br />
sowie feindseliges Verhalten gegenüber<br />
Autoritätspersonen zusammengefasst.<br />
Auch dies zählt zu<br />
aggressivem Verhalten, da oppositionelle<br />
Kinder schnell wütend<br />
reagieren und ausrasten und sich<br />
Regeln widersetzen. In Abgrenzung<br />
dazu tendieren Kinder mit einer<br />
Störung des Sozialverhaltens zu Einschüchterungen,<br />
Körperverletzung,<br />
Von Kindern, die stark oppositionell<br />
auffällig sind, entwickelt rund die<br />
Hälfte eine Störung des Sozialverhaltens.<br />
Zeigt ein Kind schon sehr<br />
jung Muster von Aggressivität,<br />
behält es diese oft bei und läuft<br />
Gefahr, delinquent zu werden. Tritt<br />
das strafrechtlich auffällige Verhalten<br />
schon früh auf, etwa im Alter<br />
von 14 Jahren, steigt die Wahrscheinlichkeit<br />
für dauerhaftes kriminelles<br />
Verhalten. Oppositionelles<br />
Verhalten ist jedoch ein typisches<br />
Merkmal der frühen Kindheit<br />
(Trotzalter) und der Adoleszenz.<br />
Waffengebrauch und Tierquälerei. Eine Diagnose im Sinne einer >>>
Erziehung & Schule<br />
Oppositionelles Verhalten<br />
ist ein typisches Merkmal<br />
der frühen Kindheit und<br />
der Adoleszenz.<br />
>>> Verhaltens störung wird deshalb<br />
erst in Betracht gezogen, wenn<br />
Aggression häufiger sowie mit<br />
schwerwiegenderen Folgen auftritt<br />
als bei anderen Kindern und es für<br />
die Entwicklungsstufe des Kindes<br />
angemessen wäre. Das Verhalten<br />
muss über einen Zeitraum von sechs<br />
Monaten auftreten und familiäre,<br />
soziale oder schulische Bereiche<br />
drastisch beeinträchtigen.<br />
Für aggressives Verhalten bei<br />
Kindern gibt es vielfältige Ursachen.<br />
Diese müssen unbedingt im Einzelfall<br />
untersucht werden. Die klassische<br />
Absicht der Aggression wird als<br />
egoistische Durchsetzung eigener<br />
Bedürfnisse und bewusste Schädigung<br />
und Verletzung anderer<br />
beschrieben. Aggressives Verhalten<br />
kann jedoch auch Ausdruck von<br />
Angst und Unsicherheit sein. Diese<br />
Kinder fühlen sich schneller bedroht<br />
und angegriffen als andere. Sie handeln<br />
aus einer eigenen Abwehrhaltung,<br />
bedingt durch soziale Un <br />
sicherheit, heraus. So nehmen diese<br />
Kinder Bedrohungen vermehrt<br />
wahr und reagieren übersensibel.<br />
Zweifel an der Zuneigung<br />
Bedrohliche Situationen lösen ein<br />
inneres Spannungsgefühl aus, ein<br />
Wutausbruch soll diese Spannung<br />
wieder abbauen. Betroffene Kinder<br />
scheinen an der Zuneigung ihres<br />
Umfelds zu zweifeln und erwarten<br />
nicht selten übermässige soziale<br />
Anerkennung. Aggressives Verhalten<br />
wird so zum Mittel, um sich<br />
Respekt zu verschaffen. Dies funktioniert<br />
besonders gut, wenn das<br />
Umfeld mit Respekt, Angst oder<br />
sogar Unterwürfigkeit antwortet. Je<br />
öfter dann soziale Angst mit aggressivem<br />
Verhalten gelöst wird, desto<br />
stabiler wird das Muster, auch in<br />
Zukunft aggressiv zu handeln.<br />
Ein weiterer möglicher Auslöser<br />
von aggressivem Verhalten kann<br />
eine Krise im sozialen Umfeld des<br />
Kindes sein, beispielsweise Konflikte<br />
in der Paarbeziehung der Eltern<br />
oder Stress in der Familie. Dies<br />
bedeutet nicht, dass alle partnerschaftlichen<br />
Konflikte oder Stress<br />
dazu führen, dass ein Kind aggressiv<br />
wird. Es wurde aber festgestellt, dass<br />
Kinder in Familienkrisen eher zu<br />
aggressivem Verhalten neigen.<br />
Familien in Belastungssituationen<br />
sind besonders gefährdet, da schwere<br />
Belastungen das Erziehungsver<br />
halten und die Kapazität der Eltern<br />
beeinflussen. Zeigen die Eltern<br />
selbst manchmal aggressives Verhalten,<br />
wird dies zu einer hohen Wahrscheinlichkeit<br />
vom Kind übernommen,<br />
auch wenn die Situationen<br />
verschieden sind oder sich die<br />
Aggression nicht gegen das Kind,<br />
sondern gegen Erwachsene richtet.<br />
Weitere Ursachen sind Vernachlässigung<br />
und Misshandlung,<br />
manchmal jedoch auch eine Veränderung<br />
der Lebenssituation wie zum<br />
Beispiel ein Umzug in eine neue<br />
Stadt und ein Schulwechsel.<br />
Auch genetische Faktoren spielen<br />
eine Rolle. Kinder mit aggressivem<br />
Verhalten weisen meist eine mangelnde<br />
Impulskontrolle und niedrige<br />
Frustrationstoleranz auf. Kinder<br />
mit ADHS haben ein höheres Risiko<br />
für oppositionelles Trotzverhalten.<br />
So zeigen zwei von drei Kindern mit<br />
hyperkinetischer Störung auch<br />
aggressives Verhalten. Darüber hinaus<br />
scheinen impulsive Jugendliche<br />
weniger schnell aus ihren Erfahrungen<br />
zu lernen und Konsequenzen<br />
schlechter abschätzen zu können.<br />
Das Kind wird schnell zum Störelement<br />
seines sozialen Umfeldes, es<br />
wird als aggressiv und unkontrollierbar<br />
erlebt. Nicht selten ist das<br />
Kind deshalb weniger beliebt und<br />
wird selbst Opfer aggressiver Handlungen.<br />
Es kann ein Teufelskreis der<br />
Aggression und Unbeliebtheit entstehen.<br />
Kinder und Jugendliche gesucht!<br />
Eine neue Studie (7 Tage) der Universität Freiburg<br />
möchte den Zusammenhang zwischen Regulationsschwierigkeiten<br />
und der Konzentration von Stresshormonen<br />
im Körper untersuchen. Dazu sammeln wir<br />
Speichelproben (kurz auf einer Watterolle kauen,<br />
anonymes Senden ins Labor) von vielen Kindern. Die<br />
Proben werden ergänzt durch Fragen über das<br />
momentane Befinden von Eltern(teil) und Kind.<br />
Mitmachen können alle Familien mit Kindern und<br />
Jugendlichen zwischen 8 und 15 Jahren! Besonders<br />
aufrufen möchten wir Eltern von Kindern mit ADHS oder<br />
aggressivem Verhalten. Alle anderen Kinder werden für<br />
den Vergleich gesucht. Machen auch Sie mit! Mit Ihrer<br />
Teilnahme leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur<br />
Forschung über Regulierungsschwierigkeiten.<br />
Sie erhalten Studienergebnisse sowie 50 Franken<br />
(Gutschein) für Ihr Kind. – Kontakt: lama@unifr.ch oder<br />
über die Website fns.unifr.ch/lama<br />
62 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Aus der Perspektive der Kinder sind<br />
meistens die Eltern, die Lehrer, die<br />
anderen Kinder Schuld für ihre<br />
Reaktion. Häufig beurteilen sie selbst<br />
ihr Verhalten als nicht aggressiv.<br />
Mütter und Väter finden es jedoch<br />
herausfordernd, mit diesen Kindern<br />
Zeit zu verbringen, ebenso wie eine<br />
positive Beziehung zu ihnen aufzubauen.<br />
Ein weiterer Teufelskreis:<br />
Intensive Kinder mit beanspruchendem<br />
Verhalten sorgen für gestresste<br />
und/oder überanstrengte Eltern. Ist<br />
dieser Punkt erreicht, wird es schwierig,<br />
sensibel auf das Kind einzugehen,<br />
immer angemessen zu reagieren<br />
und emotional verfügbar zu bleiben.<br />
Kinder spüren solche Veränderungen.<br />
Oft versuchen sie, emotionale<br />
Aufmerksamkeit durch Provokation<br />
zu erlangen.<br />
Langfristig bewirkt aggressives<br />
Verhalten bei Kindern eine Einschränkung<br />
ihres Verhaltens und<br />
verhindert dadurch die Ausbildung<br />
der Fähigkeit, ein Problem konfliktfrei<br />
zu lösen. Es wird empfohlen,<br />
extremes Verhalten so früh wie<br />
möglich mit einer Fachperson zu<br />
besprechen. Aggressive Kinder<br />
haben ein hohes Risiko, von Gleichaltrigen<br />
abgelehnt zu werden, sowie<br />
für schulischen Misserfolg.<br />
Oft kann eine aussenstehende<br />
Person helfen – ein Berater oder eine<br />
Psychologin sowie andere Fachspezialisten<br />
können den Teufelskreis<br />
durchblicken und helfen, sich im<br />
Falle von Provokationen richtig zu<br />
verhalten. Sprechen Sie zudem mit<br />
der Lehrperson Ihres Kindes! Sie<br />
sieht es einen Grossteil des Tages<br />
und kann wichtige Informationen<br />
geben über Situationen, in denen<br />
das Verhalten auftritt, oder über vermutete<br />
Einflussfaktoren.<br />
Es ist wichtig, dass Eltern mit<br />
dem Kind üben, wie es Konflikte<br />
anders lösen kann. Hierbei ist konsequentes<br />
Reagieren und Intervenieren<br />
bedeutsam. Die Hilfestellung für<br />
alternative Umgangsweisen und Lob<br />
dafür sowie die eigene Vorbildhaltung<br />
sind erfolgversprechend, denn<br />
auch die Kinder sind oft mit ihrer<br />
eigenen Reaktion nicht wirklich<br />
glücklich. Das Kind zu fragen, was<br />
es braucht und zugrunde liegende<br />
Probleme zu ermitteln, gibt Aufschluss<br />
über mögliche Lösungen.<br />
Deshalb muss das Kind unbedingt<br />
miteinbezogen werden.<br />
>>><br />
Jacqueline Esslinger<br />
ist Psychologin und Doktorandin an der<br />
Universität Freiburg. Sie leitet eine neue Studie<br />
zur Regulation bei Kindern mit ADHS und<br />
aggressivem Verhalten.<br />
Infoabend:<br />
21. Nov.<br />
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Erziehung & Schule<br />
Wie Mathematik <br />
Freude macht<br />
Der Ansatz der «befreienden Pädagogik» zielt darauf ab, Kinder<br />
in ihrer Lebenswelt abzuholen. Das weckt Freude am<br />
Lernen und Lehren – mit überraschenden Erfolgen. Text: Stefan Meyer<br />
Mathematik<br />
beibringen?<br />
Ohne Druck und<br />
aus Erfahrungen<br />
lernt sichs<br />
besser.<br />
Leiterspiel im<br />
Kindergarten.<br />
Bild: S. Meyer<br />
Achten Sie einmal ge <br />
nau auf die Rutschbahnen<br />
in Ihrem<br />
Quartier. Wie viele<br />
Stufen haben sie? Auf<br />
die wievielte Stufe muss Ihre Tochter<br />
steigen, damit sie gleich gross ist wie<br />
Mama? Warum rutscht man auf der<br />
nassen Fläche schneller als auf der<br />
trockenen? Warum ist eine Rutschbahn<br />
schnell und die andere langsam?<br />
Wenn Sie solche Fragen im<br />
geeigneten Moment des Spielens<br />
und der Freude an den Bewegungen<br />
einstreuen, dann wird Ihr Kinder<br />
die eine oder andere aufgreifen –<br />
weil es erkennt, dass seine Interessen<br />
wirklich ernst genommen werden.<br />
Auch Abzählverse können Kinder<br />
dazu animieren, die Zahlen zu<br />
verwenden und auf neue Situationen<br />
zu übertragen: «Eins, zwei, drei,<br />
Der vierjährige Junge konnte<br />
nur bis zwei zählen. In seinem<br />
Lieblingsspiel wusste er jedoch<br />
genau, wie viel sechs Kühe sind.<br />
64 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
vier, fünf, sechs, sieben, Rutschbahn<br />
runter, du kannst fliegen.» Lehrpersonen<br />
berichten, dass der freudvolle<br />
Umgang mit der Rutschbahn Kindergarten-<br />
und Unterstufenkinder<br />
beseelt habe – und sie selber auch.<br />
Hand aufs Herz: Ziehen Sie selbst<br />
nicht auch freudvolles Lernen der<br />
Belehrung und dem Ab arbeiten von<br />
Stoff vor?<br />
Der brasilianische Pädagoge Paulo<br />
Freire fand heraus, dass das Vermitteln<br />
von Stoff durch Druck und<br />
die Meinung, dass Bildung Belehrung<br />
bedeute, Hauptfaktoren dafür<br />
sind, dass Interessen und Bedürfnisse<br />
der Lernenden unterdrückt werden.<br />
Das demotiviert und kann<br />
schlimme Folgen haben: von innerer<br />
Kündigung bis hin zu schweren<br />
Lernstörungen. Kinder reden dann<br />
zwar, aber immer mit dem Gefühl,<br />
dass das, was sie sagen, keine Bedeutung<br />
hat. Informationen werden<br />
nicht abgespeichert: Sie gehen zum<br />
einen Ohr rein und zum anderen<br />
wieder raus. Diese Mechanismen<br />
wirken auch auf Erziehende und<br />
Lehrpersonen destruktiv. Der Psychologe<br />
Paul Watzlawick nannte<br />
solche existenziellen Situationen<br />
«Spiel ohne Ende» – ein Teufelskreis,<br />
der entsteht, wenn Menschen<br />
nicht wissen, wie negative Mechanismen<br />
und Geschehnisse gestoppt<br />
werden können.<br />
Lesen und Schreiben in acht<br />
Wochen<br />
Auf diesen Erkenntnissen basierend<br />
hat Paulo Freire Methoden für die<br />
Alphabetisierung entwickelt, von<br />
denen Millionen Brasilianerinnen<br />
und Brasilianer profitieren konnten.<br />
Als Erstes erforschte er die Interessen<br />
und die Lebenserfahrungen >>><br />
Das flexible Interview<br />
Die gleichnamige Website der Interkantonalen<br />
Hochschule für Heilpädagogik HfH lädt dazu<br />
ein, mit der Methode des flexiblen Interviews zu<br />
arbeiten und zu forschen. Es werden bewährte<br />
Gesellschaftsspiele beschrieben, bei denen<br />
die Methode angewandt werden kann, und es<br />
wird gezeigt, wie Geldwerte oder Bruchzahlen<br />
besprochen werden können. Die Website informiert<br />
auch über die Methode «Empathie und Verstehen»<br />
von Nicola Cuomo. Ebenso wird auf ein<br />
Entwicklungsprojekt verwiesen, bei dem Kinder<br />
mit den Methoden von Paulo Freire Deutsch als<br />
Zweitsprache lernten. Zahlreiche Beobachtungen<br />
zeigen, wie freie Konversationen und auch das<br />
Freispiel den Unterricht positiv beeinflussen.<br />
www.interview.hfh.ch<br />
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Erziehung & Schule<br />
Wenn wir lernen wollen, wie<br />
man konkrete Probleme<br />
meistert, braucht es neue,<br />
kreative Methoden.<br />
>>> der Lernenden, ganz nach<br />
dem Motto: «Erst forschen, dann<br />
lehren.» Nach einer Analyse integrierte<br />
er die gesammelten Themen<br />
in Lese- und Schreibprojekte. Diese<br />
waren so erfolgreich, dass die Personen<br />
nach rund acht Wochen lesen<br />
und schreiben konnten. Ein weiterer<br />
wichtiger Aspekt seiner Methode ist<br />
der Dialog. Ein echter Dialog verändert<br />
die Beziehungen und die Emotionen<br />
der beteiligten Personen,<br />
während Belehrung einfach das<br />
«Spiel ohne Ende» fortsetzt.<br />
«Erst forschen, dann lehren»<br />
wurde auch zum Motto in der Ausbildung<br />
von Schulischen Heilpädagoginnen<br />
und Heilpädagogen an<br />
der Interkantonalen Hochschule für<br />
Heilpädagogik HfH. Dabei gingen<br />
die Dozierenden von einer Forschungsmethode<br />
aus, welche der<br />
Genfer Psychologe Jean Piaget mitseinen<br />
Mitarbeiterinnen entwickelt<br />
hat. Er nannte sie kritische Methode,<br />
später wurde sie auch flexibles Interview<br />
genannt (siehe Box Seite 65).<br />
Dabei gilt es, die Denkprozesse eines<br />
Kindes bestmöglich zur Sprache zu<br />
bringen, indem es auch zum Handeln<br />
motiviert wird. In einer freundschaftlichen<br />
Konversation werden<br />
die Bedeutungen von Gedanken und<br />
Handlungen fortlaufend besprochen<br />
und weiterentwickelt. Mit der Zeit<br />
konnte diese Methode immer besser<br />
in die Lehre der HfH und die Schulpraxis<br />
integriert werden.<br />
Lehren aus dem Bauernhof<br />
Wie funktioniert das genau? Lassen<br />
Sie mich zwei Fallbeispiele nennen:<br />
In Mathematikstunden im Kindergarten<br />
wurde bei einem vierjährigen<br />
Jungen festgestellt, dass er die Zahlen<br />
erst bis zwei kannte. Man befürchtete,<br />
dass er geistig entwicklungsverzögert<br />
sein könnte. Bei flexiblen<br />
Interviews entdeckte die Heilpädagogin,<br />
dass der Junge in seinem Lieblingsspiel<br />
mit dem Bauernhof sehr<br />
wohl wusste, wie viel sechs Kühe<br />
sind.<br />
Diese Entdeckung hatte Auswirkungen<br />
auf die Lehre: Der Junge und<br />
andere Kinder bekamen die Gelegenheit,<br />
Mathematik und Geometrie<br />
ausgehend vom Bauernhof oder<br />
anderen Lieblingsspielen zu lernen.<br />
Die Lehrpersonen hatten den Druck<br />
von Belehrung und Stofffülle überwunden,<br />
weil sie den Bauernhof als<br />
Sachthema für die mathematische<br />
Bildung erforscht hatten. Gleichzeitig<br />
hatten sie eingesehen, wie relativ<br />
belehrende Didaktik und deren Vorurteile<br />
sind, wenn Ressourcen der<br />
Kinder miteinbezogen werden.<br />
Das zweite Beispiel handelt von<br />
Erfahrungen, die Eltern und Lehrpersonen<br />
in Spiel- und Hausaufgabensituationen<br />
gesammelt haben.<br />
Sie lernten in einem Workshop, mit<br />
dem flexiblen Interview das Belehren<br />
zu überwinden und Gesellschaftsspiele<br />
für Kinder mit Behinderungen<br />
zugänglich zu machen.<br />
Dadurch wurden die Dialoge mit<br />
den Kindern sachlicher und freudvoller.<br />
Das Können hatte sich frei<br />
und wirkungsvoll entwickelt.<br />
Die Beispiele deuten an, dass Psychologen,<br />
Erziehende oder Lehrpersonen<br />
mit Kindern und Jugendlichen<br />
umgehen, als würden sie mit<br />
Freunden sprechen. Dabei lösen sie<br />
Probleme, mit denen ein Kind konfrontiert<br />
ist, und arbeiten gleichzeitig<br />
mit Materialien (oder Spielsachen)<br />
sowie mit Notizen. Die<br />
Richtigkeit der Resultate ist ein<br />
Nebenprodukt. Das freundschaftliche<br />
Klima ist reicher an sozialen<br />
Beziehungen und Emotionen als das<br />
Klima der Belehrung. Die Selbstbestimmung<br />
des Kindes ist angemessen<br />
integriert und nicht ausgeschlossen.<br />
So gelingt es in kürzester<br />
Zeit, Lebenserfahrungen und Interessen<br />
zu erforschen und für die Pädagogik<br />
nutzbar zu machen.<br />
Eine komplexe und schwierige<br />
Aufgabe steht an, wenn Fachpersonen,<br />
Lehrpersonen, Eltern und Lernende<br />
wahrnehmen, dass die Integration<br />
von Kindern, die anders sind<br />
als der Durchschnitt, nicht recht<br />
gelingen will. Betrachten wir die<br />
Aussage der Mutter eines Sohnes<br />
mit Trisomie 21. Sie blickte in einem<br />
Podiumsgespräch zufrieden auf die<br />
schulische Integration ihres Kindes<br />
zurück. Dass sie ihren Jungen jedoch<br />
vier Mal jeden Tag holen und bringen<br />
musste, belastete sie sehr. Wie<br />
wäre es, wenn Fachpersonen in ähnlichen<br />
Fällen nach Ressourcen im<br />
Quartier oder in der Gemeinde forschen<br />
würden? Wären andere Eltern<br />
oder ein Restaurant bereit, einer<br />
Familie mit einem Kind mit Behinderung<br />
zu helfen, auch wenn es nur<br />
um den Schulweg oder das Mittagessen<br />
geht? Paul Watzlawick betonte<br />
in einem Vortrag, dass der Ausweg<br />
aus dem «Spiel ohne Ende» über<br />
einfache Handlungen ge schieht.<br />
Die Entwicklung von integrativer<br />
Bildung und Erziehung erfordert<br />
neue Methoden (siehe Box S. 67).<br />
Das beginnt bei der Diagnose der<br />
Ressourcen der Kinder, der Eltern,<br />
der Grosseltern, in der Schule und<br />
im Quartier. Es ist einfacher, Defizite<br />
zu diagnostizieren und diese isoliert<br />
zu behandeln. Gemeinhin<br />
denkt man dann, dass das Kind oder<br />
die Jugendlichen mit Behandlungen<br />
66 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
«versorgt» seien und sich die Sachlage<br />
verbessern werde. Doch häufig<br />
ist das ein Trugschluss.<br />
Unkonventionelle Methoden<br />
Wenn wir lernen wollen, wie man<br />
konkrete Probleme meistert, braucht<br />
es neue, kreative, dialogische und<br />
unkonventionelle Methoden. Das<br />
Interesse an der Sache, an den Kompetenzen,<br />
an Beziehungen und an<br />
der Selbstbestimmung steht dabei<br />
im Zentrum. Wenn in Besprechungen<br />
oder Supervisionen festgestellt<br />
wird, dass eine Entwicklung ausbleibt<br />
und Freude oder das Gefühl<br />
von Freiheit fehlen, müssen die Projekte,<br />
die Ziele, die Beziehungen und<br />
die Methoden nochmals überarbeitet<br />
werden. Dieses Vorgehen lehnt<br />
sich an das Integrationskonzept<br />
«Empathie und Verstehen» des Bologneser<br />
Pädagogen Nicola Cuomo an.<br />
Zurück zur Mathematik: Georg Cantor,<br />
der Begründer der Mengenlehre,<br />
schrieb einmal: «Das Wesen der<br />
Mathematik liegt gerade in ihrer<br />
Freiheit.» Er hätte sich über den<br />
Anblick einer Kindergartengruppe<br />
gefreut, die auf einem Platz Zahlenfelder<br />
zu einem riesigen Hüpfspiel<br />
aufgemalt hatte, das bis zu einer Million<br />
reichte. Solche Aktionen sind<br />
Sternstunden der befreienden Pädagogik.<br />
>>><br />
Stefan Meyer<br />
lic. phil., ist Dozent im Masterstudiengang<br />
Sonderpädagogik SHP, Schwerpunkt<br />
Pädagogik bei Schulschwierigkeiten, an der<br />
Interkantonalen Hochschule für<br />
Heilpädagogik. Eine Liste mit empfohlener<br />
Literatur und Links kann angefordert werden<br />
über: Stefan.Meyer@hfh.ch.<br />
Das MKT-Testsystem<br />
Ausgehend von den Prinzipien der befreienden<br />
Pädagogik, des flexiblen Interviews und des<br />
Integrationskonzepts Empathie und Verstehen<br />
wurde auch ein Testsystem für die Diagnose<br />
und Förderung in Mathematik von der<br />
1. bis zur 9. Klasse entwickelt und normiert.<br />
Im Kern befassen sich die verschiedenen<br />
Testmethoden nicht nur mit kognitiven Fachkompetenzen,<br />
sondern mit der Empathie und<br />
dem Verstehen von Mathematik im Bildungssystem.<br />
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Do sier<br />
Der 9-jährige Emilio<br />
hat Autismus. Rituale<br />
bestimmen sein<br />
Leben. Mehrmals am<br />
Tag geht er in den<br />
Wäscheraum und<br />
beobachtet die<br />
drehenden Trommeln.<br />
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An der Bläsi-Schule<br />
Basel ist das<br />
bereits Realität.<br />
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Dossier sier<br />
«Wir halten an alten<br />
Lernvorstellungen fest»<br />
«Bei Pflegekindern ist<br />
das Thema Autismus<br />
sehr wichtig»<br />
(Dossier «Autismus», Heft 8/<strong>2017</strong>)<br />
Das andere Kind –<br />
leben mit Autismus<br />
Eine Störung für die einen, eine Wesensart für die anderen<br />
und eine Herausforderung für a le. Das ist Autismus.<br />
Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist davon betroffen.<br />
Was heisst das für das Kind? Was für seine Eltern?<br />
Und vor a lem: Wer hilft?<br />
Text: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />
10 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August <strong>2017</strong> 1<br />
Unsere Fachstelle hat gerade heute wieder Ihr tolles Magazin<br />
erhalten. Vielen Dank! Wir legen Ihr Heft gerne auf und verteilen es<br />
auch gezielt an Eltern, die vom aktuellen Thema direkt betroffen sind.<br />
Gerade bei Pflegekindern ist dieses Thema sehr wichtig.<br />
Cécile Manser, Pflegekinder-Aktion, St. Gallen (via Mail)<br />
«Schule und<br />
Elternhaus müssen<br />
zusammen Lösungen<br />
suchen»<br />
« Wenn es<br />
wehtut,<br />
lache ich»<br />
Rauswurf aus dem Chat, beleidigende und bedrohliche<br />
Textnachrichten: Cybermobbing hinterlässt keine blauen<br />
Flecken, richtet aber bei betro fenen Kindern und<br />
Jugendlichen viel Leid an. So auch bei der 14-jährigen Laila*.<br />
Sie lässt ihre Mu ter Renata Weiss* beschreiben,<br />
wie sehr Eltern mitleiden.<br />
Aufgezeichnet: Sarah King Bilder: Stephan Ra po / 13 Photo<br />
68 September <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
(Thema Mobbing: «Wenn es weh tut, lache ich»,<br />
9/<strong>2017</strong>)<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi September <strong>2017</strong> 69<br />
Das Beste ist, wenn Schule und Elternhaus gemeinsam Lösungswege<br />
suchen und gehen! Weder nur Schule noch nur Elternhaus<br />
können alleine genug Schutz bieten.<br />
«Erziehung zur Menschlichkeit!»<br />
(Dossier «Autismus», Heft 8/<strong>2017</strong>)<br />
Karin Holzherr-Widmer (via Facebook)<br />
Sie geben einen sehr guten Einblick in die Welt von autistischen<br />
Menschen. Wie beim Thema Depression (mein Lebensthema) ist<br />
es wichtig, die Gesellschaft umfassend zu informieren. Am besten<br />
durch Kontakte mit Beziehungspersonen und – soweit das möglich<br />
ist – mit Betroffenen. Und möglichst früh. Schon im Kindergarten –<br />
eben auf kindgerechte und nicht überfordernde Weise: Erziehung<br />
zur Menschlichkeit!<br />
Reinhard (auf www.fritzundfraenzi.ch)<br />
Anzeige<br />
«Der Artikel<br />
macht mir Mut»<br />
Die digitale<br />
Schule<br />
Schon bald benötigen wir in 90 Prozent<br />
a ler Berufe digitale Kompetenzen.<br />
Wie bereiten die Schweizer Schulen<br />
unsere Kinder auf diese Berufswelt vor?<br />
Warum ist es so schwierig, digitales<br />
Lernen einzuführen? Und lernt man am<br />
Tablet besser als mit dem Schulheft?<br />
Eine Spurensuche.<br />
Text: Bianca Fritz, Virginia Nolan (Porträts)<br />
Bilder: Rita Palanikumar / 13 Photo<br />
10 Oktober <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/<strong>2017</strong>)<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Oktober <strong>2017</strong> 1<br />
Bild: Christian Aeberhard / 13 Photo<br />
Danke. Unsere Tochter hat seit gestern ihr eigenes Handy,<br />
und der Artikel macht mir Mut...<br />
Gymnasium | Sekundarschule A<br />
Mittelschulvorbereitung > www.nsz.ch<br />
Info-Abend<br />
Mittwoch, 8. November, 18 Uhr<br />
Irene (auf www.fritzundfraenzi.ch)<br />
...von der 1. Sek bis zur Matura<br />
68 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Wo die Familie<br />
zusammenkommt,<br />
musiziert sichs<br />
be ser.<br />
Leserbriefe<br />
«Wir haben uns die Zähne<br />
ausgebissen»<br />
(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/<strong>2017</strong>)<br />
Digitale Kompetenz umfasst unterschiedliche Bereiche. Der<br />
Umgang mit sozialen Medien ist nur ein Aspekt. Was ist beispielsweise<br />
mit der Organisation sämtlicher technischer Geräte<br />
inklusive Foto- und Musikverwaltung in einem Haushalt mit<br />
mehreren Desktops? Bei diesem Thema haben wir Eltern uns<br />
schon die Zähne ausgebissen. Zum guten Glück haben wir etwas<br />
Ahnung. Dennoch bin ich der Meinung, dass dies dringend ins Fach<br />
ICT gehört. Wir haben immer mehr Daten, die wir auch privat<br />
verwalten müssen. In der Schweiz haben wir zudem einen Mangel<br />
an ausgewiesenen Programmierern. Die Zukunft hat begonnen<br />
und wird noch digitaler. Ich danke Ihnen für diese Ausgabe von<br />
Fritz+Fränzi und den Anstoss. Es muss sich dringend etwas tun!<br />
«Freue mich darauf,<br />
Erkenntnisse aus der<br />
Lektüre umzusetzen»<br />
(«Spielen statt üben»,<br />
Heft 10/<strong>2017</strong>)<br />
Spielen statt üben!<br />
Ein Kind möchte ein Instrument lernen. Die Eltern unterstützen diesen Wunsch, mieten<br />
ein Instrument und melden das Kind bei der Musikschule an. Bald folgt die Ernüchterung:<br />
das Kind will nicht üben. Damit zu Hause Musik sta t Streit erklingt, brauchen kleine<br />
Anfänger die richtige Unterstützung. Text und Bilder: Siby le Dubs<br />
Ich möchte mich bedanken bei euch. Eigentlich lese ich keine<br />
Erziehungsratgeber, aber Ihr greift so vielseitige Themen auf, da ist<br />
immer mindestens ein Artikel dabei, der mich brennend interessiert<br />
und mich auch zum Nachdenken und Umdenken anregt. Ich bin<br />
sowohl beruflich als auch persönlich begeistert vom Schweizer<br />
ElternMagazin. Auch dass es so breit gestreut wird in Schulen und<br />
Institutionen, finde ich toll. Aus der aktuellen Oktober-Ausgabe konnte<br />
ich etwas mitnehmen zum Thema Medienerziehung und Musik<br />
spielen. Freue mich darauf, es umzusetzen. Macht unbedingt so<br />
weiter.<br />
Gabriela Fust (via Facebook)<br />
Sonja, Zürich (per Mail)<br />
«Mir kam ‹Entschulung der Gesellschaft›<br />
in den Sinn»<br />
(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/<strong>2017</strong>)<br />
Danke für die unaufgeregten Aussagen von Philippe Wampfler. Seine<br />
Aussage «Auch die Wandtafel ist ein Medium» sagt vieles aus, wie<br />
Medien für den Unterricht sinnvoll genutzt werden können.<br />
Beim Lesen kam mir Ivan Illichs Buch «Entschulung der Gesellschaft»<br />
in den Sinn: «Einzurichten sind netzartige Strukturen, auch Beziehungsstrukturen,<br />
die allen freien Zugang zu allem ermöglichen, was<br />
für formales Lernen genutzt werden kann (Dinge, Orte, Prozesse,<br />
Verfahren, Ereignisse und Informationen). Die Pädagogen begleiten<br />
die Schülerinnen und Schüler dabei als ‹primus inter pares› auf<br />
schwierigen intellektuellen Erkundungsreisen.» (Zusammenfassung<br />
aus Ivan Illichs «Entschulung der Gesellschaft», eine Streitschrift<br />
(6. Auflage). München: C.H. Beck. (Im Original erschienen 1971:<br />
Deschooling Society).<br />
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Das Magazin der Reformierten<br />
Christian Hügli-Sassones (via LinkedIn)<br />
Schreiben Sie uns!<br />
Ihre Meinung ist uns wichtig. Sie erreichen<br />
uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch oder<br />
Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong><br />
www.brefmagazin.ch
Rubrik<br />
70 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Unser Leben<br />
Erziehung & Schule<br />
mit Maél<br />
Der achtjährige Maél kann sich nicht alleine waschen oder<br />
anziehen, trägt Windeln und muss ständig überwacht werden –<br />
er kam mit Downsyndrom auf die Welt. Seine Mutter erzählt<br />
vom Alltag mit ihrem behinderten Kind und dessen gesundem<br />
Bruder Elias und wie Maél es immer wieder schafft,<br />
ihre Sorgen und Zweifel zu zerstreuen.<br />
Text: Barbara Stotz Würgler Bilder: Samuel Trümpy / 13 Photo<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>71
Erziehung & Schule<br />
Zum dritten Mal habe ich<br />
Maél an diesem Morgen<br />
aufgefordert, sich die<br />
Schuhe anzuziehen und<br />
für die Schule bereit zu<br />
machen. Sein Schulbus hält jeden<br />
Tag pünktlich um 7.45 Uhr vor<br />
unserem Haus. Maél besucht die<br />
dritte Klasse der heilpädagogischen<br />
Schule in einem Nachbardorf.<br />
Endlich setzt er sich auf den Stuhl<br />
bei der Garderobe und nimmt einen<br />
Schuh in die Hand. Als er fertig ist,<br />
stelle ich fest: Der linke Schuh sitzt<br />
am rechten Fuss – und umgekehrt.<br />
Auf meine Frage, ob er das extra<br />
gemacht habe, setzt Maél ein schelmisches<br />
Lächeln auf.<br />
Wenige Minuten später eilen wir<br />
– die Schuhe habe ich ihm inzwischen<br />
richtig an die Füsse gesteckt<br />
– nach draussen, der Bus steht mit<br />
laufendem Motor da. Ich helfe Maél<br />
beim Einsteigen und gurte ihn an.<br />
Durch das Fenster werfen wir uns<br />
Kusshände zu. Maél strahlt. Entweder<br />
am Mittag oder am späteren<br />
Nachmittag wird er wieder nach<br />
Hause zurückkehren.<br />
Das verflixte 47. Chromosom<br />
«Alles Glück», sagt mein Sohn<br />
manchmal zu mir und drückt mir<br />
einen dicken, nassen Kuss auf die<br />
Backe. Ein unbeschreibliches Gefühl.<br />
Für mich stecken in diesem Satz und<br />
in dieser Geste so viel Dankbarkeit,<br />
Liebe und auch Bestätigung dafür,<br />
dass wir Eltern vieles richtig machen<br />
mit unserem «besonderen» Kind.<br />
Dass unser älterer Sohn mit 47<br />
Chromosomen anstatt mit 46 (siehe<br />
Box Seite 77) ausgestattet ist, wirkt<br />
sich auf sein Aussehen sowie seine<br />
geistige und körperliche Entwicklung<br />
aus. Er gleicht anderen Knaben<br />
mit dem Downsyndrom mehr, als<br />
dass er seinem sechsjährigen Bruder<br />
Elias oder uns Eltern ähnelt.<br />
Sein Kopfumfang ist kleiner, seine<br />
Nase flach. Die typische Lidfalte<br />
an den Augen verleiht ihm einen<br />
leicht asiatischen Einschlag. Seine<br />
Muskeln sind weniger stark als bei<br />
normalen Kindern. Diese sogenannte<br />
Muskelhypotonie ist auch der<br />
Grund dafür, dass Maél erst mit<br />
knapp drei Jahren laufen lernte.<br />
Grobmotorisch ist unser Sohn<br />
gut aufgestellt: Er liebt Spielplätze<br />
mit Kletteranlagen, Seilbahnen,<br />
Rutschbahnen und Schaukeln. Als<br />
Vierjähriger lernte er mit dem Micro<br />
Scooter zu fahren. Später entdeckte<br />
er das Laufrad, und seit etwa<br />
eineinhalb Jahren ist er mit seinem<br />
Fahrrad unterwegs – wenn auch<br />
noch mit Stützrädern. Dies ermöglicht<br />
es uns als Familie, kleinere Ausfahrten<br />
in der nahen Umgebung zu<br />
machen.<br />
Ein turbulenter Start für alle<br />
Im feinmotorischen Bereich ist der<br />
Entwicklungsrückstand im Vergleich<br />
zu Kindern ohne Trisomie 21<br />
bedeutend grösser: Einen Stift richtig<br />
zu halten oder mit der Schere zu<br />
schneiden, sind Dinge, die Maél<br />
schwerfallen und die er auch so gut<br />
wie möglich meidet. Dafür bedient<br />
er das Tablet mit seinen Spielen und<br />
Apps mit Leichtigkeit.<br />
Nach einer problemlosen<br />
Schwangerschaft kam Maél am<br />
1. April 2009 um 13 Uhr zur Welt.<br />
Wegen abfallender Herztöne musste<br />
er per Notfallkaiserschnitt auf die<br />
Welt geholt werden. Nachdem ich<br />
mein Baby begrüsst hatte, stand ein<br />
Kinderarzt nervös neben mir: Maél<br />
war etwas blau angelaufen, musste<br />
genauer untersucht werden.<br />
Noch erwähnte niemand die Diagnose<br />
Trisomie 21. Dann die Mitteilung:<br />
Maél muss in die Neonatologie<br />
eines grösseren Spitals verlegt werden.<br />
Es dauerte über 24 Stunden, bis<br />
auch ich in dasselbe Spital gebracht<br />
wurde. Endlich standen mein Mann<br />
und ich neben dem Brutkasten.<br />
Nackt, mit Magensonde und Sauerstoffschlauch<br />
versehen sowie einem<br />
Neugeborenen-Ausschlag, sah unser<br />
Baby ganz schön ramponiert aus.<br />
Wegen Anpassungsstörungen musste<br />
Maél für längere Zeit hospitalisiert<br />
bleiben. >>><br />
Auf meine Frage, ob er die Schuhe<br />
extra falsch angezogen habe,<br />
antwortet Maél mit einem<br />
schelmischen Lächeln.<br />
Trisomie 21 – Infos und Buchtipps<br />
Der Verein Insieme 21 setzt sich für Menschen mit<br />
Trisomie 21 und deren Angehörige ein. Er ist die<br />
erste Anlaufstelle für neubetroffene Familien und<br />
unterhält in der ganzen Schweiz Regionalgruppen:<br />
www.insieme21.ch<br />
www.ds-infocenter.de (Deutschland)<br />
www.down-syndrom.at (Österreich)<br />
Etta Wilken: «Menschen mit Down-Syndrom<br />
in Familie, Schule und Gesellschaft»<br />
Etta Wilken ist Professorin für Behindertenpädagogik<br />
und befasst sich seit vielen Jahren<br />
intensiv mit Trisomie 21. Sie hat auch Bücher über<br />
Sprachförderung und Kommunikation bei Kindern<br />
und Jugendlichen mit Trisomie 21 herausgegeben.<br />
André Frank Zimpel: «Trisomie 21. Was wir von<br />
Menschen mit Down-Syndrom lernen können»<br />
André Frank Zimpel, Professor für Erziehungswissenschaft,<br />
befasst sich mit dem Lern verhalten<br />
von Menschen mit Trisomie 21. In seinem Buch fasst<br />
er die Ergebnisse und Erkenntnisse einer Studie mit<br />
über tausend Personen mit Trisomie 21 zusammen.<br />
Informationen über pränatale Diagnostik<br />
Insieme Schweiz hat diesen Sommer ein neues<br />
Online-Tool lanciert. Dieses bietet werdenden Eltern<br />
einen Überblick über vorgeburtliche Tests. Die<br />
kompakten, leicht verständlichen Infos sowie eine<br />
Vielzahl von weiterführenden Fach- und Beratungsstellen<br />
sind unter www.vorgeburtliche-tests.ch<br />
zu finden.<br />
In Zusammenarbeit mit der PH Bern entwickelte<br />
Insieme Schweiz das Ideenset «Vielfalt begegnen»<br />
mit dem Ziel, Schülerinnen und Schülern Einblicke<br />
in die Lebenswelt von Menschen mit einer<br />
Beeinträchtigung zu ermöglichen.<br />
www.phbern.ch/ideenset-vielfalt-begegnen<br />
72 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Maél und sein<br />
jüngerer Bruder<br />
Elias sind ein<br />
gutes Gespann –<br />
besonders wenn es<br />
darum geht, die<br />
Eltern zu ärgern.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>73
Erziehung & Schule<br />
>>> Die Diagnose Trisomie 21<br />
traf uns wie ein Blitz. Während ich<br />
mit Traurigkeit und Verzweiflung<br />
reagierte, wurde mein Mann<br />
wütend. In der Schwangerschaft hatte<br />
ich mich zwar mit dem Thema<br />
Downsyndrom auseinandergesetzt.<br />
Doch der Ersttrimestertest, der ein<br />
Risiko von 1:1600 auswies, gab keinen<br />
Anlass für weitere vorgeburtliche<br />
Abklärungen. Auch die Nackenfalte<br />
schien im Ultraschall unauffällig.<br />
Und jetzt war ich auf einen<br />
Schlag Mutter eines Babys mit Trisomie<br />
21 geworden. Das sass.<br />
Oft stellte ich mir in den folgenden<br />
Monaten die Frage, ob es besser<br />
gewesen wäre, wenn wir schon während<br />
der Schwangerschaft Bescheid<br />
gewusst hätten. Eine Frage, die sehr<br />
schwer zu beantworten ist. Und für<br />
uns bald keine Rolle mehr spielte –<br />
Maél war ja jetzt da, und wir arrangierten<br />
uns nach und nach mit der<br />
Situation.<br />
Die Nachricht, Eltern eines behinderten<br />
Kindes geworden zu sein,<br />
löste in uns zahlreiche Fragen aus.<br />
Werden wir mit der Pflege und<br />
Betreuung unseres Kindes zurechtkommen?<br />
Wie entwickelt sich ein<br />
Kind mit Downsyndrom? Wie<br />
reagieren die Freunde und Bekannten,<br />
die sich mit uns auf unser Baby<br />
gefreut hatten? Das Gedankenkarussell<br />
drehte unablässig. Ich fand keinen<br />
Schlaf, war weinerlich und<br />
dünnhäutig.<br />
Grosses Glück mit der Gesundheit –<br />
und doch Stammgast in der Klinik<br />
Die ersten Monate zu Hause mit<br />
Maél waren geprägt davon, dass er<br />
sehr schlecht trank. Als er drei<br />
Monate alt war, durfte ich mit ihm<br />
eine Physiotherapie machen. Als er<br />
ein halbes Jahr alt war, begann die<br />
Heilpädagogische Früherziehung:<br />
Jede Woche besuchte uns ein Heilpädagoge<br />
zu Hause und förderte<br />
Maéls Fähigkeiten.<br />
Die Früherziehung dauerte bis<br />
zum Eintritt in den Kindergarten.<br />
Das Aufgleisen der Therapien gab<br />
uns Eltern das Gefühl, endlich etwas<br />
für unser Kind tun zu können. Nach<br />
und nach fiel uns aber auf, dass Maél<br />
vermehrt schrie. Das Trinken verweigerte<br />
er nun vollends. Als wir<br />
mit der gepackten Tasche bei unserer<br />
Kinderärztin im Behandlungszimmer<br />
sassen, meldete sie uns im<br />
Spital an – wo Maél notfallmässig<br />
aufgenommen und über eine<br />
Magensonde ernährt werden musste.<br />
Seine Speiseröhre war komplett<br />
entzündet, er hatte die Refluxkrankheit<br />
entwickelt. Noch heute<br />
bekommt Maél täglich Magensäureblocker.<br />
Ansonsten haben wir grosses<br />
Glück, dass Maél organisch gesund<br />
ist. Oftmals leiden Kinder mit Trisomie<br />
21 an Herzfehlern oder >>><br />
«Kinder mit Trisomie<br />
21 können uns die<br />
Augen öffnen»<br />
Der Mediziner Urs Zimmermann<br />
sagt, dass die Gesellschaft von<br />
Kindern mit Trisomie 21 profitieren<br />
kann. Trotzdem sieht er grosse<br />
Vorteile in der Möglichkeit, dass<br />
der Gendefekt heute sehr früh<br />
festgestellt werden kann.<br />
Interview: Barbara Stotz Würgler<br />
Herr Zimmermann, wie hat sich die Zahl<br />
der Geburten mit Trisomie 21 in den<br />
letzten Jahren in der Schweiz entwickelt?<br />
Zuverlässige Zahlen sind schwierig zu<br />
bekommen. Wir können davon ausgehen,<br />
dass in der Schweiz pro Jahr zwischen 70<br />
und 90 Kinder mit Downsyndrom zur Welt<br />
kommen. Diese Zahlen sind in den letzten<br />
Jahren konstant geblieben.<br />
Mit dem vor fünf Jahren eingeführten<br />
nichtinvasiven Praena-Test kann Trisomie<br />
Die Diagnose Trisomie 21<br />
traf uns wie ein Blitz. Ich<br />
reagierte mit Verzweiflung,<br />
mein Mann mit Wut.<br />
«Es ist schön,<br />
mit ihm Zeit zu<br />
verbringen»,<br />
sagt Maéls<br />
Mutter. «Er gibt<br />
uns sehr viel<br />
zurück.»<br />
21 in einem sehr frühen Stadium der<br />
Schwangerschaft festgestellt werden.<br />
Warum sind die Geburten mit Trisomie 21<br />
dennoch nicht stärker rückläufig?<br />
Es hängt damit zusammen, dass die<br />
Trisomie-21-Schwangerschaften insgesamt<br />
enorm zugenommen haben. In der Schweiz<br />
sammelt einzig der Kanton Waadt diese<br />
Daten systematisch, um sie in eine europäische<br />
Studie einzuspeisen. Hier haben sich<br />
die Schwangerschaften mit Trisomie 21 im<br />
Zeitraum zwischen 1989 bis 2012 verdreifacht.<br />
Dies hat damit zu tun, dass heutzutage<br />
viele Frauen erst im höheren Alter schwanger<br />
werden oder die Familienplanung erst im<br />
höheren Alter abschliessen.<br />
Wie viele Frauen behalten ihr Kind,<br />
wenn sie von der Diagnose erfahren?<br />
Wir müssen davon ausgehen, dass in Europa<br />
neun von zehn Frauen ihr ungeborenes Kind<br />
abtreiben, wenn sie erfahren, dass es das<br />
Downsyndrom hat.<br />
Sehen Sie auch einen Vorteil darin, dass<br />
man heute Trisomie 21 schon so früh beim<br />
ungeborenen Kind nachweisen kann?<br />
Grundsätzlich ist es eine riesige Chance, um<br />
sich mit diesem Thema früh auseinanderzu-<br />
74 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Rubrik<br />
setzen. Oftmals wird diese aber verpasst,<br />
da es offenbar immer noch für viele eine<br />
Selbstverständlichkeit ist, ein Kind abzutreiben,<br />
wenn irgendetwas nicht stimmt. Dabei<br />
wäre es so wertvoll, sich Gedanken zu<br />
machen über mögliche Behinderungen oder<br />
Andersartigkeiten beim Kind. Denn letztlich<br />
kann einem Kind immer etwas zustossen,<br />
das zu einer Behinderung führt, beziehungsweise<br />
das Kind kann sich anders entwickeln,<br />
als man es sich gewünscht hat. Was dann?<br />
Einen anderen Vorteil der frühen Diagnose<br />
sehe ich darin, dass sich Familien bewusst<br />
entscheiden, ein Leben mit einem Kind mit<br />
Trisomie 21 zu führen. Diese Eltern stehen<br />
mit einem neuen Selbstbewusstsein hinter<br />
ihren Kindern.<br />
Die Lebensqualität der Kinder mit<br />
Downsyndrom ist in den letzten Jahren<br />
deutlich besser geworden. Warum?<br />
Es hat eine klare Haltungsänderung<br />
stattgefunden. Früher hat man bei einem<br />
Kind mit Downsyndrom überlegt, ob es sich<br />
überhaupt lohnt, einen Herzfehler zu<br />
operieren oder eine Chemotherapie zu<br />
machen. Heute ist es keine Frage mehr, man<br />
geht proaktiv vor, sucht gezielt nach<br />
Risikofaktoren und interveniert so schnell<br />
wie möglich. Daneben wird heute auch<br />
versucht, Kinder mit Trisomie 21 maximal zu<br />
fördern und zu integrieren.<br />
Was geben Sie werdenden Eltern mit auf<br />
den Weg, die erfahren haben, dass ihr<br />
ungeborenes Kind Trisomie 21 hat?<br />
Zum einen geht es darum, die vielen Informationen<br />
verständlich zu machen und den<br />
Eltern eine Vorstellung davon zu vermitteln,<br />
wie ihr Leben mit einem Kind mit Trisomie 21<br />
aussehen könnte. Daneben rege ich dazu an,<br />
die eigenen Werte zu ergründen, aber auch<br />
die gemeinsamen Werte als Paar – und falls<br />
bereits vorhanden mit dem Rest der Familie.<br />
Was bedeutet es für uns, Kinder zu haben?<br />
Welche Werte wollen wir ihm mit auf den Weg<br />
geben? Dann wird oft schnell klar, ob ein Kind<br />
mit Downsyndrom Platz in dieser Familie hat.<br />
Diese «Wertearbeit» empfehle ich übrigens<br />
allen Eltern, und zwar bereits bevor sie das<br />
erste Kind bekommen.<br />
Was können wir Ihrer Meinung nach von<br />
Kindern mit Trisomie 21 lernen?<br />
Diese Kinder zwingen uns, sie in ihrer<br />
maximalen Individualität zu erkennen und zu<br />
fördern. Andere Kinder würden genauso<br />
profitieren, wenn man ihnen so unvoreingenommen<br />
und individuell begegnen würde.<br />
Kinder mit Trisomie 21 können uns die<br />
Augen öffnen, wie man grundsätzlich mit<br />
Kindern umgehen sollte. Wenn unsere<br />
Schulen so individuell und offen gestaltet<br />
wären, dass auch Trisomie-21-Kinder sie<br />
besuchen könnten, hätte man zum Beispiel<br />
weniger Kinder, die Ritalin nehmen.<br />
Zur Person<br />
Urs Zimmermann, 52, ist seit fünf Jahren<br />
Chefarzt Neonatologie und Kinder- und<br />
Jugendmedizin am Spital Bülach. Vor seiner<br />
Tätigkeit in Bülach war er mehr als zehn Jahre<br />
Leiter der Klinik für Neonatologie und Chefarzt<br />
im Departement Kinder- und Jugendmedizin<br />
am Kantonsspital Winterthur. Er lebt in Bülach<br />
und ist Vater von drei erwachsenen Kindern.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>75
Erziehung & Schule<br />
>>> Missbildungen im Darmtrakt.<br />
In den ersten vier Lebensjahren<br />
war Maél dennoch ständiger<br />
Gast in der Kinderklinik. Er litt zum<br />
Teil unter heftigen Atemwegsinfekten,<br />
benötigte Sauerstoff und musste<br />
künstlich ernährt werden. Die<br />
traumatische Erfahrung mit dem<br />
Reflux hatte dazu geführt, dass er bei<br />
jedem Infekt die Nahrungsaufnahme<br />
verweigerte.<br />
Nebst den vielen Spitalaufenthalten<br />
waren die ersten Jahre bis zum<br />
Kindergarteneintritt von seinem<br />
Therapieplan bestimmt. Nebst der<br />
Früherziehung und der Physiotherapie<br />
kam ab etwa drei Jahren zwei<br />
Mal wöchentlich Logopädie hinzu.<br />
Maél erhielt mit 14 Monaten erstmals<br />
Paukenröhrchen ins Trommelfell.<br />
Auf diese Weise sind seine<br />
Ohren besser belüftet und er hört<br />
besser. Mit zwei Jahren wurde er<br />
zum Brillenträger, was ihn glücklicherweise<br />
nicht stört. Probleme mit<br />
Augen und Ohren sind häufig bei<br />
Kindern mit dem Downsyndrom.<br />
Unterschätzte Intelligenz<br />
Maél war als Kleinkind schwierig zu<br />
lesen respektive zu verstehen. Er<br />
konnte Hunger, Schmerz oder<br />
Müdigkeit nicht ausdrücken, es war<br />
für uns ein ständiges Rätselraten.<br />
Noch mit zwei Jahren sprach er kein<br />
Wort. Wir hatten aber den Eindruck,<br />
dass er gut versteht, was wir zu ihm<br />
sagen.<br />
Von unseren Heilpädagogen<br />
erfuhren wir von der Gebärdensammlung<br />
«Wenn mir die Worte<br />
fehlen» für kognitiv beeinträchtigte<br />
Menschen von der Schweizer Heilpädagogin<br />
Anita Portmann. Die<br />
Gebärden für Essen, Schlafen, Spie-<br />
Maél hat die Angewohnheit<br />
auszubüxen. Er trägt deshalb<br />
eine Plakette mit Name<br />
und Telefonnummer auf sich.<br />
len, Nach-draussen-Gehen sowie<br />
für sämtliche Bauernhoftiere waren<br />
die ersten Begriffe, die wir Maél im<br />
Alter von zweieinhalb Jahren beibrachten.<br />
Die Bewegungen mit den<br />
Händen auszuführen, bereitete ihm<br />
zu Beginn noch Mühe. Aber er<br />
konnte endlich kommunizieren!<br />
Im zweiten Kindergartenjahr<br />
lernte Maél mit Unterstützung von<br />
Piktogrammen, in Zwei- und Drei-<br />
Wort-Sätzen zu sprechen. Heute<br />
drückt er sich ohne Hilfsmittel aus.<br />
Kinder mit Downsyndrom haben<br />
oftmals eine überlange Zunge und<br />
einen schmalen Mundraum. Beides<br />
ist nicht gerade förderlich für die<br />
Aussprache, erschwerend kommt<br />
eine schlaffe Mundmuskulatur hinzu.<br />
Maéls Wortschatz ist um ein<br />
Vielfaches grösser, als er in der Lage<br />
ist, sich verbal auszudrücken. Seine<br />
Intelligenz wird deshalb häufig<br />
unterschätzt.<br />
«Mittelgradig hilflos»<br />
Im Alltag benötigt Maél in vielen<br />
Bereichen Unterstützung. Die Invalidenversicherung<br />
stuft ihn als «mittelgradig<br />
hilflos» ein und entrichtet<br />
Hilflosenentschädigung, seit er zwei<br />
Jahre alt ist. Eine Person gilt als hilflos,<br />
«wenn sie wegen Beeinträchtigung<br />
der Gesundheit für alltägliche<br />
Lebensverrichtungen dauernd der<br />
Hilfe Dritter oder der persönlichen<br />
Überwachung bedarf». Die Höhe der<br />
Leistung hängt vom Grad der Unterstützung<br />
ab und ist in leicht, mittel<br />
und hoch abgestuft.<br />
Der Alltag mit Maél erfordert von<br />
uns Eltern, aber auch von allen weiteren<br />
Bezugspersonen permanente<br />
Präsenz. Maél ist noch nicht in der<br />
Lage, selbständig auf die Toilette zu<br />
gehen, zu duschen, sich in einer<br />
sinnvollen Zeitspanne ganz – und<br />
richtig – an- oder auszuziehen.<br />
Besonders auf Spiel- oder anderen<br />
öffentlichen Plätzen muss er stets im<br />
Auge behalten werden. Leider verhält<br />
er sich gegenüber anderen Kindern<br />
oftmals aggressiv. Weil er sich<br />
nach wie vor weigert, feste Nahrung<br />
zu essen, müssen wir alle Mahlzeiten<br />
pürieren oder speziell für ihn zubereiten.<br />
Es dauerte Jahre, bis er so<br />
weit war, selber seinen Brei oder sein<br />
Müesli zu löffeln.<br />
Und Maél hat die Angewohnheit<br />
auszubüxen. Wenn wir Glück haben<br />
zu Fuss, wenn wir Pech haben mit<br />
dem Velo oder Trottinett. Kürzlich<br />
hat er es zum ersten Mal geschafft,<br />
den Schlüssel im Schloss der Haustüre<br />
zu drehen. Nun trägt er am<br />
Handgelenk eine Silberkette mit<br />
einer Plakette, auf der sein Name<br />
und unsere Telefonnummern eingraviert<br />
sind.<br />
Von Anfang an besuchte ich mit<br />
Maél das Familienzentrum unseres<br />
Wohnortes. Bis zu drei Mal<br />
wöchentlich hatte er dort Kontakt<br />
mit anderen, «normalen» Kindern.<br />
Auch für mich als Mutter, die immer<br />
wieder von Verzweiflung und<br />
Zukunftsängsten heimgesucht wurde,<br />
war der Treff eine gute Möglichkeit,<br />
unter die Leute zu kommen.<br />
Vor der Einschulung wägten wir<br />
die Vor- und Nachteile einer Integration<br />
in die Regelschule und einer<br />
Sonderschulung ab. Für uns stand<br />
immer nur unser Sohn im Zentrum.<br />
Schliesslich meldeten wir ihn für die<br />
heilpädagogische Schule an. Unsere<br />
Entscheidung haben wir noch keinen<br />
Tag bereut; die Schule ist zu<br />
seinem zweiten Zuhause geworden.<br />
Langjährige Bekannte ziehen<br />
sich zurück<br />
Als wir nach Maéls Geburt unser<br />
Umfeld über die Behinderung unseres<br />
Kindes ins Bild setzten, fielen die<br />
Reaktionen unterschiedlich aus. Viele<br />
wussten schlichtweg nicht, wie<br />
man auf eine solche Nachricht<br />
reagiert. Ob man zum Beispiel gratulieren<br />
soll (ja, man soll). Einige<br />
langjährige Bekannte zogen sich<br />
zurück. Auch heute noch ist die<br />
meistgestellte Frage: «Habt ihr es<br />
vorher gewusst?»<br />
Wenn wir mit Maél unterwegs<br />
sind, fallen die Reaktionen fast ausschliesslich<br />
positiv aus. Besonders<br />
76 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Kinder reagieren gut auf ihn. Er <br />
wachsene dagegen können auch mal<br />
ganz schön nerven. Indem sie starren<br />
und flüstern. Zum Glück kommt<br />
dies selten vor. Oder vielleicht nehme<br />
ich es gar nicht mehr so wahr.<br />
Etwas salopp ausgedrückt hat Trisomie<br />
21 den Vorteil, dass man den<br />
betroffenen Menschen ihr Handicap<br />
auf den ersten Blick ansieht.<br />
Als unser zweiter Sohn Elias am<br />
20. April 20<strong>11</strong> zur Welt kam, war<br />
unser Glück perfekt. Natürlich stand<br />
schon früh die Frage im Raum, was<br />
denn wäre, wenn auch unser zweites<br />
Kind mit einem Handicap zur Welt<br />
käme. Da es sich bei Maél aber um<br />
keine erblich bedingte Chromosomenveränderung<br />
handelt, war das<br />
Risiko, nochmals ein Baby mit Trisomie<br />
21 zu bekommen, nicht er <br />
höht.<br />
Anfangs war Maél ziemlich eifersüchtig<br />
auf das neue Familienmitglied.<br />
Er traktierte den kleinen Bruder<br />
oft und riss ihm die Haare<br />
büschelweise aus. Aber wie so vieles<br />
legte sich auch diese Phase. Die Brüder<br />
gewöhnten sich nach und nach<br />
aneinander. Elias lernte bald, sich zu<br />
wehren. Rasend schnell überholte er<br />
seinen älteren Bruder in der Entwicklung,<br />
sprach mit eineinhalb<br />
Jahren bereits in ganzen Sätzen. Die<br />
zwei fanden Wege, miteinander zu<br />
kommunizieren, zu spielen, es lustig<br />
zu haben. Ein besonders gutes Ge <br />
spann sind sie, wenn sie gemeinsam<br />
uns Eltern ärgern wollen.<br />
Elias macht gerne mit seinen Kollegen<br />
ab. Wir haben ein offenes<br />
Haus, die Kinder dürfen zu uns zum<br />
Spielen kommen, wann immer wir<br />
da sind und Zeit haben. Die meisten<br />
nehmen zur Kenntnis, dass Elias’<br />
Bruder speziell ist. Elias kann dies<br />
schon gut erklären.<br />
Als einmal ein Kind auf einem<br />
Spielplatz sagte, Maél sei «komisch»,<br />
erwiderte Elias: «Dä Maél isch halt<br />
eifach de Maél.» Er war da etwa vierjährig.<br />
Ihn stört es höchstens, wenn<br />
wir Eltern uns seiner Meinung nach<br />
zu intensiv um seinen Bruder küm<br />
Als ein Kind auf dem Spielplatz<br />
sagte, Maél sei komisch, erwiderte<br />
Bruder Elias: «Dä Maél isch halt<br />
eifach de Maél.»<br />
mern. Dabei achten wir fest darauf,<br />
dass unser Jüngster ja nicht zu kurz<br />
kommt. Wann immer möglich<br />
machen wir ein getrenntes Programm.<br />
Kein Kind gleich wie das andere<br />
Wichtig zu wissen, war und ist für<br />
mich als Mutter, dass sich Kinder mit<br />
Trisomie 21 noch viel weniger miteinander<br />
vergleichen lassen als sogenannt<br />
normale Kinder: Die Heterogenität<br />
von Menschen mit Trisomie<br />
21 ist enorm. Einige lernen schon als<br />
Kind fast normal sprechen, andere<br />
finden ein Leben lang nicht zur Lautsprache.<br />
Einige entwickeln eine hohe<br />
Selbständigkeit, andere brauchen ein<br />
Leben lang Unterstützung.<br />
Wie kommt es bei unserem Sohn<br />
heraus? Da Maél, im Grunde ein<br />
ausgeglichenes Kind, immer häufiger<br />
Phasen mit sehr herausforderndem<br />
Verhalten hat, lassen wir ihn<br />
zur Zeit gerade durch einen Kinderpsychiater<br />
abklären. Wenn ich mit<br />
Maél zusammen bin, kann ich solche<br />
und andere Probleme aber gut<br />
beiseite schieben und mit ihm den<br />
Moment geniessen, er gibt uns<br />
Eltern sehr viel zurück.<br />
Wir setzen uns keine unerreichbaren<br />
Ziele. Was aber auch nicht<br />
bedeutet, dass wir nichts von ihm<br />
erwarten. Wir freuen uns über jeden<br />
noch so kleinen Schritt, den es vorwärtsgeht.<br />
Wenn Maél ein neues<br />
Wort aussprechen kann. Wenn er<br />
die Schuhe endlich richtig anzieht.<br />
Maél macht seinen Weg, einfach auf<br />
seine Weise und in seinem Tempo.<br />
«Alles Glück», sagt Maél. Und<br />
wischt einmal mehr alle meine<br />
Zweifel und Sorgen beiseite.<br />
>>><br />
Was ist Trisomie 21?<br />
Ungefähr jedes 700. Kind kommt mit Trisomie 21 zur<br />
Welt. Der Name rührt daher, dass bei den<br />
betroffenen Menschen das Chromosom 21 nicht wie<br />
gewöhnlich zwei Mal, sondern drei Mal vorhanden<br />
ist. Dieses zusätzliche Chromosom – insgesamt 47<br />
statt 46 – hat zur Folge, dass sich ein betroffenes<br />
Kind deutlich anders entwickelt als ein Kind mit der<br />
gewöhnlichen Anzahl Chromosomen.<br />
Häufig leiden Menschen mit Trisomie 21 an<br />
angeborenen Herzfehlern oder einer Missbildung<br />
des Magen-Darm-Trakts. Typisch sind auch der<br />
schwache Muskeltonus, eine verzögerte sprachliche<br />
Entwicklung und eine kognitive Beeinträchtigung.<br />
Per 1. März 2016 hat der Bund die Trisomie 21 in die<br />
Liste der Geburtsgebrechen aufgenommen. Somit<br />
übernimmt die Invalidenversicherung alle nötigen<br />
medizinischen Behandlungen, welche damit<br />
einhergehen, und setzt sich für die gesellschaftliche<br />
Eingliederung ein.<br />
Der ebenfalls häufig verwendete Ausdruck<br />
Downsyndrom geht auf den Arzt John Langdon<br />
Down zurück, der die Trisomie 21 im Jahre 1866<br />
erstmals ausführlich erforschte und beschrieb.<br />
Zur Person<br />
Barbara Stotz Würgler, 42, ist Journalistin und<br />
Präsidentin des Elternforums der Heilpädagogischen<br />
Schule Bezirk Bülach. Bei ihren vielen Kontakten zu<br />
Eltern mit Kindern mit den verschiedensten<br />
Behinderungen stellt sie immer wieder fest, wie<br />
anspruchsvoll das Leben mit Kindern mit Handicap<br />
ist – aber auch, wie bereichernd es sein kann.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>77
Ernährung & Gesundheit<br />
Generation kurzsichtig<br />
Statt draussen zu spielen, verbringen Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit in<br />
geschlossenen Räumen an Smartphone, Spielkonsole und Co. Das hat auch Auswirkungen<br />
auf die Augen. Was Eltern beachten sollten. Text: Anja Lang<br />
Kurzsichtigkeit<br />
hat zwischen<br />
2000 und 2010<br />
weltweit um<br />
fast 30 Prozent<br />
zugenommen.<br />
Lara liest für ihr Leben<br />
gern, aber was in der<br />
Schule vorne an der Tafel<br />
steht, kann sie nur schwer<br />
entziffern. Wenn sie die<br />
Augen zusammenkneift, geht es<br />
etwas besser, aber das ist anstrengend,<br />
denn Lara ist kurzsichtig. Das<br />
heisst: In die Nähe sieht die Primarschülerin<br />
gut, weiter entfernte Dinge<br />
kann sie dagegen nur unscharf<br />
erkennen.<br />
Wie Lara geht es immer mehr Kindern<br />
und Jugendlichen. «Von 2000<br />
bis 2010 wurde eine weltweite<br />
Zunahme von Kurzsichtigkeit um<br />
fast 30 Prozent festgestellt», weiss Dr.<br />
Vera Schmit-Eilenberger, Fachärztin<br />
für Augenheilkunde mit Schwerpunkt<br />
Kinderophthalmologie und<br />
Netz hauterkrankungen aus Dübendorf<br />
im Kanton Zürich.<br />
Vor allem in einigen Ländern<br />
Asiens und Südostasiens hat Kurz-<br />
78 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Bild: iStockphoto<br />
sichtigkeit, fachsprachlich Myopie<br />
genannt, inzwischen nahezu epidemische<br />
Ausmasse angenommen. «In<br />
Teilen Chinas, Singapurs oder Taiwans<br />
sind bereits bis zu 90 Prozent<br />
der jungen Erwachsenen kurzsichtig»,<br />
sagt Vera Schmit-Eilenberger.<br />
Jeder zweite «Digital Native» ist<br />
kurzsichtig<br />
Vor rund 60 Jahren lag der Anteil<br />
der Kurzsichtigen in der Bevölkerung<br />
hier noch bei etwa 10 bis 20<br />
Prozent. Aber auch in Europa und<br />
den USA nimmt Myopie immer stärker<br />
zu. In den USA ist die Zahl der<br />
Kurzsichtigen in den letzten 30 Jahren<br />
um 66 Prozent angestiegen. In<br />
Europa zeigt sich gemäss einer 2015<br />
vorgestellten Studie des European<br />
Eye Epidemiology Consortium ein<br />
ähnlicher Trend: In der Altersklasse<br />
der 25- bis 29-Jährigen – also der<br />
«Digital Natives» – ist bereits fast<br />
jeder Zweite kurzsichtig.<br />
Je höher die Bildung, desto mehr<br />
Kurzsichtige gibt es<br />
Lange Zeit dachte man, dass vor<br />
allem die Vererbung bei der Entstehung<br />
von Kurzsichtigkeit entscheidend<br />
ist. «Bis heute sind etwa zwei<br />
bis drei Dutzend Genorte gefunden<br />
worden, die für Myopie verantwort-<br />
lich sind», sagt Vera Schmit-Eilenberger.<br />
«Damit ist nachweislich eine<br />
genetische Disposition gegeben,<br />
wenn Mutter oder Vater kurzsichtig<br />
sind.»<br />
Dennoch: Die explosionsartige<br />
Zunahme von Kurzsichtigkeit innerhalb<br />
weniger Jahrzehnte kann nicht<br />
darauf zurückzuführen sein. Studien<br />
haben untersucht, welchen Einfluss<br />
Umweltfaktoren auf die Ausbildung<br />
einer Kurzsichtigkeit haben. «Dabei<br />
hat sich herauskristallisiert, dass<br />
besonders langanhaltende Augen-<br />
Naharbeit sowie zu wenig Tageslicht<br />
die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit<br />
fördern», erklärt die Fachärztin.<br />
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt<br />
auch die Gutenberg-Gesundheitsstudie<br />
für Deutschland von 2015.<br />
Demnach steigt die Zahl der Kurzsichtigen<br />
mit der Anzahl der Bildungsjahre.<br />
Immer öfter fehlt der Weitblick<br />
Erste Symptome einer beginnenden<br />
Kurzsichtigkeit treten häufig bereits<br />
in der Kindheit auf. «Bis Ende der<br />
Kindergartenzeit sind die meisten<br />
Kinder noch normalsichtig», so Vera<br />
Schmit-Eilenberger. «Das ändert<br />
sich oft in der Primarschule. Man<br />
spricht deshalb von der sogenannten<br />
Schulmyopie, die typischerweise im<br />
Wenig Tageslicht und lange<br />
Augen-Naharbeit fördern<br />
Kurzsichtigkeit.<br />
Alter von 8 bis 15 Jahren auftritt.»<br />
Also genau in der Altersphase, in der<br />
Kinder durch Schulzeit und Hausaufgaben<br />
viel Zeit in geschlossenen<br />
Räumen mit Lesen, Schreiben und<br />
Lernen – also Augen-Naharbeit –<br />
verbringen.<br />
Dazu kommt die in dieser Altersklasse<br />
besonders beliebte Nutzung<br />
elektronischer Medien in der Freizeit.<br />
Das führt dazu, dass viele Kinder<br />
und Jugendliche hierzulande<br />
täglich bis zu acht Stunden und<br />
mehr bei Kunstlicht im Nahsichtmodus<br />
verbringen. «Wenn das<br />
Auge überwiegend Sehangebote<br />
bekommt, die nur wenige Zentimeter<br />
entfernt sind, reagiert es irgendwann<br />
mit Längenwachstum», betont<br />
Kinderaugenärztin. Schmit-Eilenberger.<br />
«Dies passiert umso >>><br />
vormals Lichter der Welt<br />
25.-26.<strong>11</strong>.17 Zürich<br />
Hallenstadion<br />
24.-25.03.18 Basel<br />
St. Jakobshalle<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
www.goodnews.ch<br />
www.apassionata.com<br />
November <strong>2017</strong>79
Ernährung & Gesundheit<br />
>>> stärker, je länger die Nahfixation<br />
dauert und je näher sich das<br />
fixierte Objekt befindet.»<br />
Tageslicht hat schützende Wirkung<br />
Ausserdem weiss man inzwischen<br />
auch, dass der Mangel an Tageslicht<br />
eine wichtige Rolle bei der Entstehung<br />
von Kurzsichtigkeit spielt.<br />
«Kürzlich veröffentlichte Studien<br />
haben ‹Outdoor activity› als eine<br />
Schlüssel-Umwelt-Determinante für<br />
die Myopie-Entwicklung identifiziert»,<br />
erklärt Schmit-Eilenberger.<br />
Wie genau Tageslicht vor Kurzsichtigkeit<br />
schützt, ist noch nicht eindeutig<br />
geklärt. Allerdings ist Tageslicht<br />
bis zu 100 Mal intensiver als künstliches<br />
Licht, und intensives Licht<br />
fördert die Ausschüttung des Botenstoffs<br />
Dopamin in der Netzhaut. In<br />
Tieruntersuchungen an Hühnern<br />
konnte ein Zusammenhang zwischen<br />
Dopamin und dem Längenwachstum<br />
des Augapfels beobachtet<br />
werden, weshalb man davon ausgeht,<br />
dass die Dopamin-Ausschüttung<br />
durch Tageslicht das zu starke Längenwachstum<br />
des Augapfels bremst.<br />
Ist das Auge einmal länger ge -<br />
wachsen und damit kurzsichtig, lässt<br />
sich dieser Schritt nicht wieder<br />
umkehren. Deshalb ist es wichtig,<br />
Umweltfaktoren, die nachweislich<br />
das Längenwachstum des Auges fördern,<br />
frühzeitig zu meiden. «Dazu<br />
gehört, dass sich Kinder und<br />
Jugendliche möglichst viel im Freien<br />
aufhalten, damit der Körper genügend<br />
schützendes Tageslicht abbekommt»,<br />
rät die Dübendorfer<br />
Augenärztin. «Bei der Augen-Naharbeit<br />
sollten ausserdem regelmässig<br />
Pausen eingelegt werden. Dabei den<br />
Blick ruhig auch mal in die Ferne<br />
schweifen lassen.» Hilfreich ist auch,<br />
den Leseabstand nicht zu kurz zu<br />
halten. «Mindestens 30 Zentimeter<br />
sollten es sein, besser mehr», betont<br />
Vera Schmit-Eilenberger. Hier kann<br />
zum Beispiel schon ein grösserer<br />
Monitor helfen. «Jedes Kind ab dem<br />
dritten Lebensjahr sollte ausserdem<br />
augenfachärztlich untersucht werden,<br />
um versteckte Sehfehler zu<br />
erkennen, die unbehandelt nach<br />
dem siebten Lebensjahr zu bleibenden<br />
Sehschwächen führen können»,<br />
appelliert die Kinderaugenärztin.<br />
«Dasselbe gilt für Kinder kurz vor<br />
der Einschulung und natürlich,<br />
wenn erste Anzeichen von Kurzsichtigkeit<br />
auftreten.»<br />
Unterkorrektur hilft nicht<br />
Da Kurzsichtigkeit typischerweise<br />
voranschreitet, wird meist in regelmässigen<br />
Abständen eine neue Sehhilfe<br />
benötigt. Diese sollte die Kurzsichtigkeit<br />
immer maximal gut<br />
korrigieren. «Der Mythos, dass ein<br />
Fortschreiten der Myopie durch eine<br />
Unterkorrektion von Brille oder<br />
Kontaktlinsen verhindert werden<br />
kann, hält sich leider immer noch<br />
hartnäckig», beklagt Vera Schmit-<br />
Eilenberger. «Prospektive klinische<br />
Studien zeigen jedoch, dass eine<br />
Unterkorrektion der Myopie das<br />
Voranschreiten nicht verhindern, ja<br />
im Gegenteil sogar anheizen kann.»<br />
Eine relativ neue Therapie zur<br />
Behandlung von Kurzsichtigkeit ist<br />
die Gabe von niedrig dosierten<br />
Atropin-Tropfen. Sie sollen helfen,<br />
das vermehrte Längenwachstum des<br />
Augapfels zu bremsen. «In grossen<br />
Studien konnte durch die Behandlung<br />
mit Atropin tatsächlich eine<br />
Reduktion des Voranschreitens der<br />
Kurzsichtigkeit um etwa eine Dioptrie<br />
pro Jahr gemessen werden»,<br />
weiss die Augenexpertin. «Nach<br />
dem Ende der Behandlung bildete<br />
sich der positive Erfolg allerdings<br />
wieder zurück.»<br />
Eine andere Möglichkeit für die<br />
Verlangsamung der Myopie sind<br />
sogenannte Ortho-K-Linsen. Diese<br />
Kontaktlinsen werden nur über<br />
Nacht getragen und sollen eine zeitlich<br />
begrenzte Abflachung der zentralen<br />
Hornhaut bewirken, um die<br />
Sehschärfe tagsüber zu normalisieren.<br />
«Diese Methode wird vor<br />
allem von Augenoptikern befürwortet»,<br />
sagt Vera Schmit-Eilenberger.<br />
«Augenärzte bemängeln jedoch<br />
Viele Kinder verbringen<br />
bis zu acht Stunden<br />
im Nahsichtmodus.<br />
hohe Kosten und das Infektionsrisiko.<br />
Auch fehlt bislang eine aussagekräftige,<br />
kontrollierte Langzeitstudie,<br />
die den positiven Effekt<br />
bestätigen würde.»<br />
>>><br />
Kurzsichtigkeit – was ist das?<br />
Kurzsichtigkeit ist die häufigste Art der Fehlsichtigkeit.<br />
Sie wird in den meisten Fällen durch ein zu starkes<br />
Längenwachstum des Auges verursacht. Der<br />
Brennpunkt, also das schärfste Bild, entsteht dann<br />
nicht mehr direkt auf der Netzhaut, sondern kurz<br />
davor, so dass weiter entfernte Objekte entsprechend<br />
unscharf wahrgenommen werden. Nah gelegene<br />
Objekte werden dagegen einwandfrei gesehen. Ist<br />
der Augapfel nur einen Millimeter zu lang, beträgt die<br />
Höhe der Kurzsichtigkeit bereits rund drei Dioptrien.<br />
Damit sieht der Kurzsichtige Objekte nur noch bis<br />
zu einer Entfernung von rund 30 Zentimetern scharf.<br />
Typisch für Kurzsichtigkeit ist ausserdem ein<br />
Voranschreiten bis etwa zum 30. Lebensjahr.<br />
Erste Anzeichen früh erkennen<br />
Folgende Symptome können auf eine beginnende<br />
Kurzsichtigkeit hinweisen:<br />
• Häufiges Blinzeln und Zusammenkneifen der Augen,<br />
um weiter entfernte Gegenstände zu fokussieren<br />
• Klagen über schlechtes Sehen von weiter entfernten<br />
Objekten, z. B. schlechte Sicht an die Tafel<br />
• Nahes Heranrutschen an den Fernseher, um besser<br />
zu sehen<br />
• Wiederkehrende Kopfschmerzen und<br />
Ermüdungs erscheinungen<br />
Anja Lang<br />
ist Medizinjournalistin und Mutter von drei Kindern.<br />
Das Problem mit der zunehmenden Nutzung<br />
elektronischer Medien bei Kindern und Jugendlichen<br />
kennt sie selbst nur zu gut.<br />
80 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Publireportage<br />
Dank dem breiten Angebot an Schweizer Milchprodukten findet sich für jedes Bedürfnis etwas Passendes.<br />
Das Beste für Eltern und Kinder<br />
Für echte Milch gibt’s keinen Ersatz<br />
Milch ist ein nährstoffreiches, gesundes Grundnahrungsmittel für<br />
alle, besonders aber für Kinder. Glücklicherweise gibt es auch bei<br />
Laktoseintoleranz passende Lösungen, denn auf Milchprodukte<br />
zu verzichten ist keine gute Idee.<br />
Mehr erfahren?<br />
Weitere Informationen<br />
und Tipps bei Unverträglichkeiten<br />
unter<br />
www.swissmilk.ch/<br />
unvertraeglichkeiten<br />
Eltern wollen für ihre Kinder natürlich das Beste.<br />
Wenn sie vermuten, dass ihr Kind bestimmte<br />
Lebensmittel nicht verträgt, streichen sie diese oft<br />
in guter Absicht vom Menüplan oder ersetzen sie<br />
durch Alternativen. Das ist aber nicht immer eine<br />
gute Lösung.<br />
Fragen Sie Ihren Arzt<br />
Klagt ein Kind häufig über Bauchweh, liegt die<br />
Vermutung nahe, dass ein Lebensmittel schuld ist.<br />
Oft folgen dann Selbstdiagnosen und individuelle<br />
Ernährungsexperimente. Diese können aber Nährstoffmängel<br />
nach sich ziehen und führen meist<br />
nur kurzfristig zu einer Besserung. Sinnvoller ist es,<br />
die Beschwerden durch eine Fachperson abklären<br />
zu lassen, denn die Gründe können vielfältig sein.<br />
Wenn tatsächlich eine Laktoseintoleranz vorliegt –<br />
die bei Kindern jedoch nur äusserst selten vorkommt<br />
–, dann sollten Milchprodukte nicht gestrichen,<br />
sondern gezielt ausgewählt werden. Es gibt<br />
ein grosses Angebot an passenden, fermentierten<br />
Milchprodukten. Gut verträglich sind Hart- und<br />
Halbhartkäse wie etwa Emmentaler oder Tilsiter<br />
sowie alle Jogurtsorten.<br />
Pflanzendrinks sind kein Milchersatz<br />
Keine gute Lösung ist es, Milch durch Pflanzendrinks<br />
zu ersetzen. Die Ernährungswissenschaft<br />
zeigt immer wieder, dass insbesondere Kinder<br />
von Milch profitieren. Drei Milchportionen täglich<br />
unterstützen den Aufbau und die Entwicklung von<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November <strong>2017</strong><br />
Knochen und Muskeln. Zudem liefern sie generell<br />
viele Nährstoffe in idealem Verhältnis zueinander,<br />
was für ein gesundes Wachstum äusserst vorteilhaft<br />
ist.<br />
Niemand kann heute abschätzen, wie sich der<br />
Ersatz von Kuhmilch durch Pflanzendrinks langfristig<br />
auf die Gesundheit von Kindern auswirken<br />
wird. Es gibt dafür weder Langzeitstudien noch<br />
genügend Erfahrung. Ernährungsfachpersonen<br />
und Kinderärzte schätzen das Risiko eines Nährstoffmangels<br />
mit Folgen für die körperliche und<br />
geistige Entwicklung der Kinder als hoch ein. Denn<br />
Pflanzendrinks sind nährstoffarm und enthalten<br />
keine Baustoffe für das Wachstum.<br />
!<br />
Milchprodukte bei Laktoseintoleranz<br />
Milch liefert ein reichhaltiges Spektrum an<br />
Inhaltsstoffen. Davon profitieren Personen<br />
jeden Alters, insbesondere aber Kinder.<br />
Milchprodukte tragen viel zu einer gesunden<br />
Ernährung bei. Deshalb sollten sie auch bei<br />
Laktoseintoleranz auf dem Menüplan zu finden<br />
sein. Welche Milchprodukte besonders<br />
geeignet sind, erfahren Sie unter<br />
www.swissmilk.ch/unvertraeglichkeiten ><br />
Laktoseintoleranz > verträgliche Milchprodukte.<br />
Wer von einer Laktoseintoleranz<br />
betroffen ist, wählt<br />
am besten gereiften Käse.<br />
Auch Jogurt wird häufig gut<br />
vertragen.<br />
Schweizer Milch ist ein<br />
Naturprodukt, sie wird<br />
standortgerecht auf Familienbetrieben<br />
produziert<br />
und braucht nur kurze<br />
Transportwege.<br />
Milch liefert Eiweiss, Kalzium,<br />
Vitamine und Fette für den<br />
Aufbau von Muskeln und<br />
Knochen. Drei Portionen am<br />
Tag sind genau richtig.
Digital & Medial<br />
Anderen beim<br />
Spielen zuschauen<br />
Sogenannte Let’s Player sind bei Teenagern voll im Trend. Nur: Was<br />
finden Jugendliche daran, anderen beim Videospielen zuzuschauen?<br />
Und was heisst das für die Eltern? Text: Stephan Petersen<br />
Daniels Mutter ist ge <br />
nervt. Gerade erst<br />
hat sie ihren 13-jährigen<br />
Sohn von der<br />
Spielkonsole loseisen<br />
können. Jetzt sitzt er am Smartphone.<br />
«Was machst du denn da?»,<br />
fragt sie ihn. «Ich schaue mir nur<br />
schnell dieses Video an.» Sie blickt<br />
über seine Schulter: «Ist das ein<br />
Video über ein Computerspiel?» –<br />
«Ja, ein Let’s Play!», lautet die Antwort.<br />
«Du hast doch gerade erst<br />
gespielt! Und das sieht nicht so aus,<br />
als ob es ein Spiel für Dreizehnjährige<br />
wäre. Mach jetzt dein Natel<br />
aus!» Daniel seufzt extra laut und<br />
legt das Smartphone zur Seite.<br />
Schreckensschreie und zusammengebissene<br />
Zähne live<br />
So wie Daniel schauen Millionen<br />
Jugendliche sogenannte Let’s Plays.<br />
Bei Let’s play wird live gespielt.<br />
Das heisst: Der Spieler hat das<br />
Game vorher noch nie gespielt.<br />
Let’s Play bedeutet «Lass uns spielen».<br />
Es sind Videos, in denen Games<br />
vorgeführt und kommentiert werden.<br />
Man schaut anderen Spielern<br />
beim Spielen zu. Vorläufer dieses<br />
Trends waren die 2006 von Spielern<br />
im Forum der US-amerikanischen<br />
Webseite «Something Awful» veröffentlichten<br />
Bilder aus von ihnen<br />
gespielten Games. Die anderen<br />
Forumsteilnehmer konnten direkt<br />
darauf antworten und Anregungen<br />
geben, wie die Spieler weiter agieren<br />
sollten. Mit der zunehmenden Verbreitung<br />
des Videoportals Youtube<br />
entstand die Idee, den kompletten<br />
Spielverlauf beim Gamen zu filmen<br />
und zu kommentieren.<br />
Heute filmen die Spieler sich<br />
meist noch zusätzlich selbst. So<br />
hören die Zuschauer nicht nur die<br />
Kommentare, sondern sehen auch<br />
die Reaktionen des Spielers auf das<br />
Geschehen: zusammengebissene<br />
Zähne in kniffligen Szenen und kurze<br />
Schreckensschreie, wenn Unvorhergesehenes<br />
geschieht. Das Besondere<br />
an Let’s Plays: Es wird live<br />
gespielt. Das bedeutet hier: Der<br />
Spieler hat das Game vorher noch<br />
nie gezockt und erlebt gemeinsam<br />
mit dem Zuschauer sämtliche Situationen<br />
zum ersten Mal.<br />
Was als kleiner Spass für ein paar<br />
Dutzend Zuschauer begann, ist in<br />
den vergangenen Jahren zu einem<br />
Millionen-Trend insbesondere bei<br />
Teenagern geworden. 50 Prozent<br />
aller Let’s-Play-Zuschauer sind zwischen<br />
13 und 17 Jahre alt. Mit rund<br />
30 Prozent machen junge Erwachsene<br />
zwischen 18 und 25 Jahren die<br />
zweitgrösste Gruppe aus. Das Pu blikum<br />
ist also jung. Und noch etwas<br />
fällt auf: Je nach Schätzungen und<br />
Umfragen sind 70 bis 80 Prozent der<br />
Zuschauer männlich.<br />
Let’s play als Entscheidungshilfe<br />
Eltern zeigen sich besorgt über den<br />
Trend. Die meisten stehen Games an<br />
sich schon skeptisch gegenüber. Nun<br />
fragen sie sich: Ist es sinnvoll, dass<br />
mein Kind passiv Videos über Computerspiele<br />
konsumiert, anstatt<br />
wenigstens selbst aktiv zu sein und<br />
kreative Lösungsstrategien in einem<br />
Game zu finden? «In den seltensten<br />
Fällen werden Let’s Plays nur angeschaut,<br />
ohne dass man selbst gamt»,<br />
relativiert Isabel Willemse, Medienpsychologin<br />
an der Zürcher Hoch<br />
82 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Rubrik<br />
Die Hälfte der Zuschauer<br />
sind unter 18, ein Drittel<br />
ist zwischen 18 und 26.<br />
Die meisten sind männlich.<br />
Anzeige<br />
Bild: iStockphoto<br />
schule für Angewandte Wissenschaften<br />
(ZHAW). Weiter führt sie aus:<br />
«Meist dienen sie als Entscheidungshilfe,<br />
ob man sich das Game besorgen<br />
soll, oder man lernt hier Tricks<br />
und Kniffe kennen.» Die Aussage<br />
deckt sich mit Umfragen unter<br />
jugendlichen Let’s-Play-Zuschauern.<br />
Andere Gründe für den Konsum der<br />
Videospiele können fehlende Zeit<br />
oder auch zu wenig Taschengeld für<br />
das neueste Game sein.<br />
Die Zuschauer ziehen aus dem<br />
passiven Zuschauen genauso viel<br />
Freude wie aus der aktiven Handlung.<br />
Interpassivität (also delegiertes<br />
Geniessen) ist bei Erwachsenen<br />
ebenfalls sehr gut bekannt. Zum<br />
Beispiel schauen ja viele ein Fussballspiel<br />
im Fernsehen an, >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong><br />
Neues Profil:<br />
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www.unterstrass.edu
Digital & Medial<br />
Tipps für Eltern<br />
>>> anstatt selbst über den grünen<br />
Rasen zu rennen.<br />
Problematisch wird es allerdings,<br />
wenn die Kids sich Videos über<br />
Games ansehen, die nicht ihrem<br />
Alter entsprechen. «Es ist unmöglich,<br />
die etwa 400 Stunden Videomaterial,<br />
die jede Minute auf Youtube<br />
hochgeladen werden, auf Altersfreigaben<br />
zu überprüfen. Daher ist der<br />
Jugendschutz von Anbieterseite<br />
(Youtube) nicht gewährleistet. Umso<br />
mehr sind die Eltern gefordert»,<br />
erläutert Isabel Willemse. Doch<br />
Problematisch wird es,<br />
wenn sich Kids Videos über<br />
Games ansehen, die nicht<br />
ihrem Alter entsprechen.<br />
• Die Altersbeschränkung für Youtube liegt bei 13 Jahren. Eine<br />
kindgerechte Alternative ist die App YouTube Kids.<br />
• Auf der Youtube-Website in den Einstellungen<br />
«Eingeschränkter Modus» aktivieren. Dieser sperrt für Kinder<br />
unangemessene Inhalte. Achtung: Der Filter bietet keine<br />
hundertprozentige Sicherheit.<br />
• Kinder möglichst nicht mit Youtube allein lassen, da immer<br />
sofort das nächste Video abgespielt wird und sie auf diese<br />
Weise rasch bei nicht kindgerechten Inhalten landen.<br />
• Mit den Kindern und Jugendlichen besprechen, was sie auf<br />
Youtube schauen.<br />
• Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz vermitteln,<br />
damit sie mit den gesehenen Inhalten richtig umgehen<br />
können. Die Aussagen und Moralvorstellungen ihrer<br />
Lieblings-Let’s-Player kritisch beleuchten.<br />
• Gemeinsam über die Einnahmequellen des Lieblings-Let’s-<br />
Players diskutieren und die Objektivität der Let’s Player<br />
hinterfragen. Gute Alternativen für Spielebesprechungen<br />
sind klassische Videospiel-Magazine.<br />
• Kids, die selbst Let’s Plays erstellen möchten, über<br />
Urheberrechte (Games und Musik) aufklären.<br />
nicht nur die Games, sondern auch<br />
der Einfluss der Let’s Player – also<br />
der Spieler selbst – können problematisch<br />
sein. So fiel etwa PewDie-<br />
Pie, der weltweit mit 57 Millionen<br />
Abonnenten auf Youtube beliebteste<br />
Let’s Player, in jüngster Zeit mit rassistischen<br />
Kommentaren auf.<br />
Immer gut drauf und leicht<br />
überdreht – aber unabhängig?<br />
Ein nicht zu unterschätzender<br />
Grund für den Erfolg eines Let’s<br />
Plays ist die Persönlichkeit des Let’s<br />
Players. «Die Videos müssen witzig<br />
sein», findet Daniel. Tatsächlich<br />
ähneln sich die erfolgreichsten Let’s<br />
Player in ihrer Moderationsweise. Sie<br />
sind immer gut drauf, leicht überdreht,<br />
reden viel und machen lustige<br />
Kommentare und Grimassen.<br />
Bei den Jugendlichen kommt das<br />
sehr gut an. Um die erfolgreichsten<br />
Let’s Player hat sich deshalb ein<br />
regelrechter Starkult entwickelt.<br />
Umfragen zeigen, dass rund 75 Prozent<br />
der Follower davon überzeugt<br />
sind, dass Let’s Player ihre eigene,<br />
unabhängige Meinung äussern.<br />
Das ist bei unbekannten Let’s<br />
Playern wohl meistens der Fall. Bei<br />
den beliebtesten Let’s Playern, die<br />
mit den Videos ihr Geld verdienen,<br />
darf man jedoch skeptisch sein.<br />
Denn längst haben Game-Hersteller<br />
die Kanäle der meistgesehenen Youtuber<br />
als hervorragende Werbemöglichkeit<br />
erkannt. Es gibt kostenlose<br />
Spiele und Hardware, Product<br />
Placement, PR-Aktionen und Werbeverträge.<br />
Wie unabhängig werden<br />
Die beliebtesten Let’s Player<br />
• In der Schweiz: Diablox9 mit<br />
1,7 Millionen Abonnenten<br />
(viele davon aus Frankreich)<br />
• Im deutschsprachigen Raum: Gronkh<br />
mit 4,6 Millionen Abonnenten<br />
• Weltweit: PewDiePie mit 57 Millionen<br />
Abonnenten<br />
84 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
diese Let’s Player wohl noch sein?<br />
Let’s Player sind Vorbilder, viele<br />
Jugendliche eifern ihnen nach.<br />
Neben dem passiven Schauen möchten<br />
viele Kids selbst eigene Let’s<br />
Plays erstellen. Auf diese Weise teilen<br />
sie ihre Erlebnisse mit Gleichgesinnten,<br />
agieren als Experten zu<br />
ihrem Lieblingsspiel und sind Teil<br />
einer Community, von der es im<br />
Idealfall viele «Likes» als Bestätigung<br />
gibt.<br />
Aber wie sieht das rechtlich aus?<br />
Zurzeit dulden die meisten Spielehersteller<br />
die Nutzung ihrer Games<br />
für Let’s Plays, da sie den Nutzen des<br />
Werbeeffekts als hoch einstufen.<br />
Aber die Games und die bewegten<br />
Bilder bleiben ihr Eigentum. Let’s<br />
Player befinden sich in einer rechtlichen<br />
Grauzone, wenn sie Spielmaterial<br />
aufnehmen oder gar verändern.<br />
Besondere Vorsicht bezüglich<br />
des Urheberrechts ist bei Musik<br />
geboten. Einige Youtuber sahen sich<br />
schon mit Abmahnungskosten konfrontiert,<br />
weil sie für ihre selbst er -<br />
stellten Videos Songs ihrer Mu -<br />
sikstars genutzt hatten. Im Zweifel<br />
gilt immer: Lieber einmal zu oft bei<br />
Herstellern nachfragen.<br />
>>><br />
Stephan Petersen<br />
ist studierter Historiker und freier Journalist.<br />
Zu seinen Themen gehören unter anderem<br />
Videospiele und Familie. Er ist Vater zweier<br />
Kinder im Alter von sieben und elf Jahren.<br />
Gamehersteller stellen den<br />
Let’s Playern kostenlos<br />
Hardware und Spiele zu<br />
Verfügung. Da stellt sich die<br />
Frage der Unabhängigkeit.<br />
Wie sieht so<br />
ein Let’s play<br />
aus? Starten Sie die<br />
aktuelle Fritz+Fränzi-App<br />
und folgen Sie unserem<br />
Link zu einem Video<br />
von Gronkh.<br />
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Teilnahme per SMS: Stichwort FF PITZTAL an 959 senden (30 Rp./SMS)
Digital & Medial<br />
Gesundheitsbewusst?<br />
App-solut!<br />
Gesundheits-Apps sind die neuen<br />
Medizinratgeber, Ernährungsberater und<br />
Bewegungstrainer – für Erwachsene. Sind<br />
sie auch für Kinder und Jugendliche<br />
geeignet? Text: Michael In Albon<br />
Bild: dolgachov<br />
Zehntausende Gesundheits-Apps<br />
tummeln<br />
sich in den Stores von<br />
Android und Apple.<br />
Verführerisch. Doch<br />
Apps können nur unterstützen und<br />
keine eine eindeutige Diagnose liefern.<br />
Ich habe einige nützliche Apps<br />
für Eltern, Kinder und Teenager<br />
herausgesucht und nenne Ihnen am<br />
Schluss des Beitrags drei Prüfmerkmale<br />
für Apps.<br />
Zweiteiler für junge Familien<br />
Die App «Baby & Essen» bietet Eltern<br />
einen Essensfahrplan und nennt<br />
die Entwicklungsschritte im ersten<br />
Le bensjahr mit Tipps für den Alltag.<br />
Stillende Mütter erhalten Ernährungstipps<br />
und Informationen zur<br />
Allergievorbeugung. Die Fortsetzung<br />
«Kind & Essen» unterstützt mit<br />
Ratschlägen zu gesunder Ernährung<br />
und gesundem Aufwachsen von eins<br />
bis drei. Den App-Zweiteiler gibt es<br />
kostenlos für iOS und Android.<br />
Medizinratgeber<br />
Die App «Homöopathie für Kinder»<br />
ist ein Nachschlagewerk. Die<br />
Schnelldiagnose hilft, eine passende<br />
homöopathische Auswahl zu treffen.<br />
Dafür berücksichtigt die Medizin-<br />
App typische Kinderbeschwerden<br />
wie Schnupfen, Husten oder Fieber.<br />
Sie bietet zudem Erste-Hilfe-Informationen<br />
bei ansteckenden Kinderkrankheiten<br />
und Verletzungen sowie<br />
ein Globuli-Glossar. Die App gibt es<br />
für iOS als Lite-Version gratis, die<br />
Vollversion für vier Franken.<br />
Lern-App Anatomie<br />
Die preisgekrönte App «Der menschliche<br />
Körper» ermöglicht mit einfach<br />
gehaltenen, animierten Bildern anatomische<br />
Einblicke in sechs Themengebiete:<br />
Skelett, Muskeln, Nerven,<br />
Kreislauf, Atmung und Verdauung.<br />
Textfelder mit entsprechenden In -<br />
forma tionen kann man sich einblenden<br />
lassen. Ausserdem gibt es interaktive<br />
Module zu Herz, Gehirn und<br />
Auge. Die App ist für iOS erhältlich,<br />
als Lite-Version kostenlos, als Vollversion<br />
für vier Franken.<br />
Bewegung und Ernährung<br />
Die App «Gorilla Schweiz» gibt<br />
Jugendlichen Tipps für mehr Bewegung,<br />
ausgewogene Ernährung und<br />
nachhaltigen Konsum. Freestyle-<br />
Profis zeigen in kurzen Filmen Basics<br />
und Tricks in den Sportarten Slalomboarden,<br />
Streetskaten, Breakdance,<br />
Bike, Frisbee, Freeski und Footbag.<br />
Und Kochvideos unterstützen Teenager<br />
beim Zubereiten von leckeren<br />
Gerichten. Die App gibt es kostenlos<br />
für iOS und Android.<br />
Navigation im App-Wald<br />
Beim Entscheid, ob eine App etwas<br />
taugt, hilft Medienkompetenz. Und<br />
da sind einmal mehr die Eltern als<br />
Vorbilder und Wegbereiter gefragt.<br />
Längst nicht alle Gesundheits-Apps<br />
wurden von Fachleuten erstellt. Deshalb<br />
empfehle ich, vor dem Download<br />
ein wenig nachzuforschen. Und<br />
zwar so: In den App-Stores von An -<br />
droid oder Apple finden Sie und Ihre<br />
Teenager kurze Angaben zur App<br />
und einen Link auf die Website des<br />
Anbieters. Prüfen Sie hier folgende<br />
drei Merkmale.<br />
1. Klicken Sie ins Impressum: Wer<br />
steckt hinter der App?<br />
2. Suchen Sie die Quellenangaben:<br />
Von welcher Organisation oder<br />
aus welchem Kreis von Fachleuten<br />
stammen die Informationen und<br />
Empfehlungen?<br />
3. Datenschutz: Welche persönlichen<br />
Daten von Ihnen werden<br />
gespeichert?<br />
Michael In Albon<br />
ist Beauftragter Jugendmedienschutz<br />
und Experte Medienkompetenz von<br />
Swisscom.<br />
Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive<br />
Lernmodule für den kompetenten Umgang mit<br />
digitalen Medien im Familienalltag.<br />
swisscom.ch/medienstark<br />
86 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />
Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsor<br />
Dr. iur. Ellen Ringier<br />
Walter Haefner Stiftung<br />
Credit Suisse AG<br />
Rozalia Stiftung<br />
UBS AG<br />
UBS AG<br />
Impressum<br />
17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />
Herausgeber<br />
Stiftung Elternsein,<br />
Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />
www.elternsein.ch<br />
Präsidentin des Stiftungsrates:<br />
Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />
Tel. 044 400 33 <strong>11</strong><br />
(Stiftung Elternsein)<br />
Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />
ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 01 01<br />
Redaktion<br />
Nik Niethammer (Chefredaktor),<br />
Evelin Hartmann (stv. Chefredaktorin),<br />
Bianca Fritz (Leitung Online),<br />
Florian Blumer, Claudia Landolt,<br />
Irena Ristic, Florina Schwander, Leo Truniger<br />
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Dominique Binder, Tel. 044 277 72 62,<br />
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Art Direction/Produktion<br />
Partner & Partner, Winterthur<br />
Bildredaktion<br />
13 Photo AG, Zürich<br />
Korrektorat<br />
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(WEMF/SW-beglaubigt <strong>2017</strong>)<br />
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davon verkauft 24 846<br />
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Für Spenden<br />
Stiftung Elternsein, 8008 Zürich<br />
Postkonto 87-447004-3<br />
IBAN: CH40 0900 0000 8744 7004 3<br />
Inhaltspartner<br />
Institut für Familienforschung und -beratung<br />
der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen<br />
und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und<br />
Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation /<br />
Elternnotruf / Pro Juventute / Interkantonale<br />
Hochschule für Heilpädagogik Zürich /<br />
Schweizerisches Institut für Kinder- und<br />
Jugendmedien<br />
Stiftungspartner<br />
Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule<br />
Zürich / Elternbildung CH / Marie-Meierhofer-<br />
Institut für das Kind / Schule und Elternhaus<br />
Schweiz / Schweizerischer Verband<br />
alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV /<br />
Kinderlobby Schweiz / kibesuisse Verband<br />
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Der beste Papa<br />
der Welt kann<br />
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Giraffen reiten.<br />
Britta Nonnast:<br />
Michi und Papa<br />
– 10 wunderwarme<br />
Mutmach-<br />
Abenteuer<br />
Der fünfjährige<br />
Michi und sein<br />
Papa erleben in diesen warmherzigen<br />
Vorlesegeschichten die ganz<br />
normalen Abenteuer des Alltags.<br />
Und wenn Michi nachts böse Träume<br />
quälen, weiss sein aufmerksamer<br />
Papa immer einen Rat.<br />
Gulliver <strong>2017</strong>, Fr. 14.90,<br />
ab 5 Jahren<br />
Als Rollenvorbilder haben (vor)lesende<br />
Väter in der Lesesozialisation ihrer Söhne<br />
eine wichtige Funktion. Zum Vorlesen<br />
eignen sich alle Bücher, die beiden<br />
gefallen – trotzdem präsentieren wir Ihnen<br />
hier Geschichten über spezielle, verrückte<br />
und besonders enge Vater-Sohn-Teams.<br />
Wenn der Vater mit dem Sohne<br />
Christian<br />
Tielmann: Der<br />
Tag, an dem wir<br />
Papa umprogrammierten<br />
Statt des sicherheitsfanatischen<br />
Vaters kümmert<br />
sich plötzlich ein Roboter um Carlo<br />
und seine Schwester – und den kann<br />
man so umprogrammieren, dass er<br />
alles erlaubt! Ein Lesespass mit<br />
vielen Slapstick-Momenten.<br />
dtv junior <strong>2017</strong>, Fr. 16.90,<br />
ab 7 Jahren<br />
Bilder:ZVG<br />
In der Scheune wohnt ein<br />
Rudel Tiger, auf dem Müllhaufen<br />
eine Giraffe, die gerne<br />
Betten frisst, und im Wald der<br />
Urahne, dem Masarin, Loranga<br />
und Dartanjang zu Weihnachten<br />
ein paar Körnchen hinstreuen. Im<br />
Schwimmbecken schwimmen<br />
Hechte, und ab und zu schaut Gustav,<br />
der Gefängnisinsasse, auf eine<br />
Tasse Kaffee vorbei.<br />
Und es geht noch verrückter:<br />
Denn der Junge Masarin ist der vernünftigste<br />
Bewohner des kleinen<br />
Idylls in Schweden. Sein Papa<br />
Loranga trägt gerne einen Teewärmer<br />
auf dem Kopf, hört laut Popmusik<br />
und ändert die Spielregeln stets<br />
zu seinen Gunsten. Grossvater Dartanjang<br />
hält sich mal für einen<br />
India nerhäuptling, mal für einen<br />
Hund und trägt den lieben langen<br />
Tag Zahlen in erdachte Tabellen ein.<br />
Gegessen wird Schokoladenpudding<br />
mit Rahm, und arbeiten muss hier<br />
niemand («Und wer soll bitte schön<br />
Popmusik hören, wenn ich nicht zu<br />
Hause bin? Ich frag ja nur.»).<br />
Herrlich verdreht sind die Loranga-Geschichten<br />
von Barbro Lindgren.<br />
Dass sie in den Siebzigerjahren<br />
entstanden sind, erkennt man an der<br />
fröhlichen Lust, mit der Autoritäten<br />
ignoriert und Machtverhältnisse<br />
umgekehrt werden.<br />
Jetzt sind die zwei Bände in<br />
einem Buch neu übersetzt auf<br />
Deutsch erschienen. Ein Vorlesespass<br />
für wilde Väter und brave Söhne<br />
– oder umgekehrt.<br />
Barbro Lindgren:<br />
Loranga: Der<br />
beste Papa der<br />
Welt.<br />
Woow Books<br />
<strong>2017</strong>,<br />
Fr. 21.90,<br />
ab 7 Jahren<br />
Gudrun Skretting:<br />
Mein Vater, das<br />
Kondom und<br />
andere nicht ganz<br />
dichte Sachen<br />
Anton ist überzeugt:<br />
Sein Vater braucht<br />
eine neue Frau. Da kommt es nicht<br />
nur im Strickkurs zu Verwicklungen,<br />
und eine urkomische Szene reiht sich<br />
in diesem kurzweiligen Jugendroman<br />
an die nächste.<br />
Carlsen 2016, Fr. 21.90,<br />
ab 12 Jahren<br />
Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />
Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />
Instituts für Kinder- und<br />
Jugendmedien SIKJM.<br />
Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind<br />
weitere B uch empfehlungen zu finden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2017</strong>89
Eine Frage – drei Meinungen<br />
Unsere Söhne sind im Fussballverein. Der Elfjährige seit ein paar Jahren,<br />
der Neunjährige seit einigen Monaten – mit grossem Erfolg. Der Kleine scheint<br />
ein Naturtalent zu sein und wird vom Trainer ständig gelobt. Das setzt dem<br />
Älteren zu. Wir wollen uns natürlich mit unserem jüngeren Sohn freuen –<br />
ohne den älteren zu verletzen. Wie machen wir das am besten?<br />
Klaus, 39, Olten SO<br />
Nicole Althaus<br />
Es ist wohl eine der härtesten<br />
Lektionen, die der Mensch im<br />
Leben zu lernen hat: Es gibt<br />
immer jemanden, der etwas<br />
besser kann als man selbst.<br />
Und nicht jeder ist in jedem<br />
Fach begabt. Aber jeder hat<br />
irgendwo Stärken. Freuen Sie<br />
sich mit dem Jüngeren über<br />
seinen Erfolg. Und loben Sie den Grossen in einem<br />
Feld, in dem er den Kleinen übertrumpft. Es findet sich<br />
ganz bestimmt eines.<br />
Tonia von Gunten<br />
Freuen Sie sich mit dem<br />
Jüngeren, doch stärken Sie<br />
das Selbstwertgefühl des<br />
Älteren und sagen Sie: «Wie<br />
ist das für dich, wenn dein<br />
Bruder vom Trainer so gelobt<br />
wird und du nicht? Ist sicher<br />
enttäuschend für dich, du<br />
spielst ja schon viel länger<br />
Fussball.» Trösten Sie ihn nicht damit, indem Sie seine<br />
andern Fähigkeiten aufzählen: «Dafür bist du gut in<br />
Mathe!», sondern finden Sie zusammen heraus, ob er<br />
sich noch fürs Fussballspielen begeistert oder nicht. Es<br />
ist schön, wenn Kinder sich in der Freizeit mit Dingen<br />
beschäftigen dürfen, die ihnen Spass machen.<br />
Peter Schneider<br />
Die Erfahrung, dass der<br />
Jüngste besser tschuttet,<br />
werden Sie dem Älteren nicht<br />
ersparen können. Das merkt<br />
er schliesslich auch selber.<br />
Freuen Sie sich mit dem<br />
Jüngeren und freuen Sie sich<br />
– bei anderer Gelegenheit –<br />
auch mit dem Älteren, und<br />
haben Sie Verständnis dafür, dass ihm der Erfolg des<br />
Bruders Bauchschmerzen bereitet; aber machen Sie<br />
keine Aktionen der Ausgewogenheit daraus. Denn das<br />
wäre für den Älteren eine Herablassung.<br />
Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin<br />
und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am<br />
Sonntag». Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir<br />
eltern» und hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.<br />
ch» initiiert und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter<br />
von zwei Kindern, 16 und 12.<br />
Tonia von Gunten, 44, ist Elterncoach, Pädagogin<br />
und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />
Programm, das frische Energie in die Familien<br />
bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />
stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />
und Mutter von zwei Kindern, <strong>11</strong> und 8.<br />
Peter Schneider, 59, ist praktizierender<br />
Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />
andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />
für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />
ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />
der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />
erwachsenen Sohnes.<br />
Haben Sie auch eine Frage?<br />
Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO<br />
90 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Die Herausforderungen an Sie als Eltern<br />
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