Sport + Mobilität mit Rollstuhl 08/2017
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
MENSCHEN<br />
<br />
»Ich hab vier Räder unterm<br />
Hintern – das ist der einzige<br />
Unterschied!«<br />
Ein persönliches Portrait von Merle Hömberg<br />
Sie heißt Anna. Und auch sonst<br />
ist sie ganz schön normal: Sie<br />
trägt knallenge Jeans, studiert<br />
International Relations & Management<br />
und verreist gerne. »Ich hab<br />
vier Räder unterm Hintern – das<br />
ist der einzige Unterschied«, sagt<br />
sie. Denn Anna braucht einen<br />
<strong>Rollstuhl</strong> um durchs Leben zu<br />
finden: Sie hat seit ihrer Geburt<br />
eine Spastik.<br />
2010<br />
Anna ist 16, als wir drei<br />
Wochen zusammen in<br />
die USA liegen. »Vor diesem Aufenthalt<br />
war ich tierisch nervös«, weiß sie heute<br />
noch, »so lange alleine weg.« Alleine,<br />
das heißt für Anna ›ohne Eltern‹, denn<br />
ganz alleine kann Anna nicht verreisen.<br />
Sie braucht jemanden, der ihr morgens<br />
aus dem Bett hilft, sie anzieht, ihr auf<br />
die Toilette hilft, sie duscht. Ich begleite<br />
sie als ihre Assistentin. Wir haben uns<br />
vor einigen Jahren auf einem Mobikurs<br />
in Isny kennengelernt – sie als Teilnehmerin,<br />
ich als junge Übungsleiterin. Und<br />
wir haben uns angefreundet.<br />
In den USA verbringen wir viel Zeit<br />
<strong>mit</strong>einander, genauer gesagt 24 Stunden<br />
am Tag. Anna hat immer jemanden<br />
dabei, der sieht, was sie macht. Wenigstens<br />
von weitem.<br />
Anna fragt mich, ob sie Mp3-Player<br />
hören darf. Um sie zu provozieren, sage<br />
ich nein. Längere Stille. Dann stimmt sie<br />
in mein Gelächter ein. Von da an versuche<br />
ich ihr beizubringen, dass nicht immer<br />
der Ältere Recht hat. Für andere<br />
16-Jährige vielleicht klar – für Anna ungewöhnlich,<br />
jemandem zu widersprechen,<br />
der ihren <strong>Rollstuhl</strong> schiebt.<br />
2012<br />
<br />
Anna zieht von zu Hause<br />
aus, in ein Studentenwohnheim<br />
in Regensburg. Zum ersten<br />
Mal seit langem fühlt sie sich wieder<br />
›behindert‹ – bei ihren Eltern hatte sie<br />
organisierte, jahrelang eingespielte Abläufe.<br />
Hier in Regensburg muss sie <strong>mit</strong><br />
Hilfe einer Agentur Assistenten organisieren,<br />
alle Abläufe neu erklären, sich<br />
anhören, was sie tun muss, wenn sie aus<br />
dem <strong>Rollstuhl</strong> fällt. »Mein Gott, soooo<br />
behindert bin ich jetzt auch wieder<br />
nicht«, denkt sie. Und trotzdem muss<br />
sie da durch: In ihrem Heimatdorf gibt<br />
es keine Hochschule. Und dass sie studieren<br />
wollte, war für Anna längst klar.<br />
»Ich seh´ einfach nicht ein, mir von meinen<br />
Einschränkungen mein Leben diktieren<br />
zu lassen.« Als es darum geht,<br />
sich ein Studium auszusuchen, wählt sie<br />
eins <strong>mit</strong> integriertem Auslandssemester.<br />
Zweifel hat sie keine. Sie will nicht<br />
anders leben, als andere, ihren <strong>Rollstuhl</strong><br />
nicht als Hindernis sehen. »Ich konzentriere<br />
mich nicht auf die Sachen, die ich<br />
nicht kann. Da wird man ja depressiv!«,<br />
lacht sie.<br />
2014<br />
Auslandssemester in Irland.<br />
Auf die Frage, woher<br />
sie den Mut nimmt, lacht sie fröhlich.<br />
»Das ist ja auch nicht so viel mutiger,<br />
als wenn ihr ein Auslandssemester<br />
macht.« – und sie meint es genauso,<br />
ganz ohne Attitüden. Es sind eben andere<br />
Herausforderungen, <strong>mit</strong> denen sie<br />
kämpfen muss. »Ich muss vielleicht<br />
mehr organisieren. Aber da<strong>mit</strong> zu hadern,<br />
das bringt einen nicht weiter.« Anna<br />
erzählt, wie eine Freundin nach zwei<br />
Tagen ihr Auslandssemester abgebrochen<br />
hat: Auch nicht-behinderte junge<br />
Menschen stehen vor Herausforderungen.<br />
Als sie in ihrem Zimmer in Dublin<br />
ankommt, ist sie auch nicht gerade angetan:<br />
Kahle Glühbirnen, eiskalt – kein<br />
bisschen einladend. Ans Abreisen denkt<br />
sie nicht einen Tag. Sie bringt stattdessen<br />
die Heizung in Gang und kauft Lampenschirme.<br />
10<br />
<strong>Sport</strong> + <strong>Mobilität</strong> <strong>mit</strong> <strong>Rollstuhl</strong> <strong>08</strong>/<strong>2017</strong>