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Mixology - Magazin für Barkultur 5-17

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Manche sprechen von einem neuen Goldenen Zeitalter der Bar.<br />

Doch allmählich zeigt sich, dass das Wachstum der Barszene nicht<br />

auf ewig derart weiterläuft. Was jeder Unternehmer kennt, zeigt<br />

sich nun auch <strong>für</strong> die Bar: Wachsen kann zu Wachstumsschmerzen<br />

führen. Eine Analyse darüber, warum die Jugend der Barwelt<br />

Hilfe braucht. Und warum sie sich in Demut üben muss, damit sie<br />

die Revolution des Cocktails weiterführen kann.<br />

Text Nils Wrage<br />

1. Die stille Revolution<br />

Ich stand als Jugendlicher ganz heftig auf alles, was mit dem Barock<br />

zu tun hatte. Damit meine ich nicht, dass ich mit Schnallenschuhen,<br />

gepuderter Perücke und buntem Gehrock durch die Gegend lief, aber<br />

es gab eine lange Phase meiner Adoleszenz, in der ich begeistert war von<br />

den Idealen der barocken Kunst. Das Überbordende, Übersteigerte, das<br />

quasi Über-Lebendige, die Detailversessenheit um des Details Willen<br />

einerseits, andererseits in Spannung gesetzt durch die formale Strenge,<br />

die sich überall noch dicht manifestierte: in Lyrik, Musik, Architektur<br />

oder Kunst. Der Barock passt somit als Epoche auch ganz zu einem<br />

Jugendlichen (besonders zu einem mit künstlerischen Ambitionen),<br />

denn allein das genannte Spannungsverhältnis zeigt: Der Barock war<br />

eine Epoche, die nicht wirklich wusste, was oder wohin sie will. Passend<br />

dazu bedeutet der ursprüngliche, namensgebende portugiesische<br />

Begriff barocco auch »schiefe Perle«; irgendwie ästhetisch, irgendwie<br />

wertvoll, irgendwie erstrebenswert – aber andererseits auch außerhalb<br />

der Balance. Und das wiederum passt hier ganz gut. Denn es wird viel<br />

um Jugend gehen heute, um Unausgeglichenheit, um die Suche an sich,<br />

um Findungsphasen. Und um Revolution, dieses Kind der jugendlichen<br />

Seele.<br />

Die Begriffe »Revolution« und »Barock« kamen vor einigen Wochen<br />

zusammen. Mitte Juli brachte das US-Kulinarikportal Thrillist einen<br />

vielbeachteten Artikel des renommierten Autors Kevin Alexander<br />

mit dem schmissigen Titel »The Craft Cocktail Revolution ist Over. Now<br />

What?« Alexander lieferte mit diesem Beitrag eine wichtige und umfassende<br />

Bestandsaufnahme, mit welchen Problemen und Mechanismen<br />

die Barwelt aktuell zu kämpfen hat. Denn es gibt Probleme. Und in der<br />

Mitte des Textes gab es ein Zitat des Barbetreibers Neal Bodenheimer<br />

aus New Orleans, der meint: »Die Bar-Industrie befindet sich derzeit in<br />

ihrer Barockphase.«<br />

Revolutionen werden meist mit Gewalt, Umsturz, Blut assoziiert.<br />

Revolutionen sind laut, sie brüllen, sie lechzen nach Beachtung. Ohne<br />

Beachtung und Lärm wären sie gar keine Revolutionen, denn sie sind<br />

eine Frage der Perspektive.<br />

Ein zentrales Ereignis dessen, was Kevin Alexander als »Craft Cocktail<br />

Revolution« bezeichnet, war jedenfalls alles andere als lärmend oder<br />

schrill. Es trug sich zu in der Silvesternacht 1999/2000, als die halbe<br />

Welt sich fragte, ob das be<strong>für</strong>chtete Y2K-Problem die Zivilisation in den<br />

Abgrund reißen würde. Nichts passierte (allerdings wurde Wladimir<br />

Putin – Stichwort Abgrund – in dieser Nacht erstmals russischer Präsident,<br />

aber das ist ein anderes Thema). In jener Nacht aber eröffnete ein<br />

recht kleiner Mann mit akuratem Seitenscheitel und melancholischen<br />

Augen seine erste eigene Bar in einer günstig gemieteten Immobilie in<br />

der Lower East Side von Manhattan. Die Bar war ein Gegenentwurf zu<br />

dem, was die allermeisten Menschen mit dem Begriff verbanden: leise,<br />

dezent, mit einer Türklingel und strengen Benimmregeln versehen,<br />

überdies nur zu besuchen per Reservierung über eine halbgeheime, sich<br />

stetig ändernde Telefonnummer. Und zu trinken gab es Cocktails aus<br />

besten Spirituosen und ausschließlich frischen Zutaten. Es war Sasha<br />

Petraskes Vision einer Bar, er nannte sie Milk & Honey, und wenn<br />

auch die Bar still und leise öffnete und nie die große Bühne suchte,<br />

wenn auch Petraske selbst vor dem Milk & Honey so gut wie unbekannt<br />

in der Szene war, so trug die Bar doch zu einem Erdrutsch in der Barlandschaft<br />

bei.<br />

Zwar hatten bereits etwa zehn Jahre davor Männer wie Dale DeGroff<br />

und Dick Bradsell damit begonnen, alte Rezepturen wiederzubeleben<br />

und in ihren Cocktails wieder auf frische Zutaten zu achten, der<br />

sogenannte »Craft Cocktail« nahm also mit ihnen seinen Anfang. Aber<br />

Petraskes (der seit der ersten Lektüre von American Bar zu den glühendsten<br />

Bewunderern Charles Schumanns gehörte) Milk & Honey war<br />

nach heutigem Stand der Meilenstein, das Fanal, um die Bar an sich<br />

als einen Ort mit eigener Würde zu re-definieren. Einen Ort, der nicht<br />

einem Zweck untergeordnet ist, sondern der sich selbst dient und der<br />

seine Würde auf den Menschen überträgt, der in ihm arbeitet: den Bartender.<br />

48<br />

Titel — Die barocke Blase

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