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heimat w 3828 fx - Hohenzollerischer Geschichtsverein eV

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Heimat der Lebensbewältigung, die unter jeweils veränderten<br />

Bedingungen doch immer dieselben Nöte kennt.<br />

Z.B. Bedrohung. Als die aufgebrachten Reutlinger und<br />

Esslinger Soldaten 1311 das Biirgle zerstört haben, sind den<br />

Junginger Bauern die Felder verwüstet worden, viele Hütten<br />

wurden ein Opfer der Flammen. Die >armen Leute< des<br />

Mittelalters mußten täglich mit dieser Bedrohung leben -<br />

trotzdem: ihnen war wieder einmal Heimat- denn »Heimat«<br />

ist in seiner ursprünglichen Bedeutung der häusliche Herd -<br />

zerstört worden.<br />

Aber lassen wir das Mittelalter hinter uns. Die Angst vor der<br />

Zerstörung der Heimat hat ja hier im Killertal ihren aktuellen<br />

Anlaß in der Diskussion um die geplante neue Trasse der<br />

B 32. Den einen erscheint die neue Straße als Fortschritt,<br />

Entlastung, Zugewinn; den anderen ist sie Rückschritt, Belastung,<br />

Verlust. Verlust natürlicher Lebensumwelt, Verlust<br />

von Heimat. So wird Heimat unversehens von einem Gegenstand<br />

der Dichtkunst zu einem Gegenstand politischer Auseinandersetzung.<br />

Und wir sehen, Geschichte - auch Heimatgeschichte<br />

- ist nie eindeutig, ihre Entwicklung läßt immer<br />

wenigstens zwei Ausdeutungen zu. Wäre es möglich, daß den<br />

Kindern in einigen Jahren das gleichmäßige Dröhnen der<br />

neuen Straße ebenso <strong>heimat</strong>lich in den Ohren klingt wie<br />

früheren Generationen das Pfeifen der Dampflokomotive<br />

... ?<br />

Heimat und unser Verhältnis zur Heimat wandelt sich in der<br />

Geschichte. Selten ist Zeit so schnell geflossen wie in diesem<br />

Jahrhundert, selten drohte sie so ernsthaft zu überfließen.<br />

Die Generation, der ich angehöre, hat schon gelernt mit dem<br />

Überfluß zu leben. Überflüssig wurde auch Heimat: Neckermann<br />

verdrängte sie aus unseren Wohnstuben, das Fernsehen<br />

lieferte uns die Welt frei Haus, und das Auto brachte uns<br />

Italien näher als das Zellerhorn. Alte Holzfässer, Roßkummeter<br />

und Bauernschränke landeten auf dem Sperrmüll: man<br />

kann in einem reichen Arbeiterdorf auf Bauernkultur verzichten.<br />

Jetzt, nach dem Höhenflug des Wirtschaftswunders,<br />

will jeder wieder ein bißchen Bauer sein: man möbelt die alten<br />

Fässer auf, man trinkt wieder Most. Nur wer sich heute einen<br />

Dreschflegel übers offene Kamin hängen oder ein Spinnrad in<br />

die Diele stellen will, muß auf dem Antiquitätenmarkt tief in<br />

die Tasche greifen. Teure Heimat!<br />

Das Heimatmuseum bietet uns Heimat billiger - und anders.<br />

Wenn Heimat nicht nur romantische Natursehnsucht ist,<br />

sondern alltägliche Lebens- und Arbeitswelt, dann muß ein<br />

Heimatmuseum die sich wandelnden Lebensformen einer<br />

bestimmten Umgebung - in diesem Fall des Dorfes Jungingen<br />

- in ihrer geschichtlichen Entwicklung zeigen.<br />

Gehen wir von heute aus! Die alltägliche Lebenserfahrung<br />

der meisten Familien im heutigen Jungingen ist geprägt vom<br />

Gang des Vaters (oft auch der Mutter) zur Fabrik. Die<br />

gesamte Lebensorganisation - der Tagesablauf, die Urlaubsplanung,<br />

das Familienleben -, aber auch das, was sich als<br />

Heimatgefühl, Heimatbedürfnis in uns niederschlägt, hängt<br />

von dieser Voraussetzung ab. Gehen wir etwas mehr als 100<br />

Jahre zurück, dann finden wir in Jungingen nur ganz wenige<br />

Familien, deren Lebensrhythmus von Industriearbeit geprägt<br />

wurde: unter den Gründungsmitgliedern des Männergesangvereins<br />

1867 stehen ganze vier Namen, hinter denen sich -<br />

nicht ohne Stolz vermerkt - die Berufsbezeichnung »Mechaniker«<br />

findet - nur sie wußten bereits, was das ist: Fabrik<br />

(auch wenn die »obere Bude« damals noch eher einem,<br />

traditionellen Handwerksbetrieb mit ersten Ansätzen zur<br />

Mechanisierung glich). Die größte gemeinsame Erfahrungsgrundlage<br />

der Junginger vor 100 Jahren war dagegen bäuerliche<br />

Arbeit: alle Familien trieben Landwirtschaft. Und dennoch<br />

war Jungingen damals auch kein eigentliches Bauerndorf:<br />

1871 gingen 170 von rund 850 Einwohnern auf den<br />

18<br />

Hausierhandel, und an Handwerk hatte das Dorf fast alles,<br />

wessen es bedurfte: wenigstens 35 Familien lebten auf der<br />

Grundlage eines Handwerks- oder Gewerbebetriebes.<br />

Jungingen war also nie ein reines Bauerndorf. Einige Zahlen<br />

sollen die Bedeutung des Handwerks in der Geschichte<br />

unseres Dorfes deutlich machen. Im Stichjahr 1605 war für 26<br />

von etwa 70 Familien ein Handwerk die Lebensgrundlage,<br />

um 1760 für 40 von 120 Familien und um 1870 noch für 35<br />

von 170 Familien; Mitglieder von etwa 50 Familien gingen<br />

jetzt aber auf den Hausierhandel 2 .<br />

Handwerk und Gewerbe waren in Jungingen also jeweils<br />

überdurchschnittlich stark angesiedelt. Dies ist nicht schwer<br />

zu erklären: Die Böden der Junginger Gemarkung sind nicht<br />

die besten, und die landwirtschaftliche Nutzfläche war seit<br />

dem Mittelalter ungefähr dieselbe geblieben (anno 1544 483<br />

Morgen 3 , ungefähr 200 ha), während die Bevölkerung - mit<br />

Einschränkung des 30jährigen Krieges - stetig und schnell<br />

anwuchs. Um 1760 standen jeder Familie in Jungingen (bei<br />

120 Familien) im Schnitt nicht einmal mehr 2 ha Land zur<br />

Verfügung - das war zum Sterben zuviel, zum Leben aber<br />

zuwenig. Die jungen Familiengründer mußten sich also<br />

Lösungen der Überlebensfrage einfallen lassen.<br />

Der früheste Ausweg war eben das Erlernen eines Handwerks.<br />

Im 16. Jahrhundert war die Gemeinde zunächst noch<br />

gezwungen, Handwerker mit wichtigen Berufen von außen<br />

anzuwerben; sie griff dabei sogar direkt in die persönliche<br />

Freiheit ihrer Bewohner ein. 1610 oder 1611 war der Junginger<br />

Schmied Kientzler gestorben. Als sich die Witwe Barbara<br />

Daubenschmidin darauf wiederverheiraten wollte, verweigerte<br />

die Gemeinde dem zunächst Auserwählten das Bürgerrecht.<br />

Erst als die Witwe den heiratswilligen Schmied Hebich<br />

aus Wilflingen für sich gewonnen hatte, war man gerne<br />

bereit, ihn aufzunehmen. Auch den Metzger Rees mußte man<br />

um dieselbe Zeit den Burladingern abspenstig machen. Im<br />

18. Jahrhundert waren schließlich Mitglieder aus allen alteingesessenen<br />

Familien im Handwerk heimisch geworden; viele<br />

von ihnen verwalteten über Generationen hinweg die wichtigsten<br />

Betriebe: die Schuler als Wagner, die Bosch als<br />

Schmiede, die Riester als Schreiner, die Speidel und die<br />

Bumiller als Säger. Allerdings wurde Mitte des 18. Jahrhunderts<br />

schon deutlich, daß die Betriebe die weitverzweigten<br />

Familien nicht mehr ernähren konnten: um 1760 sollten von<br />

der oberen Säge vier geschwistrige Kindskinder mit ihrem<br />

zahlreichen Anhang leben, das war aber bei der Konkurrenz<br />

der unteren Säge und bei sinkendem Bedarf an Bauholz nicht<br />

mehr möglich.<br />

Diese Situation überfüllter Wirtschaftsstellen führte zur<br />

2. Lösung: Auswanderung. Aus Jungingen sind im 18. Jahrhundert<br />

nur acht Parteien ausgewandert, darunter auch<br />

Handwerker, im 19. Jahrhundert vielleicht noch einmal<br />

soviel. Dies ist gemessen an anderen Gemeinden nicht viel,<br />

denn die Junginger hatten inzwischen eine 3. Lösung gefunden:<br />

den Hausierhandel, dessen Zunahme seit dem ausgehenden<br />

18. Jahrhundert wohl den Rückgang der Handwerksstellen<br />

erklärt.<br />

Die zeitlich letzte, dafür aber zivilisationsgeschichtlich<br />

umwälzendste Lösung der Überlebensfrage stellte der Eintritt<br />

des Dorfes in das Industriezeitalter dar. Dieser bedeutenden<br />

Entwicklung in der Junginger Geschichte möchte ich<br />

einige Überlegungen widmen. Vom Ausgangspunkt der<br />

Überlebensfrage bis zur Industrie ist ein langer Weg, und es<br />

ist nicht ganz selbstverständlich, daß das Dorf gerade ihn<br />

einschlug. Wir können aber einige Stationen verfolgen. Als<br />

der 22jährige Ludwig Bosch 1852 seine Lehr- und Wanderjahre<br />

beendet hatte, brachte er nach Jungingen einen neuen<br />

Beruf mit: Mechaniker. Diese »Kunst« wies beträchtlich über<br />

das Handwerk des Vaters, der Dorfschmied war, und über

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