01/2017 KiGa-Heft
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Sommer 2<strong>01</strong>7 / Ausgabe 1<br />
Nahrung fürs Gehirn<br />
Margrit Stamm<br />
Yoga Schlaf<br />
Znüni Jesper Juul<br />
Elternpflichten<br />
Mikael Krogerus<br />
Stress Freies Spiel<br />
Fabian Grolimund<br />
Medienkonsum<br />
Kindergarten<br />
Endlich<br />
Chindsgi
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Editorial<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser<br />
Bild: ZVG<br />
Ruth Fritschi<br />
Schulische Heilpädagogin und<br />
Lehrperson Kindergarten,<br />
Mitglied der Geschäftsleitung<br />
Lehrerinnen und Lehrer<br />
Schweiz (LCH), Präsidentin<br />
der LCH-Stufenkommission<br />
4bis8<br />
Um Kinder zu erziehen,<br />
muss man verstehen,<br />
Zeit zu verlieren,<br />
um Zeit zu gewinnen.<br />
Jean-Jacques Rousseau<br />
Endlich in den Kindergarten!<br />
Ein grosser und bedeutsamer Schritt für Kind und Eltern. Und auch für uns Lehrpersonen<br />
der Stufe Kindergarten ist es jedes Jahr ein Start, der mit Spannung erwartet<br />
wird. Wie gut werden sich die Kinder dieses Jahr von den Eltern trennen können?<br />
Einige Kinder besuchten vorher eine Spielgruppe oder eine Kinderkrippe und sind sich<br />
bereits gewohnt, mit gleichaltrigen Kindern zusammen und von den Eltern getrennt<br />
zu sein. Andere verlassen zum ersten Mal regelmässig und für einen längeren Zeitraum<br />
das familiäre Umfeld. Allen Kindern eröffnet der Kindergarten einen neuen Lebens-,<br />
Spiel- und Erfahrungsraum und bringt neue Aufgaben und Herausforderungen<br />
mit sich.<br />
Mit dem Eintritt in den Kindergarten beginnt für das Kind die Bildungslaufbahn in der<br />
Volksschule. Das bedeutet, dass Ihr Kind in die erste Stufe der Volksschule eintritt und<br />
auf das schulische Lernen vorbereitet wird. Im Kindergarten spielen und lernen die<br />
Kinder gleichzeitig. Die Kinder lernen beim Beobachten, Nachahmen und Mitmachen<br />
und durch sinnliche Erfahrungen ganzheitlich. Wir Lehrpersonen im Kindergarten<br />
sind uns bewusst, dass die Entwicklungs- und Lernprozesse eines Kindes von den<br />
individuellen Voraussetzungen und von den Anregungen und der Unterstützung<br />
abhängen, die ein Kind erfährt.<br />
Wir freuen uns, wenn sich Ihr Kind schnell an den Kindergartenalltag<br />
gewöhnt und in der Gemeinschaft der neuen Kindergruppe einen Platz<br />
findet. Wir haben aber auch Verständnis, wenn die Eingewöhnung in den<br />
Kindergartenalltag etwas mehr Zeit und Ausdauer braucht. Hauptsache,<br />
wir sind in einem guten Dialog miteinander!<br />
Herzlichst – Ihre Ruth Fritschi<br />
Liebe Eltern<br />
Bild: Geri Born<br />
Nik Niethammer<br />
Chefredaktor<br />
Friedrich Wilhelm August Fröbel, ein deutscher Pädagoge und Schüler von Johann<br />
Heinrich Pestalozzi, gilt als Begründer des Kindergartens. Der erste entstand 1840 in<br />
Bad Blankenburg in Thüringen und löste die damals existierende «Kinderbewahranstalt»<br />
ab. Fröbels Idee vom Kindergarten ist heute so aktuell wie damals: Das beste<br />
Spielzeug eines Kindes ist ein anderes Kind. Das Kind lebt im Kindergarten in<br />
Gemeinschaft; nur das Leben in der Gemeinschaft bildet für das gemeinsame Leben.<br />
Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi,<br />
will Sie, liebe Eltern, in schönen wie in schwierigen Zeiten begleiten, Ihnen mit Rat<br />
und Informationen zur Seite stehen. In diesem Sonderheft zum Kindergarteneintritt<br />
erfahren Sie, an welchen Herausforderungen Ihr Kind in den nächsten Wochen<br />
und Monaten wachsen wird. Und wie Sie es dabei unterstützen können.<br />
Im Namen von Redaktion und Verlag wünsche ich Ihnen viel Lesevergnügen.<br />
Und Ihrem Kind ganz viel Spass und gute Freunde im Chindsgi.<br />
Herzlichst – Ihr Nik Niethammer<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>73
Inhalt<br />
Kindergarten / Sommer 2<strong>01</strong>7<br />
Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />
fritzundfraenzi.ch und<br />
facebook.com/fritzundfraenzi.<br />
Augmented Reality<br />
Dieses Zeichen im <strong>Heft</strong> bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert<br />
erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und<br />
Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />
Die Bilder in diesem <strong>Heft</strong> stammen von Carla Kogelmann.<br />
Die 56-jährige Niederländerin absolvierte vor ihrer Karriere<br />
als Fotografin eine Modeschule und war als Sozialarbeiterin<br />
und Theateragentin tätig. Für Ihr Porträt einer<br />
Biobauernfamilie erhielt sie 2<strong>01</strong>4 den World Press Photo<br />
Award in der Kategorie «People – Observed Portraits».<br />
www.carlakogelmann.nl<br />
Erziehung &<br />
Kindergarten<br />
06 Gut ankommen im Kindergarten<br />
Die Psychologen Fabian Grolimund und<br />
Stefanie Rietzler erklären, was im<br />
Kindergarten auf Ihr Kind zukommt und<br />
wie Sie es unterstützen können.<br />
10 Drei Fragen an Ruth Fritschi<br />
Ihr Kind geht nicht gerne in den<br />
Kindergarten? Ruth Fritschi, die oberste<br />
Kindergärtnerin der Schweiz, weiss Rat.<br />
Bild: Carla Kogelman / De Beeldunie<br />
Cover<br />
Das Titelbild von Carla<br />
Kogelmann stammt<br />
aus ihrer Fotoarbeit<br />
«Star Children». Die<br />
Fotografin hat die<br />
kleinen Protagonisten<br />
während Wochen<br />
begleitet.<br />
Bilder: Carla Kogelman / De Beeldunie, Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
4 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
14<br />
20<br />
28<br />
Margrit Stamm rät Eltern, nicht immer das<br />
zu tun, was ihr Kind gerade möchte.<br />
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul<br />
über die Zukunft unserer Kinder.<br />
Fünf Schlaftipps für müde<br />
Kindergartenkinder.<br />
14 «Eltern müssen mehr loslassen»<br />
Die Erziehungswissenschaftlerin<br />
Margrit Stamm über die Bedeutung<br />
des Kindergarteneintritts für die<br />
Entwicklung eines Kindes.<br />
20 Kolumne von Jesper Juul<br />
Der dänische Familientherapeut über<br />
den Unsinn, das Leben unserer Kinder<br />
zu verplanen.<br />
24 Stress im Kindergarten? Nein!<br />
Der Eintritt in den Kindergarten ist mit<br />
viel Stress für das Kind verbunden.<br />
Viele Kinder nutzen diesen Stress aber<br />
als Chance. Wir erklären, wie das geht.<br />
Gesundheit & Ernährung<br />
26 Purzelbaum, Hampelmann und Co.<br />
Immer wieder lesen wir, dass sich<br />
Kinder zu wenig bewegen würden und<br />
Probleme mit der Motorik hätten. Der<br />
Kinderarzt Sepp Holtz klärt auf.<br />
28 Gute Nacht!<br />
Der Kindergarten ist anstrengend und<br />
macht selbst die muntersten Kinder<br />
müde. Fünf Tipps, wie Ihr Kind zu<br />
genügend Schlaf kommt.<br />
32 Einer krank, alle krank<br />
Warum Kindergartenkinder so oft krank<br />
sind. Und wie Familien sich vor der<br />
Virensaison schützen können.<br />
36 Das Znüni, ein wichtiges Ritual<br />
Hungrige Kinder sind nicht<br />
leistungsfähig. Doch was packe ich<br />
meinem Kind in das Znüniböxli?<br />
38 Bewegung macht schlau<br />
Alles über den Einfluss von Bewegung<br />
auf unsere Leistung – und was genau<br />
unser Gehirn in Schwung bringt.<br />
42 Omm! Warum Yoga gut für Kinder ist<br />
Keiner zu klein, ein Yogi zu sein: Warum<br />
Kinderyoga plötzlich so beliebt ist. Ein<br />
Besuch in einer Kinderyogastunde.<br />
Medien<br />
46 Kleine Kinder brauchen kein Internet<br />
Warum schon Kindergartenkinder<br />
vom Smartphone fasziniert sind – und<br />
zehn Elterntipps für einen entspannten<br />
Umgang mit den neuen Medien.<br />
48 Das Smartphone als Babysitter?<br />
Die Medienpädagogin und dreifache<br />
Mutter Eveline Hipeli über Regeln und<br />
Verbote – und wie viel Medienkonsum<br />
für Kindergartenkinder zu viel ist.<br />
Service<br />
03 Editorial<br />
22 Abo<br />
27 «Was ich im Kindergarten gelernt<br />
habe»<br />
Unser Kolumnist Mikael Krogerus blickt<br />
zurück.<br />
50 Elternpflichten<br />
Der Kindergarten bringt für Eltern<br />
einiges an Organisation und Pflichten<br />
mit. Das alles kommt auf Sie zu.<br />
54 «Juhui, ich gehe in den Chindsgi»<br />
Eine Kindergärtnerin schildert ihren<br />
ersten Tag mit den neuen<br />
Kindergartenkindern.<br />
56 Alles, was Eltern wissen müssen<br />
Ausgewählte Bücher, Informationen,<br />
Studien und Links.<br />
58 Eine Liebeserklärung<br />
Unsere Autorin erinnert sich an ihre<br />
Kindergartenzeit – und erzählt, wie viel<br />
Schönes ihre eigenen Kinder im<br />
Chindsgi erleben und erlebt haben.<br />
59 Sponsoren/Impressum<br />
Ausgabe 2 des Kindergartenheftes<br />
erscheint im Frühjahr 2<strong>01</strong>8.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>75
Gut ankommen<br />
im Kindergarten<br />
Der Eintritt in den Kindergarten ist ein grosser Schritt<br />
aus der Geborgenheit der Familie in eine neue, unbekannte Welt.<br />
Es warten zahlreiche Herausforderungen, an denen Ihr Kind<br />
wachsen wird. Auf den folgenden Seiten erfahren Sie, wie Sie<br />
Ihr Kind dabei begleiten können. Text: Stefanie Rietzler, Fabian Grolimund<br />
6 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Erziehung & Kindergarten<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>77
Nun ist es also so weit:<br />
Ihr Kind ist im Kindergarten.<br />
Eine<br />
neue, aufregende<br />
Welt tut sich auf und<br />
bringt viele Veränderungen mit sich.<br />
Ist Ihr Kleines «tatsächlich schon so<br />
gross»?<br />
Für Ihr Kind und auch für Sie<br />
beginnt ein neuer Lebensabschnitt,<br />
der viele schöne, aber auch herausfordernde<br />
Momente mit sich bringt.<br />
Sie werden neue Seiten an Ihrem<br />
Kind entdecken und staunen, was<br />
sich in den nächsten zwei Jahren<br />
alles tun wird.<br />
Ein neuer Lebensabschnitt<br />
mit vielen schönen,<br />
aber auch herausfordernden<br />
Momenten beginnt.<br />
Eine neue Bezugsperson tritt ins<br />
Leben Ihres Kindes<br />
Im Kindergarten weitet sich das<br />
Beziehungsnetz des Kindes. Es ge <br />
winnt eine neue Bezugsperson hinzu<br />
und lernt, sich dieser anzuvertrauen.<br />
Für viele Kinder wird die<br />
Kindergärtnerin zu einem immens<br />
wichtigen Menschen, der einen grossen<br />
Stellenwert einnimmt. Sie beobachten<br />
sie, lernen von ihr, wollen ihr<br />
etwas mitbringen und zitieren zu<br />
Hause, «was Frau X» dazu meinen<br />
würde.<br />
Das ist – auch wenn es für manche<br />
Eltern nicht ganz einfach ist,<br />
wenn jemand Fremdes plötzlich so<br />
wichtig wird – etwas Schönes, das<br />
das Kind stärkt.<br />
Bis es so weit ist, muss sich das<br />
Kind jedoch eingewöhnen und die<br />
Kindergärtnerin kennenlernen. Für<br />
manche Kinder ist die damit verbundene<br />
Ablösung von den Eltern<br />
mit grossem Stress verbunden. Sie<br />
weinen, wenn sich Mutter oder<br />
Vater verabschieden, klammern sich<br />
an sie und fragen in den ersten<br />
Wochen ständig, wann der Kindergarten<br />
zu Ende ist und die Eltern<br />
endlich wiederkommen.<br />
Gerade für Kinder, die bisher<br />
noch nie fremdbetreut worden sind,<br />
ist es ungewohnt, dass die Eltern<br />
nicht da sind, um sie zu beruhigen<br />
und zu trösten.<br />
Den Abschied erleichtern<br />
Wenn sich Kinder unsicher fühlen,<br />
suchen sie nach Halt und Nähe. Sie<br />
können als Eltern im Kindergarten<br />
zwar nicht direkt vor Ort für Ihr<br />
Kind da sein – dennoch können Sie<br />
eine Menge tun, um ihm ein gutes<br />
Gefühl zu geben.<br />
Kindern fällt es leichter, sich auf<br />
die Kindergärtnerin einzulassen<br />
und eine Beziehung zu ihr aufzubauen,<br />
wenn ihnen die Eltern vermitteln:<br />
«Du bist hier in guten Händen<br />
und wir trauen dir diesen Schritt<br />
zu.»<br />
Oftmals ist es hilfreich, wenn die<br />
Kinder anfangs nicht ganz alleine im<br />
Kindergarten bleiben «müssen»,<br />
sondern ein geliebtes Kuscheltier an<br />
ihrer Seite wissen oder einen kleinen,<br />
persönlichen Gegenstand der<br />
Eltern mitnehmen dürfen. Als<br />
Elternteil können Sie Ihrem Kind<br />
und seinem Kuscheltier einen schönen<br />
Vormittag im Kindergarten<br />
wünschen und sich liebevoll von<br />
beiden verabschieden.<br />
Eine klare Verabschiedung ist wichtig.<br />
Es ist ein Vertrauensbruch, wenn<br />
sich die Eltern in einem unbeobachteten<br />
Moment wegstehlen. Ebenfalls<br />
schwierig ist es, wenn sich die Eltern<br />
selbst nicht lösen können und noch<br />
im Gang oder in der Garderobe stehen<br />
bleiben, um zu schauen, «ob das<br />
Kind es schafft». Der Übergang fällt<br />
leichter, wenn sich die Eltern mit<br />
einer Umarmung oder einem Kuss<br />
verabschieden und sich dann innerlich<br />
sagen: «Ab jetzt ist die Kindergärtnerin<br />
zuständig.»<br />
Teilweise haben Kinder auch<br />
mehr Ruhe, wenn der Tagesablauf<br />
8
Erziehung & Kindergarten<br />
im Vorfeld besprochen wird und sie<br />
wissen, von wem sie abgeholt werden<br />
und was danach gemacht wird.<br />
Die meisten Kinder entwickeln in<br />
der neuen Umgebung rasch ein<br />
Gefühl von Sicherheit. Sie orientieren<br />
sich an den Strukturen und dem<br />
Tagesablauf, wissen, dass die Eltern<br />
wiederkommen, und schöpfen Vertrauen<br />
in die Kindergärtnerin. Da <br />
bei darf man sich als Eltern auch<br />
darauf verlassen, dass die Kindergärtnerinnen<br />
viel Erfahrung im<br />
Umgang mit dieser Situation mitbringen<br />
und die Kinder unterstützen<br />
können.<br />
Es gibt ab und zu Kinder, die diesen<br />
Schritt kaum schaffen. Für Eltern ist<br />
es furchtbar, wenn sie den Eindruck<br />
haben, dass ihr Kind am Verzweifeln<br />
ist und den ganzen Vormittag lang<br />
weint oder in der Ecke sitzt und wartet.<br />
In diesem Fall empfiehlt es sich,<br />
mit der Kindergärtnerin zu reden.<br />
In manchen Fällen merkt man, dass<br />
die Sorgen unbegründet sind und<br />
sich das Kind nach einigen Momenten<br />
fängt und sich auf die Gruppe<br />
einlassen kann.<br />
Falls es vorkommt, dass sich das<br />
Kind nicht beruhigen lässt, kann<br />
man auch vereinbaren, dass >>><br />
Die meisten Kinder<br />
entwickeln in der neuen<br />
Umgebung rasch ein Gefühl<br />
von Sicherheit.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>79
Im Kindergarten wird Ihr Kind<br />
lernen, sich auf verschiedene<br />
andere Kinder einzustellen.<br />
>>> man es zu Beginn nach einiger<br />
Zeit wieder abholt oder man als<br />
Elternteil noch eine Weile bleiben<br />
und für sich etwas abseits vom<br />
Geschehen ein wenig lesen darf.<br />
Wenn ein Kind diesen Schritt trotz<br />
der Begleitung und Unterstützung<br />
durch die Bezugspersonen noch<br />
nicht schafft, kann dies ein Hinweis<br />
darauf sein, dass es noch nicht reif<br />
ist für den Kindergarten.<br />
Ein Ort voll neuer Gesichter und<br />
Spielgefährten<br />
In der Kindergartengruppe treffen<br />
nicht einfach 25 Kinder aufeinander,<br />
sondern 25 Persönlichkeiten mit<br />
unterschiedlichen Bedürfnissen,<br />
Charakterzügen, Stärken und<br />
Schwächen, Interessen und Spielvorlieben.<br />
Ihr Kind wird lernen, sich in<br />
dieser Vielfalt zurechtzufinden und<br />
sich auf verschiedenste Kinder einzustellen.<br />
Es entwickelt und verfeinert<br />
seine sozialen Kompetenzen<br />
weiter, lernt Kontakt aufzunehmen,<br />
sich in laufende Gruppenaktivitäten<br />
einzuklinken und über Spiele und<br />
Abmachungen zu verhandeln.<br />
Dabei geht es nicht immer harmonisch<br />
zu. Es entwickeln sich<br />
Sympathien und Antipathien, Konflikte<br />
und Rivalitäten. Das kann für<br />
Sie als Eltern schwierig sein. Gleichzeitig<br />
ist es für Ihr Kind ein wichtiges<br />
Lernfeld, um sich abzugrenzen<br />
und gleichzeitig die Grenzen anderer<br />
zu akzeptieren. Es muss Wege<br />
finden, um sich mit anderen zu einigen,<br />
Konflikte zu lösen und sich<br />
wieder zu versöhnen.<br />
Auch für Kinder, die bereits eine<br />
Krippe besucht haben, ist diese<br />
3 FRAGEN<br />
«Jedes Kind<br />
reagiert auf den<br />
Eintritt anders»<br />
Frau Fritschi, wie können Eltern ihr Kind<br />
unterstützen?<br />
Indem sie loslassen. Das bedeutet, zu<br />
akzeptieren, dass neue Bezugspersonen<br />
ins Leben des eigenen Kindes treten.<br />
Loslassen heisst auch, dem eigenen Kind<br />
etwas zuzutrauen. Wenn es mit neuen<br />
Ideen kommt, diese auszuprobieren, es<br />
machen zu lassen. Loslassen müssen<br />
Eltern auch beim selbständigen Handeln.<br />
Handlungen sollten nicht zu schnell<br />
vorweggenommen werden, nur damit<br />
etwas schneller geht. Es muss üben, um<br />
selbständig werden zu können. Und: Wenn<br />
ihr Kind von Konflikten berichtet, nicht<br />
gleich das eigene Kind in Schutz nehmen,<br />
sondern einfühlsam nachfragen, wie sich<br />
denn das Ganze zugetragen hat. Wichtig<br />
für einen gelingenden Einstieg ist auch<br />
genügend Schlaf. Und am Morgen<br />
genügend Zeit, um gut im Kindergarten<br />
anzukommen. Ich empfehle auch,<br />
Stille-Zeit im Alltag einzuführen, zum<br />
Beispiel eine Zimmerstunde nach dem<br />
an Ruth Fritschi, Kindergärtnerin<br />
Mittagessen. Viele Kinder müssen üben,<br />
zur Ruhe zu kommen und sich selber zu<br />
beschäftigen.<br />
Wie verändert sich das Kind nach dem<br />
Eintritt?<br />
Nicht jedes Kind reagiert auf den Eintritt in<br />
den Kindergarten gleich. Was sicher für die<br />
meisten Kinder zutrifft: dass sie müde und<br />
beansprucht zu Hause ankommen. Es<br />
kommt immer wieder vor, dass sich die<br />
Kinder beim Ankommen zu Hause<br />
schwierig und impulsiv verhalten, weil die<br />
Energie durch den Kindergarten-Halbtag<br />
aufgebraucht ist. Dazu gibt es verschiedene<br />
Tipps, doch zeigt die Erfahrung, dass<br />
die Eltern für ihr Kind die eigene Lösung<br />
finden müssen. Eltern berichten auch,<br />
dass die Sprache und der Umgang mit<br />
anderen Kindern anfangs gröber werden.<br />
Für die meisten Kinder hat es einen<br />
gewissen Reiz, auszutesten, was passiert,<br />
wenn sie sich auch mal so verhalten. Es<br />
gilt, zu Hause die «frechen» Wörter oder<br />
grobe Verhaltensweisen abzulehnen. Mit<br />
der Zeit pendelt sich dies ein.<br />
Was tun, wenn das Kind nicht (mehr) in<br />
den Chindsgi gehen will?<br />
Da werden wohl einige Ideen ausprobiert<br />
werden müssen:<br />
• Mit einem anderen Elternteil organisieren,<br />
dass ein Kiga-Gspänli klingeln und<br />
es abholen kommt.<br />
• Papi/Götti oder eine andere Bezugsperson<br />
begleitet für eine Phase den<br />
Schulweg (zu Fuss).<br />
• In Absprache mit der Kindergartenlehrperson<br />
darf das Kigakind sein Lieblings-<br />
Plüschtier mitnehmen.<br />
• Die Teamteachings-Lehrperson oder die<br />
Schulische Heilpädagogin holt das Kind<br />
zu Hause ab.<br />
Das Gespräch mit der Kindergarten-Lehrperson<br />
zu suchen, ist in jedem Fall wichtig.<br />
Vielleicht hat die Verweigerung einen<br />
Grund, den man beseitigen kann, indem<br />
man individuell auf das Kind eingeht.<br />
Zur Person<br />
Ruth Fritschi ist Heilpädagogin und<br />
Kindergärtnerin, Präsidentin der<br />
LCH-Stufenkommission 4bis8 und Mitglied<br />
der Geschäftsleitung des Dachverbandes<br />
Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH. Sie<br />
lebt in Basel.<br />
10 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Erziehung & Kindergarten<br />
Erfahrung neu. Da nun eine Betreuungsperson<br />
für so viele Kinder<br />
zuständig ist, gewinnen die Gleichaltrigen<br />
an Bedeutung. Nicht immer<br />
kann ein/e Erwachsene/r zur Stelle<br />
sein, und so bietet sich jedem Kind<br />
die Gelegenheit, Verantwortung zu<br />
übernehmen, Unterstützung anzubieten,<br />
Hilfe anzunehmen und einander<br />
Trost zu spenden. Oft wachsen<br />
in dieser Zeit die ersten tiefen<br />
Freundschaften, die das Kind<br />
manchmal sogar über die Schulzeit<br />
hinaus begleiten.<br />
Manchen Kindern fällt es schwer,<br />
sich in der neuen Gruppe einzufinden.<br />
Einige sind schüchtern und<br />
finden keinen Anschluss. Andere<br />
spielen sich in den Vordergrund,<br />
dominieren die Spielsituation und<br />
stossen damit andere Kinder vor<br />
den Kopf. Einige Kinder sind<br />
schlichtweg überreizt vom Trubel,<br />
vom Lärm und von der Vielzahl an<br />
neuen Erfahrungen. Wenn sie nach<br />
Hause kommen, wirken sie oftmals<br />
erschöpft oder aufgedreht und<br />
aggressiv.<br />
Das Kind zur Ruhe kommen lassen<br />
Für Ihr Kind bedeutet diese Umstellung<br />
eine grosse Anpassungsleistung.<br />
Auch wenn der Tag im Kindergarten<br />
mit vielen schönen und<br />
spannenden Momenten verbunden<br />
ist, ist es für Ihr Kind anstrengend.<br />
Es geht ihm ähnlich wie uns Erwachsenen,<br />
wenn wir uns beispielsweise<br />
in eine neue Stelle einarbeiten. Auch<br />
wenn wir uns im Team wohl fühlen,<br />
einen guten Draht zur Vorgesetzten<br />
haben und die Aufgaben uns Freude<br />
bereiten, sind wir abends geschafft.<br />
Sie sind Ihrem Kind eine grosse<br />
Hilfe, wenn Sie zu Hause für Erholungsräume<br />
sorgen. Manche Kinder<br />
geniessen es, wenn sie im Detail von<br />
den Erlebnissen im Kindergarten<br />
erzählen dürfen und ihre Eltern<br />
ihnen dabei ein offenes Ohr schenken.<br />
Andere reagieren eher allergisch<br />
auf die Frage «Was habt ihr<br />
heute gemacht?». Sie möchten nach<br />
dem Kindergarten in Ruhe zu Hause<br />
ankommen dürfen und geniessen<br />
es, wenn sie sich von einem Hörspiel<br />
berieseln lassen, für sich etwas spielen<br />
und in der Nähe der Eltern sein<br />
dürfen, ohne reden zu müssen.<br />
Zeit und Raum für neue<br />
Freundschaften schaffen<br />
Neben dem Bedürfnis, sich zu erholen,<br />
wird ein zweiter Wunsch stärker:<br />
Die meisten Kinder möchten neue<br />
Kontakte, die sie im Kindergarten<br />
knüpfen, in der Freizeit vertiefen.<br />
Eltern machen ihrem Kind ein grosses<br />
Geschenk, wenn sie bewusst darauf<br />
achten, dass das Kind genügend<br />
Zeit und Möglichkeiten dazu bekommt.<br />
Freundschaften vertiefen<br />
sich am besten im freien Spiel, wenn<br />
ein unverplanter Nachmittag vor<br />
ihnen liegt, den die Kinder mit ihren<br />
Interessen, Neigungen und Spielideen<br />
füllen können. Sie profitieren<br />
dabei von Eltern, die da sind, ohne<br />
sich aufzudrängen. Es eröffnet auch<br />
Ihnen als Eltern neue Freiheiten,<br />
wenn Sie merken: Ich kann im<br />
Wohnzimmer meine E-Mails beantworten,<br />
während die Kinder im<br />
Nebenzimmer Lego bauen, Puppenmamas<br />
mimen oder im Garten eine<br />
widerliche Zauberbrühe anrühren.<br />
Der Weg mit den anderen ist eine<br />
wichtige Kontaktmöglichkeit. Falls<br />
Sie Angst haben, Ihr Kind alleine<br />
zum Kindergarten gehen zu lassen:<br />
Nutzen Sie Angebote wie den Schulbus<br />
oder Pedibus. Es mag bequemer<br />
sein, das Kind am Morgen mit dem<br />
Auto in den Kindergarten zu bringen,<br />
aber man raubt ihm dadurch<br />
viele wichtige Momente.<br />
Kleine Hilfestellungen für ein gutes<br />
Miteinander<br />
Für Kinder, die im sozialen Bereich<br />
Schwierigkeiten haben, ist der Kindergarten<br />
ein wunderbares Lernumfeld.<br />
Sie lernen soziale Kompetenzen<br />
am besten, indem sie andere beobachten.<br />
Manche Kinder profitieren<br />
dabei von Erwachsenen, die sie<br />
gezielt dazu anregen, von anderen<br />
zu lernen, und sie auf soziale Zusammenhänge<br />
hinweisen.<br />
Kindergärtnerinnen nutzen dies<br />
sehr häufig, indem sie beispielsweise<br />
zu einem schüchternen Kind sagen:<br />
«Schau mal, Nadine sieht immer<br />
wieder zu dir rüber – ich glaube, sie<br />
würde gerne mit dir spielen.» Oder<br />
«Guck mal: Murat und Lara ziehen<br />
gerade ‹Tempo, kleine Schnecke›<br />
hervor. Das ist doch viel lustiger zu<br />
dritt.» Damit weisen sie das Kind auf<br />
Kontaktsignale von anderen Kindern<br />
hin und ermutigen dazu, auf<br />
diese einzugehen.<br />
Auch Kinder, die sich wild, un <br />
gestüm oder dominant ver >>><br />
Kinder möchten die<br />
neu gewonnenen Kontakte in<br />
der Freizeit vertiefen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>711
Erziehung & Kindergarten<br />
>>> halten, können dazu angeleitet<br />
werden, sozia le Zusammenhänge<br />
besser wahrzunehmen. Dazu ist es<br />
hilfreich, nach gelungenen Momenten<br />
und guten Beispielen Ausschau<br />
zu halten: «Jetzt hat sich Francesco<br />
aber gefreut, dass du ihn hast entscheiden<br />
lassen.» «Ich weiss, du<br />
wolltest gerne noch weiterschaukeln.<br />
Schau mal, wie froh Tamara ist,<br />
dass sie jetzt dran ist.» Oder: «Es ist<br />
schwierig, wenn man so lange warten<br />
muss, bis man an der Reihe ist,<br />
Viele Eltern staunen über den<br />
grossen Entwicklungssprung<br />
ihrer Kinder im ersten<br />
Kindergartenjahr.<br />
gell? Du machst das schon richtig<br />
gut.»<br />
Diese kleinen Hilfen können Sie<br />
auch als Eltern gut in den Alltag einbauen,<br />
beispielsweise wenn Sie mit<br />
Ihrem Kind auf dem Spielplatz sind<br />
oder es Zeit mit dem Geschwister<br />
verbringt.<br />
Viele neue Anforderungen<br />
Viele Eltern sind erstaunt über den<br />
grossen Entwicklungssprung, den<br />
ihre Kinder im ersten Kindergartenjahr<br />
machen. Der Kindergartenalltag<br />
bietet dem Kind eine Vielzahl von<br />
Lernmöglichkeiten. Im Stuhlkreis<br />
werden Kinder dazu angeregt, anderen<br />
zuzuhören, zu warten, Geduld<br />
zu haben und sich auszudrücken. In<br />
der Bastelecke haben sie Gelegenheit,<br />
ihre Feinmotorik zu trainieren,<br />
ihre Kreativität auszuleben und Ausdauer<br />
zu entwickeln. Die Puppenecke<br />
erlaubt es ihnen, in komplexe<br />
Rollenspiele einzutauchen, die Perspektive<br />
von anderen kennenzulernen,<br />
sich einzufühlen und andere für<br />
ihre Ideen zu begeistern. Die Gruppe<br />
ist ein wichtiger Impulsgeber: Die<br />
Kinder fordern sich gegenseitig,<br />
dienen als Vorbilder und bieten sich<br />
zum Vergleich an.<br />
Für viele Kinder ist es neu, dass<br />
so viel auf einmal von ihnen gefordert<br />
wird: Plötzlich sollen sie eine<br />
Aufgabe fertig machen, auch wenn<br />
ihnen die Lust daran vergangen ist.<br />
Sie müssen sich an Regeln und<br />
Abläufe halten, die vielleicht von<br />
dem abweichen, was zu Hause gilt.<br />
Manche sind zum ersten Mal ausserhalb<br />
des familiären Kokons, in dem<br />
jeder Entwicklungsschritt mit Be <br />
geisterung aufgenommen und jede<br />
Zeichnung bewundert wird. Stattdessen<br />
befindet es sich in einer<br />
Gruppe mit Gleichaltrigen, die<br />
manches schlechter, aber manches<br />
auch besser können. Es muss die<br />
Aufmerksamkeit der Kindergärtnerin<br />
mit anderen teilen und damit<br />
umgehen lernen, dass es für diese<br />
ein Kind unter vielen ist.<br />
Im Laufe des Kindergartens stellt<br />
sich das Kind all diesen Herausforderungen.<br />
Manchmal werden Sie<br />
sich als Eltern über die Fortschritte<br />
freuen und stolz sein, manchmal<br />
werden Sie sich vielleicht auch Sorgen<br />
machen und sich fragen, ob Ihr<br />
Kind das alles schafft.<br />
Für Kinder ist es bedeutsam, dass<br />
sie merken: Meine Eltern trauen mir<br />
etwas zu und begleiten mich. Dabei<br />
bilden sie ein Team mit meiner Kindergärtnerin,<br />
die sie mögen und<br />
respektieren.<br />
12 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Dieser Gedanke ist gerade auch dann<br />
wichtig, wenn Ihnen die Kindergärtnerin<br />
zur Entwicklung Ihres Kindes<br />
Rückmeldung gibt und Sie auf Stärken,<br />
aber auch auf Punkte hinweist,<br />
die Ihrem Kind noch schwerfallen.<br />
Während Sie Ihre Tochter bzw. Ihren<br />
Sohn am besten kennen, kennt die<br />
Kindergärtnerin Kinder dieser<br />
Altersstufe am besten. Sie hat auch<br />
die Aufgabe, den Entwicklungsstand<br />
des Kindes einzuschätzen und ihre<br />
Beobachtungen mit Ihnen zu teilen.<br />
Es ist hilfreich, wenn Sie davon ausgehen,<br />
dass die Kindergärtnerin<br />
ebenso wie Sie als Eltern das Beste<br />
für Ihr Kind will.<br />
Wir wünschen Ihnen und Ihrem<br />
Kind einen guten Start in dieses<br />
spannende Abenteuer.<br />
>>><br />
Stefanie Rietzler<br />
Fabian Grolimund<br />
sind Psychologen und leiten die Akademie für<br />
Lerncoaching in Zürich. Sie sind Autoren der<br />
Bücher «Mit Kindern lernen» und «Erfolgreich<br />
lernen mit ADHS». Die beiden eint der Wunsch,<br />
dass Kindergarten und Schule Orte sind, wo<br />
sich Kinder, Eltern und Lehrpersonen wohl<br />
fühlen und voneinander lernen können.<br />
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Fritz+Fränzi-App,<br />
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in unserer Serie «Starkes<br />
Kind», wie man Kindern<br />
richtig zuhört.<br />
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Erziehung & Kindergarten<br />
14 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Erziehung & Kindergarten<br />
«Eltern müssen<br />
mehr loslassen»<br />
Der Eintritt in den Kindergarten bringt für Eltern und ihr Kind viele<br />
Veränderungen. Die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin<br />
Margrit Stamm über die Kindergartenbereitschaft, welche<br />
Heraus forderungen ein Kind zu meistern hat und was Eltern tun<br />
können, damit ihr Sohn oder ihre Tochter sich im Kindergarten<br />
wohl fühlt. Interview: Claudia Landolt<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>715
Erziehung & Kindergarten<br />
Frau Stamm, wie können Eltern ihr<br />
Kindergartenkind unterstützen?<br />
Indem sie sich auf den Rhythmus<br />
und die Bedürfnisse ihres Kindes<br />
einstellen. Für manche Mütter und<br />
Väter mag das «bünzlig» tönen, denn<br />
schliesslich fügen sich viele Kinder<br />
problemlos in die Agenda ihrer<br />
Eltern ein. Dennoch: Um sich an die<br />
neuen Strukturen zu gewöhnen,<br />
braucht ein Kind viel, viel Zeit.<br />
Was sind die grössten Herausforderungen<br />
für ein Kind beim Eintritt in<br />
den Kindergarten?<br />
Die Eingewöhnung in eine grosse,<br />
heterogene Gruppe und die Fähigkeit,<br />
sich zurückzuhalten, seine<br />
Bedürfnisse zu kontrollieren oder<br />
aufzuschieben und mit seinen Frustrationen<br />
umzugehen, stellen die<br />
grössten Aufgaben für ein Kindergartenkind<br />
dar. Manchmal kommen<br />
noch Schwierigkeiten bei den<br />
sprachlichen und motorischen<br />
Fähigkeiten hinzu. Diese Fähigkeiten<br />
sind die Basis für die Entwicklung<br />
eines guten Selbstwertgefühls,<br />
dank ihnen kann das Kind gut in<br />
einer Gruppe bestehen. Wenn es<br />
diesen Übergang schafft, wird es<br />
zukünftige herausfordernde Situationen<br />
gut und erfolgreich meistern<br />
können.<br />
Es gibt den Begriff «Kindergartenreife».<br />
Wann ist denn ein Kind kindergartenreif?<br />
Das Wort mag ich nicht so. Ich spreche<br />
lieber von «Kindergartenbereitschaft»,<br />
weil ich der Ansicht bin, dass<br />
Kriterien für den Kindergarteneintritt<br />
diskutiert werden sollten.<br />
Manche Eltern erhalten mit der<br />
Anmeldung in den Kindergarten ein<br />
Merkblatt, auf welchem steht, was das<br />
Kind schon können sollte. Das sorgt<br />
bei vielen Eltern für Verunsicherung.<br />
Ja, vor allem, wenn das Merkblatt als<br />
eine Art Forderungskatalog verstanden<br />
wird. Es kommt also sehr darauf<br />
an, wie man ein solches Papier formuliert.<br />
Ich wünsche mir zudem,<br />
dass man sich nicht erst bei der<br />
Anmeldung mit dem Kindergarteneintritt<br />
beschäftigt, sondern viel früher;<br />
in der Familie, der Spielgruppe,<br />
in der Kita und auch in der kinderärztlichen<br />
Praxis. Aus der Forschung<br />
wissen wir, dass die Weichen für<br />
einen positiven Kindergarteneintritt<br />
schon viel früher gestellt werden.<br />
«Lassen Sie Ihrem<br />
Kindergartenkind<br />
Zeit, sich an die<br />
neuen Strukturen<br />
zu gewöhnen.»<br />
Was sind denn die Kriterien der<br />
Kindergartenbereitschaft?<br />
Erstens: dass ein Kind lernt, mit<br />
anderen Kindern in einer grösseren<br />
Gruppe zurechtzukommen, ohne<br />
dass eine erwachsene Person ständig<br />
eingreifend oder unterstützend zur<br />
Stelle ist. Die Kinder müssen lernen,<br />
selber etwas auszutragen. Zweitens:<br />
die Fähigkeit, sich in diese Gruppe<br />
einzufügen. Lernen zu warten. Ein<br />
Bedürfnis aufzuschieben. Zu akzeptieren,<br />
dass man etwas anderes<br />
machen soll, als man selber gerade<br />
möchte. Drittens: ein gewisses Mass<br />
an Selbständigkeit. Ich höre aus Kindergärten<br />
immer wieder, dass es den<br />
kleineren Kindern Mühe bereitet,<br />
den Reissverschluss ihrer Jacke zuzuziehen<br />
oder die Schuhe anzuziehen.<br />
Das Anziehen ist im Kindergarten<br />
wichtig, weil die Kinder oft nach<br />
draussen gehen. Wenn das Kind diese<br />
Dinge einigermassen gut kann,<br />
wirkt das positiv auf sein Selbstbewusstsein.<br />
Wie können Eltern dabei helfen?<br />
Solche Dinge kann man bewusst und<br />
spielerisch üben oder das Kind dazu<br />
anleiten. Es ist wichtig, dass das Kind<br />
merkt, dass Mama oder Papa nicht<br />
alles für es tut. Natürlich weiss ich,<br />
dass Fertigkeiten wie Anziehen oder<br />
Zähneputzen im hektischen Alltag<br />
oft genau in jenen Momenten gefordert<br />
sind, in denen es schnell gehen<br />
muss. Genau deshalb sollte man das<br />
an freien Tagen mit dem Kind üben.<br />
Man täte ihm damit einen grossen<br />
Gefallen.<br />
Und was können Eltern tun, damit das<br />
Kind sich in einer heterogenen Gruppe<br />
anpassen lernt?<br />
Eltern sollten ihr Kind so erziehen,<br />
dass es lernt, seine Bedürfnisse in<br />
gewissen Zeiten unterzuordnen. Die<br />
Bedürfnisse eines Kindes sollten<br />
nicht dauernd im Zentrum stehen.<br />
Man sollte also nicht immer das tun,<br />
was das Kind gerade möchte. Eltern<br />
müssen sich bewusst sein, dass im<br />
Kindergarten Kinder aus den unterschiedlichsten<br />
Schichten und Kulturen<br />
aufeinandertreffen. Kinder, die<br />
sich sonst nie begegnen würden.<br />
Hinzu kommt: Es sind viel mehr<br />
Kinder als in der Kita oder in der<br />
Spielgruppe, manchmal bis zu 20,<br />
teilweise auch ältere Kinder.<br />
Seit der Stichtag des Kindergarteneintritts<br />
auf den 31. Juli vorverlegt wurde,<br />
stellen viele Eltern ihr Kind ein Jahr<br />
zurück. Was halten Sie davon?<br />
Wenn Eltern ihr Kind zurückstellen,<br />
müssen sie verschiedene Faktoren<br />
berücksichtigen. Ein zurückgestelltes<br />
Kind braucht eine anspruchsvolle,<br />
seinem Niveau entsprechende<br />
Betreuung, um so angeregt zu werden,<br />
damit es sich nicht langweilt.<br />
Zweitens ist es problematisch, wenn<br />
Eltern ihr Kind lediglich aufgrund<br />
eigener Bedürfnisse zurückstellen,<br />
etwa weil Betreuung und familiäre<br />
Organisation vor dem Kindergarteneintritt<br />
einfacher sind. Und drittens<br />
ist es kritisch, wenn Eltern ihr Kind<br />
16 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
zurückbehalten, weil sie sagen, das<br />
Kind solle noch Kind sein, der Ernst<br />
des Lebens komme dann noch früh<br />
genug.<br />
Warum?<br />
Weil man nie weiss, wie schnell sich<br />
Kinder entwickeln. Manchmal ist es<br />
bereits nach drei Monaten so weit,<br />
dass es in den Kindergarten gehen<br />
könnte. Gerade in diesem Alter<br />
machen Kinder enorm viele Fortschritte,<br />
manchmal innert Wochen.<br />
Nun muss es aber ein Jahr warten.<br />
Das ist für nicht wenige Kinder entschieden<br />
zu lang.<br />
Fänden Sie denn eine flexible Einschulung<br />
besser?<br />
Ich betone immer wieder, dass der<br />
Kindergarteneintritt so flexibel ge <br />
staltet werden müsste wie etwa der<br />
Kitaeintritt. Das Kind sollte langsam<br />
in den Kindergarten eingewöhnt und<br />
so unterstützt werden, zum Beispiel<br />
durch ein grösseres Kind, das als<br />
Gotti oder Götti fungiert, ihm alles<br />
zeigt, hilft und ihm beiseitesteht.<br />
Eine langsame Angewöhnungsphase<br />
wäre gerade für unsichere oder<br />
schüchterne Kinder sehr positiv.<br />
In Ihrer FRANZ-Studie heisst es, dass<br />
der Kindergarteneintritt in der Regel<br />
ohne Probleme verläuft. Bei 52 Prozent<br />
der Kinder aber gebe es Dissonanzen.<br />
Welche sind das?<br />
Wer beim Kindergarteneintritt Probleme<br />
hat, hat diese schon viel früher<br />
entwickelt. Genau deshalb plädiere<br />
ich bezüglich der Kindergartenbereitschaft<br />
für einen bewussteren<br />
«Wer beim<br />
Kindergarteneintritt<br />
Probleme hat, hat<br />
diese schon viel<br />
früher entwickelt.»<br />
Umgang und eine kommunikative<br />
Arbeit. Die grössten Probleme beim<br />
Kindergarteneintritt sind sozialer<br />
Natur.<br />
Können Sie das ausführen?<br />
Schüchternheit oder Angst zum Beispiel<br />
vor einem älteren Kind. Oder<br />
dann gibt es Kinder, die enorm vorpreschen<br />
oder grob sind, andere<br />
Kinder schlagen, anrempeln oder<br />
beissen. Schliesslich gibt es auch die<br />
übertriebene Unselbständigkeit,<br />
hervorgerufen durch Überbehütung.<br />
Nennen Sie uns ein Beispiel.<br />
Die Unfähigkeit, im Kindergarten<br />
das Täschli zu suchen, etwas zu versorgen<br />
oder aufzuräumen.<br />
Gibt es weitere Schwierigkeiten?<br />
Dass sich Kinder emotional noch<br />
nicht so verhalten, wie es von einem<br />
vierjährigen Kind zu erwarten wäre.<br />
Dass sie beispielsweise nicht mehr<br />
aufhören zu schreien oder zu weinen,<br />
dass sie untröstlich sind, wenn<br />
sie etwas nicht bekommen, sich am<br />
Boden wälzen und gar nicht an <br />
sprechbar sind. Ich nenne das emotionale<br />
Retardierung, also eine verzögerte<br />
emotionale Entwicklung.<br />
Wie äussert sich diese sonst noch?<br />
Kinder können kaum warten, bis sie<br />
etwas bekommen, reagieren mit<br />
Wutausbrüchen. Tisch decken oder<br />
den Briefkasten leeren? Darauf<br />
haben sie keine Lust. Mit Kritik kommen<br />
sie schlecht zurecht und Misserfolge<br />
können sie kaum ertragen.<br />
Solches Verhalten ist im Kleinkindalter<br />
normal, aber ein vier- bis fünfjähriges<br />
Kind sollte ein gewisses<br />
Mass an Bewältigungsverhalten<br />
haben und seine Gefühle teilweise<br />
kontrollieren können.<br />
Wie merke ich, dass mein Kind<br />
emotio nal retardiert ist?<br />
Wenn es emotional nicht auf dem<br />
Niveau von anderen ist und kindlicher<br />
reagiert, als zu erwarten wäre.<br />
Ich bin keine Psychologin, aber ich<br />
denke, für ein knapp vierjähriges<br />
Kind ist Unzufriedenheit oder Wut<br />
als Reaktion relativ normal. Es muss<br />
erst noch lernen, zu warten. Von<br />
einem Fünfjährigen aber kann man<br />
dies erwarten. Diese Angaben sind<br />
mit Vorsicht zu geniessen: Kinder<br />
entwickeln sich im Vorschulalter<br />
enorm und sehr unterschiedlich.<br />
«Eltern sollten nicht<br />
immer das tun,<br />
was ein Kind gerade<br />
möchte.»<br />
Kinder sind verschieden.<br />
Natürlich. Es gibt verschiedene Temperamente.<br />
Ein ansprechbares, führbares<br />
und liebenswürdigeres Kind<br />
hat es im Kindergarten sicher einfacher<br />
als eines, das rebelliert, in Frage<br />
stellt, eigenwillig ist, nicht zuhört.<br />
Was kann Familien dann helfen?<br />
Eltern mögen Rezepte. Aber es wäre<br />
falsch, ihnen diese zu geben, denn<br />
dann würden sie anfangen, ihr Kind<br />
an diesen Massstäben zu messen. Ich<br />
plädiere dafür, eine gute Intuition zu<br />
entwickeln. Dann merkt man in der<br />
Regel schon, wo ein Kind steht.<br />
Wie entstehen diese Retardierungen?<br />
Unsere Daten und andere Forschungen<br />
zeigen, dass ein angemessenes<br />
Verhalten sich langsam entwickelt.<br />
Entsprechend müsste man das Verhalten<br />
früher angehen, in der Kita,<br />
der Spielgruppe, in der Familie oder<br />
bei den Hütepersonen.<br />
Und was kann man tun?<br />
Auf keinen Fall überreagieren. Es<br />
gibt immer mehr Interventionszentren<br />
für schwierige Kinder. Sie sind<br />
Ausdruck dessen, wie sehr man den<br />
Eltern den Therapieblick aufdrängt.<br />
Kein Wunder, wenn sie dann alles<br />
auslagern und wegen jeder Kleinigkeit<br />
in den Notfall gehen. Besser<br />
wären gute Beratungsstellen für<br />
Eltern mit niederschwelligen Angeboten,<br />
die aus einem sogenannt<br />
schwierigen Kind kein stigmatisiertes<br />
Kind machen. Denn das ist die<br />
grosse Gefahr unserer Gesellschaft:<br />
dass wir Kinder, die in Behandlung<br />
waren, langfristig abstempeln.<br />
Was können Eltern tun, wenn ihr Kind<br />
ausgesprochen schüchtern ist?<br />
Es gibt viele Kinder mit einer sehr<br />
starken Mutterbindung. Sie >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>717
Erziehung & Kindergarten<br />
>>> können sich fast nicht lösen der emotionalen und sozialen Kompetenz.<br />
vom Mami. In solchen Beratungssettings<br />
könnte man dies angehen,<br />
ohne dass Eltern das Gefühl haben<br />
müssten, mit ihrem Kind stimme<br />
etwas nicht. Schüchternheit ist häufig<br />
etwas ganz Normales, das sich<br />
auswächst.<br />
Die Verschulung der Kindergärten verschärft<br />
diese Problematik noch.<br />
Unter anderem deshalb, weil die<br />
frühkindliche Bildung so betont<br />
wird. Frühkindliche Bildung meint<br />
in der Forschung die Förderung aller<br />
Sinne, also auch die emotionale<br />
Kompetenz oder Selbstkompetenz<br />
und nicht nur die intellektuellen<br />
Fähigkeiten. Aber in der Gesellschaft<br />
und in der Politik wird unter früher<br />
Bildung ausschliesslich Schulvorbereitung<br />
verstanden. Also Lesen und<br />
Rechnen lernen.<br />
Viele Eltern sagen stolz: Mein Kindergartenkind<br />
kann schon lesen!<br />
Wir leben in einer Gesellschaft, die<br />
den Frühbereich sehr betont. Auch<br />
die Wirtschaft spricht von Humankapital.<br />
Es gilt das ungeschriebene<br />
Gesetz: Kinder, die früh gefördert<br />
werden, sind später erfolgreich. In<br />
extremis führt das dazu, dass Eltern<br />
mit Unverständnis reagieren, wenn<br />
sie hören, dass ihr Kind kognitiv<br />
zwar weit entwickelt ist, aber emotional<br />
etwas hinterherhinkt. Sie sind<br />
Diesen Zusammenhang ken<br />
nen viele Eltern nicht.<br />
Wie entsteht Leistung?<br />
Kinder, die gelernt haben, zu warten,<br />
sind später erfolgreicher. Hinzu<br />
kommt: Jede kognitive Leistung in<br />
der Schule ist immer ein Konglomerat<br />
von Kompetenzen. Schulerfolg<br />
oder gute Noten basieren immer auf<br />
einem Fundament, das aus den so <br />
zia len, emotionalen und schulischen<br />
Kompetenzen des Kindes besteht,<br />
welche von den Eltern unterstützt<br />
und gefördert werden. Treiben El <br />
tern ihre Kinder an, entwickeln sich<br />
diese Kompetenzen nicht wie erhofft.<br />
Eltern müssten mehr loslassen.<br />
Ist das nicht das Schwierigste in der<br />
Erziehung überhaupt?<br />
Absolut. In den eigenen Spiegel zu<br />
sehen, tut weh. Insbesondere, wenn<br />
das Kind Misserfolge hat. Denn jeder<br />
Misserfolg des Kindes ist ein Misserfolg<br />
der Eltern – zumindest erleben<br />
sie das so. Man muss als Eltern<br />
sehr stark sein, hinter dem Kind<br />
stehen, es ein wenig führen und doch<br />
loslassen. Das ist schwer und der<br />
unangenehmste Teil der Erziehung:<br />
einzusehen, dass das Kind, das man<br />
selbst geboren hat, einem nicht<br />
gehört, und vielleicht Eigenschaften<br />
hat, die man sich nicht gewünscht<br />
hat. Das war bei mir nicht anders.<br />
Wie meinen Sie das?<br />
Ich empfand unseren Sohn als sehr<br />
«Erfolg im Beruf schwierig. Er hat mich immer wieder<br />
ist nicht die Folge herausgefordert, mich mit mir selber<br />
konfrontiert. Ich musste einsehen:<br />
von möglichst Man kann ein Kind nicht schleifen<br />
vielen Förderkursen wie einen Diamanten. Das funktioniert<br />
nur selten.<br />
im Kleinkindalter.» Man gewöhnt sich den Defizitblick an.<br />
Ja, gerade die sogenannt schwierigen<br />
dann der Meinung: Aber das Wichtigste<br />
ist doch, dass es schon Rechnen<br />
und Lesen kann! Das ist fatal,<br />
denn aus der Forschung weiss man<br />
heute, dass Schul-, Berufs- und<br />
Lebenserfolge nicht primär von<br />
einem hohen Intelligenzquotienten<br />
und vielen Frühförderkursen abhängen,<br />
sondern ebenso vom Ausmass<br />
Kinder schaut man viel schneller aus<br />
diesem Blickwinkel an, wenn man<br />
entdeckt, dass sie eine Eigenschaft<br />
haben, die man nicht mag. Dann<br />
konzentriert man sich nur noch darauf.<br />
Wie kann ich ein langsames<br />
Kind dazu anhalten, schneller zu<br />
werden? Wenn man es antreibt, trödelt<br />
es noch mehr und es endet, wie<br />
erwartet, in Tränen. Dabei wäre es<br />
so wichtig, die vielen anderen positiven<br />
Eigenschaften des Kindes zu<br />
sehen und zu betonen.<br />
Und zu loben?<br />
Lob ist eine zweischneidige Sache.<br />
Man soll das Kind nur für das loben,<br />
was es macht oder kann oder wozu<br />
es sich gerade überwunden hat, eine<br />
«Lob für eine<br />
Eigenschaft ist<br />
unnötig. Loben Sie<br />
Ihr Kind nur für<br />
das, was es macht.»<br />
Anstrengung zum Beispiel. Lob für<br />
eine Eigenschaft ist dagegen unnötig.<br />
So vermeidet man, dass das Kind<br />
auf Lob angewiesen ist.<br />
Was soll das Kind tun, wenn es nach<br />
dem Kindergarten heimkommt?<br />
Der Kindergarten ist für Kinder sehr<br />
anspruchsvoll. Die Präsenzzeiten<br />
sind hoch. Pendeln Kinder zwischen<br />
Hort und Kindergarten hin und her,<br />
bedeutet das eine zusätzliche Belastung.<br />
Nicht wenige Kindergartenkinder<br />
haben damit im ersten Jahr<br />
Probleme. Haben Kindergartenkinder<br />
frei, sollten sie sich erholen, und<br />
zwar ohne Programm.<br />
Wie meinen Sie das?<br />
Das Kind soll dann machen können,<br />
was es will: lesen, spielen, rausgehen,<br />
Nanny-Studie<br />
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Margrit Stamm! Sind Sie Mutter resp. Vater und haben<br />
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18 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Anzeige<br />
herumtollen. Kein Programm, kein<br />
Erledigungsmodus.<br />
Frei spielen also.<br />
Genau. Ich wohne in einem kinderreichen<br />
Quartier und sehe, wie oft<br />
die Kinder draussen spielen. Bis fast<br />
zur Oberstufe ist das so. Das ist vorbildlich.<br />
Kinder würden noch sehr<br />
lange spielen, wenn man sie liesse.<br />
Sie sind eine vehemente Verfechterin<br />
des freien Spiels.<br />
Absolut. Das freie Spiel hat das ganze<br />
Leben eine grosse Bedeutung, es<br />
ist für die Erholung enorm wichtig.<br />
Doch leider passt es nicht in unsere<br />
so zielorientierte Erwachsenenwelt,<br />
in der Zeit ein kostbares Gut ist. Das<br />
finde ich sehr schade.<br />
>>><br />
Zur Person<br />
Margrit Stamm ist emeritierte Professorin an der<br />
Universität Freiburg und Direktorin des<br />
Forschungsinstituts Swiss Education in Bern. Ihre<br />
Forschungsschwerpunkte liegen in der Begabung,<br />
der Qualität in der Berufsbildung und der Förderung<br />
von Migrantenkindern. Zudem untersucht sie in einer<br />
laufenden Studie unter Müttern deren Erfahrungen mit<br />
der Delegation von Erziehungsarbeiten an Nannys. Ihr<br />
Studium der Pädagogik, Psychologie und Soziologie<br />
begann die ausgebildete Primarlehrerin erst als<br />
35-Jährige. Margrit Stamm ist Mutter von zwei<br />
erwachsenen Kindern und lebt mit ihrem Mann in Aarau.<br />
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Kolumne<br />
Die Zukunft Ihres Kindes ist jetzt!<br />
Eltern planen, organisieren, sorgen sich. Völlig unnötig, meint unser Kolumnist Jesper Juul.<br />
Denn dieses Verantwortungsgefühl entferne uns von unseren Kindern. Viel zentraler sei<br />
der wahrhaftige Umgang zwischen uns und unseren Töchtern und Söhnen.<br />
Jesper Juul<br />
ist Familientherapeut und Autor<br />
zahlreicher internationaler Bestseller<br />
zum Thema Erziehung und Familien.<br />
1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />
nach dem Schulabschluss zur See, war<br />
später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />
und Barkeeper. Nach der<br />
Lehrerausbildung arbeitete er als<br />
Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />
und bildete sich in den Niederlanden<br />
und den USA bei Walter Kempler zum<br />
Familientherapeuten weiter. Seit 2<strong>01</strong>2<br />
leidet Juul an einer Entzündung der<br />
Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />
Rollstuhl.<br />
Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />
Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />
Ehe geschieden.<br />
Seit Jahrhunderten schon<br />
haben Eltern versucht, die<br />
Zukunft ihrer Kinder zu<br />
planen. Es gab viel, worüber<br />
sie sich Sorgen machten.<br />
Bis zu einem gewissen Mass<br />
waren sie dabei Geiselnehmer der<br />
kindlichen Individualität und<br />
Zukunft. «Alles, was wir wollen, ist,<br />
dass du glücklich bist!», lautet gewissermassen<br />
das jahrzehntelange elterliche<br />
Mantra. Im 21. Jahrhundert<br />
gewinnen die sozialen Ambitionen<br />
der Eltern beträchtlich an Bedeutung.<br />
Und zwar so viel, dass es an<br />
der Zeit ist, sich einige grundlegende<br />
und ethische Fragen zu stellen.<br />
Welche Rolle spielen Kinder im<br />
Leben ihrer Eltern – und deren eigenem?<br />
Was möchten Sie als Eltern?<br />
Wollen Sie einfach, dass Ihr Kind<br />
glücklich ist? Denken Sie oft über die<br />
Ausbildung und die Karriere Ihres<br />
Kindes nach? Was sind Ihre grössten<br />
Sorgen? Welche Träume gibt es für<br />
Eltern wünschen sich<br />
selbstkompetente Kinder.<br />
Es ist der beste Schutz gegen<br />
die Gefahren<br />
und Risiken des Lebens.<br />
die Zukunft Ihres Kindes – und<br />
inwieweit beeinflussen Ihre Träume<br />
Ihr Kind? Wie wichtig ist es Ihnen,<br />
dass Ihr Kind zu einem gesunden<br />
und kompetenten Menschen heranwächst?<br />
Wir müssen uns darauf besinnen,<br />
dass Kinder zu bekommen ein sehr<br />
egoistisches Projekt ist. Wir bekommen<br />
Kinder nicht der Kinder wegen,<br />
sondern in der Hoffnung, dass sie<br />
unser Leben bereichern werden.<br />
Sobald ein Kind geboren ist, sinkt<br />
unsere Selbstsucht und steigt das<br />
Interesse an der Sorge um das Kind.<br />
Als Eltern schwankt man oft zwischen<br />
zwei Extremen: «Du bist mein<br />
Kind und ich entscheide!» und<br />
«Mein Kind ist mein Leben!». Zwischen<br />
diesen beiden Polen gibt es<br />
Eltern mit einer ausgewogenen Einstellung.<br />
Unabhängig davon, wie ein Kind<br />
geboren wird und welche Träume<br />
und Ängste Eltern beschäftigen, gibt<br />
es unzählige Dinge, die Familien<br />
richtig machen können – und noch<br />
mehr, die missverstanden werden<br />
könnten. Dennoch gibt es einen<br />
Grund für unser Verhalten: Eltern<br />
wünschen sich, dass ihre Kinder im<br />
Alter von 20 Jahren physisch gesund<br />
sind und über gute psychosoziale<br />
Kompetenzen verfügen, damit sie<br />
fähig sind, mit sich selbst und anderen<br />
zurechtzukommen.<br />
Dieses Ziel gilt für alle Kinder,<br />
egal unter welchen Umständen und<br />
in welches Umfeld sie geboren werden.<br />
Ein selbstkompetentes Wesen<br />
zu sein, ist die Voraussetzung fürs<br />
Lernen, sowohl in der Schule als<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
20 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
auch vom Lebens selbst. Es ist der<br />
optimale Schutz gegen jegliche Art<br />
von Gefahr oder Risiken, welche die<br />
Zukunft bringen könnte. Es ist<br />
ausserdem das Beste, um Abhängigkeiten,<br />
Missbrauch, Gewalt, Essstörungen<br />
und vieles mehr zu verhindern.<br />
Und es ist weitaus effektiver,<br />
als Grenzen zu setzen, Regeln, Strafen,<br />
moralische Aufrüstung oder<br />
Beurteilungen und alles andere zu<br />
betreiben, das wir gemeinhin als<br />
Präventionsmassnahmen erachten.<br />
Trotzdem sind wir noch weit von<br />
diesem Ziel entfernt. In vielerlei<br />
Hinsicht geht es Erwachsenen und<br />
Kindern heute besser als je zuvor.<br />
Wenn wir allerdings unsere psychische<br />
und soziale Gesundheit be <br />
trachten, sieht es anders aus.<br />
Die Statistiken sprechen eine klare<br />
Sprache: Missbrauch und Abhängigkeit<br />
nehmen zu, ebenso die Zahl<br />
jener Kinder und Jugendlichen in<br />
psychologischer Behandlung. Der<br />
Verbrauch an Medikamenten ist<br />
erschreckend hoch. Der Traum<br />
einer Wohlstandsgesellschaft, die<br />
Sorge zu unserer Gesundheit und<br />
Lebensqualität trägt, hat sich also in<br />
einen Albtraum verwandelt. Die<br />
einzige brauchbare Lösung ist deshalb:<br />
persönliche Verantwortung.<br />
Die Wichtigkeit des Selbstwerts<br />
Der bestmögliche Schutz, physisch<br />
und psychisch gesund zu sein,<br />
besteht aus den folgenden Teilen:<br />
• Ein gesundes Gefühl seines Selbst<br />
und die Erfahrung, uns als wertvoll<br />
für die Menschen zu fühlen,<br />
die wir lieben. Das Gefühl, dass<br />
wir okay sind. Wir es wert sind,<br />
geliebt zu werden, genau so, wie<br />
wir sind – hier und jetzt.<br />
• Die Möglichkeit, unser Leben in<br />
vollem Umfang zu leben, unser<br />
Potenzial bestmöglich zu entfalten,<br />
auf intellektueller, emotionaler<br />
und psychischer Ebene. All das<br />
unterstützt unseren Selbstwert.<br />
Diese Qualitäten entwickeln sich in<br />
erster Linie innerhalb der Familie.<br />
Es ist ein ernsthaftes Problem für die<br />
heutigen Kinder, dass ihre Eltern die<br />
Freizeit der Kinder mit externen<br />
Anregungen überfrachten. Die Folge<br />
davon sind Kinder, die von<br />
Unterhaltungsprogrammen überstimuliert<br />
sind. Sie haben weder ge <br />
lernt noch wissen sie, wie sie ihren<br />
Weg in ihr Innerstes finden können<br />
– jenen Ort, wo die unverfälschte<br />
Kreativität verborgen liegt.<br />
Wenn nun Eltern zu alldem auch<br />
noch Ambitionen und Ziele für die<br />
Zukunft ihres Kindes hegen, so wird<br />
Folgendes passieren. Zuerst entsteht<br />
ein hoher Stressfaktor. Kinder können<br />
im Grunde mehr Stress aushalten<br />
als Erwachsene, aber nur wenn<br />
sie gelernt haben, sich auch zu entspannen.<br />
Das bedeutet, die Fähigkeit<br />
zu haben, innezuhalten und<br />
dem, was im Inneren passiert, Aufmerksamkeit<br />
zu schenken. Das<br />
bezeichnet man heute als «Achtsamkeit».<br />
Nun denkt aber das Kind: «Wenn<br />
die Erwachsenen ständig mit den<br />
nächsten Schritten meiner Entwicklung<br />
beschäftigt sind, dann fühle ich<br />
mich nicht okay, so wie ich jetzt<br />
gerade bin.» Genau diese Beschäftigung<br />
mit dem Leben, der Laufbahn<br />
und dem Lernprozess des Kindes<br />
durch seine Eltern verhindert, dass<br />
es ein gutes Gefühl für sich selbst<br />
entwickeln und an seine Fähigkeiten<br />
glauben kann.<br />
Das Selbstwertgefühl ist aber ein<br />
weitaus wichtigerer Schutz als das<br />
Selbstvertrauen, das ich mir durch<br />
das Erlernen verschiedenster Fähigkeiten<br />
aneigne. Gerade für Kinder,<br />
die sich aus irgendeinem Grund<br />
anders als andere fühlen, ist ein<br />
gutes Selbstwertgefühl von besonderer<br />
Bedeutung.<br />
Das bedeutet, dass die Ambitionen,<br />
die Eltern für ihre Kinder<br />
hegen, letztlich scheitern müssen.<br />
Oder kennen Sie jemanden über 45,<br />
dem Selbstvertrauen oder Statussymbole<br />
sein Leben, seine Beziehungen<br />
oder sein Familienleben<br />
bereichert haben? Ich bin sicher, die<br />
Antwort lautet «nein».<br />
Jeder Mensch braucht einen<br />
Zufluchtsort für Geist<br />
und Körper: Das ist das<br />
Hier und Jetzt.<br />
Egal, wen wir fragen, Hirnforscher,<br />
Naturwissenschaftler, die sich mit<br />
der Gesundheit und dem Wohlbefinden<br />
befassen, Geisteswissenschaftler,<br />
Pädagogen oder Entwicklungspsychologen<br />
– sie alle kommen<br />
zum gleichen Schluss: Es ist nichts<br />
daran auszusetzen, sich Ziele zu setzen<br />
oder einen Traum zu verfolgen.<br />
Ohne einen Zufluchtsort zu haben,<br />
den das «Hier und Jetzt» dem Geist,<br />
dem Körper und der Seele bietet,<br />
könnte vieles fehlschlagen. Aussergewöhnliche<br />
Leistungen brauchen<br />
die Fähigkeit, sich auf das Hier und<br />
Jetzt zu konzentrieren. So wie eine<br />
gute persönliche Beziehung die<br />
Fähigkeit braucht, präsent und aufmerksam<br />
zu sein.<br />
Zu viel Erziehung<br />
Im Moment sind Kinder einem<br />
Zuviel an «Erziehung» ausgesetzt.<br />
Die unübersehbare Folge dessen ist,<br />
dass «Erziehung» immer mehr an<br />
Einfluss verliert und unerheblich<br />
wird, ja sogar kontraproduktiv. Wieder<br />
erfahren Kinder, dass sie zu<br />
Werkzeugen ihrer Eltern wurden,<br />
um ein öffentliches und persönliches<br />
Image zu schaffen. Ungefähr 50 Prozent<br />
der Kinder unterliegen den<br />
elterlichen Bedürfnissen, während<br />
die andere Hälfte ihre Eltern herausfordert.<br />
Die Anzahl der Kinder mit<br />
sogenanntem «unbegründetem<br />
Ärger» oder «oppositionellem Syndrom»<br />
steigt.<br />
Wieso setzen sich manche Kinder<br />
ihren Eltern entgegen oder werden<br />
wütend? Weil Eltern zu ihnen >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>721
Kolumne<br />
>>> sagen: «Wenn du es nicht für<br />
uns tust, wirst du niemals ein<br />
anständiger Mensch werden!» Diese<br />
Aussage ist eine elementare<br />
Deklaration des Misstrauens in die<br />
natürliche Fähigkeit und den<br />
Wunsch eines Kindes, zu kooperieren.<br />
Und es ist auch ein Versuch,<br />
seine Zukunft zu kontrollieren. Die<br />
meisten Eltern sind immer noch<br />
nicht daran interessiert, was Kinder<br />
wirklich denken und was sie fühlen.<br />
Sie sind mehr daran interessiert, wie<br />
Verbringen Sie viel Zeit mit<br />
Ihrem Kind – nehmen Sie es<br />
so wahr, wie es ist.<br />
Und seien Sie persönlich.<br />
Kinder zu denken und zu fühlen<br />
haben. Das schwächt den Selbstwert<br />
des Kindes enorm. Manche von<br />
ihnen entwickeln eine erlernte Hilflosigkeit.<br />
Eine neue Welt wird sich Ihnen<br />
öffnen<br />
Es ist gleichermassen einfach wie<br />
schwierig: Verbringen Sie viel Zeit<br />
mit Ihrem Kind – vorzugsweise ohne<br />
sogenanntes «Lernspielzeug». Sie<br />
müssen gar nichts sagen. Sitzen Sie<br />
still, beobachten Sie und Sie werden<br />
etwas Neues über Ihr Kind erfahren.<br />
Versuchen Sie nicht, es zu belehren<br />
oder es zu erziehen. Nehmen Sie es<br />
einfach so wahr, wie es ist, und seien<br />
sie persönlich. Eine neue Welt wird<br />
sich Ihnen öffnen.<br />
– Wenn Ihr Kind zu Ihnen sagt:<br />
«Mir ist soooo langweilig!», machen<br />
Sie sich keine Sorgen. Es gibt keinen<br />
Grund, sich für die Langeweile Ihres<br />
Kindes schuldig zu fühlen oder<br />
einen Veranstaltungs- oder Beschäftigungskatalog<br />
zu inszenieren, denn<br />
dieser würde ohnehin zurückgewiesen<br />
werden. Schenken Sie Ihrem<br />
Kind ein freundliches Lächeln und<br />
sagen Sie ihm: «Gratuliere dir, mein<br />
Kind, es wird spannend sein, zu<br />
sehen, welche Ideen du haben<br />
wirst.»<br />
Langeweile dauert kaum länger<br />
als 20 Minuten. Das ist die Zeit, die<br />
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Schnupperabo (5 Ausgaben) 20 Franken<br />
1 Ausgabe zum Kennenlernen
ein Mensch braucht, um sich von<br />
den äusseren Anregungen zu lösen,<br />
sich mit sich selbst und seiner eigenen<br />
Kreativität zu verbinden. Versuchen<br />
Sie es einmal selbst, wenn Sie<br />
sich innerlich unruhig fühlen (das<br />
ist jener Zustand, den Kinder «langweilig»<br />
nennen): Schalten Sie Ihr<br />
Handy, Ihren Computer und Ihr<br />
Fernsehgerät aus und lassen Sie sich<br />
überraschen, was passiert.<br />
• Wenn Sie mit Ihrem Kind spielen,<br />
so lassen Sie Ihr Kind die Initia tive<br />
ergreifen anstatt die Beschäftigung<br />
zu steuern.<br />
• Wenn Sie ihr Kind zu Bett bringen,<br />
erzählen Sie von Ihrem Tag.<br />
Fragen Sie Ihr Kind nicht, wie sein<br />
Tag war – es wird es Ihnen automatisch<br />
erzählen.<br />
• Es gibt keinen Grund, sich vor<br />
Stille oder Pausen zu fürchten –<br />
beides ist gut für die Atmosphäre.<br />
Versuchen Sie, sich weniger verantwortlich<br />
zu fühlen. Das, was<br />
Sie als Ihre Verantwortlichkeit als<br />
Eltern erachten, wird einer echten<br />
Verbindung zwischen Ihnen und<br />
Ihrem Kind im Weg stehen. Wenn<br />
Sie eine persönliche Beziehung<br />
entwickeln möchten, müssen sie<br />
sich selbst dem Kind zeigen, sich<br />
offenbaren und verletzlich sein.<br />
Jede Minute und jede Stunde, in der<br />
sie in diesem Sinne mit Ihrem Kind<br />
in Beziehung stehen, wird seinen<br />
seelisch-leiblichen Schutz stärken.<br />
Folglich müssen Sie sich nicht um<br />
die Zukunft sorgen, denn Sie bauen<br />
damit eine gesunde Beziehung zwischen<br />
Ihnen auf. Es wird Ihnen beiden<br />
gut tun – viel besser als jegliche<br />
präventive Massnahme, die Sie sich<br />
vorstellen können.
Neu im Chindsgi –<br />
und schon gestresst<br />
Lena ist seit zwei Wochen im Kindergarten. Sie ist unruhig und kann<br />
sich schlecht konzentrieren. Sie meidet das Spiel mit anderen<br />
Kindern und reagiert aggressiv auf Annäherungen. Warum reagiert<br />
Lena so? Bereitet ihr der Kindergarten eintritt Stress?<br />
Text: Nadine Messerli-Bürgy<br />
Kinder sind bereits im<br />
Kindergartenalter<br />
Stress ausgesetzt und<br />
reagieren mit Unsicherheit,<br />
Aggression<br />
oder Unruhe. Der erlebte Stress<br />
kann unterschiedliche Gründe<br />
haben: Tägliche kleinere Belastungen,<br />
grosse Belastungssituationen<br />
oder lebensverändernde Ereignisse<br />
wie ein Kindergarteneintritt können<br />
für Kinder in diesem Alter durchaus<br />
stressig sein.<br />
Stress beeinflusst die Entwicklung<br />
des Kindes<br />
Für uns Menschen entsteht Stress,<br />
wenn eine Situation als Herausforderung<br />
erlebt wird. Wir sind ge <br />
stresst, wenn eine Situation unsere<br />
Ressourcen und Möglichkeiten, mit<br />
der Situation umzugehen, übersteigt<br />
und von uns eine Anpassung an diese<br />
herausfordernde Situation verlangt<br />
wird. Diese Anpassung zeigt<br />
sich in unserem Körper (angespannt<br />
sein, höheren Puls haben, schneller<br />
Stress entsteht aus<br />
herausfordernden Situationen<br />
und lebensverändernden<br />
Ereignissen.<br />
atmen usw.), unseren emotionalen<br />
Reaktionen (verärgert, verängstigt,<br />
besorgt sein) und in unserem Verhalten.<br />
Stress kann durch kurz- oder<br />
langfristige Herausforderungen entstehen<br />
und kann die kindliche Entwicklung<br />
negativ beeinflussen.<br />
Kinder aus lang anhaltenden<br />
oder schweren Belastungssituationen<br />
wie Lebensereignisse oder ge <br />
häufte Konfliktsituationen in der<br />
Familie zeigen häufiger Verhaltensauffälligkeiten.<br />
Man weiss heute,<br />
dass ein Verlust einer nahestehenden<br />
Person, ein Unfall, aber auch ein<br />
Umzug oder der Verlust eines ge <br />
liebten Haustieres bereits beim Vorschulkind<br />
Stress auslösen kann und<br />
bei einem gehäuften Auftreten solcher<br />
Belastungen sich Verhaltensauffälligkeiten<br />
zeigen können. Weiter<br />
haben Kinder aus Familien mit<br />
finanziellen Schwierigkeiten, mit<br />
psychisch kranken Familienmitgliedern,<br />
hohem Stresserleben der<br />
Eltern, wenig unterstützendem Er <br />
ziehungsstil der Eltern oder Vernachlässigung<br />
ein erhöhtes Risiko<br />
für Verhaltensauffälligkeiten.<br />
Eingeschränkte Stressregulation<br />
führt zu Verhaltensauffälligkeiten<br />
Es ist jedoch nicht die stressige Situation<br />
selbst, die zu Verhaltensauffälligkeiten<br />
führt. Vielmehr ist es die<br />
fehlende Anpassungsfähigkeit an die<br />
Herausforderung der Stresssituation.<br />
Diese Anpassungsfähigkeit wird<br />
auch als Stressregulationsfähigkeit<br />
verstanden. Sie bestimmt, wie stark<br />
und wie lange eine Situation von uns<br />
als stressig erlebt wird. Das Temperament<br />
des Kindes, aber auch die<br />
Unterstützung durch die Eltern und<br />
bisherige Erfahrungen mit Belastungssituationen<br />
legen fest, wie erfolgreich<br />
die Stressregulationsfähigkeit<br />
des Kindes ist.<br />
So ermöglichen verschiedene<br />
kleinere Herausforderungen dem<br />
Kind, diese Stressregulationsfähigkeit<br />
zu entwickeln und damit die<br />
Anpassungsfähigkeit auf spätere<br />
Herausforderungen stetig zu verbessern.<br />
In diesem Zusammenhang<br />
spricht man auch von einer Kalibrierungsphase<br />
der Stressregulation.<br />
Diese Kalibrierung kann nur stattfinden,<br />
wenn das Kind in verschiedenen<br />
kleinen bis mittleren Herausforderungen<br />
die Möglichkeit hat,<br />
sich im Umgang mit Stress zu üben<br />
und neue Strategien zu erlernen.<br />
Ohne diese kleinen herausfordernden<br />
Ereignisse im Leben eines Kindes<br />
sind eine spätere erfolgreiche<br />
Stressregulation und damit eine<br />
adäquate Anpassung an grössere<br />
Belastungssituationen nicht möglich.<br />
24 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Erziehung & Kindergarten<br />
Studie zur kindlichen Stressregulation<br />
im Kindergartenalter<br />
Die Stressregulation entwickelt sich in der<br />
frühen Kindheit und kann sich unter<br />
verschiedenen Bedingungen verändern. Ein<br />
Team der Universität Freiburg untersucht ab<br />
2<strong>01</strong>8, wie sich die Stressregulationsfähigkeit<br />
beider Elternteile positiv auf die kindliche<br />
Stressregulation auswirken kann. Die Studie<br />
interessiert sich für Risiko- und Schutzfaktoren<br />
der kindlichen Stressregulation und deren<br />
Einfluss auf die Entwicklung von<br />
Verhaltens auffälligkeiten, die bisher in dieser<br />
Form nicht untersucht wurden. Im Fokus stehen<br />
die Veränderung der Stressregulation während<br />
des Kindergarteneintritts und die<br />
Zusammenhänge von kindlichen und elterlichen<br />
Faktoren in dieser Lebensphase.<br />
Haben Sie an der Studie Interesse und<br />
möchten mehr darüber erfahren?<br />
Schreiben Sie an: nadine.messerli@unifr.ch.<br />
Wir freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme.<br />
Während dieser Kalibrierungsphase<br />
kann ausgeprägter Stress auch zu<br />
einer Verschlechterung der Stressregulation<br />
führen. Traumatisierungen<br />
oder Missbrauchserfahrungen,<br />
Vernachlässigung der Eltern, häufige<br />
Konfliktsituationen und schwere<br />
Lebensereignisse sind Stresssituationen,<br />
die das Kind überfordern und<br />
reduzieren die Stressregulationsfähigkeit.<br />
Als Folge zeigen Kinder<br />
durch diese psychische Überbelastung<br />
ein höheres Risiko für Verhaltensauffälligkeiten.<br />
Der Kindergarteneintritt: Belastung<br />
oder Chance?<br />
Eltern erleben ihre Kinder während<br />
des Kindergarteneintritts oft als verändert.<br />
Die Kinder sind häufig<br />
gestresst. Er ist für viele Kinder ein<br />
einschneidender Moment, der mit<br />
viel Neuem und Unbekanntem verbunden<br />
ist und von einigen als mittlere<br />
Stresssituation erlebt wird. Er<br />
weckt zwar beim Kind meist die<br />
Neugier und Freude, sich in neuen<br />
Aufgaben zu üben, kann aber auch<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten Sommer 2<strong>01</strong>7<br />
Ungewissheit oder Unruhe auslösen.<br />
Kinder können sich davor fürchten,<br />
sich in eine Gruppe einzufügen und<br />
ohne elterliche Unterstützung neue<br />
Aufgaben bewältigen zu müssen. Zu<br />
diesen Aufgaben gehört die Gewöhnung<br />
an neue Regeln und an eine<br />
neue Betreuungsperson, welche<br />
andere Anforderungen an das Kind<br />
stellt, als es gewohnt ist.<br />
Der Kindergartenstart ist also<br />
eine Herausforderung, in welcher<br />
sich das Kind an die neue Situation<br />
anpassen muss. Bisherige Untersuchungen<br />
haben gezeigt, dass die<br />
Trennung von der familiären Umgebung<br />
für Kinder belastend sein<br />
kann. Jedes sechste Kind erlebt den<br />
Kindergarteneintritt als schwierig.<br />
Dabei zeigen einige Kinder zu<br />
Beginn Verhaltensauffälligkeiten,<br />
die sich nach einer ersten Gewöhnungsphase<br />
wieder normalisieren.<br />
Der Kindergartenbeginn kann<br />
also zu Veränderungen in der emotionalen,<br />
verhaltensspezifischen und<br />
biologischen oder körperlichen<br />
Reaktionsweise führen. Studien zeigen,<br />
dass Kinder während dieser<br />
Phase eine höhere Ausschüttung des<br />
Stresshormons Kortisol aufweisen.<br />
Dieses Stresserleben scheint jedoch<br />
durch das Temperament des Kindes,<br />
durch die neue Umgebung und auch<br />
durch die Eltern beeinflusst zu sein.<br />
Kinder von Eltern, die sich besonders<br />
sorgten, zeigten eine höhere<br />
Stresshormonausschüttung.<br />
Ein Kindergarteneintritt kann<br />
also Belastung oder Chance zur Verbesserung<br />
der Stressregulation sein.<br />
Die selten auftretenden lang anhaltenden<br />
Verhaltensauffälligkeiten<br />
sprechen jedoch dafür, dass ein Kindergartenstart<br />
eine Chance ist, in<br />
einem noch geschützten Rahmen<br />
Wenn Eltern sich sehr<br />
sorgen, verspüren auch<br />
die Kinder Stress.<br />
die eigene Stressregulationsfähigkeit<br />
zu optimieren, sich für zukünftige<br />
Belastungssituationen zu wappnen<br />
und dem Risiko potenzieller Verhaltensstörungen<br />
entgegenzuwirken.<br />
Er ist für Kinder eine gute Gelegenheit,<br />
ihre Stressregulation weiterzuentwickeln.<br />
Diese kann vor allem<br />
dann positiv genutzt werden, wenn<br />
Kinder bereits im Vorschulalter<br />
Gelegenheiten hatten, sich in verschiedenen<br />
kleineren Situationen zu<br />
üben und ihre Anpassungsfähigkeit<br />
an Stresssituationen zu verbessern.<br />
Anzeige<br />
Nadine<br />
Messerli-Bürgy<br />
PD Dr. phil., ist Mutter von zwei Kindern und<br />
arbeitet seit 2<strong>01</strong>4 als Senior Researcher<br />
in der Abteilung für Klinische Psychologie<br />
und Psychotherapie am Departement für<br />
Psychologie und am Institut für Familienforschung<br />
und -beratung der Universität<br />
Freiburg. Sie ist klinische Psychologin und<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin der<br />
Schweizer Kinderstudie Swiss Preschooler’s<br />
Health Study (SPLASHY). Ab Herbst 2<strong>01</strong>7<br />
leitet sie ein vierjähriges Forschungsprojekt<br />
zur «kindlichen Stressregulation während<br />
des Kindergarteneintritts» im Rahmen einer<br />
Förderungsprofessur des Schweizerischen<br />
Nationalfonds.<br />
SCHLUSS MIT<br />
BETTNÄSSEN!<br />
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Krankenkassen vergütung –<br />
Erfolg 90 %<br />
www.kinderkoenig.ch
Gesundheit & Ernährung<br />
«Wir sollten die Stärken<br />
unserer Kinder betonen»<br />
Man liest immer wieder, dass Kinder keine Purzelbäume mehr schlagen<br />
können. Bewegen sich unsere Kinder zu wenig? Der Oberarzt und<br />
Praxispädiater Sepp Holtz kennt die Fakten. Text: Claudia Landolt<br />
Herr Holtz, macht Bewegung klug?<br />
Grundsätzlich kann man sagen, dass<br />
Bewegung die Durchblutung anregt.<br />
Der Wachheitsgrad bei Kindern, die<br />
sich bewegen, ist höher. Empirische<br />
Daten gibt es aber nur wenige. Wir<br />
stellen einen leichten Zusammenhang<br />
fest: Ein kleiner Teil der Ko <br />
gnition, rund zehn Prozent, lässt sich<br />
mit Bewegung und Motorik erklären.<br />
Auch spielt die Individualität<br />
eine grosse Rolle. Es gibt Kinder, die<br />
sich viel bewegen müssen, andere<br />
weniger.<br />
Es heisst, Kinder würden sich ab<br />
Schuleintritt immer weniger bewegen.<br />
Stimmt das?<br />
Nein. Die Forschung zeigt etwas<br />
anderes: Kinder zwischen acht und<br />
neun Jahren haben das grösste Bewegungsbedürfnis.<br />
Deshalb fällt ihnen<br />
das Sitzen während 45 Minuten in<br />
der Schule oft sehr schwer.<br />
Was ist mit Purzelbaum, Hampelmann<br />
und Co.? Haben tatsächlich immer<br />
mehr Kinder damit Probleme?<br />
Das ist nicht bewiesen. Dieser Eindruck<br />
stimmt nicht mit unseren<br />
Daten überein.<br />
Lassen sich Koordination und Gleichgewicht<br />
trainieren?<br />
Jein. Was ich Eltern jeweils sage:<br />
Wenn ich noch nie über einen<br />
Baumstamm balanciert bin, mache<br />
ich es beim ersten Mal nicht sehr gut.<br />
Wenn ich es aber nochmals mache,<br />
geht es besser, aber immer noch<br />
nicht extrem gut. Man kann es üben,<br />
aber nur innerhalb des biologischen<br />
Potenzials. Motorik hat ihr eigenes<br />
Programm. Ob ein Kind also den<br />
Purzelbaum kann, hat mit seinem<br />
eigenen inneren Programm zu tun.<br />
Der Schweizer Kinderarzt Remo<br />
Largo sagte: Kein Kind lernt kriechen,<br />
weil man ihm vorkriecht. Hinzu<br />
kommt: Die Variabilität ist riesig.<br />
Es gibt keine saubere Grenze, ab<br />
wann ein Kind was genau motorisch<br />
leisten muss.<br />
Gestatten Sie mir ein Beispiel: Ein<br />
Kind turnt nicht gern, wird im Turnen<br />
als Letztes gewählt. Ist das Grund zur<br />
Sorge?<br />
Man kann auch ohne Motorik gut<br />
durchs Leben kommen. Kinder entwickeln<br />
da erstaunliche Strategien.<br />
Diese gilt es zu erfragen. Ein Anhaltspunkt<br />
ist etwa das Verhalten des<br />
Kindes im Kindergarten oder auf<br />
dem Pausenplatz. Was macht das<br />
Kind in der Pause? Spielt es mit<br />
anderen Kindern? Mit den Mädchen<br />
oder mit den Buben?<br />
Können Sie ein Beispiel dazu<br />
anführen?<br />
Ich erinnere mich an einen Jungen,<br />
der sich in der Pause hinter einem<br />
Busch versteckte und dort sein Znüni<br />
ass. Er wagte es nicht, mit den<br />
anderen auf dem Pausenplatz zu<br />
spielen, weil er wusste, dass er nicht<br />
mithalten konnte. Damit verpasste<br />
er nicht nur soziale Kontakte, sondern<br />
konnte auch sein motorisches<br />
Potenzial weder üben noch ausschöpfen.<br />
Dieses Kind brauchte also<br />
unsere Unterstützung. Die Frage<br />
aber ist: Wie sehr definiert sich ein<br />
Kind über den Sport? Hat es andere<br />
Begabungen oder Stärken? Eltern<br />
sollten dann diese betonen. Vielleicht<br />
wird das Kind zwar im Turnen<br />
als Letztes gewählt, ist aber im Rechnen<br />
spitze. Dann ist das nicht so<br />
schlimm. Nicht alle Kinder definieren<br />
sich über den Sport.<br />
Was raten Sie den Eltern?<br />
Die Kinder bei ihren Stärken abholen<br />
und die Schwächen ihrer Kinder<br />
akzeptieren, statt diese beheben zu<br />
wollen. Die Erfahrung zeigt nämlich,<br />
dass ein Kind, das in anderen Bereichen<br />
als beispielsweise dem Turnen<br />
positive Erlebnisse hat, sich auch<br />
mehr zutraut. Also da mutig ist, wo<br />
es vielleicht noch nicht ganz so gut<br />
ist.<br />
Zur Person<br />
Sepp Holtz ist Oberarzt im Kinderspital<br />
Zürich und Praxispädiater. Er hat vor<br />
18 Jahren zusammen mit dem Kinderspital<br />
das Praxisassistenzarztrotationsmodell<br />
entwickelt, das in der Schweiz Schule<br />
gemacht hat. 2<strong>01</strong>7 wurde er mit dem Guido-<br />
Fanconi-Preis für seine Leistungen in Lehre<br />
und Praxis ausgezeichnet. Zusammen mit<br />
seiner Tochter Noa betreibt er den Podcast<br />
«Familienbande», welcher Eltern die<br />
Möglichkeit bietet, sich von Experten Rat bei<br />
Fragen rund um den Nachwuchs zu holen.<br />
www.kispi.uzh.ch, Stichwort: Familienbande.<br />
26 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Kolumne<br />
Was wirklich wichtig<br />
ist, habe ich im<br />
Kindergarten gelernt<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
Mikael Krogerus<br />
ist Autor und Journalist.<br />
Der Finne ist Vater einer Tochter<br />
und eines Sohnes, lebt in Biel und<br />
schreibt regelmässig für das<br />
Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
und andere Schweizer Medien.<br />
Ich stehe an einem Punkt im Leben, an dem ich Fehler noch immer<br />
dreimal mache, an dem ich aber auch sagen kann, dass ich manches<br />
gelernt habe. Zum Beispiel, dass es klüger ist, zu fragen, als zu<br />
antworten. Oder dass die meisten Dinge vorübergehen – vor allem<br />
jene, von denen man es nicht denkt. Es sind Einsichten, die ich im<br />
Laufe der Jahre, oft schmerzhaft, gewonnen habe. Die wichtigste Einsicht<br />
aber habe ich im Kindergarten erlangt: Es ist gut, anderen zu helfen.<br />
Die Person, die mir das beibrachte, hiess Frau Wolff. Sie pflegte in<br />
unserem Rudolf-Steiner-Kindergarten ein strenges, aber gütiges Regime.<br />
Die meiste Zeit mussten wir Tücher falten, die Puppenecke aufräumen,<br />
den Tisch decken oder Schnüre entknoten. Sobald man mit einer Tätigkeit<br />
fertig war, musste man zu Frau Wolff gehen und fragen: «Wie kann<br />
ich helfen?» Nicht «Was soll ich jetzt machen?» – als wären wir Teilnehmer<br />
einer Beschäftigungstherapie, und auch nicht «Soll ich Ihnen helfen?»<br />
– als wäre sie eine Bedürftige, zu durcheinander, sich selber die<br />
Schuhe zu binden. Nein, die Frage sollte lauten: «Wie kann ich helfen?».<br />
Anderen zu helfen, ist vermutlich ein tiefer menschlicher Instinkt.<br />
Aber wie man hilft, ist mindestens so wichtig wie, dass man hilft. Ich bin<br />
mir nicht ganz sicher, ob Frau Wolff die feinen semantischen Unterschiede<br />
von «Soll ich dir helfen?» und «Wie kann ich dir helfen?» vollends<br />
bewusst waren, aber mir scheint ihre Ansage heute fast prophetisch.<br />
«Soll ich dir helfen?» hat etwas Ungeduldig-Paternales, oft Helfersyndromhaftes<br />
und handelt meist mehr von dir als von der Person, der<br />
geholfen wird. «Wie kann ich helfen?» hingegen zeigt, dass du<br />
an erkennst: Nicht du, sondern das Gegenüber kennt sich in seinem<br />
Leben am besten aus.<br />
Der Satz war für uns damals nicht so wichtig, die Handlung, die er<br />
auslöste, aber veränderte uns. Wir halfen einander und sahen darin keinen<br />
selbstlosen, sondern einen stinknormalen Vorgang, so alltäglich und<br />
unhinterfragbar wie Zähneputzen oder Tellerabtragen. Die wenigsten<br />
Kinder putzen gern die Zähne, aber die wenigsten (es gibt Ausnahmen)<br />
machen daraus eine Riesensache, einfach weil sie früh gelernt haben, dass<br />
es zum Leben gehört. Und das kleine sozialpsychologische Experiment,<br />
das Frau Wolff da betrieb, lautete: Was wäre, wenn Solidarität auch einfach<br />
zum Leben dazugehören würde? Kaum eingeschult, tauschte ich die<br />
Hilfsbereitschaft gegen ein sozial darwinistisches Gebaren, das mich perfekt<br />
auf die neoliberale Wirklichkeit vorbereitete, aber aus mir auch ein<br />
ziemliches Arschloch machte. Und doch wusste ich die ganze Zeit, dass<br />
es auch anders geht, dass dieser kleine Satz noch immer gilt.<br />
Ich weiss nicht, was Frau Wolff heute macht. Ob sie noch lebt, ob ihr<br />
jemand hilft, ob sie sich überhaupt an das kleine Experiment erinnert.<br />
Ich weiss nur, dass ich eine der wichtigsten Lektionen im Kindergarten<br />
gelernt habe. Und ihr dafür gerne danken würde.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>727
Gute<br />
Nacht!<br />
Mit dem Eintritt in den Kindergarten kommt viel<br />
Neues auf Ihr Kind zu. Die Eindrücke zu verarbeiten,<br />
macht müde. Umso wichtiger ist erholsamer<br />
Schlaf – der Bedarf variiert dabei von Kind zu Kind.<br />
Text: Virginia Nolan<br />
28 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Gesundheit & Ernährung<br />
Schlaf ist Voraussetzung, um<br />
tagsüber in Verbindung mit unserer<br />
Umwelt treten zu können.<br />
Seit sie den Kindergarten<br />
besucht, geht Solaine am<br />
Abend freiwillig ins Bett.<br />
«Sie scheint richtig dankbar<br />
zu sein, dass sie endlich<br />
schlafen darf», sagt ihre Mutter<br />
Natalie. Ihre Sechsjährige freue sich<br />
jeden Morgen auf den Kindergarten,<br />
sei aber entsprechend erschöpft,<br />
wenn sie nach Hause komme. Am<br />
Nachmittag möge sie oft nichts<br />
unternehmen, sei zu müde für Ausflüge:<br />
«Dann will sie einfach zu Hause<br />
sein und spielen.» Ähnliches<br />
berichtet die Mutter von David, der<br />
im ersten Kindergartenjahr ist. Ihr<br />
Sohn trete morgens fröhlich den<br />
Schulweg an, sei in der zweiten<br />
Tageshälfte aber oft unausgeglichen.<br />
«Früher hatten wir am Nachmittag<br />
meist Pläne», sagt Davids Mutter,<br />
«jetzt entscheiden wir spontan, ob<br />
wir etwas unternehmen mögen.»<br />
Lernen im Schlaf<br />
Mit dem Eintritt in den Kindergarten<br />
kommt viel Neues auf ein Kind zu:<br />
die Lehrperson, zu der es eine Beziehung<br />
aufbauen muss, soziale Erfahrungen<br />
in der Gruppe, ein veränderter<br />
Rhythmus, die neue Umgebung.<br />
All diese Eindrücke wollen verarbeitet<br />
werden – das macht müde. Darum<br />
ist erholsamer Schlaf besonders wichtig.<br />
Schlaf ist nämlich langfristig die<br />
Voraussetzung dafür, dass wir tagsüber<br />
mit unserer Umwelt in Verbindung<br />
treten können. «Durch Informationen,<br />
die wir aufnehmen, gehen<br />
die Synapsen, das sind Kontaktstellen<br />
zwischen den Nervenzellen in unserem<br />
Gehirn, Verbindungen miteinander<br />
ein. Dadurch werden sie grösser<br />
und schwerer», sagt Reto Huber,<br />
Schlafforscher am Kinderspital<br />
Zürich sowie an der Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie der Universität<br />
Zürich. «So funktioniert Lernen.»<br />
Liefe dieser Prozess ununterbrochen,<br />
wären Energie- und >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>729
Platzreserven, aber auch<br />
unser Gehirn selbst bald erschöpft.<br />
Das wird durch Schlaf verhindert<br />
– indem er Reize minimiert, welche<br />
die Synapsen veranlassen, neue<br />
Verbindungen einzugehen. Auch<br />
werden laut Huber im Tiefschlaf<br />
gewisse Hirnareale gleichgeschaltet,<br />
was dazu führt, dass die Synapsen<br />
sich wieder verkleinern. Schlaf<br />
setzt, vereinfacht gesagt, die «Festplatte»<br />
des Gehirns neu auf, löscht<br />
Unwichtiges und sorgt dafür, dass<br />
sie am nächsten Tag wieder be <br />
schrieben werden kann. Zugleich<br />
trägt er zur Verfestigung von Ge <br />
lerntem bei. Tiefschlaf sei gekennzeichnet<br />
durch langsame Wellen,<br />
sogenannte Slow-Wave-Ströme,<br />
sagt Huber. Und: «Slow Waves sind<br />
jeweils in der Hirnregion besonders<br />
aktiv, wo gerade ein Reifungsprozess<br />
stattfindet.»<br />
Wann ist es Zeit?<br />
Schlafforscher am Kinderspital liessen<br />
Kinder, Jugendliche und Erwachsene<br />
verschiedene visuomotorische<br />
Tätigkeiten ausführen. Das sind<br />
Aufgaben, welche die Hand-Auge-Koordination<br />
beanspruchen, wie<br />
etwa Schreiben oder Zeichnen. Nach<br />
den Experimenten analysierten die<br />
Forscher den Schlaf der Probanden<br />
– und stellten fest, dass der Tiefschlaf<br />
im parietalen Kortex, der für die<br />
visuell-motorische Kontrolle von<br />
Bewegung zuständig ist, erhöht war,<br />
und zwar bei allen Teilnehmern. «Bei<br />
den Kindern», sagt Huber, «war er<br />
im Vergleich zu den Erwachsenen<br />
aber noch viel ausgeprägter.» Das<br />
hänge mit der hohen Plastizität des<br />
Fünfjährige Kinder<br />
brauchen im Durchschnitt<br />
11,5 Stunden Schlaf,<br />
um leistungsfähig zu sein.<br />
Fünf Schlaftipps für das<br />
Kindergartenkind<br />
1. Feste Tagesstrukturen<br />
wie gemeinsame Mahlzeiten,<br />
ein Einschlafritual<br />
und insbesondere<br />
geregelte Bettzeiten<br />
helfen dem Kind, leichter<br />
in den Schlaf zu finden.<br />
Halten Sie die Schlaf-<br />
Wach-Zeiten des Kindes<br />
so oft wie möglich ein.<br />
2. Eine ruhige Atmosphäre<br />
zu schaffen, ist wichtig vor<br />
dem Zubettgehen. Vermeiden<br />
Sie abends Raufspiele<br />
sowie andere Aktivitäten,<br />
die den Puls hochjagen<br />
und für Aufregung sorgen.<br />
3. Das Bett soll Erholungszone<br />
sein. Es ist kein Ort<br />
zum Gamen, Spielen oder<br />
Hausaufgabenmachen.<br />
kindlichen Gehirns zusammen – der<br />
Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen<br />
und ganzen Hirnarealen, sich in<br />
ihrer Ausprägung und Funktion zu<br />
verändern. Diese Eigenschaft, der<br />
Kinder ihre ausserordentliche Lernfähigkeit<br />
verdanken, bedingt wohl<br />
auch ihren erhöhten Schlafbedarf<br />
gegenüber Erwachsenen.<br />
Daraus eine allgemeingültige<br />
Formel abzuleiten, ist nicht möglich,<br />
denn der Schlafbedarf variiert von<br />
Kind zu Kind, wie Studien des Kinderspitals<br />
zeigen. Demnach brauchen<br />
Fünfjährige durchschnittlich<br />
11,5 Stunden Schlaf, um leistungsfähig<br />
zu sein – einige kommen auch<br />
mit 9,5 Stunden aus, andere benötigen<br />
dafür 13 Stunden. «Dieser<br />
Unterschiede sind sich Eltern zu<br />
4. Ein normales Schlafverhalten<br />
gibt es nicht. Jedes<br />
Kind ist anders. Versuchen<br />
Sie, ein Gefühl für sein<br />
individuelles Schlafbedürfnis<br />
zu entwickeln:<br />
Schläft Ihr Kind schnell ein<br />
und ist am Morgen kaum<br />
aus dem Bett zu kriegen?<br />
Dann sind vermutlich<br />
frühere Schlafenszeiten<br />
nötig. Umgekehrt bringt<br />
es nichts, Ihr Kind aus<br />
Prinzip früh ins Bett zu<br />
schicken, wenn der Schlaf<br />
dadurch lange auf sich<br />
warten lässt.<br />
5. Keine Strafe! Setzen Sie<br />
verfrühte Bettzeiten nicht<br />
als Strafe ein. Kinder<br />
sollten Schlaf mit etwas<br />
Gutem verbinden.<br />
30 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Gesundheit & Ernährung<br />
wenig bewusst», sagt Schlafforscher<br />
Huber. So betrachteten viele Eltern<br />
den kindlichen Schlafbedarf als fixe<br />
Grösse – und beharrten folglich auf<br />
einer bestimmten Schlafdauer. Das<br />
sei nicht hilfreich, sondern könne<br />
Schlafstörungen sogar begünstigen:<br />
«Es geht vielmehr darum, ein Gefühl<br />
zu entwickeln für die individuellen<br />
Schlafbedürfnisse des Kindes und<br />
dafür passende Rahmenbedingungen<br />
zu schaffen.»<br />
Die innere Uhr einstellen<br />
Die sogenannte innere Uhr, die im<br />
Zwischenhirn lokalisiert ist, steuert<br />
unsere Wach- und Schlafphasen. Sie<br />
wird täglich mit regelmässig wiederkehrenden<br />
Umgebungsfaktoren synchronisiert.<br />
«Der wichtigste ist das<br />
Tageslicht», sagt Huber. Wer kennt<br />
nicht das abendliche Klagelied der<br />
Kinder, dass es draussen «noch Tag»<br />
sei? So fruchteten die Bemühungen<br />
von Davids Eltern, den Kindergärtler<br />
um sieben Uhr abends ins Bett<br />
zu verabschieden, zwar im Winter<br />
– aber als die Tage länger wurden,<br />
war daran nicht zu denken. «Er war<br />
um sieben im Bett und um neun<br />
noch hellwach», sagt seine Mutter.<br />
Das Warten auf den Schlaf habe den<br />
Bub unruhig werden lassen. So geht<br />
David im Sommer eben eine Stunde<br />
später ins Bett. Trotzdem hält seine<br />
Mutter an der Regel fest, dass um<br />
sechs Uhr gegessen und um sieben<br />
Uhr mit Zähneputzen begonnen<br />
wird, damit das Zubettgehen stressfrei<br />
abläuft.<br />
Fixe Tagesstrukturen seien für<br />
einen guten Schlaf wichtig, sagt Reto<br />
Huber: «Sie sind ein weiterer Zeitgeber,<br />
auf den unsere innere Uhr<br />
sich einstellt.» Je konstanter die<br />
Schlaf-Wach-Zeiten eingehalten<br />
würden, desto besser. Das gelte idealerweise<br />
auch für das Wochenende.<br />
Den Ansatz der hier vorgestellten<br />
Mütter, ihre Kinder nicht mit Aktivitäten<br />
zu überfrachten, findet der<br />
Schlafforscher sinnvoll. «Für das<br />
kindliche Gehirn bedeuten Aktivitäten<br />
nichts anderes als Lernen»,<br />
Feste Tagesstrukturen sind für<br />
einen guten Schlaf wichtig.<br />
sagt er, «und Lernen steigert die<br />
Erregbarkeit.» Wer nun fürchtet, das<br />
süsse Nichtstun verwehre seinem<br />
Kind Lernerfahrungen, tröste sich<br />
mit der Tatsache, dass unser Gehirn<br />
keinem Krug gleicht, der behält, was<br />
man hineingiesst – eher einem Sieb,<br />
an dem nichts mehr hängen bleibt,<br />
wenn es im Turbomodus hindurchschiesst.<br />
>>><br />
Virginia Nolan<br />
ist froh, dass ihre Tochter noch nicht<br />
in aller Frühe aus den Federn muss –<br />
nächstes Jahr wirds losgehen.<br />
www.landesmuseum.ch
Fiese Viren!<br />
Warum Kindergartenkinder so häufig von Erregern heimgesucht werden –<br />
und wie man sich als Familie wappnen kann. Von Kristin Hüttmann<br />
Abholen aus dem Kindergarten,<br />
die Fünfjährige<br />
wartet vergnügt<br />
mit einer<br />
Nachricht auf, die<br />
Panik auslöst. «Basil hat auf Lea<br />
gekotzt!» Nicht schon wieder! Es<br />
möge bitte eine Magenverstimmung<br />
sein, bloss kein Norovirus, von der<br />
die Kollegin mit den zwei kleinen<br />
Kindern gestern noch in düsteren<br />
Tönen warnte. Durchfall. Strapaziös.<br />
Hoch ansteckend. Hat es einer,<br />
haben es alle, Mutter, Vater, Kind.<br />
Dabei ist die letzte Erkältungswelle<br />
doch gerade erst durch die Familie<br />
geschwappt.<br />
Noch ist Sommerzeit, und wer<br />
Kinder hat, der betet drum, dass die<br />
warme Jahreszeit noch möglichst<br />
lange andauert, bitteschön. Denn<br />
den Herbst und Winter mögen wir<br />
nicht: Es ist die Zeit der Krankenstandsmeldungen.<br />
«Wir haben grad<br />
Magen-Darm, und ihr?», ist in diesen<br />
Wochen ein beliebter Gesprächseinstieg.<br />
Die tatsächliche Gruppengrösse<br />
in Kindergärten und Horten<br />
32 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Gesundheit & Ernährung<br />
Sechs bis acht Infekte pro Jahr<br />
sind für ein Kleinkind<br />
völlig normal, sagt der Experte.<br />
schwankt enorm und erreicht im<br />
Januar ihr Jahrestief. Auf der Arbeit<br />
meldet sich jede Woche ein anderer<br />
Vater oder eine andere Mutter<br />
krank. Täuscht der Eindruck oder<br />
sind die Jahre mit Kindern ein einziger<br />
Staffellauf der Infektionskrankheiten?<br />
Der Eindruck täuscht nicht.<br />
Mediziner registrieren im Herbst<br />
ein allmähliches Ansteigen des<br />
Hust- und Schniefgeschehens. Kurz<br />
nach Neujahr erreicht der Krankenstand<br />
seinen Höhepunkt, die Grippewelle<br />
rollt mit Macht durchs<br />
Land. Wenn es wärmer wird, nehmen<br />
Atemwegserkrankungen ab.<br />
Dafür suchen uns vermehrt Durchfallerreger<br />
heim. Prominente Ausnahme:<br />
Das Norovirus mag es winterlich<br />
kalt.<br />
In der Infektsaison sehen Eltern<br />
ihren Kinderarzt meist häufiger als<br />
die besten Freunde. Kein Wunder,<br />
denn kleine Kinder haben den Erregern<br />
wenig entgegenzusetzen. «Das<br />
Immunsystem der Kinder muss erst<br />
noch trainieren», sagt der erfahrene<br />
Kinderarzt Rolf Temperli aus Köniz<br />
bei Bern. «Dabei lernt es.»<br />
Der 59-Jährige ist Vorstandsmitglied<br />
im Berufsverband Kinderärzte<br />
Schweiz, hält Vorträge und bildet<br />
Kinderärzte und Medizinstudenten<br />
aus. Seine jahrzehntelange Praxiserfahrung<br />
deckt sich mit den<br />
Erkenntnissen aktueller Fachbücher:<br />
«Sechs bis acht Infekte pro Jahr<br />
sind völlig normal», sagt er. «Es ist<br />
auch nicht aussergewöhnlich, wenn<br />
ein Kleinkind im gleichen Monat<br />
sogar zweimal an einem Luftwegsinfekt<br />
erkrankt.»<br />
Zu diesem Ergebnis kamen auch<br />
Philipp Latzin und seine Kollegen,<br />
die für die Swiss Pediatric Respira-<br />
tory Research Group Eltern von<br />
Säuglingen im ersten Jahr über die<br />
Krankheitssymptome ihrer Kinder<br />
befragten. Einige Kinde wiesen bis<br />
zu 23 Wochen Erkältungssymptome<br />
auf.<br />
Erreger schlagen monatlich zu<br />
Heisst also tatsächlich: Mindestens<br />
einmal im Monat schlägt ein Erreger<br />
zu. Denn das kindliche Immunsystem<br />
muss erst noch üben, Keime,<br />
Bakterien und Viren abzuwehren.<br />
Die ganz Kleinen haben es gut – in<br />
den ersten Lebensmonaten profitieren<br />
Babys noch vom Nestschutz der<br />
Mutter, einer Art Leihimmunität.<br />
Erfahrene Abwehrzellen schützen<br />
das Kind in der ersten Zeit, nicht vor<br />
allen, aber vor einer ganzen Reihe<br />
von Krankheiten wie Masern,<br />
Mumps, Röteln und vielen anderen<br />
Virus erkrankungen.<br />
Nach einem halben Jahr lässt dieser<br />
Nestschutz aber nach. Dann<br />
müssen sich Kinder selbst mit ihrer<br />
Umwelt und den Keimen und Erregern<br />
auseinandersetzen. Dieses<br />
Trainingslager für Abwehrkräfte<br />
dauert einige Jahre, bis das Immunsystem<br />
mit etwa fünf Jahren recht<br />
stabil ist.<br />
Sich mit der Umwelt auseinandersetzen<br />
– das bedeutet für immer<br />
mehr Kinder in der Schweiz: Betreuung<br />
im Kindergarten, Hort oder bei<br />
Tageseltern. Mittlerweile sind laut<br />
dem Bundesamt für Statistik über 60<br />
Prozent der Kinder zwischen 0 und<br />
12 Jahren in einer familienergänzenden<br />
Kinderbetreuung. Aus Sicht der<br />
Krankheitserreger ist das eine grossartige<br />
Entwicklung. Die laben sich<br />
am Rotznasen-Komplex: Viele<br />
unfertige Immunsysteme tauschen<br />
ungehemmt Keime aus.<br />
Keine Immunität<br />
Die hohe Keimdichte in Kindertageseinrichtungen<br />
erklärt aber noch<br />
nicht, warum es Eltern so oft miterwischt.<br />
Denn eigentlich ist das<br />
Immunsystem der 25- bis 40-Jährigen<br />
in der Regel gut trainiert, und<br />
sie sind selten krank. Im Nationalen<br />
Gesundheitsbericht 2<strong>01</strong>5 des<br />
Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums<br />
(Obsan) beschreiben die<br />
24- bis 44-Jährigen ihren Gesundheitszustand<br />
als ausgesprochen gut.<br />
Warum also schlagen die Erreger<br />
unserer Sprösslinge so ein?<br />
Zunächst ist der Kontakt mit den<br />
eigenen Kindern naturgemäss innig.<br />
Wenn das Kind heult, wäscht man<br />
ihm nicht erst Hände und Gesicht<br />
mit Seife, bevor man es auf den Arm<br />
nimmt. Ausserdem gibt es eine<br />
Unmenge von Erregern – selbst<br />
geübte Immunsysteme müssen da<br />
gelegentlich passen. «Es gibt so viele<br />
Viren, die akute Atemwegserkrankungen<br />
auslösen», sagt Osamah<br />
Hamouda, Leiter der Abteilung<br />
Infektionsepidemiologie am Robert-<br />
Koch-Institut (RKI) in Berlin. Allein<br />
vom Rhinovirus, das Erkältungen<br />
auslöst, kennt er über 100 Varianten.<br />
Das Risiko, dass ein Kind einen für<br />
die Familie neuen Erreger nach<br />
Hause bringt, ist also relativ hoch.<br />
Hamoudas Fazit: «Gegen Erkältungsviren<br />
entwickelt man keine<br />
lebenslange Immunität.»<br />
So macht die Kombination aus<br />
schwacher Immunabwehr der<br />
Jüngsten und hoher Kontaktquote in<br />
Kindergarten und Schule die Familien<br />
im Wortsinn zur Keimzelle der<br />
Gesellschaft. Nicht umsonst lautet<br />
die Empfehlung der amerika- >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>733
nischen Gesundheitsbehörde<br />
CDC, Kinder ab sechs Monaten<br />
gegen Influenza zu impfen. Den<br />
Fachleuten geht es nicht nur um das<br />
Wohlergehen der Kleinsten – sondern<br />
auch um die Volksgesundheit.<br />
So schätzen Forscher in mathematischen<br />
Modellrechnungen für<br />
Deutschland, dass sich durch die<br />
Impfung von Kindern ab zwei Jahren<br />
in den folgenden zehn Jahren<br />
23,9 Millionen Influenza-Infektionen<br />
verhindern liessen. Das würde<br />
bedeuten, dass sich einer von drei<br />
Erwachsenen erst gar nicht ansteckt.<br />
Nun mögen sich Eltern von diesem<br />
Argument nicht überzeugen<br />
lassen, ihre Kinder gegen die Grippe<br />
zu impfen. Aber wenn das Infektszenario<br />
so unausweichlich ist, wäre<br />
es dann nicht gesünder für alle, die<br />
Kinder einfach zu Hause zu betreuen,<br />
bis sie fünf Jahre alt sind und ihr<br />
Immunpanzer stabil ist? Trugschluss,<br />
sagen Kinderärzte und<br />
Gesundheitsforscher. Studien legen<br />
nahe, dass der frühe Infektmarathon<br />
in Krippe und Kindergarten das beste<br />
Training fürs Immunsystem ist.<br />
Frühe Infekte, spätere Stabilität<br />
So hat die kanadische Forscherin<br />
Sylvana Côté in einer Studie herausgefunden,<br />
dass besonders Kinder, die<br />
in eine Krippe kommen, bevor sie<br />
zweieinhalb Jahre sind, in der<br />
Grundschule Gleichaltrigen gesundheitlich<br />
überlegen sind und seltener<br />
fehlen.<br />
Seit den 1990er-Jahren weiss<br />
man: Kinder, die im ersten Lebensjahr<br />
mindestens zwei Infektionen<br />
mitmachen, erkranken später nur<br />
halb so häufig an Asthma wie Kinder,<br />
die keine Virusinfekte hatten.<br />
Wichtig dabei ist: Das gilt für letztlich<br />
harmlose Infekte, die nach einigen<br />
Tagen überstanden sind. Kinder<br />
können bleibende Schäden davontragen,<br />
wenn sie gefährliche Krankheiten<br />
wie Masern oder Röteln<br />
durchmachen, für die Impfempfehlungen<br />
bestehen.<br />
Die gute Nachricht für Eltern:<br />
Auch sie trainieren ihr Immunsystem.<br />
Wie sehr sie dafür in den ersten<br />
Lebensjahren ihrer Kinder leiden<br />
müssen, weisen die Statistiken leider<br />
nicht aus. Aber grundsätzlich fühlen<br />
sich Eltern nicht stärker gebeutelt<br />
als Nichteltern. Ganz im Gegenteil.<br />
So fanden Andreas Hirschi und seine<br />
Kollegen am Institut für Psychologie<br />
der Universität Bern heraus,<br />
dass Eltern sogar zufriedener mit<br />
ihrem Leben sind. Sie befragten<br />
dafür über 500 Berufstätige und<br />
stellten fest, dass jene, die in ihrer<br />
Karriereplanung die Familienrolle<br />
stärker berücksichtigten, über eine<br />
grössere Zufriedenheit mit ihrer<br />
Karriere und ihrem Leben allgemein<br />
berichteten.<br />
Und auch den Kindern geht es<br />
jüngsten Untersuchungen zufolge<br />
allgemein gut. Den Gesundheitszustand<br />
ihrer 3- bis 17-jährigen Kinder<br />
beschreiben 94 Prozent der<br />
Eltern als «sehr gut» oder «gut». Zu<br />
diesem Ergebnis kommt eine der<br />
grössten Datensammlungen zur<br />
Kindergesundheit, die Kinder- und<br />
Jugendgesundheitsstudie KiGGS<br />
des Berliner RKI. Auch die im<br />
Die meisten Infekte sorgen<br />
leider nicht für eine Immunität<br />
– man erkrankt immer wieder.<br />
In den Dreck – und Hände waschen!<br />
Als vorbeugende Massnahmen für die Familiengesundheit<br />
eignen sich Stressabbau, ausgewogene<br />
Ernährung und regelmässige Bewegung. Und vor<br />
allem: raus mit den Kindern, rein in die Natur!<br />
Denn die Bakterien aus unserer Umwelt brauchen<br />
wir für unser Mikrobiom. Diese Gemeinschaft von<br />
nützlichen Bakterien lebt in und auf unserem<br />
Körper und ist wichtig für unsere Gesundheit. In<br />
frühester Kindheit rekrutieren wir dafür die<br />
Organismen aus unserer Umgebung. Bakteriologen<br />
glauben: Je vielfältiger diese sind, desto robuster<br />
ist am Ende auch die Gemeinschaft schützender<br />
Begleiter, die uns bei der Abwehr vieler<br />
Infektionen hilft. Und trotzdem: Auch das trainierteste<br />
Immunsystem kapituliert zuweilen vor der<br />
Vielfalt der Erreger. Besonders Atemwegsinfekte<br />
machen uns allwinterlich erneut zu schaffen.<br />
Deshalb ist und bleibt regelmässiges, korrektes<br />
Händewaschen das Mittel der Wahl gegen<br />
Mini-Epidemien in der Familie. Normale Flüssigseife<br />
reicht dafür völlig aus, Desinfektionsmittel<br />
oder antibakterielle Seifen sind nicht notwendig.<br />
34 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Gesundheit & Ernährung<br />
Stressabbau, gesunde<br />
Ernährung und genug<br />
Bewegung stärken<br />
das Immunsystem.<br />
Gesundheitsreport des Schweizer<br />
Obsan befragten Jugendlichen<br />
schätzen ihren Gesundheitszustand<br />
überwiegend als gut bis sehr gut ein.<br />
Gute Gesundheit und trotzdem<br />
ständig Schnupfen. Am Ende bleibt<br />
eben, was man schon ahnte und<br />
Experten wie Kinderarzt Temperli<br />
so formulieren: «Die meisten Infekte<br />
hinterlassen keine lebenslange<br />
Immunität, das heisst leider – man<br />
erkrankt immer wieder.» Temperlis<br />
Trost: «Je besser das Immunsystem<br />
auf Infekte vorbereitet ist, umso seltener<br />
wird man erkranken.»<br />
Wer also nicht nur tatenlos Bettwache<br />
halten will, kann auch etwas<br />
tun – mit drei üblichen Handlungsempfehlungen<br />
fürs Vorfeld: Stressabbau,<br />
ausgewogene Ernährung und<br />
ausreichend Bewegung.<br />
>>><br />
Kristin Hüttmann<br />
arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.<br />
Den Infektionsmarathon kleiner Kinder<br />
kennt sie aus eigener leidvoller Erfahrung.<br />
Die Schnupfen- und Husteninfekte ihrer<br />
beiden Kinder hat sie fast alle<br />
mitgenommen. Und sich wie viele Eltern oft<br />
krank ins Büro geschleppt.<br />
Starten Sie die<br />
Fritz+Fränzi-App,<br />
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und sehen Sie in unserer Serie<br />
«Starkes Kind», wie Kinder<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten Sommer 2<strong>01</strong>735<br />
Hegnaustrasse 60, 8602 Wangen-Brüttisellen, Meda Pharma GmbH, a company of the Mylan group.
Grün – gelb – rot<br />
Mit einer ausgewogenen Ernährung bleiben Kindergarten- und Schulkinder<br />
leistungsfähig. Im Kindergarten wird die Zwischenverpflegung gemeinsam<br />
eingenommmen. Aber nicht alles ist erlaubt. Text: Claudia Landolt und Ruth Hoffmann<br />
Im Chindsgi ist das Znüni<br />
etwa so wichtig wie das Kindergartentäschli<br />
und der<br />
Leuchtstreifen. Es wird ge <br />
meinsam eingenommen und<br />
ist ein Fixpunkt im Kindergartenmorgen.<br />
Auch bei den Kindern: Wer<br />
hat welches Znüni dabei? Mit wem<br />
könnte ich tauschen? Für manche<br />
Eltern ist ein selbst zubereitetes<br />
Znüni Neuland – besonders, wenn<br />
die Kinder eine Krippe besucht<br />
haben, wo das Znüni von den Erzieherinnen<br />
zubereitet wurde.<br />
In vielen Kindergärten gilt ein<br />
sogenanntes Znüni-Ampelsystem:<br />
grün, gelb und rot. Kindergärten,<br />
die kein Ampelsystem haben, kontrollieren<br />
das Znüni der Kinder und<br />
erklären, was als Zwischenmahlzeit<br />
unerwünscht ist. Bei Bedarf geben<br />
sie ein Informationsblatt mit. Aus<br />
diesen Vorgaben entstanden im<br />
Netz zahlreiche Anleitungen für feine<br />
Znüni-Varianten: Melonenschiffli,<br />
Rüeblistängeli, Käsewedel und<br />
vieles mehr. Doch nicht alle Eltern<br />
haben am Morgen Zeit und Musse,<br />
für den Nachwuchs Rüebli- und<br />
Gurkenscheiben auszustechen. Als<br />
pragmatische Faustregel gilt daher:<br />
mindestens eine Frucht oder ein<br />
Gemüse. Bei Bedarf ein Milch- oder<br />
ein Käseprodukt sowie Getreide<br />
(Brot, Nüsse) und Wasser.<br />
Gesunde Ernährung im Fokus<br />
Warum eine Zwischenmahlzeit? Ein<br />
Kindergartentag kann ganz schön<br />
anstrengend sein. Um optimal mit<br />
halten zu können, braucht ein Kind<br />
konstante Glukosezufuhr. Süssigkeiten,<br />
Chips und Weissbrot, aber auch<br />
eine Banane lassen den Blutzuckerspiegel<br />
in die Höhe schnellen und<br />
rasch wieder abfallen. Das Kind<br />
kann sich so nur schlecht konzentrieren.<br />
Ausserdem können diese<br />
Lebensmittel Karies verursachen.<br />
Das gilt auch für die meisten Getreideriegel<br />
und für Dörrfrüchte.<br />
Milch- und Vollkornprodukte,<br />
Obst und Gemüse lassen den Blutzuckerspiegel<br />
dagegen nur mässig<br />
ansteigen und sorgen für optimale<br />
Leistungsfähigkeit. Auch genügend<br />
Flüssigkeit ist wichtig: am besten in<br />
Form von Wasser oder ungesüsstem<br />
Tee. Faustregel: Ein Mix aus Kohlenhydraten,<br />
Eiweiss und Fett plus Vitamine<br />
und Mineralstoffe sind das<br />
Rezept für eine gesunde Ernährung.<br />
Die gute Basis ist ein Frühstück.<br />
Es füllt die in der Nacht geleerten<br />
Energiespeicher wieder auf und<br />
schafft eine gute Grundlage für<br />
einen erfolgreichen Tag im Kindergarten<br />
und in der Schule. Zahlreiche<br />
wissenschaftliche Studien kommen<br />
zum Schluss: Kinder, die ein Frühstück<br />
essen, sind am Vormittag leistungsfähiger,<br />
reagieren schneller<br />
Ein Kindergartentag ist<br />
anstrengend. Um<br />
durchzuhalten, braucht das<br />
Kind einen Znüni.<br />
und ermüden weniger als Kinder,<br />
die nicht oder nicht ausreichend<br />
frühstücken. Das Zmorge eignet<br />
sich ideal, um bereits eine der drei<br />
empfohlenen Tagesportionen Milch<br />
und Milchprodukte zu geniessen<br />
und eine Portion Früchte zu essen.<br />
Ein gesundes Znüni bringt den<br />
nötigen Energienachschub für den<br />
zweiten Teil des Vormittages und<br />
verhindert einen Leistungsabfall.<br />
Was in die Znünibox kommt, hängt<br />
auch davon ab, was das Kind zum<br />
Frühstück isst: Isst es ausgiebig, reichen<br />
ein Getränk und eine Frucht.<br />
Frühstücksmuffel brauchen dagegen<br />
eine üppigere Zwischenmahlzeit.<br />
Bitte kein Gemüse!<br />
Ob das Kind das Znüni auch essen<br />
wird, ist nicht sicher. Vielleicht<br />
tauscht es mit seinem Kindergartengspänli.<br />
Oder es isst die Paprika<br />
auf dem Heimweg, weil es vor lauter<br />
Aufregung im Znünikreis keinen<br />
Bissen runterbringt.<br />
Kinder, die nicht freiwillig zu<br />
Früchten und Gemüse greifen, brauchen<br />
Vorbilder, sagen Ernährungswissenschaftler.<br />
Je echter und selbstverständlicher,<br />
desto besser, denn<br />
Kinder haben feine Antennen für<br />
36 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Lernen durch Basteln<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Zwischentöne und doppelte Böden:<br />
Wenn der Vater Müesli als «gesund<br />
und fein» preist, es aber insgeheim<br />
nicht mag und nur sehr selten isst,<br />
wird seine Werbung wenig Erfolg<br />
haben.<br />
Wenn Kinder ihre Eltern aber mit<br />
Vergnügen essen sehen, in der Familie<br />
eine undogmatische Vielfalt auf<br />
den Tisch kommt und gemeinsam<br />
in entspannter Atmosphäre gegessen<br />
wird, stehen die Chancen sehr<br />
gut, dass sie sich davon eines Tages<br />
anstecken lassen und ebenfalls zu<br />
Paprika, Gurke und Birne greifen.<br />
Etwas apodiktischer formuliert es<br />
die Kinderärztin und Ernährungsspezialistin<br />
Marguerite Dunitz-<br />
Scheer: «Uns ist die Normalität beim<br />
Essen abhandengekommen.» Eine<br />
Banane etwa als Znüni wird in Zürcher<br />
Kindergärten sanktioniert. Die<br />
Ärztin befürwortet einen anderen<br />
Kontext: Mindestens einmal am Tag<br />
kochen und den Kindern dabei ein<br />
abwechslungsreiches Essen hinstellen,<br />
das befähige die Kinder ganz<br />
nebenbei, einzuordnen, was eine<br />
lustvolle und gute Esskultur sei.<br />
«Das Vorbild der Eltern hat eine<br />
starke Wirkung, auf die man sich<br />
getrost verlassen kann», sagt Ines<br />
Heindl, Professorin für Ernährungswissenschaften<br />
an der Universität<br />
Flensburg (D). «Entscheidend ist,<br />
dass der ‹soziale Raum des Essens›<br />
von allen als etwas Schönes empfunden<br />
wird und sich mit positiven<br />
Erlebnissen anreichern kann.»<br />
Was aber, wenn sich das Töchterchen<br />
strikt weigert, Neues zu probieren?<br />
Tatsächlich sind Kinder dickfellige<br />
Gewohnheitstiere und haben<br />
meist kein Problem damit, jeden Tag<br />
dasselbe zu essen. Das heisst aber<br />
nicht, dass Eltern sich dem dauerhaft<br />
ergeben müssen.<br />
Der Geschmack eines Menschen<br />
entwickelt sich allmählich und in<br />
Schüben: Phasen einseitiger Vorlieben<br />
und vermeintlicher Rückschritte<br />
sind völlig normal und kein<br />
Grund zur Sorge. «Wenn die Eltern<br />
kein Problem daraus machen, gelassen<br />
weiterhin Unterschiedliches<br />
anbieten und das Kind wählen lassen,<br />
wird sich sein Spektrum früher<br />
oder später wieder erweitern», beruhigt<br />
Ines Heindl.<br />
Dranbleiben und sich nicht verunsichern<br />
lassen lautet also die Zauberformel.<br />
Es braucht meist mehrere<br />
Anläufe, bis ein unbekanntes<br />
Lebensmittel akzeptiert wird, die<br />
erste Reaktion also nicht das letzte<br />
Wort sein muss. Zwei Wochen später,<br />
in neuem Kontext oder anders<br />
zubereitet, kann das kindliche Urteil<br />
ganz anders ausfallen.<br />
Will man also Kindern beibringen,<br />
sich gesund und abwechslungsreich<br />
zu ernähren, tut man gut daran,<br />
sich in einer Haltung zu üben,<br />
die zu kultivieren ohnehin – auch<br />
für einen selbst – ausgesprochen<br />
nützlich und heilsam ist: Vertrauen<br />
und Gelassenheit.<br />
Znüni: Das geht immer<br />
• Wasser oder ungesüsster Tee<br />
• Frische Früchte, am besten in<br />
mundgerechten Stücken, mit<br />
etwas Zitronensaft beträufelt,<br />
damit sie nicht braun werden<br />
• Gemüse, am besten in<br />
Stängeln<br />
• Käse, Frischkäse<br />
• ungesalzene Nüsse<br />
• Vollkornbrot<br />
• ungesüsste Vollkornkracker,<br />
Knäckebrot, Reiswaffeln<br />
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Gesundheit & Ernährung<br />
Bewegung macht<br />
38 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
schlau<br />
Wir scheinen automatisch davon<br />
auszugehen, dass Förderung<br />
im Kopf stattfinden muss. Die<br />
Forschung zeigt aber, dass es<br />
einen viel einfacheren Schlüssel<br />
zu unserem Gehirn gibt<br />
als Frühenglisch & Co.: unseren<br />
Körper. Text: Virginia Nolan<br />
Zahlenspiele, Sprachkurse,<br />
Tüftelworkshops: Es<br />
gibt unzählige Möglichkeiten,<br />
Kinder zu fördern.<br />
Kognitive Bildung<br />
wird heute schon lange vor dem<br />
Kindergartenalter zum Thema, sei<br />
es in den Förderkonzepten von<br />
Betreuungseinrichtungen, in Eltern-<br />
Kind-Kursen oder zu Hause, wo<br />
Mütter und Väter den Nachwuchs<br />
für die Zukunft wappnen wollen.<br />
Dabei scheinen wir automatisch<br />
davon auszugehen, dass Förderung<br />
im Kopf stattfinden muss. Ein Fehlschluss,<br />
wie die Forschung nahelegt<br />
– ihr zufolge scheint ein Schlüssel<br />
zur kognitiven Entwicklung auch<br />
unser Körper zu sein, denn Bewegung<br />
ist Nahrung fürs Gehirn.<br />
Wie Kinder den Kopf freikriegen<br />
Es beginnt schon ganz früh: Ein Baby<br />
sieht etwas, dann robbt es los, um<br />
das Objekt zu betasten. «Kinder<br />
erschliessen sich durch Bewegung<br />
die Welt, darum haben sie vermutlich<br />
den Drang danach», sagt Stefan<br />
Schneider. Die Experimente >>><br />
Nach der Bewegung steigt<br />
die Konzentration – aber<br />
nur, wenn man auch Spass<br />
daran hatte.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>739
Gesundheit & Ernährung<br />
>>> des Hirnforschers vom Institut<br />
für Bewegungs- und Neurowissenschaft<br />
der Deutschen Sporthochschule<br />
Köln legen nahe, dass die<br />
Gehirnaktivität sich verändert, wenn<br />
wir uns bewegen. «Körperliche Betätigung<br />
aktiviert den motorischen<br />
Kortex, der Bewegung und Koordination<br />
steuert», erklärt Schneider.<br />
Wenn wir uns auspowern, klettern<br />
oder balancieren, braucht der motorische<br />
Kortex alle Ressourcen des<br />
Gehirns – und entlastet damit den<br />
präfrontalen Kortex, jene Hirnregion,<br />
die uns befähigt, logisch zu denken<br />
und zu planen, Entscheidungen<br />
zu treffen und unsere Emotionen zu<br />
regulieren. Diese Entlastung bewirke,<br />
so Schneider, dass wir uns nach<br />
körperlicher Aktivität besser konzentrieren<br />
und fokussieren können.<br />
Schneider und sein Team gehören<br />
zu den wenigen, die diesen<br />
Effekt am Menschen nachweisen<br />
konnten. Der Hirnforscher will sich<br />
aber nicht missverstanden wissen.<br />
«Nicht Bewegung als solche macht<br />
uns intelligenter», sagt er, «sondern<br />
im Idealfall die erhöhte Aufnahmeund<br />
Konzentrationsfähigkeit, die<br />
sich nach Bewegung einstellt.» Und:<br />
Das mit dem freien Kopf, der besser<br />
aufnimmt, funktioniert nicht<br />
immer. Auch das zeigen Schneiders<br />
Experimente, bei denen die Probanden<br />
nach dem Sport kognitive Tests<br />
lösen. «Damit der Effekt eintritt»,<br />
sagt Schneider, «ist Spass an der<br />
Sportart die Voraussetzung – und<br />
eine körperliche Belastung, die<br />
weder als zu hoch noch als zu niedrig<br />
empfunden wird.» Wie lange die<br />
verbesserte Aufnahme- und Konzentrationsfähigkeit<br />
anhält, variiere<br />
von Mensch zu Mensch. Untersu-<br />
Bewegung macht den Kopf<br />
frei fürs Lernen.<br />
Und sie kann helfen,<br />
Inhalte besser zu verstehen.<br />
chungen dazu existierten nicht,<br />
Erfahrungen gingen von 30 bis<br />
120 Minuten aus.<br />
Eine Erfolgsgeschichte aus den USA<br />
Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass<br />
sich Bewegung auch langfristig auf<br />
unsere kognitive Leistung auswirkt.<br />
Im Buch «Superfaktor Bewegung»<br />
berichtet der US-Psychiater John<br />
J. Ratey über ein Schulsportprojekt<br />
in Naperville, Illinois, das ihn bewogen<br />
habe, seinen Bestseller überhaupt<br />
zu schreiben. Die Rede ist von<br />
der «Stunde null», einem freiwilligen<br />
Fitnesstraining, das in mehreren<br />
Highschools von Naperville angeboten<br />
wird. Frühmorgens, bevor der<br />
reguläre Unterricht beginnt, trainieren<br />
die Schüler während einer Stunde<br />
Ausdauer und Kraft in ihrem<br />
persönlichen Hochleistungsbereich.<br />
Das Ziel der «Stunde null», in den<br />
1990er-Jahren erstmals eingeführt,<br />
war ursprünglich, festzustellen, ob<br />
Sport hilft, die Schulleistungen der<br />
Kinder zu verbessern. Das tat er:<br />
Das Training machte die Schüler<br />
nicht nur fitter, sondern auch klüger.<br />
Von den Achtklässlern in Naper ville<br />
waren 1999 nur drei Prozent übergewichtig,<br />
während es im nationalen<br />
Durchschnitt der Altersgenossen 30<br />
Prozent waren.<br />
Im gleichen Jahr beteiligten sich<br />
Achtklässler aus Naperville mit<br />
230 000 Schülern aus aller Welt an<br />
der Testreihe TIMSS (Trends in<br />
International Mathematics and Science<br />
Study). Schüler aus China,<br />
Japan und Singapur liessen die Teilnehmer<br />
aus den USA weit hinter<br />
sich – mit Ausnahme der Achtklässler<br />
aus Naperville. Sie belegten den<br />
sechsten Platz in Mathematik und<br />
waren die Weltbesten in Naturwissenschaften.<br />
«Ich habe seit Jahrzehnten<br />
nichts gesehen», schreibt<br />
Ratey, «was so ermutigend und in -<br />
spirierend war wie das Programm in<br />
Naperville.»<br />
Bewegung macht den Kopf frei<br />
fürs Lernen – sie könne auch helfen,<br />
Inhalte besser zu verstehen, sagt<br />
Neuropsychologe und Mathematiker<br />
Hans-Christoph Nürk. Nürk gilt<br />
als Experte auf dem Gebiet der<br />
Embodied Cognition, was so viel<br />
wie «verkörperlichtes Denken»<br />
bedeutet. Hinter diesem Forschungszweig<br />
der Psychologie steckt<br />
die Idee, dass Gedächtnis durch eine<br />
Kopplung von motorischen Prozessen<br />
mit Sinnesreizen entsteht. Forscher<br />
konnten zum Beispiel nachweisen,<br />
dass im Gehirn eines Affen<br />
das Bewegungszentrum aktiviert<br />
wird, wenn er Artgenossen beim<br />
Klettern beobachtet, obwohl der<br />
beobachtende Affe sich nicht<br />
bewegt. «Das Gleiche geschieht in<br />
unserem Gehirn, wenn wir auf der<br />
Couch beim Fussball mitfiebern»,<br />
sagt Nürk. Seine Untersuchungen<br />
deuten darauf hin, dass viele kognitive<br />
Vorgänge untrennbar mit dem<br />
Körper verbunden sind.<br />
Mathe mit der Matte<br />
In Zusammenarbeit mit der Exzellenz-Graduiertenschule<br />
LEAD, dem<br />
Wissenschaftscampus Tübingen und<br />
der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg<br />
hat Nürk untersucht, wie<br />
körperliche Wahrnehmungen unser<br />
abstraktes Denken strukturieren.<br />
Ein gutes Beispiel dafür ist das Rechnen<br />
durch Fingerabzählen. «Viele<br />
Lehrer wollen ihre Schüler davon<br />
abbringen», sagt Nürk, «weil sie<br />
befürchten, dass die Kinder später<br />
ihre Finger brauchen, wenn sie 24<br />
und 38 zusammenzählen müssen.»<br />
Daten, die Nürk und seine Kollegen<br />
gesammelt haben, entkräften dies.<br />
Vielmehr, sagt Nürk, deuteten sie<br />
darauf hin, dass sich Kinder durch<br />
den Fingertrick eine gute Basis zum<br />
Verständnis einstelliger Ziffern erarbeiteten.<br />
So schnitten «Fingerrech-<br />
40 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
ner» in Tests besser oder gleich gut<br />
ab wie ihre Mitschüler.<br />
«Mathe mit der Matte» heisst ein<br />
weiteres Projekt aus derselben Studienreihe.<br />
Dabei soll eine interaktive<br />
Tanzmatte Kindern helfen, zweistellige<br />
Zahlen zu verstehen. Die<br />
Matte hat neun Felder, angeordnet<br />
in einer 3-mal-3-Matrix. Beim<br />
Experiment wird sie auf eine Treppe<br />
gelegt. Durch Bewegung von einem<br />
Feld aufs nächste können Kinder<br />
die Matte aktivieren, zum Beispiel<br />
die Markierung auf dem Zahlenstrahl<br />
verschieben. Für eine Verschiebung<br />
im einstelligen Zahlenbereich<br />
müssen sie sich lediglich zur<br />
Seite bewegen – wer die Markierung<br />
dagegen um 10 verschiebt, muss<br />
sich auch zur Seite bewegen, aber<br />
dabei eine Treppe höher steigen.<br />
«Offenbar hilft es, wenn Kinder eine<br />
grössere körperliche Anstrengung<br />
mit einem grösseren Zahlenwert<br />
verknüpfen können», sagt Nürk.<br />
«Der Lerneffekt ist grösser, als wenn<br />
sie Tasten am Computer drücken<br />
und keine Vorstellung haben, wie<br />
sich eine numerische Grösse mit<br />
räumlicher Grösse in Verbindung<br />
bringen lässt.»<br />
Bewegung ermöglicht Förderung<br />
auf die einfachste Art und Weise.<br />
Aber: Es muss Spass machen, damit<br />
sie ihre Wirkung auch entfalten<br />
kann, das haben die Experimente<br />
von Hirnforscher Schneider gezeigt.<br />
«Kinder sollten möglichst vielfältige<br />
Bewegungserfahrungen machen<br />
dürfen», sagt Schneider. Der Forscher<br />
appelliert an Eltern, dem<br />
Nachwuchs solche Erfahrungen<br />
nicht durch Überbehütung zu verwehren:<br />
«Das beginnt damit, die<br />
Kinder nicht in die Schule zu fahren.»<br />
Überdies, so Schneider, sollten<br />
Eltern mit gutem Beispiel vorangehen:<br />
«Studien zeigen, dass das Bewegungsverhalten<br />
der Kinder von dem<br />
der Eltern abhängt.»<br />
Der Körper denkt mit: Wer mit<br />
den Fingern rechnet, entwickelt<br />
ein besseres Gefühl für Zahlen.<br />
>>><br />
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«Starkes Kind», wie man<br />
seine Angst verliert.<br />
Virginia Nolan<br />
weiss, wie das mit dem Neustart im Kopf läuft.<br />
Bei Schreibblockaden hilft nur noch der<br />
Hundespaziergang, am besten steil bergauf.<br />
Wie das Gehirn in Schwung kommt<br />
• Bewegung ist eine der einfachsten und<br />
wirkungsvollsten Methoden, die kognitive<br />
Entwicklung des Kindes zu fördern.<br />
• Nicht nur Sport, auch das freie Spiel in der<br />
Natur, bei dem Kinder klettern, hüpfen, rennen<br />
oder auf Baumstämmen balancieren, ist<br />
Nahrung fürs Gehirn.<br />
• Körperliche Aktivität erhöht unsere<br />
Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit – aber<br />
nur, wenn sie auch Spass macht, wie Forscher<br />
herausfanden.<br />
• Gehirn und Körper gedeihen am besten, wenn<br />
Kinder von möglichst vielfältigen<br />
Bewegungsarten profitieren. Eltern sollten<br />
Kinder nicht durch Überbehütung daran<br />
hindern – das beginnt damit, den Nachwuchs<br />
nicht in die Schule zu fahren.<br />
• Bewegungsspiele können Kindern helfen,<br />
Lerninhalte besser zu verstehen, etwa Zahlen.<br />
Ein vereinfachtes Beispiel dafür ist ein<br />
am Boden aufgemalter Zahlenstrahl mit<br />
Markierungen von 1 bis 10, dem Kinder<br />
entlanghüpfen können. Kinder lernen<br />
einfacher, wenn sie einen grösseren<br />
Zahlenwert mit grösserer körperlicher<br />
Anstrengung verknüpfen können.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>741
Gesundheit & Ernährung<br />
Mutig, stark und selbstbewusst –<br />
dank Kinderyoga<br />
Keiner zu klein, ein Yogi oder eine Yogini zu sein. Der Yogatrend hat auch<br />
die Kleinsten erreicht. Wir haben einen Kurs besucht. Text: Claudia Landolt<br />
ruft da ein Kind. «Ich au», ruft ein<br />
anderes.<br />
Die kleine Katze Mika<br />
will unbedingt ans<br />
Meer. Denn sie hat<br />
gehört, dass es dort<br />
Muscheln mit echten<br />
Perlen gebe. Auch ihr Freund, Zwerg<br />
Purzel, träumt davon, das Meer zu<br />
sehen und den Wind in seinem Fell<br />
zu spüren. Gemeinsam machen sie<br />
sich auf die Reise dorthin.<br />
Diese Geschichte erzählt Kinderyogaleiterin<br />
Claudia Giacalone an<br />
einem Samstagmorgen im Yogastudio<br />
Raum der Achtsamkeit in Rupperswil.<br />
In einem Kreis auf ihren<br />
Yogamatten sitzen acht Kinder zwischen<br />
vier und neun Jahren und<br />
hören der Fantasiereise zu. Vor<br />
ihnen stehen, schön gruppiert, eine<br />
Schatztruhe, ein Zwerg, eine Kerze<br />
und viele, viele Muscheln. Diese<br />
Muscheln halten sich die Kinder ans<br />
Ohr. «Ich bi scho mal am Meer gsi»,<br />
Still sein muss nicht sein<br />
Kinderyoga ist anders. Hier muss<br />
niemand still sitzen und still sein.<br />
Und doch spüren die Kinder genau,<br />
wann es Zeit für Ruhe ist. Nach dem<br />
Begrüssungsritual – dem Händedruck<br />
im Kreis und einem Namaste<br />
– sitzen alle im Kreis. Bereits bekannte<br />
Übungen aus früheren Stunden<br />
werden noch einmal durchgespielt.<br />
Dann darf ein Kind eine Karte aus<br />
der Schatzkiste ziehen.<br />
Heute ist es die Schildkröte. Man<br />
spricht darüber, was eine Schildkröte<br />
ist und wie sie aussieht. «Wie gseht<br />
ächt e Yoga-Schildchrot uus?», fragt<br />
Claudia Giacalone und zeigt die<br />
Yoga-Asana vor. Die Kinder begeben<br />
sich mit Begeisterung in die Position,<br />
die so manchem Erwachsenen<br />
schwerfällt. Und weil eine Schildkröte<br />
bekanntlich gern isst, essen alle<br />
gemeinsam ein paar imaginäre<br />
Salatblättchen. Dabei wird laut<br />
geschmatzt.<br />
Kinderyoga ist spielerisch: Beim<br />
herabschauenden Hund darf gebellt,<br />
bei der Kobra gezischt und bei der<br />
Schildkröte geschmatzt werden.<br />
Nach einer Ausgleichsstellung für<br />
den Rücken wird eine zweite Übung<br />
vorgestellt: das Boot. Denn die<br />
Katze Mika und der Zwerg Purzel<br />
stellen sich schon vor, was sie auf<br />
42
dem Meer so alles tun könnten. Mit<br />
einem Boot fahren, zum Beispiel.<br />
Einem ruhigen Boot – und einem,<br />
in welchem fest gerudert werden<br />
muss, um auf Kurs zu bleiben.<br />
Boom aus Deutschland<br />
Kinderyoga boomt. In fast allen<br />
Deutschschweizer Städten gibt es<br />
Kinder- und/oder Teenyoga im<br />
Angebot. Der Trend kommt unter<br />
anderem aus Deutschland. Dort gibt<br />
es an gewissen Schulen bereits Yoga<br />
als Pflicht- oder zumindest Wahlschulfach.<br />
Anlass war dort eine Studie<br />
des Deutschen Kinderschutzbundes,<br />
die Eltern wie Lehrer verstörte.<br />
Ein Viertel der befragten Kinder<br />
zwischen sieben und neun Jahren<br />
gab an, sich regelmässig und vor<br />
allem durch die Schule gestresst zu<br />
fühlen. Zwei Drittel wünschten sich<br />
mehr Entspannung.<br />
Aber auch an Schweizer Schulen<br />
hält Yoga Einzug. In einem Kindergarten<br />
in Zermatt etwa ist eine halbe<br />
Stunde pro Woche für Yoga reserviert.<br />
Ein Gymnasium in Biel bietet<br />
eine Yoga-Blockwoche an, und in<br />
einer Gemeinde im Kanton >>><br />
Einfach sein – ohne<br />
Beurteilung und ohne<br />
Leistungsdruck.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>743
Aargau ist Yoga sogar als J&S-<br />
Kurs im Angebot. «Wichtig ist dabei,<br />
dass Kinder und auch Jugendliche<br />
erfahren, dass sie mehr sind als auf<br />
Leistung getrimmte Maschinen,<br />
dass sie einfach sein dürfen, dass sie<br />
ausschliesslich etwas für sich tun<br />
dürfen, und ohne dabei beurteilt zu<br />
Den Atem beobachten? Das<br />
geht mit einem Papierschiff<br />
auf dem Bauch viel leichter.<br />
werden», heisst es in der neusten<br />
Ausgabe des Yoga Journal, der Verbandszeitschrift<br />
der Schweizer<br />
Yogalehrer und -lehrerinnen.<br />
Zeit fürs Kindsein<br />
Das stellt auch die Leiterin dieses<br />
Kinderyoga-Kurses fest. «Vielen<br />
Kindern fehlt die Zeit zum Kindsein,<br />
sich selber zu spüren, sich wahrzunehmen<br />
und auszudrücken», erklärt<br />
Claudia Giacalone, selbst Mutter von<br />
zwei Söhnen. Vielen Kindern fehle<br />
es auch an Beweglichkeit, Konzentration<br />
und Ruhe. Das wolle sie<br />
ändern – mit Yoga. Denn Yoga heisst:<br />
4 FRAGEN<br />
an Ursula Salbert, Yogalehrerin und Ausbildnerin für Kinder yoga<br />
Frau Salbert, warum tut Yoga Kindern<br />
gut?<br />
Weil die Kinder lernen, sich selbst in den<br />
verschiedensten Bewegungsformen und in<br />
den unterschiedlichsten Ruhezeiten<br />
ganzheitlich wahrzunehmen. Dies lässt die<br />
Kinder bewegungskompetenter,<br />
ausgeglichener und zufriedener werden.<br />
Die Kinderyoga-Inhalte erweitern das<br />
Wissen über die Formen und Funktionen<br />
des Körpers und seiner Teile sowie die<br />
Erfahrung von Bewegungsfähigkeiten und<br />
Grenzen, aber auch das Wissen, warum wir<br />
atmen, und die Erfahrung der<br />
Zusammenhänge von Bewegung, Stille,<br />
Atem und Befindlichkeiten. Auch das<br />
Kommunizieren über Stimmungen,<br />
Gefühle und Sinneswahrnehmungen, ist<br />
wichtig. Man erfährt, dass alle Kinder<br />
unterschiedlich sind.<br />
Was kann Yoga nicht?<br />
Yoga kann nicht sofort wirken wie die<br />
Einnahme eines Medikamentes oder nach<br />
dem Motto: Mache eine Yogaübung und du<br />
wirst die Wirkung gleich erfahren. Yoga<br />
üben braucht Motivation, Zeit und<br />
Erfahrungen aus vielen unterschiedlichen<br />
Varianten, Impulsen und Wiederholungen.<br />
Yoga üben wirkt immer in seiner<br />
Gesamtheit auf die körpereigenen<br />
Selbstregulationssysteme. Darauf weisen<br />
Yogatherapie-Spezialisten immer wieder<br />
hin. Ein hyperaktives Kind wird durch<br />
Yoga nicht im Handumdrehen ruhiger, aber<br />
es macht in kleinen Schritten die<br />
Erfahrung, dass es selbst vieles verändern<br />
kann.<br />
Gibt es Einschränkungen?<br />
Da Kinder noch im Wachstum sind, sollte<br />
das Yogaüben sie nicht überfordern. So<br />
sollten Kinder nicht das Luftanhalten üben<br />
oder nach einheitlichen, vorgegebenen<br />
Rhythmen atmen. Lange, kraftintensive,<br />
statische, die Gelenke bis an ihre Grenzen<br />
ausreizende Haltungen sowie passive<br />
statische Dehnungen bergen eine hohe<br />
Verletzungsgefahr und sollten besser nicht<br />
geübt werden. Kranke Kinder sollen keine<br />
Körperübungen ausführen,<br />
Entspannungsübungen sind okay. Kinder<br />
mit psychischen Problemen sollten Yoga<br />
nur mit einer darauf spezialisierten und<br />
gut ausgebildeten Therapeutin üben. Das<br />
gilt auch für Kinder mit schweren<br />
Behinderungen. Im Zweifelsfall sollte<br />
immer eine ärztliche Meinung eingeholt<br />
werden.<br />
Worauf müssen wir als Eltern bei der<br />
Auswahl eines Kinderyoga-Kurses<br />
achten?<br />
Eltern sollten wissen, dass Yogalehrer und<br />
-lehrerinnen unterschiedliche<br />
Schwerpunkte und Inhalte auswählen<br />
können. Ein genaues Hinschauen in Flyer<br />
und Website ist da sehr wichtig. Am besten<br />
ist ein persönliches Gespräch, so erhalten<br />
Eltern umfangreiche Informationen über<br />
Ausbildungen, Unterrichtserfahrungen,<br />
Yogatraditionen, Ausrichtungen, Inhalte<br />
und Ziele der Anbieter und können sich<br />
bewusst für das eine oder andere Angebot<br />
entscheiden. Für die Kinder ist es wichtig,<br />
dass sie die Möglichkeit haben, in<br />
Schnupperstunden verschiedene<br />
Yogalehrer und ihre Angebote<br />
kennenzulernen. So können sie sich frei<br />
entscheiden, wohin sie gehen möchten.<br />
Zur Person<br />
Ursula Salbert ist Yogalehrerin, staatlich<br />
anerkannte Erzieherin und Yogabuch-Autorin.<br />
Anfang der 90er-Jahre kam sie erstmals mit<br />
Kinderyoga in Berührung. Seit der Gründung<br />
ihrer eigenen Yogaschule bildet sie in<br />
Deutschland und der Schweiz Kursleiter in Yoga<br />
mit Kindern und Jugendlichen aus.<br />
44 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Gesundheit & Ernährung<br />
im Einklang mit sich selber zu sein.<br />
«Ich finde Yoga für Kinder sinnvoll,<br />
damit sie mal zur Ruhe kommen und<br />
eine Auszeit vom Alltag nehmen»,<br />
sagt eine Mutter.<br />
Kinderyoga bedeutet auch: Energie.<br />
So werden die Kinder von Claudia<br />
Giacalone verzaubert und können<br />
ihr Tier selbst darstellen. Nun<br />
wird im Raum herumgehüpft, ge <br />
krochen und gelacht, bevor die Kinder<br />
sich auf den Boden legen. Die<br />
Yogaleiterin setzt ihnen ein Papierschiffchen<br />
auf den Bauch. «Wenn<br />
die Kinder sich auf den Rücken<br />
legen und das Schiff auf den Bauch<br />
nehmen, können sie zusehen, was<br />
beim bewussten Atmen passiert»,<br />
erklärt sie. Die Kinder finden das<br />
alles andere als langweilig – sie<br />
schätzen auch den ruhigen Teil der<br />
Stunde. Nach der Schlussentspannung<br />
und der Rückverzauberung in<br />
den Alltag darf jedes Kind mit einem<br />
Erzählstein sagen, wie es sich nun<br />
fühlt, was ihm gefallen hat und was<br />
nicht – wenn es möchte. Ein Händedruck<br />
und ein Namaste lassen die<br />
Stunde ausklingen. «Die Geschichte<br />
war sehr schön», sagt ein Mädchen.<br />
Und ein Junge findet am besten,<br />
«dass wir noch gemalt haben».
Medien<br />
Kleine Kinder<br />
brauchen kein Internet<br />
Und plötzlich will der Fünfjährige ein Computerspiel spielen. Das stellt<br />
unsere Autorin vor die komplizierte Frage: Wie viel Medien ist bei<br />
Kleinkindern erlaubt? Und wie viel ist zu viel? Text: Claudia Landolt<br />
Bis heute ist umstritten, ob<br />
intensive Computernutzung im<br />
Kindesalter zu irreversiblen<br />
Schäden im Gehirn führt.<br />
Rumms! Der Fünfjährige<br />
ist zu Hause. Voller<br />
Elan wirft er zuerst die<br />
Türe ins Schloss, dann<br />
die Kindergartentasche<br />
und den Leuchtstreifen auf die<br />
Bank. Ein kurzes «Hoi Mama!»,<br />
dann kommt der Hammersatz:<br />
«Mama, chani Minecraft?» Mir kippt<br />
die Kinnlade runter. «Wie kommst<br />
du denn da drauf?», frage ich. «Von<br />
Moritz, der darf das JEDEN Tag»,<br />
kräht er. Willkommen zu Hause,<br />
seufze ich innerlich, und bin ein<br />
wenig ratlos. Ich denke: «Jetzt fang<br />
bitte du nicht auch noch damit an,<br />
deine älteren Brüder reichen mir<br />
diesbezüglich.»<br />
Abends tue ich das, was Eltern<br />
immer tun, wenn sie etwas nicht<br />
wissen: Sie fragen Google. Im Netz<br />
stosse ich auf eine neue Umfrage aus<br />
Deutschland. Sie besagt, dass immer<br />
mehr Kinder schon im Primarschulalter<br />
ein eigenes Handy besitzen: 18<br />
Prozent der Acht- und Neunjährigen<br />
verfügten 2<strong>01</strong>6 über ein Smartphone.<br />
Zwei Jahre zuvor waren es<br />
erst 10 Prozent. Bei den Sechs- und<br />
Siebenjährigen stieg die Zahl binnen<br />
zwei Jahren von 2 auf 4 Prozent. Das<br />
geht aus der KIM-Studie hervor, der<br />
Basisstudie zum Medienumgang der<br />
6- bis 13-Jährigen in Deutschland.<br />
Medienpädagogen haben<br />
Hochkonjunktur<br />
Zahlen, die nachdenklich stimmen.<br />
Und Medienpädagogen sowie Experten<br />
zu gefragten Personen >>><br />
10 Tipps für Eltern<br />
zum richtigen Umgang mit<br />
digitalen Medien<br />
• Kinder unter 3 Jahren benötigen direkte Zuwendung,<br />
aktives Spielen und Gespräche – kein TV.<br />
• Kinder zwischen 3 und 5 Jahren können mit elterlicher<br />
Begleitung bis zu 30 Minuten pro Tag fernsehen. Ihre<br />
Konzentrationsfähigkeit ist jedoch beschränkt. Kinder<br />
nehmen die TV-Welt als «wirklich» wahr. Sie erkennen<br />
nicht, was real und was inszeniert ist.<br />
• 30 Minuten Aufmerksamkeitsphase ist ein Richtwert.<br />
Wie viel Ihr Kind verträgt, können Sie am besten<br />
einschätzen.<br />
46 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
• Beobachten Sie Ihr Kind bei seinen Medienerfahrungen<br />
und gehen Sie auf seine Signale ein.<br />
• Altersgerechte Videos eignen sich für Kinder unter<br />
4 Jahren besser als TV, da DVDs gestoppt und wieder<br />
angeschaut werden können.<br />
• Kinder ahmen gern ihre TV-Helden nach und testen die<br />
Grenzen ihrer eigenen Welt immer wieder neu aus.<br />
Nehmen Sie die Helden Ihrer Kinder ernst. Kinder<br />
können an und mit ihren Helden wachsen. Fragen Sie Ihr<br />
Kind, was es an seinen Helden gut findet. Sprechen Sie<br />
mit ihm auch über reale Helden aus seinem Umfeld.<br />
• Bewegung und freies Spiel helfen Ihrem Kind, seine<br />
Eindrücke besser zu verarbeiten.<br />
• Vor dem Schlafengehen sollte Ihr Kind auf Filme und TV<br />
verzichten.<br />
• Gemeinsames Fernsehen darf zu einem Ritual werden.<br />
Einigen Sie sich mit Ihrem Kind auf feste Fernsehzeiten<br />
und -inhalte und erstellen Sie gemeinsam Regeln. Damit<br />
helfen Sie Ihrem Kind, dem Fernsehen einen konkreten<br />
Platz zuzuweisen und eine Sendung bewusst zu<br />
konsumieren. Ausserdem stärken gemeinsame Rituale<br />
und Verabredungen das Wir-Gefühl in der Familie und<br />
fördern das soziale Verhalten Ihres Kindes.<br />
• Kinder orientieren sich auch bei der Mediennutzung<br />
stark an ihren Eltern. Achten Sie deshalb auf Ihren<br />
Medienkonsum und versuchen Sie Ihrem Kind ein<br />
Vorbild zu sein. Die digitale Welt kann das Spielen im<br />
Garten und auf dem Spielplatz, Treffen mit Freunden<br />
oder das gemeinsame (Vor-)Lesen nicht ersetzen.<br />
Quelle: Jugend und Medien<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>747
Medien<br />
>>> machen, die uns Eltern Tipps<br />
geben, ob, wann, wie lange und<br />
wofür Kinder Medien nutzen dürfen.<br />
«Angebote wie Kurse, Broschüren<br />
und Webseiten zum Thema schiessen<br />
wie Pilze aus dem Boden, die Zahl<br />
der Ratschläge und Regeln wächst<br />
mit der Zahl der Möglichkeiten, die<br />
neue Medien mitbringen», schrieb<br />
2<strong>01</strong>5 das Schweizer ElternMagazin<br />
Fritz+Fränzi im Dossier Medien. Auf<br />
Orientierung bietet die<br />
Regel 3/6/9/12. Kein<br />
Bildschirm vor 3, keine<br />
Spielkonsole vor 6 Jahren.<br />
der Webseite des nationalen Medienkompetenzprogramms<br />
«Jugend<br />
und Medien» sind aktuell 521 Beratungsangebote<br />
in der Schweiz aufgelistet.<br />
521 Angebote bedeuten 521<br />
Möglichkeiten – doch Vielfalt ist<br />
nicht gerade das, was Eltern in solchen<br />
Momenten suchen. Sie wollen<br />
Eindeutigkeit.<br />
Orientierung bietet die Regel<br />
«3/6/9/12». Diese Richtlinie wurde<br />
von Experten des Informationsportals<br />
«Jugend und Medien» ausgearbeitet.<br />
Sie bedeutet: kein Bildschirm<br />
vor 3, keine eigene Spielkonsole vor<br />
6 Jahren, kein Internet vor 9 Jahren<br />
und kein unbeaufsichtigtes Internet<br />
vor 12 Jahren. Andere Experten wie<br />
etwa die deutsche Medienratgeberseite<br />
schau-hin.info empfehlen: Jüngere<br />
Kinder bis 5 Jahre sollten nicht<br />
länger als eine halbe Stunde, ältere<br />
Kinder bis 9 Jahre nicht länger als<br />
eine Stunde täglich vor dem Bildschirm<br />
verbringen.<br />
Medienerziehung beginnt mit der<br />
Geburt<br />
Wer jedoch glaubt, das Thema neue<br />
Medien mindestens bis zur Primar-<br />
«Ein Kind mit digitalen<br />
Medien ruhigzustellen,<br />
ist verführerisch»<br />
Medienpädagogin Eveline Hipeli<br />
über Verbote, den richtigen<br />
Umgang mit digitalen Medien und<br />
was Eltern wissen sollten über den<br />
Medienkonsum ihrer Kinder.<br />
Interview: Claudia Landolt<br />
Frau Hipeli, dürfen Kindergartenkinder<br />
mit neuen Medien in Kontakt kommen?<br />
Wir weisen als Medienpädagogen immer<br />
wieder darauf hin, dass Kinder vor Kindergarteneintritt<br />
keinen Nachteil gegenüber ihren<br />
Altersgenossen haben, wenn sie noch keine<br />
digitalen Medien benutzt haben. Die Realität<br />
in den Familien ist jedoch so, dass der grösste<br />
Teil aller Kindergartenkinder bereits im<br />
Vorschulalter die ersten Erfahrungen mit<br />
digitalen Medien macht: sei dies mit dem<br />
«Fernsehen» auf dem Tablet der Eltern, mit<br />
dem kurzen Spiel auf dem Smartphone von<br />
Papi in der Einkaufsschlange oder beim<br />
Anhören des Kasperli via Spotify. In einem<br />
Ein-Kind-Haushalt ist der Kontakt mit<br />
digitalen Medien sicher einfacher zu steuern.<br />
Je mehr Kinder unterschiedlichen Alters im<br />
Haushalt leben, desto schwieriger wird es.<br />
Was ist Ihre Empfehlung?<br />
Eltern sollten sich grundsätzlich fragen: Wie<br />
soll mein Kind aufwachsen? Welche Medien<br />
spielen in unserem Haushalt eine Rolle?<br />
Welche Medien möchte ich meinem Kind<br />
zugänglich machen? Und welche nicht? Bin<br />
ich selbst ein einigermassen authentisches<br />
Vorbild als Elternteil? Um auf Ihre Ursprungsfrage<br />
zurückzukommen: Kindergartenkinder<br />
kommen bereits mit neuen Medien in Kontakt<br />
und ja, das dürfen sie auch. Idealerweise<br />
findet dieser Kontakt schrittweise, dosiert<br />
und vor allem begleitet statt.<br />
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie<br />
im Tram oder Zug Kinder mit einem<br />
Smartphone sehen?<br />
Für sie ist das Smartphone in solchen<br />
Situationen ein Ersatz für eine andere<br />
Tätigkeit (die man im Tram/Zug oder Bus<br />
eben gerade nicht ausüben kann). Oder ein<br />
Ersatz für Kommunikation (mit einem<br />
Gspänli, mit den Eltern, der Begleitperson).<br />
Als es noch keine Smartphones gab, hat man<br />
dem Kind einen Gameboy, ein Kinderheftli<br />
vom Kiosk oder einen Walkman in die Hand<br />
gedrückt – mit dem gleichen Ziel: das Kind in<br />
dem Moment zu unterhalten, Langeweile zu<br />
überbrücken.<br />
Genau das wird aber kritisiert.<br />
Ein Kind mit digitalen Medien ruhigzustellen,<br />
ist verführerisch einfach. Kinder sollten<br />
lernen, dass Langeweile nicht immer<br />
«aufgefüllt» wird mit einer medialen Tätigkeit.<br />
Wie viel Medienkonsum ist zu viel?<br />
Es ist ein Unterschied, ob ein Fünfjähriger im<br />
Tram fünf Minuten lang die Fotos der Mutter<br />
durchscrollt oder sein eigenes Zoovideo vom<br />
Vortag anschaut, oder ob eine Vierjährige<br />
eine halbe Stunde im Restaurant Youtube-<br />
Videos schaut. Je jünger das Kind, desto<br />
mehr sollten sich Eltern überlegen, warum<br />
und wie lange sie ihr Smartphone aus der<br />
Hand geben.<br />
Was ist der wichtigste Rat für Eltern zum<br />
Medienkonsum für Kindergartenkinder?<br />
Entscheidend ist, dass Eltern den Medienkonsum<br />
ihrer Kinder kennen, sie beim Kontakt<br />
mit Medien begleiten und bei Fragen und<br />
Anliegen zur Stelle sind. Dazu empfiehlt es<br />
sich, Regeln aufzustellen, etwa, wie lange und<br />
wann digitale Medien genutzt werden dürfen.<br />
Dabei können Eltern dem Kind erklären,<br />
weshalb sie diese Regeln vorsehen. Nicht, um<br />
48 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
schulstufe umschiffen zu können,<br />
täuscht sich. Laut Bo Reichlin, der<br />
Initiantin von mediolino.ch, einem<br />
Programm, das Medienerziehung in<br />
Krippen, Kindergärten und Familien<br />
fördert, kann Medienerziehung gar<br />
nicht früh genug einsetzen – gerade<br />
weil auch in Medienfragen eine vertrauensvolle<br />
Beziehung so wichtig<br />
ist. «Eigentlich beginnt sie mit der<br />
Geburt.»<br />
Sie finde zunächst indirekt statt<br />
– indem Kinder beobachteten, was<br />
die Eltern mit Medien machten.<br />
Zur Vorbildrolle komme später die<br />
wichtige Rolle als Begleiter, selbst<br />
wenn Kinder offenbar harmlose<br />
Dinge wie «Biene Maja» guckten.<br />
«Um Medienbotschaften zu verste<br />
das Kind zu «bestrafen», sondern weil sie<br />
möchten, dass es ihm gut geht.<br />
Finden Sie eine totale Internet-Abstinenz<br />
im Kleinkindalter sinnvoll?<br />
Kleine Kinder brauchen kein Internet. Der<br />
allergrösste Teil des Internets ist für sie etwas<br />
ganz Unbegreifliches. Sie begegnen dem<br />
Internet und seinen Funktionen aber im<br />
Alltag, beispielsweise, wenn sie mit der Oma<br />
via Videotelefonie im Ausland telefonieren<br />
oder einen Trickfilm auf Netflix schauen<br />
dürfen. Eltern sollten sich bei kleinen Kindern<br />
deshalb gut überlegen, wann und wie sie das<br />
Internet in ihrer Lebenswelt zulassen – oder<br />
ob die Kinder den Lieblingstrickfilm nicht<br />
besser via TV oder DVD schauen. Grundsätzlich<br />
gilt: Ein Kind sollte in jungen Jahren im<br />
Internet nie alleine auf Entdeckungsreise<br />
gehen.<br />
Zur Person<br />
Eveline Hipeli, Dr. phil., ist Kommunikationswissenschaftlerin<br />
und Medienpädagogin. Sie<br />
arbeitet als Dozentin an der Pädagogischen<br />
Hochschule Zürich. Als Mutter dreier junger<br />
Kinder erlebt sie den Alltag mit (und ohne)<br />
Medien auch privat hautnah mit.<br />
Eltern müssen sich stets<br />
aufs Neue fragen: Welche<br />
Medien möchte ich meinem<br />
Kind zugänglich machen?<br />
Und welche nicht?<br />
hen, müssen Kinder komplexere<br />
Erzählstrukturen verstehen. Sie<br />
müssen Körpersprache und Ge <br />
sichtsausdrücke lesen und Realität<br />
von Fiktion unterscheiden», sagt<br />
Reichlin. Letzteres erlernen Kinder<br />
im Schnitt erst zwischen 5 und 7.<br />
«Ich kann Eltern nur empfehlen,<br />
Mass zu halten, bei Bedarf Inhalte zu<br />
erklären und den Entwicklungsstand<br />
des Kindes immer wieder zu<br />
überprüfen.»<br />
Denn dass Eltern auch in Sachen<br />
Smartphone und Co. eine Vorbildrolle<br />
haben, ist unbestritten. Das<br />
namhafte Hans-Bredow-Institut<br />
stellte 2<strong>01</strong>5 in seinem Bericht<br />
«Mobile Internetnutzung von Kindern<br />
und Jugendlichen» fest, dass<br />
die Art der Smartphone-Nutzung<br />
durch kleinere Kinder von den «Vorerfahrungen<br />
und der Begleitung<br />
durch Eltern abhängt».<br />
Einer der vehementesten Kritiker<br />
von frühkindlicher Mediennutzung<br />
ist der deutsche Neurobiologe<br />
Gerald Hüther. «Wenn Kinder zu<br />
viel Zeit am Computer verbringen,<br />
verändert das nicht nur ihre Wahrnehmung,<br />
ihr Raum- und Zeitempfinden<br />
und ihre Gefühlswelt. Alles,<br />
was sie in Computerspielen erleben,<br />
verändert auch ihr Gehirn.»<br />
Hüther fordert nichts weniger, als<br />
dass Kinder von digitalen Medien<br />
ferngehalten werden. Eine Forderung,<br />
bei der Experten wie der Neuropsychologe<br />
Lutz Jäncke von der<br />
Universität Zürich abwinken. «Ich<br />
halte es für falsch, ein Medium zu<br />
verteufeln, nur weil es negative Folgen<br />
haben kann.»<br />
Bis heute ist umstritten, ob intensive<br />
Computernutzung im Kindesalter<br />
zu irreversiblen Schäden im<br />
Gehirn führt. Langzeitstudien fehlen.<br />
Fakt ist, dass bei der Computernutzung<br />
andere Hirnareale aktiviert<br />
werden als beim Spielen oder Lernen.<br />
Lutz Jäncke ist sich aber sicher,<br />
dass unser Denkorgan auf die neuen<br />
Herausforderungen reagiert. «Ich<br />
bin überzeugt, dass das Gehirn sich<br />
von den neuen Medien nicht aus<br />
dem Konzept bringen lässt.»<br />
Und mein Minecraft-Knirps?<br />
Der hatte nach seinem Mittagessen<br />
die faszinierende Welt der bunten<br />
Games wieder vergessen. Zu verlockend<br />
waren der Garten und der<br />
nahe Wald. Möge die Faszination für<br />
das freie Spiel hoffentlich noch lange<br />
anhalten.<br />
>>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>749
Kindergarteneintritt:<br />
Das sind die Elternpflichten<br />
Nicht nur für Ihr Kind, auch für Sie als Eltern beginnt mit dem Kindergarteneintritt ein<br />
neuer Lebensabschnitt. Ab sofort heisst es: Organisation. Wir sagen, was Sie erwartet.<br />
Und worauf Sie achten müssen. Text: Claudia Landolt<br />
50 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Service<br />
Stundenplan, Quartalsplan,<br />
Quartalsziel, Jahresplan<br />
und Znüniblatt. Dazu<br />
Elterntermine: Besuchsmorgen<br />
oder -nachmittage,<br />
Elternabende, Elterngespräch,<br />
Kindergartenkaffee und Räbeliechtlischnitzen,<br />
den dazu gehörigen<br />
Umzug mit der ganzen Familie<br />
sowie das Jahresabschlussfest. Eventuell<br />
kommt noch ein Theater oder<br />
Weihnachtssingen dazu. Uff! Eltern<br />
von Kindergartenkindern haben<br />
Dichtestress, genauer: Termindichtestress.<br />
Pro Kind kommen so gut und<br />
gerne zehn Termine zusammen, die<br />
es übers ganze Schuljahr hinweg<br />
wahrzunehmen gilt. Kein Problem,<br />
wenn Eltern nicht jedes Mal selber<br />
hingehen können – auch Gotti, Götti,<br />
Grosseltern oder Freunde sind im<br />
Kindergarten herzlich willkommen.<br />
Die zahlreich erscheinenden Termine<br />
sind aber auch ein Qualitätsmerkmal<br />
– dafür, dass sich die Lehrpersonen<br />
Ihres Kindes ganz viel Zeit<br />
nehmen dafür, das Schuljahr<br />
abwechslungsreich zu gestalten.<br />
Denn viele Kinder sind wahnsinnig<br />
stolz und freuen sich, wenn ihre<br />
Familie sie im Kindergarten besucht,<br />
der sie ihre Sachen zeigen dürfen.<br />
Dennoch ist der Kindergarteneintritt<br />
für viele Eltern in organisatorischer<br />
und betreuungstechnischer<br />
Hinsicht eine grosse Umstellung.<br />
Damit Sie wissen, was diesbezüglich<br />
auf Sie zukommmt, hier eine Übersicht:<br />
1. Betreuung<br />
Der Kindergarten gehört zur Volksschule<br />
und ist deshalb den Blockzeiten<br />
unterworfen. Das heisst, das<br />
Kind ist um 8 Uhr (oder um 8.15<br />
Uhr) bis 11.30 (oder 11.45 Uhr) im<br />
Kindergarten. Wird es nachmittags<br />
unterrichtet, ist es von 13.30 bis<br />
15.10 Uhr weg (je nach Stundenplan).<br />
Diese Zeiten verdeutlichen:<br />
Wer sein Kind bis anhin ganztags<br />
von einer Tagesmutter oder einer<br />
Kita betreuen liess, muss sich ganz<br />
neu organisieren. Damit sind Sie,<br />
liebe Eltern, jedoch keinesfalls allein:<br />
In der Schweiz gehören familienergänzende<br />
Betreuungsformen zum<br />
Familienalltag: Rund 60 Prozent aller<br />
Kinder unter 13 Jahren werden laut<br />
Bundesamt für Statistik institutionell<br />
betreut. Das Betreuungsangebot für<br />
Kinder im Vorschul- und Schulalter<br />
ist sehr heterogen. Je nach Kanton<br />
wird die familienergänzende Kinderbetreuung<br />
kantonal oder kommunal<br />
geregelt. In einigen Fällen<br />
sind sogar beide politischen Ebenen<br />
zuständig. Dies führt zu grossen<br />
regionalen Unterschieden in Bezug<br />
auf die Vorschriften, die Anzahl verfügbarer<br />
Betreuungsplätze, den Preis<br />
und die Leistungen.<br />
Die Dichte des Angebots unterscheidet<br />
sich stark zwischen städtischen<br />
und ländlichen Regionen<br />
sowie pro Altersgruppe. Die Vereinbarkeit<br />
von Familie und Beruf ist<br />
jedoch ein wichtiges politisches Ziel.<br />
So hat der Bund mit der Finanzhilfe<br />
für familienergänzende Kinderbetreuung<br />
während den letzten 13 Jahren<br />
die Schaffung von 47 760 neuen<br />
Betreuungsplätzen unterstützt, was<br />
einer Erhöhung des geschätzten<br />
Platzangebots von 96 Prozent entspricht.<br />
Diese sogenannte Anstossfinanzierung<br />
wird mit einem Kredit<br />
von 120 Millionen Franken bis 2<strong>01</strong>9<br />
verlängert.<br />
Wer ist für die Finanzierung zuständig?<br />
Anders als beispielsweise in<br />
Skandinavien wird die Betreuung in<br />
der Deutschschweiz grösstenteils<br />
durch die Eltern finanziert. Manchmal<br />
subventionieren auch die Gemeinden<br />
(etwa durch Gutscheine<br />
wie im Kanton Luzern). Die Tarifsysteme<br />
für einen Betreuungsplatz variieren<br />
beträchtlich – nicht nur zwischen<br />
den Kantonen, sondern auch<br />
innerhalb der Kantone. Je nach<br />
finanzieller Unterstützung durch die<br />
öffentliche Hand (meist einkommensabhängige<br />
Tarife) und/oder<br />
durch die Wirtschaft sind die Tarife<br />
sehr unterschiedlich. In der Deutschschweiz<br />
ist der Elternbeitrag laut<br />
Verband Kinderbetreuung Schweiz<br />
Kibesuisse generell deutlich höher<br />
(⅔ der Vollkosten) als in der Westschweiz<br />
(⅓ der Vollkosten).<br />
Diese Betreuungsmodelle gibt es für<br />
Kindergarten- und Schulkinder:<br />
Institutionelle Betreuung<br />
Dazu gehören: modulare Tagesstrukturen,<br />
gebundene Tagesstrukturen<br />
und Tagesstrukturen für alle<br />
Altersstufen. Diese Art von Betreuung<br />
wird in der Wohngemeinde<br />
angeboten. Es lohnt sich daher, sich<br />
spätestens bei der Anmeldung des<br />
Kindes in den Kindergarten zu informieren<br />
und den Platz zu reservieren.<br />
Dort erfahren Sie auch, was eine<br />
Betreuung kostet. Generell gilt: Nirgendwo<br />
sind die Betreuungskosten<br />
für Kinder so hoch wie in der<br />
Schweiz. Besserverdienende müssen<br />
mit der vollen Kostenbeteiligung<br />
rechnen. Zudem wird mit dem<br />
Schul eintritt die Vereinbarkeit<br />
schwieriger. Muss das Kind um >>><br />
Nirgendwo sind die<br />
Betreuungskosten für<br />
Kinder so hoch wie<br />
in der Schweiz.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>751
Service<br />
>>> 8 Uhr im Kindergarten sein,<br />
die Eltern aber schon um 7 Uhr 30<br />
zur Arbeit, muss das Kind vor Unterrichtsbeginn<br />
in die Tagesstruktur<br />
oder den Hort. Hat es Nachmittagsunterricht,<br />
muss es über Mittag wieder<br />
in den Hort und nach dem<br />
Unterricht ebenfalls. Das ist für<br />
kleinere Kinder in der Anfangsphase<br />
eine grosse Belastung. Am Anfang<br />
empfiehlt es sich daher – wenn möglich<br />
–, auf alternative Betreuungsformen<br />
auszuweichen, etwa durch<br />
Familie, Freunde oder Nachbarn.<br />
Wer eine Nanny oder ein Au-pair<br />
(Sonderform der institutionellen<br />
Betreuung) hat, hat diese Sorgen<br />
nicht. Dafür kommen zusätzliche<br />
Kosten auf die Familie zu, etwa Sozial-<br />
und Versicherungskosten sowie<br />
die berufliche Vorsorge.<br />
Vorteil: Betreuung durch Fachpersonal;<br />
viele Gspänli; nahe Umgebung.<br />
Nachteil: keine oder eingeschränkte<br />
Betreuung in den Ferien; modulare<br />
Tarifsstruktur; anstrengend für die<br />
Kinder.<br />
Nichtinstitutionelle Betreuung<br />
durch Privatpersonen<br />
Dazu gehören: Tagesfamilien,<br />
Gross eltern, andere Verwandte<br />
oder Freunde. Während Letztere<br />
fast immer unentgeltlich arbeiten,<br />
sind Tagesfamilien nicht kostenlos.<br />
In der Schweiz gibt es rund 10 000<br />
Tagesmütter, die 30 000 Kinder<br />
betreuen. Diese Tagesmütter werden<br />
von Vermittlerinnen begleitet, müssen<br />
eine obligatorische Ausbildung<br />
absolvieren und sind zur jährlichen<br />
Weiterbildung verpflichtet. Die<br />
Finanzierung ist ähnlich wie bei den<br />
Tagesfamilie, Grossfamilie,<br />
Mittagstisch, Hort, Nachbarn:<br />
Die Betreuungsmöglichkeiten<br />
sind zahlreich.<br />
Kitas: Die meisten Vereine werden<br />
finanziell von den Gemeinden<br />
unterstützt, meist aber in geringerem<br />
Ausmass.<br />
Vorteil: sind oftmals in der Nähe des<br />
Wohnorts; kurzfristig abrufbar; oft<br />
unentgeltlich.<br />
Nachteil: Wartelisten bei Tagesmüttern;<br />
keine Betreuung in den Schulferien<br />
und im Krankheitsfall.<br />
Kosten der Betreuung<br />
Babysitter (Stundenlohn tagsüber)<br />
• Jugendliche zwischen 13 und 15<br />
Jahren: 7 Fr. pro Stunde; zwischen<br />
16 und 18 Jahren: 8 bis10 Fr. pro<br />
Stunde.<br />
Babysitter (Stundenlohn abends)<br />
• Ab 19 Uhr: 8 bis10 Fr. pro Stunde.<br />
• Pauschalentschädigung pro<br />
Abend: 25 bis 30 Fr. für Jugendliche<br />
unter 16 Jahren bzw. 30 bis 50<br />
Fr. für Jugendliche zwischen 16<br />
und 18 Jahren.<br />
(aus: Handbuch «Alternativen zur Kita»,<br />
Stadt Zürich)<br />
Tagesmutter<br />
• Der Tagesfamilienverein stellt pro<br />
Betreuungsstunde ca. 8 Fr. in<br />
Rechnung.<br />
• Spezielle Auslagen wie Freizeitbeschäftigungen<br />
werden nach<br />
vorheriger Absprache von den<br />
Eltern direkt an die Tagesmutter<br />
bezahlt.<br />
• Fahrspesen werden der Tagesmutter<br />
mit ca. 0,70 Fr. pro Kilometer<br />
vergütet.<br />
• Darüber hinaus fällt eine einmalige<br />
Bearbeitungsgebühr von ca.<br />
150 Fr. an.<br />
• Tageseltern, die ihre Betreuungsleistung<br />
selbständig anbieten,<br />
handeln die Höhe des Betreuungsgeldes<br />
mit den Eltern aus.<br />
Informationen: www.tagesfamilien.ch<br />
Mittagstische/Hort<br />
Vorteil: hohe Sozialität; das Kind ist<br />
in der Regel mit seinen Gspänli<br />
zusammen; eine gute und fachliche<br />
Betreuung wird sichergestellt.<br />
Nachteil: lange Wartezeiten, wenig<br />
Plätze; nicht immer sind Horte nach<br />
Altersgruppen getrennt; kann lärmig<br />
sein; in den Ferien oft geschlossen<br />
oder dann Vollzeitbetreuung; Kosten<br />
nach Einkommen.<br />
Aufnahmegebühr: individuell, bis<br />
zu 200 Franken; die Ganztagsbetreuung<br />
kostet 120 Franken, ein halber<br />
Tag ohne Mittagessen 60 Franken,<br />
ein halber Tag mit Mittagessen 85<br />
Franken, nur Mittagessen um 25<br />
Franken pro Kind (Preisangaben<br />
sind Richtwerte).<br />
Nanny<br />
Vorteil: Kinder können in der vertrauten<br />
Umgebung bleiben; auch<br />
wenn sie krank sind, kümmert sich<br />
jemand um sie; auch in den Ferien<br />
und zu Randzeiten ist die Betreuung<br />
geregelt.<br />
Nachteil: Nanny hat nicht immer<br />
eine spezifische Ausbildung.<br />
Wird sie über Vermittler angestellt,<br />
erfüllt sie pädagogische Minimalvoraussetzungen<br />
und hat im<br />
Idealfall eine pädagogische Grundausbildung<br />
absolviert. Mit einer<br />
Vermittlungsgebühr ist zu rechnen.<br />
52 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Der Lohn für die Nanny ist Verhandlungssache<br />
und orientiert sich<br />
an Ausbildung und Erfahrung der<br />
Nanny: «Die Nanny gilt als Angestellte<br />
in einem Privathaushalt»,<br />
erklärt die Stadt Zürich. «Der<br />
Anstellungsvertrag ist Sache zwischen<br />
den Eltern und der Betreuungsperson.»<br />
Der Verein Childcare<br />
Service Zürich sowie Portale wie<br />
www.nannyvermittlung.ch gehen<br />
von einem Stundenansatz von 25 bis<br />
35 Fr. bzw. 3800 bis 4800 Fr. monatlich<br />
bei Vollanstellung aus.<br />
Informationen zum Lohn und Muster<br />
Arbeitsvertrag: www.hauswirtschaft.ch<br />
2. Post<br />
Im Kindergarten gibt es die sogenannte<br />
Poströhre, in welcher das<br />
Kind die Post mit nach Hause<br />
nimmt. Kontrollieren Sie die<br />
Poströhre regelmässig und unterschreiben<br />
Sie wo notwendig.<br />
6. Elternabend<br />
Meist findet dieser zu Beginn des<br />
Schuljahres statt. Er dient dem<br />
gegenseitigen Kennenlernen. Sie<br />
erhalten dort alle relevanten Informationen,<br />
eine Übersicht über die<br />
Aktivitäten und die Jahresplanung.<br />
Auch findet ein persönliches Elterngespräch<br />
statt, in dem Sie über den<br />
Entwicklungsstand Ihres Kindes<br />
informiert werden.<br />
>>><br />
Im Kindergarten gibt es<br />
viele Anlässe.<br />
Am Elternabend erfahren<br />
Sie alles darüber.<br />
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Fritz+Fränzi-App,<br />
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sehen Sie in unserer Serie<br />
«Starkes Kind», wie Kinder<br />
verlieren lernen.<br />
3. Alltag<br />
Aller Anfang ist schwer und braucht<br />
Zeit. Geben Sie Ihrem Kind die Zeit,<br />
die es braucht, um im Kindergarten<br />
anzukommen. Es wird anfangs oft<br />
müde sein. Nehmen Sie auf das<br />
erhöhte Schlafbedürfnis Rücksicht<br />
und überfrachten Sie seine freien<br />
Nachmittage nicht mit zusätzlichen<br />
Aktivitäten.<br />
4. Neue Aktivitäten<br />
Der Kindergarten gehört zur Volksschule<br />
und bietet nach Möglichkeit<br />
Turnstunden an. Manche Kindergärten<br />
gehen zusätzlich in den Wald,<br />
kochen oder backen. Zeichnen, Basteln<br />
und Singen werden grossgeschrieben.<br />
5. Geburtstage<br />
Jeder Kindergarten regelt dies<br />
anders. Bei manchen Kindergärten<br />
wird das Geburtstagskind zu Hause<br />
abgeholt. Oft wird ein Kuchen<br />
erwartet. Die Kindergartenlehrperson<br />
wird Sie am Elternabend darüber<br />
informieren.<br />
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Sommer 2<strong>01</strong>753
Service<br />
Juhui,<br />
ich gehe in den Chindsgi!<br />
Wie fühlt sich ein Kindergartenkind am ersten Tag? Wer wüsste das<br />
besser als unsere Autorin. Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren als<br />
Kindergärtnerin. Den nachfolgenden Text hat sie für die Eltern ihrer<br />
Kindergartenkinder geschrieben. Text: Claudia Hartmann<br />
Heute!<br />
Du, heute gehts<br />
los, heute ist dein<br />
grosser Tag, hat<br />
Oma gesagt. Wie<br />
gross ist wohl so ein grosser Tag,<br />
grösser als ich? Weiss nicht.<br />
Auf jeden Fall ist mein Tag gross.<br />
Ich gehe das erste Mal. Nicht allein,<br />
nein, Papi geht mit. Warum weiss ich<br />
auch nicht. Aber Oma meint, vielleicht<br />
bist du ja um Papas Hand noch<br />
froh. Ich? Ich doch nicht. Ich kenne<br />
den Weg ja schon, weisst du, meine<br />
grosse Schwester ging auch dorthin.<br />
Die hat übrigens einen noch grösseren<br />
Tag, sogar einen wichtigen. Meiner<br />
ist gross, aber bei ihr, weisst du,<br />
bei ihr gehts echt los, sagt Opa, bei<br />
mir wahrscheinlich nur ein bisschen.<br />
Aber schön sei es, meint Oma, denn<br />
ich darf den ganzen Morgen spielen,<br />
basteln und singen.<br />
Das ist gut. Spielen, das kann ich,<br />
mach ich jetzt schon.<br />
Singen, okay, wenn Andrew Bond<br />
mitsingt, klappt das auch.<br />
Basteln? Ja, das mit Schere und<br />
Leim? Mama sagt immer, mach keine<br />
Seen mit dem Leim, das ist echt<br />
schwierig. Und Freude hatte sie auch<br />
nicht, als ich letzthin mit der Schere<br />
spielte, nachher waren nämlich ein<br />
paar Haare kürzer.<br />
Komm endlich, du kleine Quasselstrippe,<br />
es ist Zeit, ruft Papa.<br />
Mama ist schon unterwegs mit meiner<br />
Schwester, die, die den wichtigen<br />
Tag hat.<br />
Papa hilft mir. Ich weiss noch<br />
nicht recht, welcher Schuh an welchen<br />
Fuss kommt. Es stört mich<br />
auch nicht, wenn es andersrum ist.<br />
Es fühlt sich witzig an, verkehrt zu<br />
gehen. Aber Papa meint, am ersten<br />
Tag willst du doch mit den Schuhen<br />
richtig an den Füssen im Chindsgi<br />
auftauchen.<br />
Ach ja, das hab ich dir noch gar<br />
nicht verraten, ich gehe in den<br />
Chindsgi. Der ist gross und voller<br />
Spielsachen. Du, und meine grosse<br />
Schwester geht heute mit Mama in<br />
die erste Klasse.<br />
Sie hat mir heute Morgen verraten,<br />
dass Mama gar nicht mitkommen<br />
müsste. Sie kennt ja den Weg, die<br />
Gspänli und die Lehrerin, die hat sie<br />
ja auch schon oft gesehen. Und überhaupt,<br />
auf der Strasse wisse sie ja<br />
auch schon lange, wie sie gehen müsse.<br />
Schliesslich war der Polizist schon<br />
zwei Mal im Kindergarten, und auf<br />
der Chindsgireise war sie auch und,<br />
und, und.<br />
Da weiss ich plötzlich, warum es<br />
bei ihr ein wichtiger Tag ist, bei ihr<br />
gehts echt los. Sie weiss und kann<br />
schon so viel. Mein Tag ist gross, ich<br />
weiss noch wenig. Auf der Strasse<br />
war ich nur mit Mama oder Papa, da<br />
haben sie mich immer an die Hand<br />
genommen. Autos, ihr müsst jetzt<br />
auf mich aufpassen.<br />
Mit meinem Täschli, nigelnagelneu,<br />
weisst du, mein Gotti hat es für<br />
mich gemacht, mit einem Drachen<br />
drauf, der eine Prinzessin und einen<br />
Prinzen rettet. Schön knifflig, hat<br />
Gotti gemeint, aber es ist das schönste<br />
Täschli auf der ganzen Welt. Echt!<br />
54 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Also mit dem Täschli und «Lüchtsgi»,<br />
auch neu, und mit Papa, nicht<br />
neu, gehen wir auf den Weg. Mit<br />
Papa darf ich vorausspringen.<br />
Du, jetzt sind wir da.<br />
Viele sind da. Viele grosse und<br />
kleine Menschen. Endlich dürfen<br />
wir hinein. Schuhe ausziehen, Finken<br />
an, welcher gehört nur wieder<br />
an welchen Fuss? Und wo ist Papas<br />
Hand? Warum hat Oma gewusst,<br />
dass ich sie doch brauche?<br />
Im Chindsgi hat es viele Stühle;<br />
Mensch, einen riesigen Kreis. Und<br />
ausserhalb viele Beine, riesige, lange<br />
Beine. Wo ist Papa? Direkt hinter<br />
mir, zum Glück.<br />
Nur Spielsachen, von denen sehe<br />
ich keine, nur Beine. Womit spiele<br />
ich denn den ganzen Tag?<br />
Nach einer Weile geht Papa. Ich<br />
komme dir entgegen, sagt er und<br />
Mein grosser, wichtiger Tag<br />
beginnt. Ich kann schon viel,<br />
und jetzt gehts erst richtig los.<br />
gibt mir einen Kuss. Ich bin froh. Es<br />
wird ganz still. Ich schaue umher.<br />
Jetzt sehe ich die Spielsachen zum<br />
Spielen – und singen kann ich auch<br />
und das mit Schere und Leim kriege<br />
ich auch noch hin.<br />
Du, mein Tag beginnt. Mein<br />
gros ser, wichtiger Tag beginnt. Denn<br />
weisst du, ich kann schon viel, und<br />
jetzt gehts erst richtig los.<br />
Claudia<br />
Hartmann<br />
ist Mutter zweier erwachsener Kinder und<br />
arbeitet schon viele Jahre auf der<br />
Kindergartenstufe. Vieles hat sich in der<br />
Bildungswelt verändert, aber die Neugierde<br />
der Kinder, ihre Freude an Neuem ist<br />
geblieben. An ihrem Beruf gefällt ihr unter<br />
anderem, dass sie Kinder auf ihrem<br />
Lern- und Erfahrungsweg begleiten kann.<br />
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Bücher<br />
Ein Überblick über Bilderbücher, die zusammen mit<br />
dem Kind angeschaut werden können, bietet die Webseite<br />
des Carlsen-Verlags: www.carlsen.de<br />
Ein tolles, prämiertes Buch über<br />
Zusammenleben und Freundschaft,<br />
das in Kindergärten gerne vorgelesen<br />
wird:<br />
Helme Heine: Freunde.<br />
Beltz-Verlag, 32 S., ca. 11 Fr.<br />
Webseiten<br />
www.ch.ch bietet weit gefächerte<br />
Informationen rund um<br />
den Kindergarteneintritt. Die<br />
Webseite ist eine Dienstleistung<br />
des Bundes, der<br />
Kantone und der Gemeinden.<br />
www.edk.ch ist die Webseite<br />
der Schweizerischen Konferenz<br />
der kantonalen Erziehungsdirektoren<br />
und bietet<br />
eine Übersicht über Harmos,<br />
Berichte und Studien rund um<br />
Schule.<br />
Ernährungspyramiden und vieles<br />
mehr: www.sge-ssn.ch<br />
Rezepte und Informationen:<br />
www.swissmilk.ch<br />
Ernährungsinformationen<br />
nach Alter:<br />
www.gesundheitsfoerderung.ch<br />
Stressbewältigung, Bewegung, Neuromotorik<br />
Bücher<br />
Holger Domsch et al.: Kinder im<br />
Stress. Wie Eltern Kinder stärken<br />
und begleiten.<br />
Springer-Verlag, 147 S.,<br />
E-Book ca. 20 Fr.<br />
Remo Largo: Das passende Leben.<br />
Was unsere Individualität<br />
ausmacht und wie wir sie leben<br />
können.<br />
Verlag S. Fischer, 480 S., ca. 28 Fr.<br />
Jesper Juul: Leitwölfe sein.<br />
Liebevolle Führung in der Familie.<br />
Beltz-Verlag,<br />
224 S., ca. 18 Fr.<br />
Studien, Links, Webseiten<br />
Splashy ist die wichtigste na -<br />
tio nale Studie zur Gesundheit<br />
von Vorschulkindern, die den<br />
Einfluss von Stress und<br />
Bewegung auf die psychische<br />
Gesundheit der Kinder<br />
untersuchte. Informationen:<br />
www.splashy.ch. Den<br />
Download gibt es hier:<br />
www.survey.unifr.ch,<br />
Stichwort: splashy<br />
Weitere Studien:<br />
www.kispi.uzh.ch, Stichwort:<br />
normale Entwicklung<br />
www.elternbildung.ch listet<br />
Elternbildungskurse auf zum<br />
Thema, wie man Kinder<br />
stressfreier begleiten kann.<br />
56 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
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Bücher<br />
Bücher<br />
Eveline Hipeli: Medien-Kids.<br />
Bewusst umgehen mit allen<br />
Medien – von Anfang an.<br />
Beobachter-Verlag,<br />
224 S., ca. 33 Fr.<br />
Johnny Haeusler, Tanja Haeusler:<br />
Netzgemüse. Aufzucht und Pflege<br />
der Generation Internet.<br />
Aktualisierte und erweiterte<br />
Ausgabe. Goldmann Verlag,<br />
320 S., ca. 14 Fr.<br />
Antje Bostelmann: Digital genial:<br />
Erste Schritte mit neuen Medien<br />
im Kindergarten.<br />
Verlag Bananenblau,<br />
102 S., ca. 18 Fr.<br />
Emotionale Entwicklung<br />
Margrit Stamm: Lasst die Kinder<br />
los. Warum entspannte Erziehung<br />
lebenstüchtig macht.<br />
Verlag Piper,<br />
288 S., ca. 27 Fr.<br />
Gerhard Spitzer: Entspannt<br />
erziehen. Mit den Augen Ihres<br />
Kindes sehen.<br />
Verlag Ueberreuter,<br />
230 S., ca. 17 Fr.<br />
Webseiten<br />
www.ulladieeule.ch/ulla/<br />
über-die-autorin (enthält u. a.<br />
Materialien, wie mit Kindern<br />
über Medien gesprochen<br />
werden kann)<br />
www.jugendundmedien.ch<br />
www.schau-hin.info<br />
www.bag.admin.ch<br />
Stichwort: Medienkonsum von<br />
Kindern und Jugendlichen<br />
(Informationsmaterial,<br />
Downloads, Studien)<br />
Webseiten<br />
Überblick über die Entwicklung<br />
der emotionalen Kompetenz:<br />
www.kindererziehung.com<br />
Wie Kinder den kompetenten<br />
Umgang mit Gefühlen lernen:<br />
www.familienhandbuch.de<br />
Yoga für Kinder<br />
Bücher<br />
Ursula Salbert:<br />
Ganzheitliche<br />
Entspannungstechniken<br />
für<br />
Kinder.<br />
Bewegungsund<br />
Ruheübungen,<br />
Geschichten und Wahrnehmungsspiele<br />
aus dem Yoga,<br />
dem Autogenen Training und der<br />
Progressiven Muskelentspannung.<br />
Verlag Ökotopia, 142 S., ca. 25 Fr.<br />
Ursula Salbert:<br />
Das<br />
Kinderyoga<br />
Spielebuch.<br />
Mit Maus und<br />
Biene nach<br />
Indien: Spannende<br />
Abenteuergeschichten,<br />
fantasievolle Yoga-Übungen und<br />
14 komplette Stundenbilder.<br />
Verlag Ökotopia, 136 S., ca. 20 Fr.<br />
Webseiten:<br />
www.derkleineyogi.ch<br />
Ursula Karven:<br />
Sina und die<br />
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40 S., ca. 15 Fr.<br />
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im Netz unter dem Stichwort<br />
Kinderyoga, Übungsreihen, z. B.<br />
www.yogarelations.ch oder<br />
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Stichwort: Yoga<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten<br />
Sommer 2<strong>01</strong>757
Essay<br />
Eine Liebeserklärung an alle<br />
Frau Brauns dieser Welt<br />
Unsere Autorin erinnert sich an ihre glückliche Kindergartenzeit. Und stellt<br />
fest, dass im Chindsgi ihrer vier Buben vieles noch immer so ist wie damals.<br />
Text: Claudia Landolt<br />
Frau Braun war klein und<br />
rund. Ihre Haare waren<br />
grau und zu einem kleinen<br />
Dutt gebunden. Frau<br />
Braun hatte keine Kinder.<br />
Ich weiss nicht einmal mehr, ob sie<br />
in einer Partnerschaft lebte.<br />
In meiner Erinnerung hat sie<br />
etwas Nonnenhaftes, auf jeden Fall<br />
umgab sie eine Aura der Heiligen.<br />
Ich liebte sie heiss und innig. Sie war<br />
die Geduld in Person. Nie hat sie<br />
aufgeseufzt, weil ich mal wieder auf<br />
dem Weg getrödelt oder Heimweh<br />
nach meiner Mutter hatte.<br />
Frau Braun kochte gern. In regelmässigen<br />
Abständen durften wir<br />
Kinder im Kindergarten mittagessen.<br />
Es gab jeweils viele Transfette in<br />
Form von Fischstäbchen, nicht<br />
wenig Zucker in Form von Schokoladenpudding<br />
und Mayonnaise.<br />
Gurken gabs nur als Verzierung. Das<br />
erklärt zumindest teilweise, warum<br />
wir Frau Braun so ergeben waren.<br />
War man danach müde, durfte man<br />
sich kurz hinlegen, auf die jeansblauen,<br />
weichen Mätteli, die so gar<br />
nicht nach Kreide, Linoleum und<br />
Putzmitteln rochen.<br />
Auch im Kindergarten meiner<br />
Söhne gibt es solche Mätteli. Sie sind<br />
grün, rosa und gelb, mit Kissen und<br />
Plüschtieren ausgestattet, darüber<br />
ein Baldachin. Als ich meinen<br />
Jüngsten dorthin begleitete, verspürte<br />
ich an manchen Tagen den<br />
Wunsch, mich kurz hinzulegen, dort<br />
in dieser lauschigen Ecke.<br />
Ich stellte mir dann vor, wie ich so<br />
da liege, wie die DaZ-Lehrerin, die<br />
eben noch mit den Kindern einen<br />
Stofftierpinguin genäht hatte, sich zu<br />
mir setzt und mir eine Geschichte<br />
erzählt, die nur sie kennt. Ach, wie<br />
gemütlich! So schön ist es im Chindsgi<br />
meiner Söhne. Und dann ist da<br />
Frau Braun. Sie heisst natürlich<br />
anders, ist jünger, schöner und weltlicher,<br />
als es meine Kindergärtnerin<br />
jemals war. Aber auch Frau Braun<br />
2.0 ist die Sanftmut in Person.<br />
Meine Kinder waren im ersten<br />
Kindergartenjahr oft müde, ab Donnerstag<br />
nudelfertig und nicht immer<br />
bestens gelaunt. Sie sah darüber hinweg.<br />
Einer meiner Buben wollte im<br />
Kreis nicht mitsingen; sie störte das<br />
nicht. Sie registrierte vielmehr, dass<br />
der Junge – tatsächlich! – gerne aufräumt<br />
und zeichnet. So wurde mein<br />
Sohn zum Aufräumchef berufen –<br />
was er natürlich prima fand, denn so<br />
konnte er die anderen Kinder anleiten,<br />
was es zu versorgen gebe.<br />
Gefühlte 5000 Polizeibilder,<br />
Fahrzeugbilder und Hundebilder<br />
hat Frau Braun 2.0 wohl für meine<br />
Söhne ausgedruckt. Sie turnt, geht<br />
mit den Kindern in den Wald, bastelt<br />
Blätterkronen, backt an Weihnachten<br />
Guetsli und erfand den Hot<br />
Hamburger– ein kulinarischer<br />
Hy brid aus Hamburger und Hotdog,<br />
mit Augen aus Würstchenrädern<br />
und Pupillen aus Schokolade.<br />
An Tagen, an denen ein Termin<br />
den nächsten jagt und ich mir schon<br />
mittags wünsche, der Abend möge<br />
bald kommen, beame ich mich<br />
gedanklich in die Sandsteinhöhle,<br />
auf den Pferdewagen oder ins<br />
Motorboot, Stationen der Kindergartenreisen<br />
von Frau Braun 2.0. Ich<br />
glaube, im Universum meiner Kinder<br />
kommt sie direkt nach Globi,<br />
Yoda und Urmel.<br />
Neulich sagte mein Jüngster:<br />
«Mama, meine Plüschtiere haben<br />
mich am liebsten, dann dich und<br />
dann den Papa.» Ich bin sicher, Frau<br />
Braun 2.0 kommt an vierter Stelle.<br />
Hat sie Geburtstag, malt er ihr ein<br />
Bild. Eine Karte aus den Ferien muss<br />
sein, gerne aus Paris, ihrer Lieblingsstadt.<br />
Der am Waldrand entdeckte<br />
Stein geht an sie.<br />
Was ich gut verstehen kann. Sie<br />
nimmt die Kinder so, wie sie sind.<br />
Sieht sie als wunderbare und vollständige<br />
Wesen, die sie mit vier Jahren<br />
schon sind. Das Gefühl, bedingungslos<br />
angenommen und geliebt<br />
zu werden, es wird bei allen Frau<br />
Brauns dieser Welt mitgenährt.<br />
Claudia Landolt<br />
ist leitende Autorin bei Fritz+Fränzi,<br />
Projektverantwortliche dieser<br />
Kindergartenausgabe, Mutter von<br />
vier Buben und Yoga-Lehrerin. Sie<br />
wohnt mit ihrer Familie im Aargau.<br />
58 Sommer 2<strong>01</strong>7 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Kindergarten
Impressum<br />
Vielen Dank<br />
Finanzpartner<br />
Dr. iur. Ellen Ringier<br />
Walter Haefner Stiftung<br />
den Partnern und Sponsoren<br />
der Stiftung Elternsein:<br />
Hauptsponsoren<br />
Rozalia Stiftung<br />
Credit Suisse AG<br />
UBS AG<br />
Impressum<br />
Inhaltspartner<br />
Stiftungspartner<br />
17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />
Herausgeber<br />
Stiftung Elternsein,<br />
Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />
www.elternsein.ch<br />
Präsidentin des Stiftungsrates:<br />
Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />
Tel. 044 400 33 11<br />
(Stiftung Elternsein)<br />
Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />
ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 <strong>01</strong> <strong>01</strong><br />
Redaktion<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />
n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />
Evelin Hartmann (Stv. CR,),<br />
e.hartmann@fritzundfraenzi.ch<br />
Claudia Landolt, leitende Autorin<br />
c.landolt@fritzundfraenzi.ch<br />
Leo Truniger,<br />
l.truniger@fritzundfraenzi.ch<br />
Onlineredaktion:<br />
Leitung: Bianca Fritz,<br />
b.fritz@fritzundfraenzi.ch<br />
Irena Ristic, i.ristic@fritzundfraenzi.ch<br />
Verantwortlich für diese<br />
Kindergarten-Ausgabe<br />
Claudia Landolt<br />
Redaktionelle Mitarbeit<br />
Ruth Fritschi, Fabian Grolimund, Claudia<br />
Hartmann, Ruth Hoffmann, Kristin<br />
Hüttmann, Jesper Juul, Mikael Krogerus,<br />
Nadine Messerli-Bürgy, Virginia Nolan,<br />
Stefanie Rietzler<br />
Anzeigen<br />
Anzeigenverkauf:<br />
Jacqueline Zygmont,<br />
j.zygmont@fritzundfraenzi.ch,<br />
Tel. 044 277 72 65<br />
Anzeigenadministration: Dominique Binder,<br />
d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />
Tel. 044 277 72 62<br />
Art Direction/Produktion<br />
Partner & Partner, Winterthur,<br />
www.partner-partner.ch<br />
Bildredaktion<br />
13 Photo AG, Zürich, www.13photo.ch<br />
Korrektorat<br />
Brunner AG, Kriens, www.bag.ch<br />
Auflage der regulären Ausgabe<br />
(WEMF/SW-beglaubigt 2<strong>01</strong>6)<br />
total verbreitet 1<strong>01</strong> 725<br />
davon verkauft 18 572<br />
Auflage dieser Kindergarten-Ausgabe<br />
55 000<br />
Preis<br />
Jahresabonnement Fr. 68.–<br />
Einzelausgabe Fr. 7.50<br />
iPad pro Ausgabe Fr. 3.–<br />
Abo-Service<br />
Galledia Verlag AG Berneck<br />
Tel. 0800 814 813, Fax 058 344 92 54<br />
abo.fritzundfraenzi@galledia.ch<br />
Für Spenden<br />
Stiftung Elternsein, 8008 Zürich<br />
Postkonto 87-447004-3<br />
IBAN: CH40 0900 0000 8744 7004 3<br />
Institut für Familienforschung und -beratung<br />
der Universität Freiburg, www.unifr.ch/iff<br />
Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz,<br />
www.lch.ch<br />
Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz,<br />
www.vslch.ch<br />
Jacobs Foundation,<br />
www.jacobsfoundation.org<br />
Elternnotruf, www.elternnotruf.ch<br />
Pro Familia Schweiz, www.profamilia.ch<br />
Elternbildung CH, www.elternbildung.ch<br />
Marie-Meierhofer-Institut für das Kind,<br />
www.mmizuerich.ch<br />
Schule und Elternhaus Schweiz,<br />
www.schule-elternhaus.ch<br />
Pädagogische Hochschule Zürich, www.phzh.ch<br />
Verlag<br />
Fritz+Fränzi,<br />
Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,<br />
Tel. 044 277 72 62,<br />
info@fritzundfraenzi.ch,<br />
verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />
www.fritzundfraenzi.ch<br />
Pro Juventute, www.projuventute.ch<br />
Schweizerischer Verband alleinerziehender Mütter<br />
und Väter SVAMV, www.svamv.ch<br />
Leiter Business Development & Marketing<br />
(Stv. Verlagsleitung): Tobias Winterberg,<br />
t.winterberg@fritzundfraenzi.ch<br />
Verlagsadministration: Dominique Binder,<br />
d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />
Tel. 044 277 72 62<br />
Verlagsassistentin: Éva Berger,<br />
e.berger@fritzundfraenzi.ch,<br />
Tel. 044 277 72 67<br />
Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich,<br />
www.hfh.ch<br />
Kinderlobby Schweiz, www.kinderlobby.ch<br />
Schweizerisches Institut für Kinder- und<br />
Jugendmedien, www.sikjm.ch<br />
Verband Kinderbetreuung Schweiz, www.kibesuisse.ch
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