08/2017
Fritz + Fränzi Fritz + Fränzi
Fr. 7.50 8/August 2017 Fabian Grolimund «Das Kinderzimmer ist ein denkbar schlechter Ort zum Lernen» Mariam Tazi-Preve «Das heutige Mutterbild treibt die Frauen in die Erschöpfung» Leben in einer eigenen Welt Autismus
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- Seite 47 und 48: Erziehung & Schule Bei Verdacht auf
- Seite 49 und 50: Geltung zu bringen und uns mit unse
- Seite 51 und 52: Kinder lernen schnell und mit hoher
Fr. 7.50 8/August <strong>2017</strong><br />
Fabian Grolimund<br />
«Das Kinderzimmer ist<br />
ein denkbar schlechter<br />
Ort zum Lernen»<br />
Mariam Tazi-Preve<br />
«Das heutige Mutterbild<br />
treibt die Frauen<br />
in die Erschöpfung»<br />
Leben in einer eigenen Welt<br />
Autismus
Graubünden Vollmilch,<br />
Engadin<br />
Als Bergbewohner grasen die<br />
Kühe hier oft am Hang.<br />
Und wie man vom Wein weiss,<br />
haben Hanglagen ein<br />
besonders gutes Aroma.<br />
Bio Regio Ostschweiz<br />
Vollmilch, Bischofszell<br />
Frische Kräuter und Gras,<br />
duftiges Heu – Milch<br />
mit der Bio-Knospe stammt<br />
von Kühen, die man als<br />
Gourmets bezeichnen darf.<br />
Bio Regio Vollmilch, Schlatthof<br />
Diese Milch wird direkt<br />
nach dem Melken abgefüllt und<br />
nicht standardisiert. Kenner<br />
behaupten, sie könnten die einzelne<br />
Kuh rausschmecken.<br />
Valait lait entier de<br />
montagne, Sierre<br />
Die Walliser gelten als selbstkritisch.<br />
Der Vorteil dieser<br />
Einstellung: eine Bergmilch,<br />
an der es wirklich nichts<br />
zu kritisieren gibt.<br />
Davoser Vollmilch<br />
Die Davoser Milchkühe werden<br />
auf den Alpen gesömmert. Wo<br />
andere Sommerbesucher Ferien<br />
machen, sind sie bei der Arbeit.<br />
Diemtigtaler Alpmilch<br />
Mit dieser zertifizierten<br />
Alpmilch aus dem Naturpark<br />
Diemtigtal geniesst man<br />
die Natur gern in vollen Zügen.<br />
Bio Regio Napf<br />
Vollmilch, Hergiswil<br />
Beruhigend, sanft und<br />
100% Natur. Diese Milch steht<br />
ihrer Region in nichts nach.<br />
Bio Regio Nordwestschweiz<br />
Vollmilch, Frenkendorf<br />
Diese Milch aus dem Baselbiet ist<br />
der feinste Weg, die etwas<br />
harten Basler Leckerli gleich noch<br />
geniessbarer zu machen.
Editorial<br />
Bild: Geri Born<br />
Nik Niethammer<br />
Chefredaktor<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Auf den ersten Blick sieht der Bub auf unserem Cover ganz gewöhnlich aus.<br />
Blaues Hemd, Hosenträger und Crocks, wacher Blick, interessiert an Technik.<br />
Spätestens aber wenn der Junge am Boden liegt und schreit, weil sein Verständnis<br />
von Ordnung durcheinandergerät, wird klar: Emilio ist anders. Emilio ist Autist,<br />
er leidet an einer Entwicklungsstörung, die seine sozialen Kommunikationsfähigkeiten<br />
stark einschränkt.<br />
Unsere Autorin Sarah King erzählt die Geschichte von Emilio und seiner<br />
Erkrankung auf wunderbar einfühlsame Weise. Sie erklärt uns, warum der Bub<br />
mehrmals am Tag in die Waschküche huscht und das Drehen der Trommeln<br />
beobachtet. Sie zeigt auf, wie sehr Eltern von autistischen Kindern an ihre Grenzen<br />
stossen. Und wie sie entlastet werden können. Schliesslich nimmt uns Sarah<br />
King mit nach Tel Aviv ins weltweit führende Autismuszentrum «Mifne».<br />
Leben mit Autismus – ab Seite 10.<br />
«Man muss die Erfolge<br />
zählen, die man im Leben<br />
erzielt hat. Und dann die<br />
Träume, die man noch hat.<br />
Wenn man mehr Träume als<br />
Erfolge hat, ist man jung.»<br />
Schimon Peres, israelischer Politiker und<br />
Friedensnobelpreisträger (1923–2016)<br />
Wussten Sie, dass etwa fünf Prozent aller Kinder im Vorschulalter eine Phase des<br />
unflüssigen Sprechens durchlaufen und die Sprechprobleme etwa bei einem Prozent<br />
aller Menschen über die Pubertät hinaus bestehen bleiben? Die Autorin<br />
Vivian Pasquet gehört zu dieser Minderheit. Sie kämpft seit<br />
ihrem fünften Lebensjahr gegen den drohenden Bruch in<br />
ihrem Redefluss. Bei uns erzählt sie ihre Geschichte. Und<br />
wie sie gelernt hat, mit ihrem Handicap umzugehen.<br />
Mein Stottern und ich – ab Seite 58.<br />
Unser April-Dossier «Hausaufgaben – sinnvoll oder ungerecht?»<br />
hat für viel Gesprächsstoff gesorgt. Befürworter und<br />
Gegner haben sich auf diversen Kanälen gleichermassen pointiert<br />
und engagiert zu Wort gemeldet. Nun möchten wir die<br />
Diskussion weiterführen. Bei einer Podiumsveranstaltung<br />
in Zürich. Mit diesen hochkarätigen Gästen:<br />
• Urs Moser, Leiter des Instituts für Bildungsforschung, Zürich<br />
• Samuel Zingg, Seklehrer, Mitglied der LCH-Geschäftsleitung, Glarus<br />
• Gabriel Romano, Dozent an der Pädagogischen Hochschule, Bern<br />
• Claudia Landolt, leitende Autorin F+F, Mutter von vier Buben, Aarau<br />
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind zu dieser Veranstaltung herzlich eingeladen.<br />
Wo: Kulturpark, Hamasil-Stiftung, Pfingstweidstrasse 16, 8005 Zürich<br />
Wann: Montag, 18. September <strong>2017</strong>, Einlass 17.30 Uhr, Diskussion 18 bis 19 Uhr,<br />
anschl. Apéro. Die Teilnehmerzahl ist beschränkt.<br />
Informationen/Anmeldung unter: www.fritzundfraenzi.ch/veranstaltung<br />
Ich freue mich auf Sie!<br />
Herzlichst – Ihr Nik Niethammer<br />
850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org
Inhalt<br />
Ausgabe 8 / August <strong>2017</strong><br />
Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />
fritzundfraenzi.ch und<br />
facebook.com/fritzundfraenzi.<br />
Psychologie & Gesellschaft<br />
38 Gespensterstunde<br />
Viele Kinder plagt in der Nacht die<br />
Angst vor Monstern und Gespenstern.<br />
Wie Eltern ihnen diese nehmen können.<br />
Augmented Reality<br />
Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert<br />
erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und<br />
Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />
10<br />
Dossier: Autismus<br />
10 Das andere Kind<br />
Jedes hundertste Kind in der Schweiz<br />
ist von Autismus betroffen. Was heisst<br />
das für den Familienalltag?<br />
Eine Annäherung.<br />
Bild: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />
28 «Ich wurde als Kind angespuckt»<br />
Matthias Huber hilft Autisten. Er ist<br />
Psychologe und hat selber das<br />
Asperger-Syndrom. Wie geht das?<br />
30 So wichtig sind die Eltern<br />
Der Mifne-Ansatz setzt auf eine<br />
spezielle Frühförderung von autistischen<br />
Kindern. Ein Besuch im weltweit<br />
führenden Autismuszentrum in Tel Aviv.<br />
Cover<br />
Emilio, 9, hat Autismus.<br />
Er geht jeden Tag in die<br />
Waschküche, schaut<br />
zu, wie die Trommeln<br />
sich drehen. Das Ritual<br />
beruhigt ihn.<br />
Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo, Martin Mischkulnig / 13 Photo, iStockphoto, Olaf Blecker<br />
4
32<br />
42<br />
58<br />
Mariam Irene Tazi-Preve, warum sollten<br />
Mütter besser auf sich achten?<br />
Ohne Musik lernt es sich doch besser! Oder<br />
etwa nicht?<br />
Autorin Vivian Pasquet hat sich im Moment<br />
ihres Stotterns fotografieren lassen.<br />
Erziehung & Schule<br />
42 Lernmythen<br />
Gerade sitzen, keine Ablenkung<br />
und bloss nicht zu später Stunde –<br />
welche Vorstellungen rund ums<br />
Lernen stimmen?<br />
46 Die Sache mit den Fehlern<br />
Was Kindern mit Lese- und<br />
Rechtschreibschwäche hilft.<br />
50 Mehrsprachige Erziehung<br />
Als Kind mit mehreren Sprachen<br />
aufzuwachsen, ist eine Chance – wenn<br />
die Eltern einige Regeln befolgen.<br />
54 «Was ich mir wünsche»<br />
Die Lehrperson Marion Heidelberger<br />
übernimmt nach den Ferien eine<br />
1. Klasse – und richtet sich in einem<br />
offenen Brief an die Eltern.<br />
58 Mein Stottern und ich<br />
Die Autorin Vivian Pasquet kämpft seit<br />
ihrem 5. Lebensjahr mit den Worten –<br />
ihre bewegende Geschichte.<br />
Ernährung & Gesundheit<br />
68 Winkelfehlsichtigkeit<br />
Verstecktes Schielen ist nicht<br />
krankhaft – je nach Fall sollten Ärzte<br />
die Betroffenen aber doch behandeln.<br />
Digital & Medial<br />
72 Das überwachte Kind<br />
Es gibt viele technische<br />
Möglichkeiten, den Medienkonsum<br />
des eigenen Kindes im Blick zu haben.<br />
76 «Kind, ärgere dich nicht!»<br />
Verlieren will gelernt sein.<br />
Eine Anleitung.<br />
Rubriken<br />
03 Editorial<br />
06 Entdecken<br />
32 Monatsinterview<br />
Das Ideal von der Kleinfamilie treibt<br />
Mütter in die völlige Erschöpfung, sagt<br />
die Politikwissenschaftlerin Mariam<br />
Irene Tazi-Preve.<br />
40 Jesper Juul<br />
Eine Mutter versteht nicht, warum ihr<br />
neunjähriger Sohn in letzter Zeit<br />
so wenig kooperiert – und bittet den<br />
Familientherapeuten um Rat.<br />
48 Fabian Grolimund<br />
Was sollen Eltern tun, wenn sich<br />
ihr Kind ständig vergleicht?<br />
56 Stiftung Elternsein<br />
Ellen Ringier über die Frage, wie<br />
weit sich der Staat in die<br />
Ernährungsgewohnheiten mündiger<br />
Bürger einmischen darf.<br />
57 Leserbriefe<br />
67 Mikael Krogerus<br />
Über eine wichtige Frage seiner<br />
Tochter: «Was mache ich, wenn ich<br />
traurig bin?»<br />
82 Eine Frage – drei Meinungen<br />
Was tun, wenn Geschwister ständig<br />
streiten?<br />
Service<br />
39 Abo<br />
74 Verlosung<br />
78 Unser Wochenende im …<br />
… «Heidiland»<br />
80 Sponsoren/Impressum<br />
81 Buchtipps<br />
Die nächste Ausgabe erscheint<br />
am 12. September <strong>2017</strong>.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>5
Entdecken<br />
Kirchenmann<br />
und Comic-Held<br />
3 FRAGEN<br />
an Caroline Morel, Geschäftsleiterin von Swissaid<br />
«Kinder sind sehr engagiert»<br />
Seit beinahe 70 Jahren gehen jedes Jahr rund 25 000 Schulkinder<br />
schweizweit auf die Strasse und von Haus zu Haus, um für das Non-<br />
Profit-Hilfswerk Swissaid handgemachte Holzfiguren, Döschen und andere<br />
Alltagshelfer zu verkaufen. Der Erlös geht an Not leidende Familien im<br />
Süden. Geschäftsleiterin Caroline Morel über eine bewährte Tradition.<br />
Kennen Sie Ulrich Zwingli?<br />
Den Mann mit den grossen<br />
Ideen, der mit seinen wortstarken<br />
Predigten die Kirche veränderte<br />
und spaltete? Von ihm<br />
erzählt der Comic «Zwingli –<br />
Ein Glaube versetzt Berge», der<br />
junge Leser in die Zeit der<br />
Reformation führt. 36 Comic-<br />
Seiten mit starken Bildern und<br />
vielen Infokästen. Ein Lesespass<br />
für die ganze Familie.<br />
«Zwingli – Ein<br />
Glaube versetzt<br />
Berge», Fr. 5.80<br />
Zu bestellen auf<br />
www.tut.ch<br />
Vor 100 Jahren litt nur etwa 1 Prozent<br />
der Bevölkerung an einer Pollenallergie, heute<br />
sind es 15 bis 20 Prozent.<br />
(Quelle: Mirgos-Magazin)<br />
Interview: Evelin Hartmann<br />
Caroline Morel, vor 70 Jahren war es noch üblicher als heute, über<br />
einen Bauchladen Geld zu verdienen, oder?<br />
Das ist richtig. Uns ging es aber schon immer darum, über das Spendensammeln<br />
hinaus Aufklärungsarbeit an Schulen zu leisten. So erhalten<br />
Lehrer Unterrichtsmaterial über Entwicklungshilfe im Allgemeinen und<br />
unsere Arbeit im Speziellen – und die Schüler eine Möglichkeit, selbst<br />
einen Beitrag zu leisten gegen die Ungerechtigkeiten auf der Welt.<br />
Wie wird die Aktion von Lehrpersonen und Schülern aufgenommen?<br />
Sehr gut. Das Prinzip ist einfach. Die Abzeichen können bei uns bestellt<br />
und nicht verkaufte Exemplare einfach zurückgeschickt werden. Kinder<br />
zwischen 10 und 15 Jahre, unsere Zielgruppe bei dieser Aktion, sind sehr<br />
engagiert und wollen sich für eine gerechtere Welt einsetzen.<br />
Gibt es Pläne, das «Vertriebssystem» zu modernisieren?<br />
Einen Abzeichenverkauf übers Internet? Auf keinen Fall! Dafür bekommen<br />
wir zu viele positive Rückmeldungen. Für unseren Jubiläumsverkauf haben<br />
wir die schönsten Abzeichen der letzten Jahre zusammengestellt.<br />
www.swissaid.ch/de/abzeichen<br />
Der Hase wird gemobbt<br />
Der kleine Hase geht nicht mehr in die Schule, zu viel Angst hat er<br />
vor seinen Klassenkameraden, die ihn schikanieren. Zum Glück<br />
weiss der Lehrer, Herr Dachs, Rat. Wie kann eine Klasse für das<br />
Thema Mobbing sensibilisiert werden? Und wie können Regeln in<br />
einer Klasse eingeführt werden, damit die Schülerinnen und Schüler<br />
diese eher einhalten? Diesen und weiteren Fragen gehen die<br />
Psychologen Fabian Grolimund, Stefanie Rietzler und Nora Völker<br />
in der Kurzfilmserie «Gemeinsam<br />
sind wir Klasse» auf den<br />
Grund. Auch die Episode<br />
«Mobbing in der Schulklasse<br />
auflösen» richtet sich direkt an<br />
Kinder und soll Lehrpersonen<br />
unterstützen.<br />
www.mit-kindern-lernen.ch<br />
Starten Sie<br />
die aktuelle<br />
Fritz+Fränzi-App,<br />
scannen Sie diese Seite<br />
und erleben Sie, wie<br />
Herr Dachs dem kleinen<br />
Hasen hilft.<br />
Bilder:ZVG<br />
6 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Publireportage<br />
Milchprodukte sind gesunde und hochwertige Grundnahrungsmittel.<br />
Laktoseintoleranz<br />
Geniessen statt vermeiden<br />
Probleme mit der Milch? Dann ist es wahrscheinlich eine Milchzuckerunverträglichkeit.<br />
Auf Milchprodukte zu verzichten, ist dennoch nicht<br />
nötig. Die Palette an gut verträglichen Milchprodukten ist gross.<br />
Wer eine Laktoseintoleranz hat, kann den<br />
Milchzucker nicht genügend gut abbauen. Die<br />
Folge sind unangenehme Beschwerden. Zum<br />
Glück gibt es schmackhafte und individuell gut<br />
durchführbare Lösungen.<br />
Alltagstauglich<br />
Wer laktosehaltige Milchprodukte nicht verträgt,<br />
kann sie ganz einfach durch die laktosefreie<br />
Variante ersetzen: Milch, Jogurt, Quark<br />
und Hüttenkäse gibt es auch laktosefrei. Hart-,<br />
Halbhart- und Weichkäse sind von Natur aus<br />
laktosefrei und verursachen somit keine Verdauungsbeschwerden.<br />
Butter enthält kaum<br />
Milchzucker, und weil sie nur in geringen Mengen<br />
konsumiert wird, ist sie ebenfalls gut verträglich.<br />
Nicht so einfach ist es mit verarbeiteten<br />
Produkten, denen oft Milchzucker zugesetzt<br />
ist. Wie viel es ist, steht meist nicht auf der<br />
Zutatenliste. Hier hilft nur ausprobieren oder<br />
verzichten.<br />
Milchzucker ist besser verträglich, wenn er<br />
über den Tag verteilt und zusammen mit einer<br />
Mahlzeit konsumiert wird. Denn kleine Mengen<br />
Milchzucker aufs Mal und «eingepackt» in<br />
einer Mahlzeit, strömen langsam in den Verdauungstrakt.<br />
Das gibt dem Darm ausreichend<br />
Zeit, das Verdauungsenzym Laktase zu bilden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Zu wenig Laktase, zu viel Laktose<br />
Babys starten ins Leben mit einer guten Produktion<br />
des milchzuckerspaltenden Enzyms<br />
Laktase. Das ist notwendig, denn sonst würden<br />
sie die Muttermilch nicht vertragen. Doch im<br />
Laufe des Lebens produziert der Körper weniger<br />
Laktase. Er kann dann auf zu viel Milchzucker<br />
überempfindlich reagieren. Dies zeigt sich in<br />
Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall.<br />
Eine Laktoseintoleranz kann aber auch als<br />
«Nebenerscheinung» eines Darmleidens auftreten<br />
und vergeht wieder, sobald dieses abgeklungen<br />
ist.<br />
!<br />
Hier gibt es Hilfe<br />
Ohne gesundheitliche Gründe auf Milch<br />
zu verzichten, kann dazu führen, dass man<br />
zu wenige Nährstoffe aufnimmt. Insbesondere<br />
Eiweiss, Kalzium, Fettsäuren, Jod<br />
sowie die Vitamine A, B und E sind kritisch.<br />
Wer glaubt, an einer Laktoseintoleranz<br />
zu leiden, lässt dies am besten von einer<br />
spezialisierten Fachperson abklären.<br />
Informationen und Beratung:<br />
aha! Allergiezentrum Schweiz<br />
www.aha.ch oder 031 359 90 50<br />
Mehr erfahren?<br />
Weitere Informationen<br />
und Tipps bei Laktoseintoleranz<br />
unter<br />
www.swissmilk.ch/<br />
unvertraeglichkeiten<br />
Milchprodukte gehören in<br />
die tägliche Ernährung, weil<br />
sie nährstoffreich sind und<br />
wesentlich zum ausgewogenen<br />
Essen beitragen. Drei<br />
Portionen sind genau richtig.<br />
Das vielfältige Angebot an<br />
laktosearmen Produkten<br />
bietet genügend Auswahl<br />
bei Milchzuckerunverträglichkeit.<br />
Käse ist von Natur<br />
aus laktosefrei.<br />
Milchprodukte sind eine<br />
genussvolle Bereicherung<br />
jeder Mahlzeit. Zusammen<br />
mit anderen Lebensmitteln<br />
ist der Milchzucker besser<br />
verdaulich.<br />
August <strong>2017</strong>7
Entdecken<br />
Was macht eigentlich<br />
ein Bauer?<br />
Ferien auf dem Bauernhof haben Ihre Kinder<br />
immer gemocht? Sehr gut, dann könnten<br />
sie in ihren nächsten Ferien bei der<br />
Hofarbeit mal kräftig mit anpacken. Der<br />
gemeinnützige Verein Agriviva vermittelt<br />
Jugendlichen ab 14 Jahren einen Aufenthalt<br />
bei Schweizer Bauernfamilien. Ziel ist es,<br />
die Entwicklung der Jugendlichen zu<br />
fördern sowie einen schonenden Umgang<br />
mit unseren natürlichen Ressourcen durch<br />
Erlebnisse rund um Boden, Pflanzen<br />
und Tiere zu vermitteln.<br />
www.agriviva.ch<br />
Von Prinzen und Piratinnen Mädchen mögen Rosa, Buben Blau.<br />
Buben sind laut, Mädchen können ganz schön zickig sein. Wirklich? Oder verhält es sich<br />
manchmal nicht auch genau andersherum? Spielt das Geschlecht überhaupt eine Rolle<br />
– und wenn ja, inwiefern? Diesen Fragen geht die Ausstellung «Mädchen oder Junge –<br />
spielt das eine Rolle?» in der Pestalozzi-Bibliothek Altstadt, Zürich, auf den Grund. In 15<br />
Schatztruhen können Besucher vom 1. September bis 21. Oktober ein Universum erkunden,<br />
in dem Mädchen und Buben mehr sind als Prinzessinnen und Piraten. Veranstalter<br />
ist die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich.<br />
Alle Infos auf www.stadt-zuerich.ch/gleichstellung > Weiterbildung & Veranstaltungen<br />
«Ich habe in meinem Berufsleben<br />
Tausende Kinder kennengelernt, die<br />
mir zugewiesen wurden, weil sie von<br />
der ‹Norm› abwichen. Das eigentliche<br />
Problem dieser Kinder war, dass<br />
sie, weil sie den Normvorstellungen<br />
nicht entsprachen, nicht ‹sie selbst›<br />
sein durften.»<br />
(Quelle: Remo Largo in einem Interview auf www.luzernerzeitung.ch)<br />
Remo Largo leitete 30 Jahre<br />
lang die Abteilung Wachstum<br />
und Entwicklung am Zürcher<br />
Kinderspital. Seine Werke wie<br />
«Babyjahre», «Kinderjahre»<br />
oder «Schülerjahre» sind<br />
Standardwerke und Longseller.<br />
Manege frei!<br />
Schöne Frauen, die auf<br />
Pferden durch die Manege<br />
reiten, Löwen, die durch<br />
brennende Reifen springen,<br />
und Seehunde, die einen Ball<br />
auf der Schnauze balancieren?<br />
Fehlanzeige. Auf die<br />
altbekannten Zirkusnummern<br />
wartet man bei einem<br />
Circus-Monti-Besuch vergebens, und sogar der Clown<br />
sieht hier ein bisschen anders aus. Dabei stolpert die<br />
tragisch-komische Figur auch in dieser Tournee durch<br />
das mit Weltklasseartisten besetzte Stück Dreambox.<br />
Ein zauberhafter Zirkusbesuch voller Magie, Jonglage<br />
und Artistik ist garantiert. Traumhaft schön!<br />
Alle Termine und Preise auf www.circus-monti.ch<br />
Bilder: ZVG, Tanja Demarmels / 13 Photo<br />
8 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
© UBS <strong>2017</strong>. Alle Rechte vorbehalten.<br />
Es geht um viel<br />
mehr als den Sieg.<br />
Grosse Emotionen am UBS Kids Cup erleben.<br />
ubs.com/kidscup
10 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Das andere Kind –<br />
leben mit Autismus<br />
Eine Störung für die einen, eine Wesensart für die anderen<br />
und eine Herausforderung für alle. Das ist Autismus.<br />
Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist davon betroffen.<br />
Was heisst das für das Kind? Was für seine Eltern?<br />
Und vor allem: Wer hilft?<br />
Text: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />
Der 9-jährige Emilio<br />
hat Autismus. Rituale<br />
bestimmen sein<br />
Leben. Mehrmals am<br />
Tag geht er in den<br />
Wäscheraum und<br />
beobachtet die<br />
drehenden Trommeln.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>11
Dossier<br />
12 <br />
August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Autisten nehmen die Welt<br />
anders wahr. Mit all ihren<br />
Sinnen sind sie stets auf<br />
Empfang, unfähig, unwichtige<br />
Reize auszublenden.<br />
ist in den letzten Jahrzehnten stark<br />
angestiegen. Erhielten sie in den<br />
70er-Jahren noch etwa 5 von 10 000<br />
Personen, so sind es heute gut 20<br />
Mal mehr. Verschiedene Ursachen<br />
werden für den Anstieg angenommen:<br />
bessere Diagnoseinstrumente,<br />
die Einführung der Diagnose Asperger-Syndrom<br />
in den 90ern und eine<br />
grössere Aufmerksamkeit vonseiten<br />
der Fachpersonen und Eltern zum<br />
Beispiel.<br />
Was ist denn nun Autismus? Und<br />
wie sieht der Alltag von autistischen<br />
Kindern und ihren Eltern aus?<br />
Bruna Rausa<br />
über Emilio:<br />
«Sind wir<br />
getrennt,<br />
vermisse ich<br />
ihn schon nach<br />
einer Stunde.»<br />
Ein Lama summt, den Ton<br />
langgezogen, ein G vielleicht,<br />
schön im Takt, bei<br />
jedem vierten Schritt.<br />
Nach einer Weile stimmt<br />
eine Quint höher eine leise Stimme<br />
ein: «I ghöre äs Glöggli, das lütet so<br />
nätt (…)». Die Stimme gehört dem<br />
9-jährigen Emilio. Er zeigt kein Interesse<br />
an den Tieren, die heute statt<br />
auf der Alp im Garten der Blindenschule<br />
Zollikofen ihre Runden drehen.<br />
Auch nicht am Lama an seiner<br />
Seite. Ohne es anzuschauen, geht er<br />
neben ihm her und singt. Das harmonische<br />
Duett erstaunt – vor allem<br />
Emilio, wie er jeden Ton und jedes<br />
Wort so präzise trifft. Derselbe Junge<br />
ist sonst still. Oder er wiederholt<br />
die immer selben drei, vier Wörter.<br />
Emilio ist Autist. Einer von bis zu<br />
80 000 in der Schweiz. Genaue Zahlen<br />
gibt es hierzulande nicht. Internationalen<br />
Schätzungen zufolge ist<br />
jedoch gegen 1 Prozent der Bevölkerung<br />
von Autismus betroffen, was<br />
auch für die Schweiz gilt, wie Ronnie<br />
Gundelfinger sagt. Er ist leitender<br />
Arzt an der Klinik für Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie und Psychotherapie<br />
Zürich. Die Anzahl Diagnosen<br />
Ein vielfältiges Spektrum<br />
Autismus ist vieles. Für manche eine<br />
Störung, für andere eine Wesensart,<br />
für wieder andere eine Zeiterscheinung.<br />
Medizinisch handelt es sich<br />
um eine vorwiegend genetisch verursachte<br />
Entwicklungsstörung, die<br />
mit einer Beeinträchtigung der<br />
sozia len Kommunikation und Interaktion<br />
einhergeht sowie mit wiederholenden<br />
Verhaltensmustern und<br />
restriktiven Interessen (siehe Box<br />
Seite 26).<br />
Autisten nehmen die Welt anders<br />
wahr als «Neurotypische» (Nichtautisten).<br />
Mit all ihren Sinnen sind sie<br />
auf Empfang – je nach Schweregrad<br />
unfähig, unwichtige Reize auszublenden<br />
und den Blick vom Detail<br />
auf das Ganze zu lenken. Das kann<br />
so grossen Stress verursachen, dass<br />
sie sich von der Aussenwelt abkapseln.<br />
Autismus kann sich so klischeehaft<br />
zeigen wie der Charakter im<br />
Film «Rain Man», der in ein paar<br />
Minuten ein ganzes Telefonbuch<br />
auswendig lernt. Oder er ist ein einzelnes<br />
Symptom, wie es der Psychiater<br />
Eugen Bleuler 1911 der Schizophrenie<br />
zugeschrieben hat: ein<br />
In-sich-gekehrt- und Von-der-Weltabgewandt-Sein.<br />
Selbst wenn wir von Bleulers Auffassung<br />
absehen und uns auf die<br />
kindliche Entwicklungsstörung be -<br />
schränken, wie sie ab 1943 von den<br />
Ärzten Leo Kanner (früh- >>><br />
13
Dossier<br />
>>> kindlicher Autismus) und<br />
Hans Asperger (Asperger-Syndrom)<br />
beschrieben wurde, füllt Autismus<br />
ein Spektrum mit so vielen Ausprägungen,<br />
wie es autistische Menschen<br />
gibt. Unter anderem deshalb setzt<br />
sich in der Schweiz der im angelsächsischen<br />
Klassifikationssystem<br />
DSM 5 eingeführte Begriff «Autismus-Spektrum-Störung»<br />
(ASS)<br />
zunehmend durch.<br />
Farbige Socken und<br />
Wasch maschinen<br />
Emilio bewegt sich am «schweren<br />
Ende» dieses Spektrums. Er hat<br />
einen frühkindlichen Autismus.<br />
Fremde sehen vorerst einen normalen<br />
9-Jährigen. Ein hübsches Kind<br />
mit hellbraunen Locken. Ein bisschen<br />
verträumt mutet es an, wenn<br />
Emilio über die Wiese spaziert und<br />
jedes Ästchen eingehend betrachtet.<br />
Pflichtbewusst wirkt er, wenn er den<br />
Weg zurückgeht, um ein offenstehendes<br />
Gartentor zu schliessen,<br />
frech, wenn er Fremde darauf hinweist,<br />
dass sie zwei verschiedenfarbige<br />
Socken tragen und darauf<br />
be harrt, dass sie dieses Versehen<br />
ändern. Spätestens wenn er am<br />
Boden liegt und schreit, weil sein<br />
Verständnis von Ordnung durcheinandergerät,<br />
wird klar: Emilio ist<br />
anders. Er hat eine tiefgreifende Verhaltens-<br />
und Wahrnehmungsstörung.<br />
Neben anderem sind sein<br />
Spracherwerb und seine Eigenmotivation<br />
eingeschränkt. Er braucht 24<br />
Stunden Betreuung. Nachts hält er<br />
seine Mutter Bruna Rausa wach, tags<br />
beschäftigt er mehrere Betreuungspersonen.<br />
Schon als Baby zeigte Emilio Auffälligkeiten,<br />
wie seine Mutter sagt:<br />
«Er versteifte sich, wenn ihn jemand<br />
in die Arme nahm, und blickte Menschen<br />
nicht ins Gesicht.» Das Blickverhalten<br />
ist eines der deutlichsten<br />
Zeichen der ASS. «Forschung mit<br />
autistischen Kindern hat gezeigt,<br />
dass sie auf einem Bildschirm geometrische<br />
Figuren oft interessanter<br />
finden als Menschen», sagt Autismusexperte<br />
Ronnie Gundelfinger.<br />
Emilio faszinierten zuerst die Räder<br />
des Kinderwagens. Heute sind es<br />
Waschmaschinen. Während andere<br />
Kinder auf den Pausenhof strömen,<br />
huscht er in den Wäscheraum und<br />
beobachtet die drehenden Trommeln.<br />
Manchmal wiederholt er dazu<br />
fast singend die immer gleichen<br />
Wörter, die er Minuten, Stunden<br />
oder Tage zuvor irgendwo aufgeschnappt<br />
hat: «Het mi öppe öpper<br />
gärn? Het mi öppe öpper gärn?»<br />
Asperger – die schweigende<br />
Mehrheit<br />
Nicht alle sind so schwer betroffen<br />
wie Emilio. Kinder mit dem Asperger-Syndrom<br />
sind vor allem im<br />
sprachlichen und kognitiven Bereich<br />
weniger eingeschränkt. Aber die<br />
sozialen Kommunikations- >>><br />
Der Weg in die Schule ist eine<br />
Herausforderung. Ein<br />
Cola-Deckelchen am Boden,<br />
ein offenes Gartentor – Emilio<br />
will sofort Ordnung schaffen.<br />
14
Dossier<br />
Emilio geht in die<br />
Blindenschule. Dort<br />
werden auch Autisten<br />
unterrichtet. Neben<br />
dem Einzelunterricht<br />
besucht er zur<br />
Förderung seiner<br />
sozialen Fähigkeiten<br />
die Oberstufenklasse.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August <strong>2017</strong>15
Dossier<br />
16 <br />
August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Emilio ist einer<br />
von rund 80 000<br />
Autisten in der<br />
Schweiz.<br />
Genaue Zahlen<br />
gibt es nicht.<br />
>>> probleme wiegen auch bei<br />
ihnen schwer, wie der Psychologe<br />
Matthias Huber weiss. Er hat selbst<br />
ein Asperger-Syndrom (siehe Seite<br />
28). Es brauche mehr Fachpersonen,<br />
die vermitteln und übersetzen.<br />
Übersetzen gehört zu Claudia<br />
Leupolds Alltag. Sie sitzt mit ihrem<br />
Mann und vier von sieben Kindern<br />
am Frühstückstisch. Die beiden<br />
Jüngsten – Quirin und Elea – plaudern<br />
über den bevorstehenden<br />
Schultag. Der 14-jährige Julian zieht<br />
sich wortlos in sein Zimmer zurück.<br />
«Besuch verändert die gewohnte<br />
Struktur. Das irritiert ihn», erklärt<br />
Claudia Leupold. Julian hat ein diagnostiziertes<br />
Asperger-Syndrom. So<br />
auch seine 12-jährige Schwester<br />
Mia. Sie streicht ihr Brot – >>><br />
Immer wieder erklären<br />
Der 9-jährige Emilio hat Autismus.<br />
Waschmaschinen, Pouletaufschnitt und stets<br />
dieselben Wege sind für ihn unverzichtbar. Wie<br />
der Alltag mit einem autistischen Kind aussieht,<br />
beschreibt Emilios Mutter Bruna Rausa.<br />
Aufgezeichnet: Sarah King<br />
Der Tag beginnt mit einem Kuss. Mal um 6 Uhr, mal mitten<br />
in der Nacht. Emilios Nächte sind kurz. Somit auch meine.<br />
Vor dem Frühstück folgt der Kontrollgang: Leuchten alle<br />
Lämpchen im Zimmer? Funktioniert der Kühlschrank? Das<br />
ist ein zeitaufwendiges Unterfangen.<br />
Auch das morgendliche Waschritual braucht viel Zeit.<br />
Alleine die Zahnpflege dauert je nach Stimmung 20 Minuten.<br />
Saubere Zähne sind wichtig, denn Emilio verweigert den<br />
Zahnarzt. Das Ankleiden geht nicht schneller. Hier zwitschert<br />
ein Vogel, da zieht eine Wolke vorbei. Manchmal wiederhole<br />
ich meine Anweisungen zehn Mal. Das erfordert eine Ruhepause,<br />
denn der Weg in die Schule ist die nächste Herausforderung:<br />
Ob ein Cola-Deckelchen am Boden oder zwei<br />
ungleiche Socken bei einem Passanten – Emilio will Ordnung<br />
schaffen. Ich mahne ihn jeweils: Egal, was du siehst, wir<br />
müssen weiter.<br />
Emilio besucht die Blindenschule. Sie unterrichtet auch<br />
Autisten. Neben dem Einzelunterricht besucht er zur Förderung<br />
seiner sozialen Fähigkeiten die Oberstufenklasse.<br />
Dort ist er das Nesthäkchen und wird umsorgt. Das Mittagessen<br />
nimmt er in der Schule mit anderen Kindern ein und<br />
einmal pro Woche übernachtet er in einer Wohngruppe. Er<br />
muss lernen, ohne mich zu sein. Ich bin trotzdem stets auf<br />
Abruf bereit, falls seine Stimmung umschlägt. Das kann von<br />
einer Minute auf die andere geschehen.<br />
Das Abendessen nehmen wir immer bei meinen Eltern<br />
ein, in der Regel früh, damit genug Zeit bleibt für den allabendlichen<br />
Einkauf. Darauf besteht Emilio. Zum Glück hat<br />
der Laden um die Ecke bis 20 Uhr geöffnet. Notfalls weichen<br />
wir auf Geschäfte im Bahnhof aus. Auf Emilios Einkaufsliste<br />
stehen gluten- und laktosefreie Produkte. Und Pouletaufschnitt.<br />
Egal, ob er Hunger hat oder nicht. Fällt der Einkauf<br />
aus, bereitet das Emilio seelischen Schmerz. Dann schreit er.<br />
Im Laden folgt Emilio den Linien am Boden. Immer in derselben<br />
Reihenfolge, begonnen bei der Milch. Die Probleme<br />
beginnen, sobald Kunden Waren ins falsche Regal zurückstellen.<br />
Er räumt es um und fordert von den Kunden denselben<br />
Ordnungssinn, manchmal vehement. Bei den Selbstbedienungskassen<br />
fasziniert ihn der technische Aufbau, und<br />
zwar von jeder einzelnen Kasse. Das gibt jeweils Ärger. Die<br />
Leute sehen ihm den Autismus nicht an. Da ist einfach ein<br />
frecher 9-jähriger Bub mit einer Mutter, die in der Erziehung<br />
versagt. Immer wieder muss ich erklären, warum Emilio so<br />
ist, wie er ist. Autismus kann undankbar sein.<br />
Von Emilios Vater lebe ich getrennt. Manchmal verbringt<br />
Emilio das Wochenende bei ihm. Ich schaffe das alles nur<br />
dank familiärer Hilfe. Oft wünsche ich mir aber mehr Unterstützung<br />
für die Familie. Alles in meinem Leben dreht sich<br />
nur noch um das Kind. Manchmal bin ich verzweifelt. Das<br />
Abklären und Organisieren hört nie auf und stellt mich immer<br />
wieder vor neue Herausforderungen. Ich kam ja nicht als<br />
Mutter eines Autisten zur Welt. Ich brauchte viel Zeit, bis ich<br />
Autismus als Lebenseinstellung akzeptierte.<br />
Das heisst eben auch, all die Rituale zu akzeptieren. Wenn<br />
wir abends nach Hause kommen, ist es das Waschmaschinenritual.<br />
Emilio prüft, ob die Lüftung funktioniert und der<br />
Tumbler gereinigt ist. Oft schaut er auch nur zu, wie die<br />
Waschtrommeln drehen. Hört er aus der Wohnung, dass sich<br />
in der Waschküche etwas regt, kann ich ihn manchmal nicht<br />
vor einem weiteren Kontrollgang abhalten. Seine Leidenschaft<br />
erfordert viel Verständnis von den Nachbarn.<br />
Mit dem Schlafritual endet der Tag. Hat er Angst, schläft er<br />
in meinem Bett. Ist seine Angst gross, legt er sich auf meinen<br />
Rücken. So verhindert er, dass ich plötzlich davongehe. Wie<br />
könnte ich nur? Er ist ein so liebes Kind. Sind wir getrennt,<br />
vermisse ich ihn schon nach einer Stunde.<br />
17
Claudia Leupold<br />
ist Mutter von<br />
sieben Kindern.<br />
Der 14-jährige<br />
Julian und seine<br />
12-jährige<br />
Schwester Mia<br />
(im Bild) leiden<br />
am Asperger-<br />
Syndrom.<br />
>>> scheinbar unbeteiligt, aber<br />
doch wachsam: Kommt die Rede<br />
auf das Drohnenfliegen, diskutiert<br />
sie mit.<br />
Die Leidenschaft für Technik<br />
und Computer teilt Mia mit ihrem<br />
Vater René Leupold. Er ist Softwarearchitekt<br />
und -entwickler. Wie er<br />
zwischen Würstchen und Rührei<br />
über digitale Transformation und<br />
Sensoren spricht, kommt der Ge <br />
danke auf, dass auch er ein Asperger<br />
ist. Naheliegend ist es, denn laut<br />
Ronnie Gundelfinger spielt die<br />
Genetik neben allfälligen Umwelteinflüssen<br />
während der Schwangerschaft<br />
die Hauptrolle beim Autismus.<br />
«Abklären liess ich mich<br />
nicht», sagt René Leupold, «aber<br />
wahrscheinlich ist es so.» Sei ne Frau<br />
zweifelt nicht daran: Gefühle könne<br />
er nicht gut ausdrücken. «Er ist die<br />
schweigende Mehrheit.»<br />
Auch Mia verbirgt ihre Gefühle<br />
hinter einem maskenhaften Gesicht.<br />
Claudia Leupold lernte sie zu lesen.<br />
«Geht es ihr nicht gut, rutscht sie<br />
langsam unter den Tisch». Als Mädchen<br />
gehört Mia zur Minderheit<br />
unter autistischen Kindern. «Buben<br />
sind anfälliger für Entwicklungsstörungen<br />
und deshalb häufiger von<br />
Autismus betroffen», sagt Ronnie<br />
Gundelfinger. «Bei Mädchen wird<br />
die Diagnose aber manchmal verpasst<br />
oder verspätet gestellt. Sie fallen<br />
weniger auf und versuchen sich<br />
mehr anzupassen.» Das trifft >>><br />
Bei Mädchen wird die<br />
Diagnose Autismus oft<br />
verpasst oder verspätet gestellt.<br />
Mädchen fallen weniger<br />
auf und versuchen<br />
sich eher anzupassen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>19
Dossier
Dossier<br />
«Wie sollen Julian und Mia<br />
eine Lehrstelle finden?», fragt<br />
die Mutter. «Wir erkennen<br />
das Potenzial unserer<br />
Kinder. Aber sie können<br />
keine Noten vorweisen.»<br />
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Autismus anschaulich<br />
erklären.<br />
«Besuche<br />
verändern die<br />
gewohnte<br />
Struktur. Das<br />
irritiert Julian»,<br />
sagt seine<br />
Mutter.<br />
>>> auf Mia zu. Über Eigenheiten<br />
blickten die Eltern hinweg: So liess<br />
sich Mia nicht gerne frisieren oder<br />
sie bestand auf wenige, vertraute<br />
Kleidungsstücke. Selbst wenn sie<br />
abgetragen waren. Erst mit dem<br />
Klassenwechsel in die Mittelstufe<br />
wurden die Probleme deutlich:<br />
Zunehmend verweigerte Mia die<br />
Schule, bis sie 11-jährig gar nicht<br />
mehr hinging. Eine Abklärung<br />
bestätigte die Vermutung der Eltern.<br />
Ein Alltag voller Herausforderungen<br />
Für Claudia und René Leupold war<br />
es eine schwierige Zeit. Ihre Erziehungsmethoden<br />
wurden in Frage<br />
gestellt. Lehnten sie Therapien ab,<br />
galten sie als renitente Eltern. Neben<br />
Mobbing, Querelen und wachen<br />
Nächten gehörten runde Tische,<br />
langwierige Therapien und Finanzierungsfragen<br />
zum Familienalltag.<br />
Kanton und Gemeinden unterstützen<br />
zwar finanziell in pädagogischen<br />
Belangen und die IV in medizinischen<br />
– doch bis dahin braucht<br />
es einen langen Atem, wie Claudias<br />
Beispiel zeigt: Sie stellte für Julian<br />
und Mia ein Gesuch bei der IV um<br />
die Kostenübernahme der medizinischen<br />
Massnahmen. Wie von der<br />
IV gefordert konnte sie nachweisen,<br />
dass bis zum vollendeten fünften<br />
Lebensjahr vom Arzt dokumentierte<br />
Anzeichen einer ASS vorhanden<br />
waren. Die Gesuche wurden dennoch<br />
abgelehnt. Claudia erhob Einsprache.<br />
Mit Erfolg zwar, aber auf<br />
Kosten der eigenen Kräfte. «Wir<br />
haben nur noch funktioniert.» Auch<br />
heute funktioniert die Familie – oft<br />
im positiven Sinn. Über dem Tisch<br />
hängt ein detaillierter Tagesplan.<br />
«Die Kinder wissen genau, was auf<br />
sie zukommt», sagt Claudia.<br />
Braucht sie Unterstützung, wendet<br />
sie sich an die Beratungsstelle<br />
der Nathalie Stiftung in Gümligen<br />
BE. Sie war es auch, die Mia in<br />
Zusammenarbeit mit dem Kinderund<br />
Jugendpsychiatrischen Dienst<br />
Bern auf Autismus abklärte. Bald<br />
wird Claudia wieder froh sein um<br />
Beratung. Für Julian rückt das Thema<br />
Ausbildung näher. Davor hat<br />
Claudia wie viele andere Eltern Re -<br />
spekt. Zu wenige Ausbildner und<br />
Arbeitgeber wissen um die Fähigkeiten<br />
autistischer Menschen.<br />
Sie liegen nicht nur, aber oft im<br />
technischen Bereich. Das entgeht<br />
Informatikdienstleistern nicht. In<br />
Zürich und neu auch in Bern bietet<br />
die Stiftung Informatik für Autisten<br />
eine Ausbildung im IT-Bereich an.<br />
In Bern kümmert sich ausserdem<br />
die Stiftung Autismuslink um die<br />
berufliche Integration, so auch die<br />
Pädagogische Hochschule Bern mit<br />
ihrem Service für unterstützte<br />
Berufsbildung (SUB). Jugendliche<br />
und Erwachsene mit einer ASS<br />
erhalten zum Beispiel ein IV-vermitteltes<br />
Coaching. Trotzdem: «Betroffene<br />
und Angehörige fühlen sich zu<br />
wenig unterstützt. Das Angebot<br />
deckt den Bedarf nicht ab», weiss<br />
Fabienne Serna von der Beratungsstelle<br />
«autismus deutsche schweiz».<br />
Der Verein unterstützt und vernetzt<br />
Eltern von autistischen Kindern,<br />
Selbstbetroffene und Fachpersonen.<br />
«Es fehlt an autismusspezifi- >>><br />
Nützliche Links<br />
• autismus deutsche schweiz:<br />
www.autismus.ch<br />
Verein für Angehörige, Betroffene<br />
und Fachleute. Bietet u. a.<br />
Informationen und Unterstützung<br />
zu Diagnose- und Beratungsstellen,<br />
Therapie-, Schul- und<br />
Wohnmöglichkeiten sowie weiteren<br />
Massnahmen. (Als Pendant<br />
dazu: autisme suisse romande,<br />
www.autisme.ch und autismo<br />
svizzera italiana, www.autismo.ch)<br />
• Stiftung autismuslink:<br />
www.autismuslink.ch<br />
Ein Kompetenzzentrum zum<br />
Thema Autismus, das ein<br />
vielfältiges Leistungsangebot<br />
bietet und primär auf die<br />
berufliche Integration zielt.<br />
• Stiftung Informatik für<br />
Autisten:<br />
www.informatik-und-autismus.ch<br />
Bietet Autisten eine Ausbildung<br />
im Bereich IT. Standorte in<br />
Dietikon und Bern.<br />
• Autismus Forum Schweiz:<br />
autismusforumschweiz.ch<br />
In diesem Forum können sich<br />
Betroffene, Angehörige und<br />
Fachpersonen untereinander<br />
austauschen.<br />
• Amazing Things Happen:<br />
amazingthingshappen.tv<br />
Der Kurzfilm von Regisseur Alex<br />
Amelines hat das Ziel, Autismus<br />
einfach und anschaulich zu<br />
erklären, um die Öffentlichkeit für<br />
die Thematik zu<br />
sensibilisieren. Der Film wurde in<br />
mehrere Sprachen übersetzt.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>21
Dossier<br />
Für Kinder mit<br />
frühkindlichem Autismus<br />
braucht es mehr Plätze in<br />
autismusspezifischen<br />
Einrichtungen.<br />
Kinder mit Asperger-Syndrom<br />
dagegen profitieren von<br />
integrativer Beschulung.<br />
>>> schen Angeboten und Arbeitsplätzen.»<br />
Ein interessegeleiteter<br />
Schullehrplan<br />
Daran mag Claudia noch nicht denken.<br />
«Wie sollen Mia und Julian eine<br />
Lehrstelle finden? Wir erkennen das<br />
Potenzial unserer Kinder. Aber sie<br />
können keine Noten vorweisen.» Seit<br />
einem Jahr gehen sie nicht mehr zur<br />
Schule. Mia verlässt das Haus überhaupt<br />
nur noch in Begleitung der<br />
Eltern. Claudia unterrichtet ihre<br />
Kinder nun selbst. Zusätzlich kommt<br />
an zwei Vormittagen pro Woche die<br />
mobile Schule für je zwei Lektionen<br />
ins Haus.<br />
«Homeschooling» nennt sich das<br />
Angebot der Blindenschule Zollikofen.<br />
«Können Kinder trotz Lernbegleitung<br />
nicht mehr in die Regelschule<br />
integriert werden, setzt eine<br />
Heilpädagogin die schulische Arbeit<br />
im Elternhaus fort mit dem Ziel,<br />
Anschluss zu finden an ein Setting<br />
in einer Volks- oder Sonderschule»,<br />
erklärt Christian Niederhauser,<br />
Direktor der Stiftung für blinde und<br />
sehbehinderte Kinder und Jugendliche.<br />
Ab Sommer bietet die Blindenschule<br />
im Auftrag des Kantons<br />
zusätzlich eine Lernumgebung für<br />
sechs autistische, nicht blinde Kinder<br />
an: Sie arbeiten in Gruppen, um<br />
ihren Gemeinschaftssinn zu fördern.<br />
Gleichzeitig besteht die Möglichkeit,<br />
einzeln in einem separaten<br />
Raum mit den Kindern zu arbeiten.<br />
Neben der Blindenschule Zollikofen<br />
erarbeiten schweizweit zunehmend<br />
mehr Schulen autismusspezifische<br />
Angebote. Damit handeln sie<br />
bedarfsgerecht, wie Andreas Eckert,<br />
Professor an der Interkantonalen<br />
Hochschule für Heilpädagogik<br />
Zürich, in mehreren Studien nachweist.<br />
Für Kinder mit frühkindlichem<br />
Autismus brauche es mehr<br />
Plätze in autismusspezifischen Einrichtungen.<br />
Kinder mit dem Asperger-Syndrom<br />
hingegen würden von<br />
integrativer Beschulung profitieren.<br />
Ob Regel- oder Sonderschule –<br />
die schulische Arbeit mit autistischen<br />
Kindern stellt eine Herausforderung<br />
dar. «Lernen loszulassen»,<br />
empfiehlt Christian Niederhauser<br />
seinen Angestellten. «Die Kunst ist,<br />
dass sich die Lehrkraft nicht verpflichtet<br />
fühlt für ein Bildungsziel,<br />
das nicht realisierbar ist, sondern<br />
dort ansetzt, wo das Kind Interesse<br />
zeigt.»<br />
Psychotherapie statt<br />
Delfinschwimmen<br />
Ein Blick in Emilios Schulstube<br />
macht sein Interesse deutlich: Er liegt<br />
auf einem Sitzwürfel. «Sibe chugelrundi<br />
Söi, liged näbenand im Höi. Si<br />
tüend grunze, si tüend schmatze … »,<br />
erklingt ein Lied aus den Lautsprechern.<br />
Emilios Aufmerksamkeitsphasen<br />
seien kurz, sagt seine<br />
Lehrerin Melanie Radalewski. Die<br />
Psychologin unterrichtet Emilio vormittags<br />
im Einzelsetting. In den Liederpausen<br />
sammelt Emilio Energie<br />
für die nächste Lerneinheit. Heute<br />
ist er konzentriert: Auf Anweisung<br />
seiner Lehrerin schreibt er Buchstabe<br />
für Buchstabe das Wort Sonne<br />
an die Tafel. Diese Fähigkeit verdankt<br />
er auch einer intensiven Therapie:<br />
Drei mal drei Stunden Verhaltenstherapie<br />
erhält er in der<br />
Woche.<br />
Die geeignete Therapie zu finden,<br />
ist eine Herausforderung. Das >>><br />
Mia legt ihr<br />
Handy kaum aus<br />
der Hand. Die<br />
Welt der Technik<br />
gibt ihr<br />
Sicherheit.<br />
22
Dossier<br />
23
24 <br />
Dossier
Dossier<br />
>>> Angebot reicht von psychotherapeutischen<br />
Massnahmen über<br />
spezielle Diäten bis hin zu Delfintherapien<br />
oder Medikamenten.<br />
Vom Schwimmen mit Delfinen<br />
hält Ronnie Gundelfinger nichts.<br />
Auch das heilende Medikament gebe<br />
es nicht. «Medikamentös behandelt<br />
werden die Begleitsymptome.» So<br />
würden zum Beispiel viele autistische<br />
Kinder ADHS-Symptome aufweisen<br />
und von Ritalin profitieren.<br />
Für den Experten ist aber klar: «Die<br />
einzigen Ansätze, von denen man bis<br />
jetzt weiss, dass sie etwas bringen,<br />
sind spezifisch für Autismus entwickelte<br />
Therapieprogramme. Am besten<br />
untersucht sind verhaltenstherapeutische.<br />
Dabei spielen der frühe<br />
Beginn und die hohe Intensität der<br />
Behandlung eine entscheidende Rolle.»<br />
Einzelne Aspekte der autistischen<br />
Störung können durch Ergotherapie<br />
oder Logopädie behandelt<br />
werden. Daneben arbeiten in der<br />
Schweiz viele heilpädagogische<br />
Schulen mit der TEACCH-Methode<br />
(Treatment and Education for Autistic<br />
and related Communication handicapped<br />
Children). Intensivere<br />
Therapien stützen oft auf den verhaltenstherapeutischen<br />
Ansatz ABA<br />
(Applied Behavior Analysis).<br />
Letzteren kennt Emilio gut.<br />
Soeben sitzt er mit seiner ABA-Therapeutin<br />
Jessica Stauffacher über<br />
Aufgaben gebeugt, die seine sprach-<br />
Mia geht seit<br />
einem Jahr nicht<br />
mehr zur Schule.<br />
Ihre Mutter<br />
unterrichtet sie.<br />
lichen, kognitiven, motorischen und<br />
sozialen Fertigkeiten fördern. Der<br />
Raum ist abgedunkelt. Emilio ist<br />
sehr lichtempfindlich. «Wofür willst<br />
du arbeiten», fragt die Psychologin,<br />
«für einen Sirup oder für den Zottelbären?»<br />
Für seine gewünschte<br />
«Zoggubär»-Pause muss Emilio<br />
zuerst Kärtchen einer Bildergeschichte<br />
in die richtige Reihenfolge<br />
bringen. Danach setzt er sich aufs<br />
Sofa und sieht zu, wie der Bär durch<br />
den Raum segelt, um schliesslich auf<br />
seinem Bauch zu landen. Begeistert<br />
gibt sich Emilio dem Spiel hin. Dann<br />
steht die nächste Aufgabe an. Und<br />
die nächste Belohnung.<br />
Ein bisschen erinnert das Ganze<br />
an einen Dressurakt. «Das ist die<br />
häufigste Kritik», sagt Jessica Stauffacher.<br />
Emilio spreche jedoch gut<br />
auf diesen Ansatz an. «Er bleibt länger<br />
sitzen als früher, löst manche<br />
Aufgaben leichter und zeigt ausserdem<br />
kaum mehr aggressive Verhaltensweisen.»<br />
Je früher, desto besser<br />
Emilio begann seine Therapie mit<br />
vier Jahren. Der Trend heute ist ein<br />
anderer: Studien weisen auf den Nutzen<br />
eines möglichst frühen Therapiebeginns<br />
hin. In der Schweiz<br />
existieren sechs Frühinterventionszentren<br />
– zum Beispiel das FIAS<br />
in Basel, das 2010 aus dem israelischen<br />
Mifne-Ansatz hervor- >>><br />
Mia verbirgt ihre<br />
Gefühle hinter einem<br />
maskenhaften Gesicht.<br />
Geht es ihr nicht gut,<br />
rutscht sie langsam unter<br />
den Tisch.<br />
Buch und Film<br />
• Louis. Brot. Von Res Brandenberger (2014).<br />
Landverlag, Langnau. Roman über Louis,<br />
einen autistischen Jungen, der sich von<br />
seinem Heimatdorf Trubschachen aus auf<br />
eine lange Reise in eine neue Welt begibt.<br />
• Autismus mal anders. Einfach,<br />
Authentisch, Autistisch. Von Aleksander<br />
Knauerhase (2016). Books on Demand<br />
GmbH, Norderstedt. Der Autor ist selbst<br />
Autist und beschreibt sein zum Teil<br />
herausforderndes Leben mit einer<br />
Autismus-Spektrum-Störung.<br />
• Schattenspringer. Wie es ist, anders zu<br />
sein. Von Daniela Schreiter (2014). Panini<br />
Verlag. Die Autorin beschreibt in einer<br />
Art gezeichnetem Tagebuch, wie sie ihre<br />
Kindheit und Jugend als Asperger-Autistin<br />
erlebte. Ein zweiter Band «Schattenspringer<br />
2» erschien 2015.<br />
• Autismus-Spektrum-Störungen in der<br />
Schweiz. Lebenssituation und fachliche<br />
Begleitung. Von Andreas Eckert (2015).<br />
Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und<br />
Sonderpädagogik (SZH) Bern. Auf der<br />
Grundlage einer Elternbefragung zeigt<br />
der Autor in diesem Forschungsbericht<br />
Erkenntnisse und Entwicklungen im Bereich<br />
Autismus-Spektrum-Störungen auf.<br />
• Sesame Street (amerikanische Version der<br />
Kinderserie «Sesamstrasse»). Hat seit April<br />
2016 die 4-jährige autistische Julia als neuen<br />
Charakter. Mit dieser Initiative sollen die<br />
Kleinsten in der Gesellschaft für Autismus<br />
sensibilisiert und autistische Kinder besser<br />
integriert werden.<br />
• Life Animated. Von Ron Suskind (2016). Der<br />
Spielfilm zeigt, wie sich der stumme, autistische<br />
Owen Suskind mithilfe von Disneyfiguren<br />
Zugang zur Aussenwelt verschafft.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>25
Die Storen im Therapieraum<br />
sind nicht gleichmässig<br />
hochgezogen. Sorgfältig<br />
behebt Emilio den Mangel.<br />
>>> ging (siehe Seite 30) und Kinder<br />
zwischen 1,5- und 4-jährig<br />
aufnimmt.<br />
Die Frühinterventionen sind im<br />
Moment jedoch nicht allen autistischen<br />
Kindern zugänglich. Für<br />
manche Eltern ist der Aufwand zu<br />
gross – sei es wegen der Reise oder<br />
wegen der Kosten. Zwar finanziert<br />
die IV pauschal 45 000 Franken für<br />
die Intensivbehandlung von frühkindlichem<br />
Autismus in einem der<br />
sechs Frühinterventionszentren. Der<br />
Betrag deckt jedoch die Gesamtkosten<br />
nicht. Im FIAS zum Beispiel kostet<br />
die 3-wöchige Intensivbehandlung<br />
mit 2-jähriger Nachsorge<br />
90 000 Franken.<br />
Oft werden Diagnosen für eine<br />
Frühintervention auch zu spät<br />
gestellt. «Vor 4-jährig ist es kompliziert,<br />
eine Diagnose zu erhalten»,<br />
sagt Emilios Mutter Bruna Rausa.<br />
«Ich erkannte von Anfang an, dass<br />
mit meinem Baby etwas nicht<br />
stimmt. Aber Kinderärzte erkennen<br />
die frühen Anzeichen zum Teil<br />
nicht.» Emilio war schliesslich 3-jährig,<br />
als seine ASS ärztlich bestätigt<br />
wurde.<br />
Ronnie Gundelfinger vergibt die<br />
Autismusdiagnose in der Regel ab<br />
2,5-jährig. Manchmal seien die<br />
Begriffserklärungen<br />
Autismus (aus dem Griechischen:<br />
selbstbezogenes Handeln, auf sich selbst<br />
bezogen sein) ist eine schwerwiegende<br />
Störung der kindlichen Entwicklung. Bis<br />
anhin gelten die Definitionen aus zwei<br />
Klassifikationssystemen. Das internationale<br />
Klassifikationssystem ICD-10 der<br />
WHO unterteilt Autismus in verschiedene<br />
Subtypen. Die geläufigsten sind:<br />
• Frühkindlicher Autismus, auch<br />
Kanner-Autismus (nach Leo Kanner):<br />
manifestiert sich in den ersten drei<br />
Lebensjahren, häufig stark eingeschränkte<br />
Sprachentwicklung und<br />
kognitive Beeinträchtigung.<br />
• Asperger-Syndrom (nach Hans<br />
Asperger): keine Sprachentwicklungsverzögerung,<br />
mindestens durchschnittliche<br />
Intelligenz, oft motorische<br />
Auffälligkeiten, manchmal erst in der<br />
Interaktion mit anderen erkennbar –<br />
in der Primarschule oder später.<br />
• Atypischer Autismus: Symptome des<br />
frühkindlichen Autismus sind unvollständig<br />
oder in milder Form vorhanden,<br />
manifestiert sich oft nach dem dritten<br />
Lebensjahr.<br />
Da die einzelnen Subtypen nicht immer<br />
einfach zu unterscheiden sind, wurde<br />
2013 der Begriff Autismus-Spektrum-<br />
Störung (ASS) ins angloamerikanische<br />
Klassifikationssystem DSM 5 aufgenommen.<br />
Er ersetzt zunehmend obengenannte<br />
Diagnosen. Die ASS umfasst<br />
ein Kontinuum von Störungen mit unterschiedlichem<br />
Schweregrad – je nachdem,<br />
wie viel Unterstützung das Kind braucht.<br />
Weiter wird spezifiziert, ob eine Störung<br />
in der intellektuellen Entwicklung und im<br />
Gebrauch der Sprache vorliegt.<br />
Gemeinsam sind Autistinnen und Autisten<br />
Auffälligkeiten in folgenden beiden<br />
Bereichen:<br />
• Soziale Kommunikation: z.B. kaum<br />
Augenkontakt, kaum oder ungewöhnliche<br />
Reaktion auf Mitmenschen, kaum<br />
Kontakt mit Gleichaltrigen, fehlende<br />
Mimik und Gestik und/oder Mühe,<br />
Gestik und Mimik von anderen zu verstehen,<br />
verzögerte bis fehlende Sprachentwicklung<br />
oder aussergewöhnlicher<br />
Gebrauch von Sprache, z. B. repetitive<br />
Verwendung von Sprache, Wortneuschöpfungen,<br />
altkluges Sprechen.<br />
• Begrenzte, stereotype Verhaltensmuster,<br />
Interessen und Aktivitäten:<br />
übermässig fokussierte Interessen und<br />
beharrliche Beschäftigung mit einem<br />
Thema (z. B. meteorologische Daten),<br />
stereotype Handlungen (z. B. mit Oberkörper<br />
schaukeln).<br />
Die Begriffe High Functioning Autism<br />
und Low Functioning Autism beziehen<br />
sich auf das kognitive Level. Während Low<br />
Functioning mit einem unterdurchschnittlichen<br />
IQ einhergeht, weisen Kinder mit<br />
High Functioning einen normalen bis<br />
überdurchschnittlichen IQ auf. Das heisst:<br />
Kinder können die Kriterien für frühkindlichen<br />
Autismus erfüllen, eine verzögerte<br />
Sprachentwicklung zeigen und einen<br />
überdurchschnittlichen IQ haben.<br />
Ist die Rede von autistischen Zügen,<br />
dann sind gewisse Charakteristika des<br />
Störungsbildes vorhanden, jedoch zu<br />
wenig ausgeprägt für eine Diagnose.<br />
26 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Anzeichen schon früher deutlich.<br />
«Die Behandlung eines 1-jährigen<br />
Kindes finanziert aber niemand.» Es<br />
sei auch fraglich, Frühdiagnosen zu<br />
pushen. «Das Angebot für Frühinterventionen<br />
stagniert in der<br />
Schweiz.» Es hat also zu wenig Plätze.<br />
«Für jeden Kanton sollte sichergestellt<br />
werden, dass mindestens ein<br />
Autismuskompetenzzentrum mit<br />
bedarfsdeckenden Kapazitäten zur<br />
Verfügung steht.» Unter anderem<br />
das empfahl der Bundesrat 2015 als<br />
Antwort auf ein Postulat von Claude<br />
Hêche, um die Lage autistischer<br />
Kinder und deren Umfeld zu verbessern.<br />
Die Ideen sind vorhanden.<br />
Die Umsetzung braucht Zeit.<br />
Emilio nimmt sie sich. Seine Therapie<br />
ist zu Ende. Die Mutter wartet.<br />
Die Therapeutin wartet. Und Emi-<br />
lio? Der geht nochmals zurück in den<br />
Therapieraum. Die Storen sind nicht<br />
alle gleichmässig hochgezogen. Sorgfältig<br />
behebt er den Mangel, vertieft<br />
in seinen leisen Singsang: «I gaa itz,<br />
tschüüss. I gaa itz, tschüüss.»<br />
>>><br />
Sarah King<br />
Dr. phil. Linguistik und MSc Psychologie,<br />
arbeitet in einer psychiatrischen Klinik im<br />
Kanton Bern. Sie ist freie Journalistin und<br />
Autorin. Ihre beruflichen Interessen gelten<br />
der nonverbalen und verbalen<br />
Synchronisation in der sozialen Interaktion,<br />
ihre privaten der Sprache und Musik.<br />
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Dossier<br />
«Ich wurde als Kind gemobbt»<br />
Kann ein Autist Autisten helfen? Matthias Huber zeigt, dass es geht. Seit zwölf Jahren arbeitet<br />
der Psychologe an der Autismusfachstelle der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären<br />
Psychiatrischen Dienste Bern UPD. Das Aussergewöhnliche: Er ist selbst «Asperger» und weiss,<br />
wie autistische Kinder die Welt wahrnehmen. Interview: Sarah King<br />
Herr Huber, beim Betreten Ihrer<br />
Praxis erspäht man als Erstes viele<br />
kleine Plastiktierchen im Wandregal.<br />
Mögen Autisten Tiere?<br />
Es kommt vor, dass Autisten Tiere<br />
gerne haben. Das Verhalten von Tieren<br />
ist oft einfacher einzuordnen als<br />
dasjenige von Menschen. Freut sich<br />
zum Beispiel ein Hund, wedelt er mit<br />
dem Schwanz. Ein Mensch drückt<br />
seine Freude mal mit Lachen aus,<br />
mal anders. Er nutzt subtilere Ausdrucksformen.<br />
Das ist für Menschen<br />
im Autismus-Spektrum schwierig.<br />
Sie sind oft eingeschränkt im Verstehen<br />
von Mimik und Gestik des<br />
Gegenübers.<br />
Nun haben Sie selbst ein Asperger-<br />
Syndrom und das Einordnen von Verhalten<br />
und Gefühlen anderer gehört<br />
zu Ihrem Beruf. Erleben Sie diesbezüglich<br />
Einschränkungen?<br />
Im Gegenteil. Für mich ist es einfacher,<br />
Autisten einzuschätzen, da ich<br />
«Ich kann Sprache so<br />
einsetzen, dass das Kind mit<br />
grosser Wahrscheinlichkeit<br />
auf mich reagiert und redet.»<br />
eine ähnliche Art habe, wie ich die<br />
Welt betrachte, wie ich sie analysiere<br />
und die Sprache verwende und<br />
decodiere. Ich kann Sprache so einsetzen,<br />
dass das Kind mit grosser<br />
Wahrscheinlichkeit auf mich reagiert<br />
und redet.<br />
Zum Beispiel?<br />
Offene Fragen erzeugen Stress. Darum<br />
formuliere ich meine Fragen sehr<br />
präzise und detailliert. Zum Beispiel:<br />
«Wenn du Gitarre übst, schaust du<br />
auf die Saiten oder geradeaus oder<br />
an einen Ort, den ich nicht genannt<br />
habe?» Autisten sind Detailmenschen<br />
– sowohl im Denken wie auch<br />
in der Wahrnehmung. Ein Dialog<br />
mit genauen Fragen ist für sie interessant<br />
und sie können besser antworten.<br />
Kinder ohne Autismus erleben<br />
ihn als seltsam. «Spinnt der?»,<br />
fragte mal ein Jugendlicher. Meine<br />
Fragen waren ihm zu detailliert.<br />
Mit wem und wie führen Sie Autismusabklärungen<br />
durch?<br />
Zu uns kommen Kinder mit der Verdachtsdiagnose<br />
ASS, Asperger-Syndrom,<br />
frühkindlicher Autismus oder<br />
atypischer Autismus. Die Diagnose<br />
wird immer im Team durch medizinische<br />
und psychologische Fachpersonen<br />
gestellt. Mit den Eltern<br />
zusammen erheben wir eine Familien-<br />
und Entwicklungsanamnese,<br />
holen Informationen von Lehrper-<br />
sonen und Heilpädagoginnen ein<br />
und führen Wahrnehmungs-, IQsowie<br />
autismusspezifische Tests<br />
durch. Ein wichtiger Teil bildet das<br />
klinische Gespräch. Dabei geben<br />
Inhalt und Form der Antwort wie<br />
auch das nonverbale Verhalten Aufschluss.<br />
Frage ich zum Beispiel ein<br />
autistisches Kind, ob es eine Lieblingsfarbe<br />
hat, dann antwortet es oft<br />
mit «Ja». Ein Kind ohne Autismus<br />
nennt die Farbe und erwähnt vielleicht<br />
noch sein Fahrrad, das dieselbe<br />
Farbe hat.<br />
Wie hoch ist das Durchschnittsalter<br />
der Kinder, die Sie untersuchen?<br />
Sie können zwischen 1,5- und<br />
18-jährig sein. Im Durchschnitt sind<br />
sie etwa 11-jährig. Oft kommen<br />
Jugendliche, die zuvor andere Diagnosen<br />
erhielten, die nicht alle Auffälligkeiten<br />
oder Besonderheiten<br />
erklärten.<br />
Wie äusserte sich das Asperger-<br />
Syndrom bei Ihnen, als Sie ein Kind<br />
waren?<br />
Ich redete kaum. Fragen beantwortete<br />
ich nur, wenn ich die Antwort<br />
zu 100 Prozent wusste. Es gelang mir<br />
auch nicht, Gedanken sprechend zu<br />
entwickeln und in Sätze umzuformen.<br />
So antwortete ich oft erst, wenn<br />
das Thema schon vorbei war. Ich<br />
schaute ausserdem meist weg, wenn<br />
jemand redete. Sonst wurde ich zu<br />
28 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
stark abgelenkt von visuellen Reizen<br />
und hörte nur wuwuh, wuwuh.<br />
Zudem erkannte ich früher Ironie<br />
oft nicht. Das ist typisch für Autisten.<br />
Das kann zu zwischenmenschlichen<br />
Problemen führen.<br />
Können und wollen autistische<br />
Kinder Freundschaften eingehen?<br />
Ich kenne viele, die keine Freunde<br />
haben. Sie wünschen sich das eigentlich,<br />
können aber nicht so leicht<br />
Kontakt knüpfen. Oft sind andere<br />
Kinder irritiert: Der starrt ja nur<br />
oder schaut einen nicht an. Sie wissen<br />
nicht, dass sich auch jemand mit<br />
Autismus einen besten Freund<br />
wünscht und mal an einen Geburtstag<br />
eingeladen werden möchte. Viele<br />
autistische Kinder haben ausserdem<br />
Angst vor Mobbing.<br />
Sprechen Sie aus Erfahrung?<br />
Ich wurde als Kind angespuckt und<br />
geschlagen, weil ich nicht der Norm<br />
entsprechend kommunizierte. Oft<br />
mobben Kinder aus Hilflosigkeit. Sie<br />
wissen zu wenig über Autismus. Das<br />
heisst: Wer Autisten plagt, der<br />
braucht mehr Informationen.<br />
Die Hilflosigkeit ist im ganzen<br />
Umfeld spürbar. Wo erhalten zum<br />
Beispiel Eltern Informationen und<br />
Unterstützung?<br />
Sie erhalten von spezialisierten Beratungsstellen<br />
Unterstützung (siehe<br />
Box Seite 21). Mit mehr Aufklärung<br />
und Verständnis erübrigt sich zum<br />
Teil auch eine Therapie. Ich erlebe<br />
oft, dass bereits die Diagnose alleine<br />
Erleichterung schafft. Betroffene<br />
erkennen, dass sie nicht komisch<br />
sind. Dass ihnen ihre Art der Wahrnehmung<br />
und des Denkens neue<br />
Perspektiven eröffnet.<br />
Welche Perspektiven hat Ihnen Ihre<br />
Art des Denkens eröffnet?<br />
Ich hatte viele Spezialinteressen:<br />
neben Paläontologie oder Rauchmeldern<br />
auch das menschliche Denken,<br />
was mich in die Psychologie<br />
führte. Da ich kein sozial perfektes<br />
Profil aufweise, hatte ich nach dem<br />
Studium vorerst Mühe, eine Stelle zu<br />
finden, bis ich schliesslich vor 12<br />
Jahren vom damaligen Direktor der<br />
KJP Bern, Herrn Prof. W. Felder, das<br />
Angebot erhielt, klinische Gespräche<br />
mit Kindern mit Verdacht auf Autismus<br />
durchzuführen, um herauszufinden,<br />
wie sie denken, fühlen und<br />
wahrnehmen. Daraus entwickelte<br />
sich über die Jahre hinweg eine 70-<br />
Prozent-Anstellung. Ich beschränke<br />
mich in meiner Tätigkeit auf Autismus.<br />
In diesem Bereich fühle ich<br />
mich sehr sicher, auch wenn ich<br />
immer wieder Neues lerne.<br />
Das führt zur letzten Frage: Autistische<br />
Menschen sind angewiesen auf<br />
vertraute Situationen und Abläufe.<br />
Wie war es nun für Sie, Fragen zu<br />
beantworten, die Sie vor dem<br />
Gespräch nicht kannten?<br />
Generell sind unvorhergesehene Fragen<br />
zu fremden Themen schwieriger.<br />
In diesem Fall war es kein Problem,<br />
weil die Fragen alle den Autismus<br />
betrafen. Ich öffnete einen Speicher<br />
mit sämtlichen Fragen, die mir in<br />
den letzten 12 Jahren gestellt wurden,<br />
und suchte nach Ähnlichkeiten.<br />
So konnte ich auf bestehende Antworten<br />
zurückgreifen.<br />
«Andere Kinder wissen nicht,<br />
dass sich auch jemand<br />
mit Autismus einen besten<br />
Freund wünscht.»<br />
Zur Person<br />
Matthias Huber, 49, lic. phil., ist<br />
Psychologe an der Uniklinik für Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD<br />
Bern. Er arbeitet im Spezialbereich Autismus<br />
in der Diagnostik, Beratung und Therapie. Die<br />
Zuweisung erfolgt über Ärztinnen und Ärzte<br />
sowie über Psychotherapeutinnen und<br />
Psychotherapeuten an die jeweiligen<br />
Zweigstellen der KJP im Kanton Bern.<br />
Kontakt: info.kjpp@upd.ch,<br />
www.upd.ch<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>29
Dossier<br />
Die Eltern sind die wichtigsten<br />
Ressourcen des Kindes<br />
Eine spezielle Frühintervention unterstützt bei autistischen Kindern eine normale Entwicklung.<br />
Mifne heisst der Ansatz. Ein Besuch bei der Mitbegründerin Hanna Alonim in Israel gibt<br />
Einblick in eine Therapie, bei der Eltern die Experten sind. Text: Sarah King<br />
Vorbei an Orangenbäumen<br />
und Lavendel<br />
führt eine Strasse<br />
steil durch die kleine<br />
israelische Ortschaft<br />
Rosh Pina hinauf. Da, wo sie endet,<br />
soll für Eltern mit autistischen Kindern<br />
ein neues Leben beginnen. Das<br />
zumindest verspricht der Name des<br />
Mifne-Zentrums. Mifne heisst übersetzt<br />
«der Wendepunkt». Das grosse<br />
Backsteinhaus ruht erhaben auf dem<br />
Hügel. In der Ferne erstreckt sich die<br />
Chulaebene, hinter ihr die Golanhöhen.<br />
Das einzige Geräusch erklingt<br />
von einem hölzernen Windspiel.<br />
Das ist die Kulisse eines intensiven<br />
Therapieprogramms: 3 Wochen,<br />
7 Tage die Woche, 8 Stunden am Tag<br />
arbeiten hier Eltern mit ihren autistischen<br />
Kleinkindern und therapeutischen<br />
Fachpersonen. Dafür reisen<br />
sie oft von weit her an und zahlen<br />
25 000 US-Dollar.<br />
Was ist die Besonderheit des<br />
Mifne-Ansatzes? Warum nehmen<br />
Eltern diesen Aufwand auf sich?<br />
Eine Besonderheit offenbart sich<br />
auf dem Schreibtisch der Autismusexpertin<br />
und Direktorin des Mifne-<br />
Zentrums, Dr. Hanna Alonim. In<br />
Essprobleme gehören zu den<br />
acht Frühzeichen bei<br />
autistischen Störungen.<br />
einem kleinen Fernseher läuft die<br />
Life-Aufnahme aus dem Therapieraum.<br />
Der 35-jährige Diego Barbosa*<br />
aus Brasilien ist mit seinem Sohn<br />
Rafael* ins Spiel vertieft. Rafael ist<br />
1,5 Jahre.<br />
Zeichen lassen sich früh erkennen<br />
«Das Alter ist zentral», sagt Hanna<br />
Alonim. «Wir nehmen nur Kleinkinder<br />
bis 2-jährig.» Das war nicht<br />
immer so. Als die Psychologin 1987<br />
das Mifne-Zentrum in Israel mitbegründete,<br />
nahm sie auch ältere Kinder<br />
in Therapie. In ihrer 30-jährigen<br />
Arbeit mit autistischen Kindern und<br />
ihren Familien hat sich jedoch die<br />
Autismuslandschaft stark verändert<br />
– nicht zuletzt das Diagnosealter.<br />
«Wir geben die Diagnose auch 1- bis<br />
1,5-jährigen Kleinkindern», sagt<br />
Hanna Alonim. «Manche sagen, ein<br />
Kind so früh zu ‹etikettieren›, sei<br />
unverantwortlich. Wir wissen aber<br />
aus unseren Studien, dass 89 Prozent<br />
von 110 autistischen Kindern bereits<br />
im ersten Lebensjahr Frühzeichen<br />
aufgewiesen hatten. Und 2016 konnten<br />
wir mit einer Folgestudie nachweisen,<br />
dass bei einer Frühintervention<br />
in den ersten 24 Monaten ein<br />
Grossteil der Kinder eine altersentsprechende<br />
Entwicklung zeigt.»<br />
Hanna Alonim untermauert ihre<br />
Beobachtungen mit Studien aus der<br />
Hirnforschung. «Bis zum zweiten<br />
Lebensjahr wird das neuronale<br />
Netzwerk ausgebildet, auf dessen<br />
Grundlage sich die Persönlichkeit,<br />
die Lernfähigkeit und der IQ entwickeln.<br />
In dieser Zeit können wir am<br />
meisten Einfluss nehmen.» Die USamerikanische<br />
Autismusforscherin<br />
Geraldine Dawson spricht im Zu -<br />
sammenhang mit Frühintervention<br />
gar von einer «präventiven Massnahme».<br />
Eltern als Experten<br />
Zurück in den Therapieraum. Im<br />
Beisein der Therapeutin Veronica<br />
Jacubson nehmen Vater und Sohn<br />
das Mittagessen ein. Rafael verharrt<br />
still mit einem gefüllten Löffel in der<br />
Hand. «Er weigert sich, das Essen zu<br />
berühren.» Das sagt Giora Shayngesicht.<br />
Hinter einer spiegelverglasten<br />
Wand beobachtet er die Szene. Essprobleme<br />
gehören zu den acht Frühzeichen<br />
bei autistischen Störungen<br />
(siehe Box Seite 31). «Der Vater<br />
reagiert typisch: Er übernimmt die<br />
Fütterung.»<br />
«Was würde geschehen, wenn Sie<br />
einen Moment warten, bevor Sie<br />
den Löffel zum Mund Ihres Sohnes<br />
führen?», fragt der Therapeut in der<br />
Nachbesprechung. «Ich sehe, was<br />
Eltern tun, aber nicht, was sie denken.<br />
Sie sollen ein vertieftes Ver-<br />
30 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
ständnis für die besonderen Bedürfnisse<br />
ihres Kindes entwickeln und<br />
gleichzeitig die Gründe für ihr eigenes<br />
Handeln verstehen. So gewinnen<br />
die Eltern mehr Selbstwert und<br />
Vertrauen, was die Interaktion<br />
zwischen ihnen und dem Kind verbessert.»<br />
Das ist eine weitere Besonderheit<br />
des Mifne-Ansatzes: Mutter wie<br />
Vater werden als die wichtigste Ressource<br />
des Kindes betrachtet und<br />
sind deshalb beide in der Therapie<br />
anwesend. «Sie sind es, die handeln<br />
müssen, wenn das Kind schreit oder<br />
nicht isst. Ich könnte die beste Therapeutin<br />
auf der Welt sein und hätte<br />
doch keinen Einfluss auf das Kind»,<br />
sagt Hanna Alonim. «Zu Beginn<br />
sind die Eltern aber oft in einer Krise<br />
und brauchen Hilfe.» Manche<br />
Eltern verdrängen die Auffälligkeiten.<br />
Andere haben schon etliche<br />
Abklärungen hinter sich.<br />
Das Kind im Zentrum<br />
So auch Diego Barbosa. Das Nichtwissen<br />
ist für ihn schwierig. «Ich bin<br />
Wissenschaftler», sagt er am Tag der<br />
Ankunft. «Ich brauche Fakten.»<br />
Hanna Alonim nickt. «Wir arbeiten<br />
aber mit Ihrem Kind, nicht mit Fakten.»<br />
Diese Haltung vertritt auch<br />
Giora Shayngesicht. «Manchmal<br />
hinterfragen Leute, ob die Frühzeichen<br />
wirklich durch eine autistische<br />
Störung bedingt sind. Die Gewissheit<br />
haben wir nicht. Lindert jedoch<br />
die Therapie das Leid der Familie,<br />
spielt die Diagnose letztlich keine<br />
Rolle.»<br />
Liegt aber eine Diagnose vor,<br />
besteht die Chance auf einen Beitrag<br />
an die Therapiekosten durch die<br />
öffentliche Hand. Auch die Stiftung<br />
Mifne Schweiz mit Sitz in Zürich<br />
unterstützt bei Bedarf. Hanna Alonim<br />
und das Mifne-Team sind darüber<br />
hinaus bestrebt, ihr Konzept<br />
auch in anderen Ländern bekannt<br />
zu machen. So ging beispielsweise<br />
2010 in Basel aus dem Mifne-Ansatz<br />
das FIAS-Zentrum hervor. Die Be -<br />
handlung im eigenen Land erleichtert<br />
die Nachbetreuung. Bis zur<br />
Integra tion des Kindes in den Kin -<br />
dergarten wird die Familie von<br />
Mifne-Therapeuten weiterbegleitet.<br />
So weit ist Rafael noch nicht.<br />
Noch lebt er in sein Inneres zurückgezogen,<br />
angewiesen auf Eltern, die<br />
das Chaos aus Reizen in der Aussenwelt<br />
für ihn ordnen. Im Moment<br />
macht die Familie Pause. In Rosh<br />
Pina herrscht Mittagsruhe. Selbst<br />
das Windspiel ist verklungen.<br />
* Namen der Redaktion bekannt<br />
Weitere Informationen:<br />
www.mifne-autism.com<br />
Manche Eltern verdrängen<br />
die Auffälligkeiten. Andere<br />
haben etliche Abklärungen<br />
hinter sich.<br />
Frühwarnzeichen im 1. Lebensjahr<br />
Die israelische Autismusexpertin Hanna Alonim<br />
und ihr Team entwickelten 2007 das Diagnosetool<br />
ESPASI (Early signs of pre-autism scale for<br />
infants). Es hilft Eltern und Fachleuten, erste<br />
Anzeichen von Autismus beim Kind innerhalb<br />
des ersten Lebensjahres zu erkennen. Geordnet<br />
nach Signifikanz sind dies:<br />
1. übermässige Passivität (kein Weinen, kaum<br />
Bewegung, wenig Interesse an der Umgebung)<br />
2. kaum direkter Augenkontakt mit Menschen<br />
3. kaum Reaktion auf die Stimme oder die<br />
Präsenz der Eltern<br />
4. übermässige Aktivität (kontinuierliches<br />
Weinen, fehlende Ruhe)<br />
5. verweigert zu essen<br />
6. lehnt elterliche Berührung ab<br />
7. verzögerte motorische Entwicklung<br />
8. beschleunigtes Wachstum des Kopfumfangs<br />
Im nächsten Heft:<br />
Resilienz<br />
Bild: iStockphoto<br />
Eltern wollen ihren Kindern ein möglichst schönes<br />
und behütetes Leben bieten – doch wie geht man<br />
mit Schicksalsschlägen um? Und wie gehen<br />
Kinder aus Krisensituationen gestärkt hervor?<br />
Unser Dossier-Thema im September.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>31
Monatsinterview<br />
32 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Monatsinterview<br />
«Ich will den Müttern das<br />
schlechte Gewissen nehmen»<br />
Das heutige Mutterbild treibt die Frauen in die Erschöpfung, sagt die<br />
österreichische Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve. Schuld sei das<br />
vermeintliche Ideal der Kleinfamilie. Text: Claudia Landolt Bilder: Martin Mischkulnig / 13 Photo<br />
Die in Innsbruck<br />
geborene<br />
Mariam<br />
IreneTazi-Preve<br />
ist Professorin<br />
in den USA.<br />
Grosse Ehrfurcht. Ich treffe Mariam<br />
Irene Tazi-Preve, die Retterin der<br />
Frauen. Die österreichische<br />
Politikwissenschaftlerin, die als Erste<br />
die Vereinbarkeitslüge publik<br />
gemacht hat, sitzt im Café Sacher in<br />
Innsbruck, ihrer Geburtsstadt. Lüster<br />
glitzern, das Holz ist poliert, die<br />
Sessel laden in rotem Plüsch. An den<br />
Wänden Bilder aus der kaiserlichköniglichen<br />
Zeit Österreichs. Die<br />
Männer tragen Kaiser-Wilhelm-<br />
Schnäuze, die Frauen rauschende<br />
Roben. Eine Kulisse, die besser nicht<br />
passen könnte zu Mariam Irene<br />
Tazi-Preve, einer Frau, welche die<br />
Lebensumstände von Müttern und<br />
Vätern erforscht. Ein Gespräch mit<br />
vielen Doppelmokkas und zwei Stück<br />
Sachertorte.<br />
Frau Tazi-Preve, warum sind Mütter oft<br />
müde?<br />
Sie sind müde vom Dauerspagat zwischen<br />
Job und Familie, Haushalt und<br />
den vielen Tausend anderen Dingen,<br />
um die sie sich kümmern. Doch das<br />
ist nicht ihre Schuld.<br />
Wessen Schuld ist es dann?<br />
Die Schuld trägt unser Lebensmodell,<br />
die Kleinfamilie. Sie ist der<br />
Quell unseres Unglücks.<br />
Können Sie das erklären?<br />
Die Kleinfamilie ist falsch aufgesetzt.<br />
Familie ist ein weiterer Begriff, er<br />
umfasst Geschwister, Onkel, Tanten.<br />
Doch in der Politik, den Medien, der<br />
Gesellschaft ist stets von der Kleinfamilie<br />
die Rede.<br />
Was ist daran falsch?<br />
Die Kleinfamilie ist ein winzig kleines,<br />
sehr fragiles Konstrukt, das sich<br />
«Die Kleinfamilie<br />
muss sich immer<br />
wieder emotional<br />
selbst aufladen.»<br />
die lebenslange romantische Zweierbeziehung<br />
nur in Ausnahmefällen.<br />
Suggeriert wird aber, sie sei die Normalität.<br />
Die ewige Liebe existiert nicht?<br />
Nein. Die Statistik zeigt es ja. Die<br />
Hälfte aller Ehen wird geschieden.<br />
Die Paare, die im Konkubinat leben<br />
und sich trennen, werden statistisch<br />
gar nicht erfasst. Trennungen und<br />
Scheidungen aber werden noch<br />
immer moralisch sanktioniert. Die<br />
Politik spricht von einem Verfall der<br />
Werte. Oder man beschuldigt die<br />
Frau, die sich anmasst, arbeiten zu<br />
gehen.<br />
Trotzdem sehnen wir uns alle nach<br />
romantischer Zweisamkeit.<br />
Das muss uns nicht verwundern.<br />
Uns wird ununterbrochen suggeriert,<br />
dass die romantische, legitimierte<br />
Liebe, die ein Leben lang hält,<br />
die anzustrebende Norm sei. Und<br />
dass jene, die daran scheiterten, selber<br />
schuld seien. Die Ironie dabei ist:<br />
Die romantische Idee von der Ehe<br />
ist historisch erst spät aufgekommen.<br />
Schon die Römer, die das juristische<br />
Fundament für die Ehe- und Familiengesetze<br />
legten, haben sich über-<br />
permanent emotional selbst aufladen<br />
muss. In diese isolierte Einheit, die<br />
die Politik gern die kleinste Zelle des<br />
Staates nennt, sperrt man zwei Dinge<br />
zusammen und behauptet, das<br />
müsse so sein.<br />
Welche beiden Dinge?<br />
Erstens die lebenslange romantische<br />
Beziehung und zweitens das sichere haupt keine Illusionen darüber<br />
Aufziehen von Kindern. Nun gibt es gemacht, was sie für die Men- >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>33
Monatsinterview<br />
>>> schen bedeutet. Sie haben<br />
offen gesagt, dass die Ehe eine «Quelle<br />
des Verdrusses» für die Beteiligten<br />
sei, aber dass sie «Bürgerpflicht» sei<br />
«Schon die Römer<br />
sagten, die Ehe sei<br />
eine Quelle des<br />
Verdrusses für alle<br />
Beteiligten.»<br />
und man sie für das Funktionieren<br />
von Politik und Gesellschaft eben<br />
brauche. Damit wird klar, dass das<br />
Wohl zweier Menschen nie im Vordergrund<br />
gestanden hat, wenn es um<br />
Heirat ging. Trotzdem sind wir der<br />
Idee bis heute verfallen.<br />
Romantische Liebe ist eine Illusion?<br />
Ja. Dabei sollten wir erkennen, dass<br />
sie die Ausnahme ist. Das Perfide<br />
daran ist, dass man es heute als Norm<br />
darstellt. Das finde ich den jungen<br />
Menschen gegenüber besonders problematisch.<br />
Warum?<br />
Weil man ihnen eintrichtert, dass ihr<br />
Lebensglück mit einem anderen<br />
Menschen verknüpft ist. Wir glauben,<br />
dass es irgendwo da draussen<br />
einen Menschen gibt, der perfekt zu<br />
uns passt. Mit dem es keinen Streit,<br />
keine Konflikte gibt. In den USA sagt<br />
man: «It wasn’t the right one.» Das<br />
heisst, man stellt den Menschen in<br />
Frage, nicht das Ideal, dem man aufsitzt.<br />
Die Menschen suchen etwas,<br />
das es nicht gibt, und verzweifeln an<br />
der Realität.<br />
Nun gibt es wenig Alternativen zur<br />
Ehe oder Lebensgemeinschaft.<br />
Die Partnerschaft wird häufig als<br />
Ersatz für fehlende emotionale<br />
Zuwendung durch die Herkunftsfamilie<br />
gelebt. Das heisst, dass der<br />
Mangel an lebbaren Alternativen<br />
zum Glauben an die Paarbildung als<br />
einzige Glücksverheissung führt.<br />
Und die Kleinfamilie gilt als<br />
unumstössliches Idyll.<br />
Ja, und darunter leiden Männer wie<br />
Frauen. Und hier kommen wir zur<br />
zweiten Problematik, die ich angesprochen<br />
habe, nämlich der, dass<br />
Kinder in der Familie über 10 bis 20<br />
Jahre lang sicher aufwachsen sollen.<br />
Das kann aber gar nicht gelingen,<br />
weil zwei Personen einfach nicht<br />
genug dafür sind. Im Grunde sind<br />
alle Beteiligten überfordert.<br />
Sie haben die Vereinbarkeitsdebatte<br />
geprägt. Was verstehen Sie darunter?<br />
Wunsch und Wirklichkeit liegen so<br />
weit voneinander entfernt. Hier sollen<br />
zwei per se divergierende soziale<br />
Systeme – das des Arbeitsmarkts<br />
und das der Familie – klaglos miteinander<br />
vereinbart werden.<br />
Wie ist das zu verstehen?<br />
Der kontinuierlichen Fürsorge,<br />
emotionalen Zuwendung und<br />
Betreuung von Familienangehörigen,<br />
also dem Familienbereich, steht<br />
eine auf Flexibilität, Leistung und<br />
Effizienz abgestimmte Arbeitswelt<br />
gegenüber.<br />
Wie kamen Sie auf das Thema der<br />
Mütter in Ihrer Forschung?<br />
Dazu zu forschen begann ich, als ich<br />
feststellte, dass der Leidensdruck der<br />
Mütter enorm ist. Das habe ich über<br />
die Jahre auch bei den Reaktionen<br />
auf meine Vorträge bestätigt bekommen.<br />
Irgendwann habe ich begriffen,<br />
dass das Leiden strukturell bedingt<br />
ist. Dem wollte ich nachgehen und<br />
den Müttern ihr schlechtes Gewissen<br />
nehmen.<br />
Die Schuldgefühle von Müttern sind<br />
systembedingt?<br />
Ich lebe in den USA, und hier gibt<br />
es mittlerweile den Ausdruck der<br />
«mummy wars». Er beschreibt die<br />
Konkurrenz zwischen Frauen um<br />
die noch bessere Mutterschaft. Man<br />
muss das Kind heute von klein auf<br />
fördern, in alle möglichen Kurse<br />
schicken. Das ist die neue, moderne<br />
Form des Drucks auf Mütter. Der<br />
Ruf, eine schlechte Mutter zu sein,<br />
war immer schon eine sehr wirksame<br />
Sanktionsandrohung. Keine Frau<br />
will eine schlechte Mutter sein – das<br />
hat auch der Feminismus nicht geändert.<br />
Und die Frau wird alles tun, um<br />
dieser Drohung zu entgehen.<br />
Das Pendant des schlechten Vaters<br />
gibt es nicht?<br />
Zumindest nicht in dieser Form. Die<br />
Mütter sind immer schuld. Sie werden<br />
als Schuldige identifiziert, wenn<br />
sie durch Überforderung bei der<br />
Erziehung ihrer Kinder – in mancher<br />
Hinsicht – versagen, zum Beispiel<br />
bei Essstörungen oder Schulproblemen.<br />
Väter können etwa als Manager<br />
am Ende ihrer Karriere immer noch<br />
sagen: Ich habe meine Kinder wegen<br />
des Berufs kaum gesehen. Man stelle<br />
sich vor, eine Frau sage, sie habe<br />
sich leider nicht um ihre Kinder<br />
kümmern können. Trotzdem wird<br />
Frauen heute suggeriert, sie könnten<br />
alles haben. Mütter müssen sexy,<br />
erfolgreich und immer für die Kinder<br />
da sein. Das hat eine totale<br />
Erschöpfung zur Folge. Ich nenne<br />
das die «Vereinbarkeitslüge». Ob als<br />
Hausfrau, Teilzeit- oder Vollzeitberufstätige,<br />
immer stolpert sie in die<br />
«Mutterfalle», weil Mutterschaft und<br />
Existenzsicherung einander ausschliessen.<br />
Und auch, weil Männer<br />
immer noch weit mehr verdienen.<br />
«Frauen wird<br />
suggeriert, sie<br />
könnten alles haben.<br />
Das hat eine totale<br />
Erschöpfung zur<br />
Folge.»<br />
Mütter bleiben als Hausfrauen ab <br />
hängig, als Teilzeitberufstätige sind<br />
sie auf weitere Einkommen durch<br />
den Staat oder den Ehemann angewiesen<br />
und als Vollzeitberufstätige<br />
dauererschöpft.<br />
Manche leben sich im Mutterdasein<br />
aus.<br />
34 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Viele Frauen definieren sich tatsächlich<br />
über Mutterschaft, weil sie<br />
sowieso kaum in die obersten Etagen<br />
kommen. Das liegt aber auch daran,<br />
dass sie ihr Leben um die Kinder<br />
herum planen. Das ist eine Wechselwirkung.<br />
Karriere bedeutet oft, allzeit<br />
verfügbar zu sein, und das wollen<br />
Frauen selten. Deshalb komme ich<br />
beim Thema Familie immer wieder<br />
auf den Arbeitsmarkt zu sprechen.<br />
Dort müssen sich die Regeln ändern.<br />
Denn auch die Männer geraten unter<br />
die Räder des Patriarchats. Am<br />
Leben ihrer Kinder sehr beteiligte<br />
Väter berichten, dass sie sich aktiv<br />
gegen die Forderung nach ständiger<br />
Verfügbarkeit im Job stellen müssen.<br />
Sie müssen bewusst die Karriere hinten<br />
anstellen und zum Beispiel klar<br />
sagen, dass sie nach vier Uhr nicht<br />
an Sitzungen teilnehmen können,<br />
weil ihr Kind aus der Schule kommt.<br />
Diese bewussten Väter sind noch<br />
immer in der Minderheit.<br />
Wie ginge es denn besser?<br />
Wichtig ist, dass man ein stabiles<br />
Netz hat, auf das man sich stützen<br />
kann. Kinder und Mütter vom Rest<br />
der Gesellschaft zu isolieren, ist für<br />
beide gesundheitsschädlich. Wir wissen<br />
auch, dass manche Frauen und<br />
Männer als Mütter und Väter nicht<br />
oder nur wenig geeignet sind, oder<br />
sie können zeitweise ausfallen. Es<br />
gibt aber häufig keine oder nur sehr<br />
wenige andere Ansprechpartner für<br />
Kinder. Dazu kommt, dass die Familie<br />
nach wie vor der grösste Gewaltschauplatz<br />
gegen Frauen und Kinder<br />
ist – auch entgegen allen Mythen, in<br />
denen die Familie als Sehnsuchtsort<br />
dargestellt wird.<br />
Wie können Mütter entlastet werden?<br />
Sie müssen zuallererst aufhören, ein<br />
schlechtes Gewissen zu haben, und<br />
verstehen, dass das «Mutterelend»<br />
gesellschaftliche und historische<br />
Gründe hat. Zweitens müssen sie<br />
aufhören zu glauben, dass die Kleinfamilie<br />
der ideale Ort sei, um Kinder<br />
aufzuziehen. Drittens sollten Frauen<br />
beginnen, Familie als matrilinear<br />
(lateinisch: in der Linie der >>><br />
Kinder und<br />
Mütter von der<br />
Gesellschaft zu<br />
isolieren, sei<br />
schädlich, sagt<br />
Tazi-Preve.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>35
Monatsinterview<br />
>>> Mutter) zu verstehen. Familie<br />
so verstanden bedeutet Verwandtschaft<br />
über die Mutter, nicht über<br />
Heirat oder einen teilweise oder oft<br />
abwesenden Vater. Denn mit Männern<br />
ist aufgrund ihres Eingebundenseins<br />
in das herrschende System,<br />
das die Berufstätigkeit vor die<br />
Bedürfnisse der Familie reiht, kaum<br />
zu rechnen. Auch gibt es immer wieder<br />
Ansätze für andere Wohn- und<br />
Lebensformen, in denen man sich<br />
gewisse Bereiche teilt, die Kinderbetreuung,<br />
Mahlzeitenzubereitung,<br />
Haushalt.<br />
Und viertens?<br />
Viertens braucht es generell eine Kultur<br />
des Teilens von Erwerbsarbeit,<br />
Kinderbetreuung und Familienmanagement,<br />
da wir sonst nicht weiterkommen.<br />
Und fünftens müssen<br />
wir uns vom Irrglauben verabschieden,<br />
dass Arbeit frei und glücklich<br />
macht.<br />
Wirtschaftsvertreter setzen sich für<br />
Frauenförderung ein.<br />
Das Interesse an der weiblichen oder<br />
mütterlichen Arbeitskraft hat nichts<br />
mit Gleichstellung zu tun. Auch steht<br />
«Das Interesse an<br />
der mütterlichen<br />
Arbeitskraft hat<br />
nichts mit<br />
Gleichstellung<br />
zu tun.»<br />
nicht das Wohl der Kinder im Vordergrund.<br />
Im gegenwärtigen neoliberalen<br />
Wirtschafts- und Politiksystem<br />
geht es einzig darum, den<br />
Profit des Unternehmens oder das<br />
Wirtschaftswachstum des Landes zu<br />
vergrössern. Es will, dass die «Menschenproduktion»,<br />
also die Be reitstellung<br />
von Arbeitskräften und<br />
Konsumentinnen und Konsumenten,<br />
klaglos funktioniert.<br />
Sie sprechen davon, dass es das «Private»<br />
nicht gibt.<br />
Ja. Innerhalb des Systems geht es<br />
immer um Macht, Geld oder Moral.<br />
Das widerspricht allen Bedürfnissen<br />
nach Empathie und Sicherheit in<br />
einem Familienleben. Die meisten<br />
Menschen sind auf Arbeit zur Existenzsicherung<br />
angewiesen. Beruf<br />
und Familie sind zusammen aber<br />
eine unzumutbare Belastung, die<br />
Mütter, Väter und Kinder überfordert.<br />
Analysen zu Vereinbarkeitsfragen<br />
zeigen diese Überforderung und<br />
das Leiden am System, was sich in<br />
Krankheitssymptomen wie Stress,<br />
Burnout und Depressionen äussert.<br />
Deshalb sollten Frauen aufhören, an<br />
Zur Person<br />
Mariam Irene Tazi-Preve ist<br />
Professorin an der University of New<br />
Orleans. Sie war an den Universitäten<br />
Wien und Innsbruck wissenschaftlich<br />
tätig und ist Zivilisationstheoretikerin.<br />
Die gebürtige Österreicherin hat<br />
zahlreiche Werke (wie etwa «Die<br />
Vereinbarkeitslüge») zu den<br />
Schwerpunkten Geschlechterfragen,<br />
Mutter- und Vaterschaft sowie<br />
Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik<br />
publiziert. Im April <strong>2017</strong> ist ihr Buch<br />
«Vom Versagen der<br />
Kleinfamilie.<br />
Kapitalismus,<br />
Liebe und der Staat»<br />
erschienen. Sie ist<br />
Mutter eines<br />
erwachsenen Sohnes.<br />
Die Zivilisationstheoretikerin und Politikwissenschaftlerin Mariam<br />
Irene Tazi-Preve (rechts) im Gespräch mit Fritz+Fränzi-Autorin<br />
Claudia Landolt. Das Treffen fand im legendären Café Sacher in<br />
Innsbruck statt, der Heimat von Tazi-Preve, wo sie zu Besuch weilte.<br />
36 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
das Märchen von Karriere und einfacher<br />
Vereinbarkeit zu glauben. Die<br />
Karrierefrau mit Kindern, die das<br />
mühelos schafft, ist eine Erfindung<br />
der Medien und der Wirtschaft.<br />
Sie selbst haben erfahren, was es<br />
heisst, in patriarchalen Strukturen<br />
aufzuwachsen.<br />
Meine Mutter wurde sehr jung mit<br />
mir schwanger, von einem älteren<br />
Mann anderer Nationalität, dem das<br />
Studium wichtiger war und der ein<br />
Jahr nach meiner Geburt das Land<br />
verliess. Damals war die Sozialfürsorge<br />
berüchtigt dafür, minderjährigen<br />
Müttern ihre Kinder wegzunehmen.<br />
Meine Mutter musste sich<br />
daher dem Willen meiner Grosseltern<br />
unterwerfen, wo wir beide<br />
wohnten. Sie bekam nie das Sorgerecht,<br />
das blieb beim Jugendamt, und<br />
sie erhielt auch keinerlei finanzielle<br />
Unterstützung. Auch ihre Schulbildung<br />
konnte sie nicht abschliessen.<br />
Sie heiratete später, war damit nach<br />
aussen hin rehabilitiert, machte Abitur<br />
und holte ihr Studium nach. Die<br />
Geschichte meines Familiennamens,<br />
die ich in meinem Buch schildere,<br />
zeigt die patriarchale Verfasstheit<br />
von Rechtsprechung und staatlicher<br />
Bürokratie, die letztlich unsere<br />
gesellschaftlichen und politischen<br />
Verhältnisse widerspiegelt.<br />
Claudia Landolt<br />
>>><br />
ist Mariam Irene Tazi-Preve echt dankbar.<br />
Endlich hat sie eine fundierte und schlüssige<br />
Erklärung für Müdigkeit, Erschöpfung und<br />
zeitweiligen Unmut über die Dreifachbelastung<br />
von so vielen Müttern (und Vätern!) gefunden.<br />
Von Mariam Irene Tazi-Preve<br />
kurz erklärt<br />
Mütter: Frauen werden in unserem<br />
gesellschaftspolitischen System gezwungen,<br />
sich zwischen dem Verzicht auf Kinder, dem<br />
Verzicht auf Berufstätigkeit und der<br />
Dreifachbelastung bei propagierter<br />
Vereinbarkeit zu entscheiden.<br />
Väter: Männern wird suggeriert, die Gewinner<br />
zu sein, sie sind aber ebenso in die Vorgaben<br />
des Systems eingespannt. Ihnen wird somit<br />
verunmöglicht, den Preis zu erkennen, den sie<br />
für ihr persönliches Leben zahlen müssen.<br />
Kinder: Um das System aufrechtzuerhalten,<br />
erfolgt eine dementsprechende Sozialisation<br />
der Kinder. Ihnen wird somit die Möglichkeit<br />
genommen, als nächste Generation das<br />
System grundsätzlich in Frage zu stellen<br />
und zu verändern. Voraussetzung für die<br />
Erwerbspartizipation der Eltern ist das klaglose<br />
«Funktionieren» der Kinder.<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>37
Psychologie & Gesellschaft<br />
Keine Angst vor<br />
Gruselmonstern!<br />
Beim Einschlafen plagt viele Kinder die Angst, dass sich Monster,<br />
Ungeheuer oder Gespenster im Zimmer eingenistet haben. Es hilft,<br />
wenn Eltern solche Ängste kreativ angehen und den Ungeheuern<br />
mit Fantasie begegnen. Text: Susan Edthofer<br />
«Wer lernt, Ängste<br />
aktiv anzugehen,<br />
stärkt sein<br />
Selbstvertrauen.»<br />
Susan Edthofer ist Redaktorin<br />
im Bereich Kommunikation<br />
von Pro Juventute.<br />
Pyjama anziehen, Zähne putzen und hopp ins<br />
Bett», ruft der Vater seiner Tochter zu. Weil<br />
Eva weiss, dass Papa noch eine Geschichte<br />
erzählt, geht alles relativ schnell und ohne<br />
Widerrede. Bloss gruselig darf die Geschichte<br />
nicht werden, denn das siebenjährige Mädchen hat<br />
seit einiger Zeit Mühe, einzuschlafen. Aus unerfindlichen<br />
Gründen ist es überzeugt, dass ein Gruselmonster<br />
bei ihm übernachtet. Deshalb wird das Einschlafen<br />
meist zur Prozedur. Dunkel darf es nicht sein im Zimmer,<br />
und die Türe muss offen bleiben. Aus Erfahrung<br />
wissen Evas Eltern, dass ihre Tochter noch ein paar Mal<br />
rufen wird: «Ich cha nöd ischlofe.» Obwohl das Monster<br />
eigentlich bereits vertrieben wurde.<br />
Immer wieder fragen sich Eltern, wie man gegen<br />
«Einschlaf-Ungeheuer» ankommt. Evas Eltern haben<br />
gelernt, die Ängste ihrer Tochter ernst zu nehmen und<br />
auf Kinderebene zu reagieren. Statt unter das Bett zu<br />
schauen und zu entgegnen, dass sich da unten nichts<br />
versteckt, überlegen Mama und Papa gemeinsam mit<br />
Eva, wie sich verhindern lässt, dass sich Monster überhaupt<br />
in ihrem Zimmer einnisten.<br />
Die Kunst, Monster in Schach zu halten<br />
Mütter und Väter brauchen einen Reichtum an Ideen,<br />
wenn es darum geht, Ängste zu besiegen und ungebetene<br />
Gestalten aus den Zimmern ihrer Kinder zu vertreiben.<br />
Kinder besitzen viel Fantasie, was man anstellen<br />
muss, um angsteinflössende Gestalten in Schach zu<br />
halten. Eltern können sich diese Vorstellungskraft im<br />
Umgang mit Ungeheuern zunutze machen und Strategien<br />
auf Kinderebene entwickeln. So machte der neunjährige<br />
Tim eine Zeit lang abends Krach, damit das<br />
Monster aus Angst gar nicht erscheine. Die kleine Laura<br />
zähmte das Krokodil mit ihrem Lieblingspausenstengel.<br />
Und ihr Freund Elias überlistete das Gespenst und<br />
schlief nur ein, wenn noch etwas Licht brannte. Einzig<br />
wenn die Eltern nicht zu Hause waren, reichte diese<br />
Massnahme nicht aus. Dann baute er eine Gespensterfalle<br />
und spannte Fäden quer durch sein Zimmer.<br />
Kinder, die lernen, ihre Ängste aktiv anzugehen, stärken<br />
ihr Selbstvertrauen und entwickeln ein grösseres<br />
Selbstbewusstsein. Eltern können diese Entwicklung<br />
unterstützen und ihr Kind bestärken. In der Hoffnung,<br />
dass das Einschlafen bald wieder störungsfrei verläuft.<br />
Was Eltern tun können – vier Tipps<br />
• Nehmen Sie die Angst Ihres Kindes ernst. Vielleicht hilft es, wenn<br />
beim Einschlafen noch ein Lichtschein zu sehen ist, die Türe<br />
offen bleibt, leise Musik erklingt oder ein Kuscheltier aufpasst und<br />
Wache hält.<br />
• Helfen Sie Ihrem Kind, Strategien zu entwickeln, um seine Angst<br />
zu überwinden. Es fördert das Selbstbewusstsein und<br />
Selbstvertrauen Ihres Kindes, wenn es lernt, seiner Angst aktiv zu<br />
begegnen und diese womöglich zu besiegen.<br />
• Suchen Sie zusammen mit Ihrem Kind nach Lösungen, um<br />
furchteinflössende Gestalten fernzuhalten, zu vertreiben oder<br />
zu besänftigen.<br />
• Manchmal helfen auch Symbole, beispielsweise ein Traumfänger,<br />
ein selbst gezeichnetes Monster-Stoppschild, ein Duftspray,<br />
den Ungeheuer scheusslich finden, Gefahren der Nacht und<br />
Ungeheuer fernzuhalten.<br />
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38 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Kolumne<br />
«Der häufige Wechsel zwischen zwei<br />
Wohnorten verunsichert ein Kind»<br />
Die Eltern des neunjährigen Bela teilen sich die elterliche Sorge. Das funktioniert gut.<br />
Doch seit einiger Zeit wirkt der Bub verträumt, unaufmerksam und unkooperativ.<br />
In einem Brief bittet die Mutter von Bela Jesper Juul um Rat.<br />
Jesper Juul<br />
ist Familientherapeut und Autor<br />
zahlreicher internationaler Bestseller<br />
zum Thema Erziehung und Familien.<br />
1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />
nach dem Schulabschluss zur See, war<br />
später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />
und Barkeeper. Nach der<br />
Lehrerausbildung arbeitete er als<br />
Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />
und bildete sich in den Niederlanden<br />
und den USA bei Walter Kempler zum<br />
Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />
leidet Juul an einer Entzündung der<br />
Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />
Rollstuhl.<br />
Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />
Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />
Ehe geschieden.<br />
Ich lebe mit meinem neunjährigen<br />
Sohn Bela getrennt von<br />
seinem Vater. Wir haben uns<br />
getrennt, als unser Sohn vier<br />
alt war. Obwohl die Trennung<br />
sehr anstrengend verlief, waren wir<br />
uns in Bezug auf Bela meistens einig.<br />
Wir haben unsere Differenzen nicht<br />
über unseren Sohn ausgetragen.<br />
Ich arbeite selbständig, drei Tage<br />
pro Woche ist das Kind bei einer<br />
Tagesmutter. Jeden Dienstagabend<br />
geht Bela zu seinem Vater und<br />
kommt am Donnerstag zurück. Die<br />
Wochenenden teilen wir auf. Jeden<br />
zweiten Samstag wohnt er bis Sonntag<br />
beim Vater. In den Ferien verbringt<br />
er zwei bis drei Wochen bei<br />
ihm, den Rest bei mir oder bei Verwandten.<br />
Bela ist ein kreatives, offenes und<br />
flexibles Kind und hat ganz tolle Seiten.<br />
In der Schule bereiten ihm die<br />
Selbst organisation und die Grafomotorik<br />
allerdings Schwierigkeiten,<br />
und es wurde bei ihm zudem eine<br />
Lese- und Schreibschwäche festgestellt.<br />
Seit einiger Zeit fordert mich Bela<br />
sehr. Erst hat er beim Zähneputzen<br />
komplett dichtgemacht und mir vor<br />
Ihre Liebe und Offenheit macht<br />
es dem Kind unmöglich,<br />
seine unbehaglichen Gefühle<br />
auszudrücken.<br />
geworfen, ich sage immer, er sei<br />
noch zu klein und dumm und er<br />
dürfe nichts selbst machen. Was<br />
mich extrem erstaunt hat, da ich<br />
eher grosszügig bin und ihm viele<br />
Dinge zutraue.<br />
In anderen Bereichen behandle<br />
ich ihn tatsächlich wie ein Kleinkind.<br />
Ich weiss nicht, wie oft ich ihn<br />
schon gebeten habe, seinen Rucksack<br />
auszuräumen, die Schuhe nicht<br />
nass aufs Parkett zu stellen, die Hände<br />
mit Seife zu waschen (ich bin<br />
immungeschwächt), die Toilette zu<br />
spülen, das Geschirr abzuräumen.<br />
Doch ihm scheinen diese Dinge<br />
komplett egal zu sein. In Gedanken<br />
ist er ganz woanders.<br />
Ich bestrafe ihn nicht dafür. Stattdessen<br />
renne ich hinter ihm her und<br />
predige. Das muss ihn unheimlich<br />
nerven. Mich nervt es auch. Über<br />
Konflikte und Gefühle zu reden,<br />
hasst er und versucht sich zu entziehen.<br />
Irgendetwas mache ich dabei<br />
wohl falsch.<br />
Inzwischen haben wir ein ge <br />
meinsames Gespräche vereinbart,<br />
einmal die Woche. Ich habe Bela<br />
gesagt, dass ich ihm gerne zuhören<br />
und von ihm gehört werden möchte.<br />
Das fand er viel überzeugender als<br />
«ich will mit dir reden».<br />
Wie kann ich unsere Beziehung<br />
und Situation ändern? Wie weiss<br />
ich, was ich ihm an Verantwortung<br />
übertragen kann, ohne ihn zu überfordern?<br />
Freundliche Grüsse, Frau K.<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
40 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Jesper Juul antwortet<br />
Liebe Frau K.<br />
Haben Sie vielen Dank für Ihr Vertrauen<br />
und die sehr gute Be <br />
schreibung Ihrer Familiensituation.<br />
Es besteht kein Zweifel, dass Sie und<br />
Ihr Mann sich in Bezug auf Belas<br />
Leben und Wohlergehen grosse<br />
Mühe geben. Was also will Ihnen<br />
sein Verhalten sagen?<br />
Gegen Ende meiner Antwort<br />
werde ich Ihnen meine «Übersetzung»<br />
seines Verhaltens geben. Ich<br />
schlage vor, dass Sie ihm diese bei<br />
Ihrem nächsten Treffen vorlesen.<br />
Seine Reaktion darauf ist die ultimative<br />
Rückmeldung für uns alle.<br />
Wenn Eltern versuchen, das<br />
«Richtige» für ihr Kind zu tun, und<br />
dabei sehr offen sind, fühlt sich das<br />
Kind in diesem Moment wirklich<br />
geliebt und geschätzt. Gleichzeitig<br />
macht diese Erfahrung es dem Kind<br />
aber unmöglich, seine unbehaglichen<br />
Gefühle auszudrücken.<br />
Ich schätze, dass diese Erfahrung<br />
einen Teil von Belas unangenehmen<br />
Gefühlen ausmacht und diese Reaktion<br />
hervorruft, wenn Sie mit ihm<br />
über Emotionen und Konflikte<br />
reden möchten.<br />
Ein anderer Aspekt des Problems<br />
resultiert aus Ihrem Eifer und Ihrer<br />
Entschlossenheit, «Probleme» zu<br />
analysieren und zu lösen. Kinder<br />
denken und betrachten viel langsamer<br />
als Erwachsene. Oft ist es besser<br />
zu sagen: «Hör zu, ich habe über XY<br />
von heute Morgen nachgedacht und<br />
möchte wissen, was du darüber<br />
denkst. Bitte lass es mich wissen,<br />
sobald du weisst, was du sagen<br />
möchtest. Solltest du es vergessen,<br />
werde ich dich in ein paar Tagen<br />
wieder danach fragen.»<br />
Von der Art und Weise, wie Sie<br />
Ihre momentane Familiensituation<br />
beschreiben, erhalte ich den Eindruck,<br />
dass Bela einen Zeitplan hat,<br />
der für ihn zu anspruchsvoll ist, um<br />
ihm folgen zu können. Meine Erfahrungen<br />
zeigen, dass die meisten<br />
Kinder betrachten Dinge viel<br />
langsamer als wir Erwachsene.<br />
Oft ist es besser, ihnen ein paar Tage<br />
Zeit für eine Entscheidung zu geben.<br />
Kinder das Gefühl haben, eine Regelung,<br />
bei der sich die Wohnorte nur<br />
wöchentlich wechseln (sieben Tage<br />
beim Vater, sieben bei der Mutter),<br />
sei das optimale Arrangement für<br />
sie. Dies gilt, bis sie in die Pubertät<br />
kommen und ihren Zeitplan besser<br />
ihren persönlichen Bedürfnissen<br />
anpassen können. Das Problem für<br />
Eltern besteht darin, dass Kinder zu<br />
viel Rücksicht auf die Bedürfnisse<br />
ihrer Eltern nehmen, sich anpassen<br />
und deswegen dazu neigen, zu<br />
«lügen», wenn wir sie fragen.<br />
Ihren Sohn verstehe ich so: «Liebe<br />
Eltern, ich wünschte, ich könnte<br />
euch erzählen, wie hart es für mich<br />
ist, so zu leben, aber ich kann die<br />
Worte dafür nicht finden und ich<br />
habe Angst davor, dass ihr euch über<br />
mich ärgert, wenn ich es sage.<br />
Manchmal fühle ich mich wie ein<br />
viel kleineres Kind und benehme<br />
mich kindisch, und manchmal<br />
möchte ich einfach NEIN sagen und<br />
frech sein. Ich weiss, was ihr von mir<br />
erwartet, aber das ist zu viel. Ich bin<br />
erst neun Jahre alt.»<br />
Mein Vorschlag ist, dass Sie ihm<br />
erzählen, was Sie mir geschrieben<br />
haben, und ihn fragen, ob er hören<br />
beziehungsweise lesen möchte, was<br />
meiner Meinung nach in seinem<br />
Kopf vorgeht. Wenn Sie und er<br />
gewillt sind, das zu tun, gibt es zwei<br />
Möglichkeiten:<br />
• Meine Worte werden ihn bewegen,<br />
und er wird Ihnen erzählen,<br />
was Sie wissen müssen. Sie und<br />
sein Vater müssen dann einen<br />
oder zwei alternative Zeitpläne<br />
erarbeiten und ihn bitten, zu wählen.<br />
Bitten Sie aber NICHT ihn<br />
um alternative Vorschläge. Dies<br />
ist Ihr Job als Eltern. Erinnern Sie<br />
sich immer daran, wie extrem loyal<br />
er Ihren Bedürfnissen gegenüber<br />
ist.<br />
• Er widerspricht mir. In diesem<br />
Fall müssen Sie von diesem Punkt<br />
aus weitergehen und Ihre Kreativität<br />
und Flexibilität nutzen, um<br />
die Bedürfnisse aller zu kombinieren.<br />
Ich wünsche Ihnen viel Glück!<br />
Jesper Juul<br />
Haben auch Sie eine Frage an Jesper Juul,<br />
die er persönlich beantworten soll?<br />
Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch oder<br />
einen Brief an: Schweizer ElternMagazin<br />
Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97,<br />
80<strong>08</strong> Zürich<br />
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>41
Lernmythen auf dem Prüfstand<br />
Es gibt viele Vorstellungen und Ratschläge darüber, wie Kinder «richtig» lernen. Dabei zeigt die<br />
jüngste Forschung, dass wir unseren Kindern deutlich mehr Freiheiten lassen können als<br />
bisher angenommen. Eine Bestandsaufnahme. Text: Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund<br />
Wie sieht «richtiges<br />
Lernen»<br />
aus? Dazu gibt<br />
es eine Menge<br />
Vorstellungen<br />
und Ratschläge, die seit Jahrzehnten<br />
weitergegeben werden. Lernt ein<br />
Kind oder Jugendlicher auf eine<br />
andere Art und Weise, wird er rasch<br />
dazu aufgefordert, sich beispielsweise<br />
«ordentlich hinzusetzen und<br />
nicht herumzuhampeln». Es wird<br />
ihm erklärt, dass man sich so «doch<br />
nicht konzentrieren kann» und er<br />
sich nicht wundern müsse, wenn am<br />
Ende nichts hängen bleibe.<br />
Doch dürfen wir den gängigen<br />
Lernratgebern trauen, wenn sie<br />
einen festen Arbeitsplatz und Ruhe<br />
verordnen und betonen, dass das<br />
Kind die Hausaufgaben in einer<br />
ordentlichen Arbeitshaltung alleine<br />
in seinem Zimmer machen soll?<br />
Die Forschung zeigt: Wir dürfen<br />
den Kindern und Jugendlichen<br />
guten Gewissens deutlich mehr<br />
Freiheiten lassen als bisher angenommen.<br />
Mythos 1: Mach die Musik<br />
aus! So kannst du dich doch<br />
nicht konzentrieren!<br />
Dieser Ratschlag ist für viele Menschen<br />
hilfreich. Vor allem introvertierten<br />
Personen gelingt es besonders<br />
gut, sich zu fokussieren, wenn sie in<br />
Ruhe arbeiten können – das zeigt die<br />
Forschung eindrücklich.<br />
Es gibt jedoch auch Menschen,<br />
die das Arbeiten bei Stille als Qual<br />
Bild: Salvatore Vinci /13 Photo<br />
42 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
empfinden. Gerade bei leicht<br />
ablenkbaren Kindern wird oft empfohlen,<br />
dass die Lernumgebung<br />
möglichst reizarm sein soll. Neuere<br />
Studien deuten jedoch darauf hin,<br />
dass dies kontraproduktiv ist. Die<br />
Stille führt bei unaufmerksamen<br />
Kindern dazu, dass sie innerlich<br />
unruhig werden und unbewusst<br />
nach Ablenkung suchen. In Studien<br />
machten diese Kinder beim Lösen<br />
von Mathematikaufgaben weniger<br />
Fehler, wenn sie dazu Musik hören<br />
durften. Sie konnten sich bei einem<br />
Gedächtnistest auch an mehr erinnern,<br />
wenn während der Lernphase<br />
moderate Hintergrundgeräusche zu<br />
hören waren.<br />
Viele Jugendliche berichten zu <br />
dem, dass sie die richtige Musik in<br />
die nötige Stimmung versetze, um<br />
auch unliebsamen Aufgaben zu Leibe<br />
zu rücken. Neben der Konzentration<br />
kann also auch die Motivation<br />
durch die passende Musik<br />
gefördert werden.<br />
Wenn Ihr Kind mit Musik arbeiten<br />
möchte, empfehlen wir Folgendes:<br />
Erstellen Sie gemeinsam eine<br />
Playlist mit Liedern, die sich zum<br />
Lernen eignen (eher ruhige Stücke<br />
ohne Text). Das Drücken der Playtaste<br />
kann von diesem Moment an<br />
zum Startsignal werden und dem<br />
Kind helfen, anzufangen und in die<br />
Arbeit einzutauchen.<br />
Was jedoch stört, sind Geräusche,<br />
die zum Hinhören und Mitmachen<br />
einladen – beispielsweise der<br />
Ton eines spannenden Films, der im<br />
Hintergrund läuft, eine Radioansage<br />
oder Gespräche von anderen.<br />
Zum Thema Musik gilt also: ausprobieren!<br />
Wir Menschen reagieren<br />
unterschiedlich darauf. Für den<br />
einen ist sie eine Lernhilfe, für den<br />
anderen eine Belastung und Ablenkung.<br />
Ein Kinderzimmer ist mit<br />
Freizeitstimmung assoziiert.<br />
Es ist ein denkbar schlechter<br />
Ort zum Lernen.<br />
stärker auf Wissen verlassen, das<br />
man an unterschiedlichen Orten<br />
gelernt hat.<br />
Ähnlich verhält es sich mit Konditionierungseffekten:<br />
Macht ein<br />
Kind regelmässig sehr positive<br />
Erfahrungen beim Lernen, hilft ihm<br />
ein fixer Arbeitsort, in seine Arbeitsstimmung<br />
zu kommen. Bei vielen<br />
Kindern, die das Lernen eher mit<br />
Frust und Mühsal verbinden, passiert<br />
genau das Gegenteil. Kaum<br />
sitzen sie auf ihrem Bürostuhl am<br />
Pult, kann man zusehen, wie sie<br />
innerlich abschalten und körperlich<br />
erschlaffen. Das Gesicht schläft ein,<br />
der Blutdruck sinkt ab und sie<br />
beginnen zu gähnen.<br />
In diesem Fall kann ein Ortswechsel<br />
einen Neustart mit sich<br />
bringen und dem Kind dabei helfen,<br />
neue, positivere Erfahrungen mit<br />
dem Lernen zu verknüpfen.<br />
Konditionierungseffekte machen<br />
auch das eigene Zimmer für viele<br />
Kinder und Jugendliche zum un <br />
günstigsten Lernort überhaupt.<br />
Denn was tut das Kind normalerweise<br />
in seinem Schlafzimmer?<br />
Spielen! Dieser Ort ist demnach mit<br />
Freizeitstimmung assoziiert. Kaum<br />
rollt Ihr Kind mit dem ergonomisch<br />
geformten Stuhl an den höhenverstellbaren<br />
Tisch, fallen ihm die<br />
spannenden Spielsachen ins Auge.<br />
Die Sehnsucht, aufzustehen und sich<br />
damit zu beschäftigen, wächst.<br />
Nun benötigt das Kind eine grosse<br />
Portion Selbstdisziplin, um seine<br />
Aufmerksamkeit weiterhin auf die<br />
gierten Müttern und Vätern pilgern<br />
mit dem Nachwuchs in die Büroabteilungen,<br />
um ergonomisch geformte<br />
Schreibtischstühle, höhenverstellbare<br />
Pulte und augenfreundliche<br />
Leselampen auf Herz und Nieren zu<br />
prüfen. Kurze Zeit später ist der optimale<br />
Arbeitsplatz im Kinderzimmer<br />
eingerichtet. So weit, so gut. Vieles<br />
spricht dafür, die Hausaufgaben stets<br />
im Kinderzimmer zu erledigen: das<br />
Kind kann sich zurückziehen, wird<br />
nicht von den Geschwistern bei der<br />
Arbeit unterbrochen und sollte nach<br />
und nach lernen, selbständig zu<br />
arbeiten.<br />
Für einen fixen Arbeitsort scheinen<br />
auch Konditionierungseffekte<br />
zu sprechen: Wird immer am gleichen<br />
Ort gearbeitet, verbindet das<br />
Gehirn diesen Ort nach und nach<br />
mit dieser Tätigkeit. Das kann sehr<br />
nützlich sein: Sobald Sie sich ins<br />
Büro setzen und den Computer<br />
hochfahren, fühlen Sie sich in<br />
Arbeitsstimmung versetzt.<br />
Zudem zeigen Studien aus der<br />
Gedächtnisforschung, dass man sich<br />
besser an Inhalte erinnert, wenn<br />
man diese mehrmals am gleichen<br />
Ort lernt und dort abruft. Zu diesem<br />
Thema wurden einige interessante<br />
Experimente durchgeführt. So<br />
konnten beispielsweise Taucher, die<br />
sich unter Wasser Listen mit Wörtern<br />
eingeprägt hatten, diese unter<br />
Wasser besser erinnern als an Land<br />
und umgekehrt. Diese Wirkung der<br />
Umgebung auf die Lern- und Abrufleistung<br />
wird als kontextabhängiges<br />
Erinnern bezeichnet.<br />
Genau diese beiden Effekte können<br />
aber auch zur Falle werden. Der<br />
Mechanismus des kontextabhängigen<br />
Erinnerns spricht nicht unbedingt<br />
dafür, immer am gleichen Ort<br />
zu lernen. Prägt man sich den Stoff<br />
immer in derselben Umgebung ein,<br />
kann man sich dort zwar besser an<br />
das Gelernte erinnern – dafür wird<br />
es an allen anderen Orten schwieriger.<br />
Wenn man also nicht die Chan<br />
Mythos 2: Kinder benötigen<br />
einen fixen Arbeitsplatz!<br />
Wenn der Schuleintritt bevorsteht,<br />
haben die Möbelhäuser einmal mehr ce hat, genau dort zu lernen, wo Aufgaben zu lenken. Es sagt sich<br />
Hochkonjunktur. Scharen an enga auch geprüft wird, kann man sich vielleicht: «Eigentlich wür >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>43
Lerntipps für Jugendliche<br />
Die neue Filmserie<br />
mit Adi & Jess<br />
«Adi, du machst wirklich super<br />
Arbeit, aber wenn du den<br />
Lehrabschluss nicht schaffst,<br />
können wir dich hier im Betrieb<br />
nicht behalten!» Diese Ansage<br />
des Lehrmeisters hat gesessen.<br />
Zum Glück tritt die quirlige Jess<br />
in Adis Leben und hilft ihm,<br />
das Steuer herumzureissen.<br />
Erleben Sie in fünf Episoden,<br />
wie sich Adi in dieser turbulenten<br />
Zeit behauptet, gegen<br />
innere und äussere Hindernisse<br />
kämpft und Verantwortung für<br />
seine Zukunft übernimmt. Wird<br />
es Adi gelingen, im Wettlauf<br />
gegen die Zeit und seinen<br />
inneren Schweinehund zu<br />
triumphieren?<br />
Die erste Folge der neuen Serie<br />
finden Sie auf der Website<br />
www.fritzundfraenzi.ch unter<br />
der Rubrik Video.<br />
Starten Sie<br />
die aktuelle<br />
Fritz+Fränzi-App,<br />
scannen Sie diese Seite –<br />
und schon sehen Sie die<br />
oben beschriebene<br />
erste Folge.<br />
Bewegung unterstützt das<br />
Gehirn dabei, Informationen<br />
im Kopf zu behalten.<br />
>>> dest du am liebsten am Raumschiff<br />
weiterbauen, aber du musst<br />
jetzt Hausaufgaben machen. Wo war<br />
ich nochmal? (…) Ah ja, hier.» Solche<br />
inneren Konflikte lenken ab und<br />
sind zermürbend. Hierzu ein kleines<br />
Beispiel aus der Erwachsenenwelt:<br />
Es ist vielleicht etwas ungünstig, sich<br />
zum Kaffee in einer Konditorei zu<br />
verabreden, wenn man gerade auf<br />
Diät ist. Wie lange braucht es wohl,<br />
bis der Blick zu den Rahmtorten<br />
wandert und man der süssen Verführung<br />
nachgibt?<br />
Welche Plätze würden sich für Ihr<br />
Kind eignen? Kann es auch einmal<br />
in der Küche oder im Wohnzimmer<br />
lernen? Die Vokabelliste auf die Terrasse,<br />
in die Badewanne oder in den<br />
Zug mitnehmen? Oder ist es schon<br />
älter und darf in der Schule oder in<br />
der Bibliothek arbeiten?<br />
Mythos 3: Sitz jetzt still und<br />
konzentriere dich!<br />
Manche Eltern werden ganz kribbelig,<br />
wenn sie ihren Kindern beim<br />
Lernen oder Arbeiten zusehen. Wer<br />
auf dem Stuhl herumturnt, den<br />
Radiergummi von einer Hand in die<br />
andere wandern lässt oder sich am<br />
Boden mit dem Lesebuch in seltsame<br />
Positionen verknotet, kann doch<br />
nicht wirklich konzentriert sein,<br />
oder? Bei dieser Annahme handelt<br />
es sich offenbar um einen Trugschluss.<br />
Forscher konnten nämlich<br />
nachweisen, dass Primarschüler sich<br />
bei Stillarbeiten mehr bewegen,<br />
sobald ihr Arbeitsgedächtnis beansprucht<br />
wird. Mussten Kinder sich<br />
beispielsweise eine Fülle von Zahlen<br />
und Buchstaben merken und diese<br />
am Ende in eine Reihenfolge bringen,<br />
also eine klassische Aufgabe für<br />
das Kurzzeitgedächtnis lösen, nahm<br />
ihre körperliche Unruhe zu.<br />
Bewegung unterstützt das Gehirn<br />
offenbar dabei, Informationen im<br />
Kopf zu behalten. Vielleicht ist<br />
Ihnen auch schon einmal aufgefallen,<br />
wie man – ohne gross darüber<br />
nachzudenken – aufsteht und im<br />
Zimmer umhergeht, wenn man sich<br />
die Inhalte für eine Präsentation einprägen<br />
möchte oder fieberhaft nach<br />
Lösungen für ein Problem sucht.<br />
Schon im antiken Rom war der<br />
förderliche Effekt von Bewegung auf<br />
die Gedächtnisleistung bestens be <br />
kannt. So prägten sich Profiredner<br />
wie der bekannte Politiker Marcus<br />
Tullius Cicero ihre ellenlangen<br />
Manuskripte am liebsten im Gehen<br />
ein. Vielleicht darf Ihr Kind das<br />
nächste Mal durch den Garten streifen,<br />
wenn es ein Gedicht auswendig<br />
lernen muss, oder ein wenig Trampolin<br />
hüpfen, während Sie ihm<br />
Einmaleins-Rechnungen oder<br />
Vokabeln vorgeben?<br />
Mythos 4: Lernen muss Spass<br />
machen!<br />
Während die bisher beschriebenen<br />
Mythen bereits von unseren Eltern<br />
und Grosseltern geäussert wurden,<br />
ist die Überzeugung, dass Lernen<br />
nur dann effektiv ist, wenn es durchgehend<br />
Spass macht, erst seit Kurzem<br />
auf dem Vormarsch. In diesem<br />
Credo steckt viel Wahrheit, aber es<br />
lohnt sich auch hier, etwas genauer<br />
hinzusehen.<br />
Im Allgemeinen gilt: Freude,<br />
Neugier und Begeisterung machen<br />
es uns leichter, uns auf ein Themengebiet<br />
einzulassen, neues Wissen<br />
aufzunehmen und unsere Fähigkei<br />
44 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Begeisterung beim Lernen<br />
führt nicht automatisch<br />
zu besseren Leistungen.<br />
ten weiterzuentwickeln. Es gibt<br />
jedoch mehrere Missverständnisse<br />
rund um die obige Aussage.<br />
Das eine Missverständnis besteht<br />
darin, dass wir davon ausgehen, dass<br />
Begeisterung beim Lernen automatisch<br />
zu besseren Leistungen führt.<br />
Es macht mehr Spass, Volleyball<br />
oder Fussball zu spielen, als an der<br />
Technik zu feilen. Es ist cooler, mit<br />
Freunden zu jammen als Stunden<br />
für Fingerübungen auf der Gitarre<br />
zu investieren. Es ist auch lustvoller,<br />
Buchstaben zu kneten und aus Sandpapier<br />
auszuschneiden als sie immer<br />
wieder zu schreiben. Aber ist der<br />
Lerneffekt deswegen auch höher?<br />
Wenn man dieser Logik folgt, müssten<br />
die Menschen, die beim Üben<br />
am meisten Spass haben, auch die<br />
beste Leistung erbringen.<br />
Interessanterweise aber empfinden<br />
die Profis das Üben auf einem<br />
Gebiet als unangenehmer und<br />
anstrengender als Amateure. Ein<br />
Grossteil der Schriftsteller berichtet,<br />
dass das Schrei ben ihre grösste Leidenschaft<br />
sei und gleichzeitig eine<br />
zuverlässige Quelle von Anstrengung<br />
und Mühsal. Für Peter Bichsel<br />
bedeutet «eine Kolumne zu schreiben»<br />
beispielsweise «eine ganze<br />
Woche Leidenszeit». Und der<br />
bekannte Schriftsteller Philip Roth<br />
meint: «Es ist eine Qual. Wenn ich<br />
ein Kind hätte, das Schriftsteller<br />
werden wollte, würde ich versuchen,<br />
ihm das auszureden.»<br />
Im Grunde wissen wir es alle –<br />
wir hören es nur nicht gerne: Wenn<br />
wir in einem Bereich wirklich Fortschritte<br />
machen wollen, ist das<br />
anstrengend. Wenn wir uns in der<br />
Rechtschreibung verbessern möchten,<br />
sollten wir herausfinden, wo wir<br />
die meisten Fehler machen – und<br />
dann beispielsweise zwei Monate<br />
lang jeden Tag während zehn Minuten<br />
die Gross- und Kleinschreibung<br />
üben. Wenn wir unsere Vortragskompetenzen<br />
erweitern möchten,<br />
wäre es wertvoll und unangenehm,<br />
sich dabei auf Video aufzunehmen,<br />
daraus spezifische Verbesserungsmöglichkeiten<br />
abzuleiten und mit<br />
Ausdauer daran zu feilen.<br />
Überall, wo die Leistung klar<br />
messbar ist – zum Beispiel im Sport<br />
oder in der klassischen Musik –,<br />
folgt das Üben einer gewissen Struktur.<br />
Übergeordnete Fertigkeiten<br />
werden in Teilfertigkeiten zerlegt,<br />
die jeweils intensiv geübt werden.<br />
Freude, spielerisches Entdecken,<br />
Kreativität und Begeisterung: All<br />
das soll in der Schule Platz haben<br />
und einen wichtigen Stellenwert<br />
besitzen. Bestimmte Grundfertigkeiten<br />
müssen aber einfach trainiert<br />
und automatisiert werden. Sonst<br />
sind kreative Leistungen nicht möglich.<br />
Wer beispielsweise ständig über<br />
die Rechtschreibung nachdenken<br />
und sich jedes Mal fragen muss, ob<br />
man ein Wort gross- oder kleinschreibt,<br />
kann schlecht die Handlung<br />
des Aufsatzes weiterspinnen.<br />
Wenn es um den Aufbau solcher<br />
Fertigkeiten geht, ist Üben notwendig<br />
und nicht altmodisch.<br />
Es ist spannend, dazu einen Blick<br />
in das Gehirn zu werfen. Dabei wird<br />
deutlich: Wenn wir etwas Neues lernen,<br />
wird vor allem der präfrontale<br />
Kortex, der Sitz unseres bewussten<br />
Denkens, aktiviert. Dieser Teil des<br />
Gehirns arbeitet seriell: Eins nach<br />
dem anderen. Wir können nicht<br />
gleichzeitig über zwei Sachen nachdenken.<br />
Wenn wir etwas so lange üben, bis<br />
es automatisiert ist, übernehmen<br />
andere Bereiche des Gehirns diese<br />
Aufgabe. Ab dieser Stufe können wir<br />
die Aufgabe ohne bewusstes Nachdenken<br />
lösen. Der präfrontale Kortex<br />
wird entlastet und kann sich einer<br />
anderen, zusätzlichen Aufgabe<br />
zuwenden: Das Kind kann sich nun<br />
die Schuhe binden und gleichzeitig<br />
mit Ihnen plaudern. Es schreibt die<br />
Nomen gross, ohne sich bei jedem<br />
Wort zu fragen, ob man der/die/das<br />
davorsetzen kann – und kann sich<br />
stattdessen auf seine Geschichte konzentrieren.<br />
Es kann mit den Augen<br />
auf dem Notenblatt verweilen und<br />
das Stück interpretieren, anstatt<br />
andauernd auf die Klaviertasten zu<br />
schielen, um den richtigen Ton zu<br />
treffen.<br />
Halten wir also fest: Übung und<br />
Automatisierung sind keine Gegenspieler<br />
von Kreativität und Flexibilität,<br />
sondern deren Voraussetzung.<br />
Es ist erfreulich und kindgerecht,<br />
dass die Schule von unnötigem Drill<br />
weggekommen ist und dem spielerischen<br />
Lernen und Entdecken mehr<br />
Raum gibt. Aber wir sollten das<br />
Üben und Schleifen – dort, wo es<br />
notwendig ist – nicht verteufeln.<br />
Stefanie Rietzler<br />
Fabian Grolimund<br />
>>><br />
sind Psychologen und leiten die Akademie für<br />
Lerncoaching in Zürich. Sie sind Autoren der<br />
Bücher «Mit Kindern lernen» und «Erfolgreich<br />
lernen mit ADHS».<br />
Weitere Tipps rund um das Thema Lernen<br />
finden Sie unter: www.mit-kindern-lernen.ch<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>45
In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post<br />
«Nicht schon wieder schreiben»<br />
Für Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche ist das Lesen und Schreiben ein «Chnorz».<br />
Die Logopädin Andrea Weber-Hunziker über Anzeichen und Ursachen und wie das Lernen<br />
in der Schule trotzdem gelingen kann. Interview: Johanna Oeschger<br />
Bild: Tim Leu<br />
Frau Weber-Hunziker, nach den ersten<br />
Schuljahren können die meisten<br />
Kinder flüssig lesen und kurze Texte<br />
schreiben. Für einige Kinder bleibt das<br />
Lesen und Schreiben ein Krampf.<br />
Warum?<br />
Wenn ein Kind grosse Mühe hat, lesen<br />
und schreiben zu lernen, könnte eine<br />
LRS, eine Lese- und Rechtschreibschwäche,<br />
die Ursache sein. Im Volksmund<br />
nennt man LRS auch «Legasthenie».<br />
Ungefähr zwei bis vier Prozent der Kinder<br />
sind von einer LRS betroffen, Jungen<br />
etwa doppelt so häufig wie Mädchen.<br />
Wie erkennt man eine Lese- und<br />
Rechtschreibschwäche?<br />
Im Rahmen einer LRS-Abklärung überprüft<br />
man das Lesen und Schreiben<br />
und führt einen Intelligenztest durch.<br />
Ausserdem müssen Ursachen wie neurologische<br />
Störungen oder eine ungenügende<br />
Förderung im Unterricht ausgeschlossen<br />
werden können.<br />
Welche Schwierigkeiten treten beim<br />
Lesen und Schreiben konkret auf?<br />
Kinder mit einer LRS lesen oft ungenau,<br />
lassen Wortendungen weg oder lesen<br />
nur den Wortanfang und erraten den<br />
Rest. Sie lesen relativ lange langsam und<br />
«abgehackt». Das kostet die Kinder so<br />
viel Anstrengung, dass es ihnen schwerfallen<br />
kann, den Sinn der Texte zu erfassen.<br />
Beim Schreiben fallen vor allem die<br />
vielen Rechtschreibfehler auf. Betroffene<br />
Kinder schreiben manchmal dasselbe<br />
Wort in einem Text in vier oder fünf<br />
verschiedenen Schreibweisen oder verwechseln<br />
Buchstaben. Es kann auch zu<br />
Umstellungen und Auslassungen von<br />
Buchstaben oder Wörtern kommen.<br />
Wie sollten Eltern vorgehen, wenn sie<br />
bei ihrem Kind eine LRS vermuten?<br />
46 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Bei Verdacht auf eine LRS sollten Eltern<br />
zunächst das Gespräch mit der Lehrperson<br />
und der Heilpädagogin suchen und<br />
dann, wenn angezeigt, eine Logopädin<br />
beziehungsweise einen Logopäden kontaktieren.<br />
Vor dem Lese- und Schreiberwerb gibt<br />
es also noch keine Anzeichen?<br />
Doch, die kann es geben. Bei Kindern<br />
mit einer LRS fällt auf Kindergartenstufe<br />
häufig auf, dass sie Mühe haben, bei<br />
gesprochenen Wörtern Reime oder einzelne<br />
Laute zu erkennen oder Silben zu<br />
klatschen. Die Kinder brauchen oft auch<br />
länger, um das Wort für Buchstaben<br />
oder Bilder abzurufen und auszusprechen.<br />
Daraus muss sich aber nicht zwingend<br />
eine LRS entwickeln.<br />
Was ist die Ursache für eine LRS?<br />
Diese Frage wird von Eltern häufig<br />
gestellt. Die Ursache von LRS kann aber<br />
nicht so einfach festgemacht werden. Es<br />
wirken unterschiedliche Faktoren<br />
zusammen. Die Erbanlage spielt eine<br />
wichtige Rolle, aber auch, wie Gehörtes<br />
und Gesehenes wahrgenommen und<br />
verarbeitet wird: Kinder mit einer LRS<br />
können z. B. Wortbilder weniger gut<br />
abspeichern und lesen deshalb Wörter<br />
nicht «automatisch», sondern müssen<br />
diese oft Buchstabe für Buchstabe oder<br />
Silbe für Silbe entziffern. Weiter kann<br />
eine LRS zusammen mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten<br />
wie einer<br />
Rechenschwäche, Schwierigkeiten bei<br />
der motorischen Koordination oder<br />
einer Sprachentwicklungsstörung auftreten.<br />
Fest steht, dass LRS nicht mit<br />
einer minderen Intelligenz zusammenhängt.<br />
Kinder mit LRS sind normal bis<br />
sehr gut begabt.<br />
Wie stark wirkt sich eine LRS auf die<br />
Schulleistung aus?<br />
Weil das Lesen und Schreiben praktisch<br />
in jedem Fach eine Rolle spielt, kann sich<br />
eine LRS auf fast alle Fächer auswirken.<br />
Für Kinder mit einer LRS kann es sehr<br />
frustrierend sein, wenn sie selbst in<br />
Mathematik bei den «Sätzchenrechnungen»<br />
oder in Musik einen Liedtext lesen<br />
müssen. Das drückt auf die Lernmotivation.<br />
Diese Erfahrungen können auch<br />
psychische und soziale Auswirkungen<br />
haben. Die Kinder nehmen sich als<br />
anders wahr und fragen sich, warum die<br />
anderen bestimmte Dinge besser können.<br />
Manchmal versuchen sie auch,<br />
bestimmte Situationen zu vermeiden,<br />
wollen beispielsweise nicht an ein<br />
Geburtstagsfest gehen aus Angst, dass<br />
sie dort etwas lesen müssen oder als<br />
dumm wahrgenommen werden.<br />
Was hilft Kindern in dieser Situation?<br />
In der logopädischen Therapie bespreche<br />
und übe ich mit den Kindern und<br />
Jugendlichen verschiedene Strategien.<br />
Beim Schreiben kann es beispielsweise<br />
wichtig sein, sich erst einmal nur auf den<br />
Inhalt zu konzentrieren und erst dann<br />
das Geschriebene systematisch mit<br />
Regeln zu überprüfen. Zu wissen, dass<br />
die Rechtschreibung logisch nach<br />
Regeln hergeleitet werden kann, ist für<br />
jemanden mit einer LRS sehr entlastend.<br />
Auch das Lesen und die Wahrnehmung<br />
von Gehörtem und Gesehenem können<br />
gezielt trainiert werden. Daneben kann<br />
auch die Stärkung des Selbstvertrauens<br />
Inhalt der Therapie sein. Grosse Erleichterung<br />
schafft zudem der Nachteilsausgleich.<br />
Was ist ein Nachteilsausgleich?<br />
Betroffene Kinder und Jugendliche sind<br />
oft aufgrund ihrer LRS in der Bildung<br />
benachteiligt. Mit einem LRS-Attest<br />
haben sie deshalb für ihren gesamten<br />
Ausbildungsweg von Primarschule über<br />
Berufsfachschule oder Gymnasium bis<br />
zur Hochschule Anrecht auf einen<br />
Nachteilsausgleich. Wie dieser aussieht,<br />
hängt von der Schulstufe und von den<br />
Bedürfnissen der betroffenen Person ab.<br />
Die Lehrpersonen können zum Beispiel<br />
die Rechtschreibung bei Prüfungen<br />
weniger stark oder gar nicht bewerten.<br />
Schafft ein Kind dank Therapie und<br />
Nachteilsausgleich alles, was es auch<br />
ohne LRS erreicht hätte?<br />
Der Erfolg einer Therapie hängt stark<br />
von der Motivation des Kindes bzw. des<br />
Jugendlichen und der Unterstützung<br />
durch die Eltern ab. Kann eine logopädische<br />
Therapie erfolgreich stattfinden<br />
und wird der Nachteilsausgleich umgesetzt,<br />
stehen die Chancen gut, dass das<br />
Kind seinen Weg im Rahmen seiner<br />
persönlichen Möglichkeiten gehen<br />
kann.<br />
LRS-Therapie: So können Eltern<br />
ihr Kind unterstützen<br />
• Regelmässig das Gespräch mit der Lehrperson<br />
und der Logopädin / dem Logopäden suchen.<br />
• Den Nachteilsausgleich geltend machen.<br />
• Bei den Hausaufgaben entlasten: einen ruhigen<br />
Arbeitsplatz bieten und Tipps aus der Therapie<br />
umsetzen (z. B. abwechselnd lesen, Texte mit<br />
Hilfsmitteln überprüfen).<br />
• Freude am Lesen und Schreiben wecken:<br />
Lese material bereitstellen, das den Interessen und<br />
dem Niveau des Kindes entspricht. Gemeinsame<br />
Projekte entwickeln, bei denen die Kinder<br />
«nebenbei» lesen und schreiben, z. B. vor dem<br />
Ausflug gemeinsam den Fahrplan lesen.<br />
• Druck abbauen: Zusätzliches Üben kann sinnvoll<br />
sein. Dies sollte aber spielerisch und ohne<br />
Leistungsdruck stattfinden.<br />
• Vermeiden Sie Stresssituationen wie z. B. lautes<br />
Vorlesen vor Leuten.<br />
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LRS-Therapiestunde<br />
hinein.<br />
Zur Person<br />
Andrea Weber-Hunziker ist diplomierte<br />
Logopädin EDK. In der Praxis für Logopädie<br />
Lautart (www.lautart.ch) in Bern führt sie<br />
Abklärungen und Therapien von Kindern<br />
und Jugendlichen im Alter von 3 bis<br />
20 Jahren durch und bietet Beratungen<br />
für Eltern und Fachpersonen an.<br />
Johanna Oeschger<br />
ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin,<br />
unterrichtet Deutsch und Englisch<br />
auf der Sekundarstufe II und arbeitet<br />
als Mediendidaktikerin bei LerNetz.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>47
Elterncoaching<br />
Wenn Kinder sich vergleichen<br />
Für unsere Entwicklung ist es wichtig, dass wir uns mit anderen<br />
messen. Was aber sollen Eltern tun, wenn das eigene Kind sich<br />
ständig vergleicht und daraus Enttäuschung und Frust entstehen?<br />
Fabian Grolimund<br />
ist Psychologe und Autor («Mit<br />
Kindern lernen»). In der Rubrik<br />
«Elterncoaching» beantwortet<br />
er Fragen aus dem Familienalltag.<br />
Der 37-Jährige ist verheiratet<br />
und Vater eines Sohnes, 4,<br />
und einer Tochter, 1. Er lebt<br />
mit seiner Familie in Freiburg.<br />
www.mit-kindern-lernen.ch<br />
www.biber-blog.com<br />
Im Frühling 1960 lieferten sich<br />
in einem Innenhof in St. Gallen<br />
zwei Kindergartenkinder<br />
das folgende hitzige Wortgefecht:<br />
«Meine Eltern haben das grössere<br />
Auto als ihr!» – «Dafür haben wir<br />
ein Haus!» – «Aber ein altes! Wir<br />
haben eine neue Wohnung und<br />
mehr Geld!» Jetzt wurde es schwierig<br />
für meinen Onkel: «Dafür hat<br />
mein Vater mehr Kinder!» – «Aber<br />
wir reisen dafür in den Ferien weiter<br />
weg!» Mein Onkel hörte sich fast<br />
verzweifelt an, als er seinen letzten<br />
Trumpf ausspielte: «Dafür hat mein<br />
Vater viel mehr Haare auf dem<br />
Bauch als deiner!» Mit dem haarigen<br />
Argument hatte mein Onkel, damals<br />
fünf Jahre alt, den Schlagabtausch<br />
gewonnen.<br />
Eltern fragen mich immer wieder,<br />
wie sie ihren Kindern das Vergleichen<br />
abgewöhnen und sie darin<br />
bestärken können, mehr auf die<br />
eigenen Stärken und Fortschritte zu<br />
achten.<br />
Bevor ich auf diese Frage eingehe,<br />
möchte ich betonen, dass es zur<br />
Bleiben Sie gelassen, wenn Kinder<br />
sich vergleichen. Kommentieren Sie<br />
so wenig wie möglich.<br />
Oft reicht ein «Hm» oder «Aha».<br />
natürlichen Entwicklung eines Kindes<br />
gehört, sich mit anderen zu vergleichen<br />
und zu messen.<br />
Sobald Kinder sich selbst und<br />
andere erforschen, beginnen sie, auf<br />
Ähnlichkeiten und Unterschiede zu<br />
achten. Kleineren Kindern fallen<br />
zunächst die gut sichtbaren äusseren<br />
Unterschiede auf – insbesondere<br />
diejenigen, die in der kindlichen<br />
Welt Bedeutung haben: Wer ist der<br />
Grösste, der Stärkste, die mit den<br />
längsten Haaren?<br />
Jüngere Kinder sind dabei meist<br />
noch sehr von sich selbst überzeugt.<br />
Und natürlich sind auch ihre Väter<br />
die Stärksten und Grössten, das<br />
Mami das Schönste. Nach und nach<br />
entdecken sie, dass andere in be <br />
stimmten Dingen besser abschneiden.<br />
Erste Enttäuschungen schleichen<br />
sich ein, und gleichzeitig wird<br />
das Bild von sich und anderen differenzierter:<br />
«Papa, der Papa von<br />
Marius ist grösser als du!»<br />
Im Grundschulalter, wenn die<br />
Gleichaltrigen wichtiger werden<br />
und die Kinder sich und andere<br />
immer besser einschätzen können,<br />
nimmt das Vergleichen meist zu.<br />
Dabei lernen wir uns mit unseren<br />
Stärken und Schwächen kennen.<br />
Das eigene Bild wird im Verlauf der<br />
Jahre und Jahrzehnte nuancierter<br />
und realistischer. Wenn wir Glück<br />
haben, gelingt es uns in diesem Prozess,<br />
uns selbst immer besser anzunehmen,<br />
unsere starken Seiten zur<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
48 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Geltung zu bringen und uns mit<br />
unseren Defiziten und Schwächen<br />
auszusöhnen.<br />
Wie soll ich reagieren, wenn mein<br />
Kind sich mit anderen vergleicht?<br />
Ganz allgemein würde ich dazu<br />
raten, mit Vergleichen unter Kindern<br />
gelassen umzugehen. Vielleicht<br />
ist es gar nicht nötig, etwas dazu zu<br />
sagen ausser ein kleines «Hm» oder<br />
«Aha»?<br />
Wenn Kinder dabei schmerzhafte<br />
Erfahrungen machen, können wir<br />
sie als Eltern begleiten – im Vertrauen<br />
darauf, dass Kinder auch mit<br />
gelegentlichen Enttäuschungen zu <br />
rechtkommen.<br />
Als ich nach einem zusätzlichen<br />
Kindergartenjahr in die Schule kam,<br />
war ich noch immer auffallend langsam<br />
und verträumt. Eine wunderbare<br />
Lehrerin und meine Eltern<br />
bestärkten mich und gaben mir das<br />
Gefühl, auf gutem Weg zu sein.<br />
Ende der ersten Klasse trug ich stolz<br />
mein Zeugnis nach Hause. Ich öffnete<br />
den Umschlag kurz vor unserem<br />
Haus und betrachtete die zwei<br />
Vierer und den Viereinhalber, die in<br />
schöner Handschrift eingetragen<br />
waren.<br />
Mein bester Freund lief neben<br />
mir und schaute sich seines an. Als<br />
ich durch das Gartentor zu unserem<br />
Haus wollte, meinte er: «Zeig mal<br />
deines!» Er hielt die Zeugnisse ne <br />
beneinander. Ich sah seine Fünfeinhalber<br />
und Sechser und er erklärte<br />
mir, dass meine Noten «schlecht»<br />
seien. Alle Beteuerungen meiner<br />
Eltern, dass eine Vier doch bedeute,<br />
dass ich «genügend» sei und sie sich<br />
darüber freuten, halfen wenig. Ich<br />
wusste nun, wo ich stand.<br />
Ich habe ein wenig geweint, meine<br />
Mutter hat mich in den Arm<br />
genommen und am nächsten Tag<br />
waren die Insekten im Garten wieder<br />
wichtiger als die Noten –<br />
schliesslich waren jetzt Sommerferien!<br />
Dass meine Eltern gelassen<br />
geblieben sind und mir zugetraut<br />
haben, dass ich mit der Enttäu<br />
schung umgehen kann, hat ihr viel<br />
von ihrer Schwere genommen.<br />
In den letzten Jahren konnte ich<br />
oft beobachten: Je besser die Eltern<br />
eine Enttäuschung und negative<br />
Gefühle ihres Kindes aushalten können,<br />
desto leichter fällt es dem Kind,<br />
damit umzugehen.<br />
Wir können beispielsweise gelassener<br />
bleiben, wenn wir mehr auf<br />
die Gefühle des Kindes anstatt den<br />
Vergleich eingehen. Sagt das Kind,<br />
dass es dumm und alle anderen viel<br />
klüger seien, reagieren wir meist,<br />
indem wir das entschieden zurückweisen:<br />
«Du bist doch nicht dumm!»<br />
Meist treten wir damit eine Diskussion<br />
los, in der sich das Kind auf<br />
seinen Standpunkt versteift. Wir<br />
können dieses Gefühl aber auch als<br />
Momentaufnahme verstehen und<br />
zeigen: Ich kenne das. Vielleicht<br />
sagen wir dann: «Du fühlst dich<br />
gerade richtig dumm. Das geht mir<br />
manchmal auch so. Dann kommt<br />
man sich richtig klein und doof vor.»<br />
Darauf kann man von einer eigenen<br />
Erfahrung erzählen oder fragen:<br />
«Was würde dir jetzt guttun?» Es ist<br />
beruhigend für ein Kind, wenn es<br />
sieht, dass seine Eltern solche<br />
Gefühle kennen, da sind und es darin<br />
begleiten können.<br />
Wir können dem Kind auch<br />
direkt vermitteln, dass wir ihm<br />
zutrauen, mit der Situation umzugehen.<br />
Beklagt sich beispielsweise der<br />
Sohn darüber, dass die Tochter in<br />
der Schule viel besser ist, antworten<br />
wir gerne mit einem Satz wie: «Dafür<br />
bist du viel besser im Sport.» Damit<br />
bleiben wir jedoch im Schema des<br />
Vergleichens und zeigen dem Kind<br />
indirekt: Es ist eben doch wichtig,<br />
besser zu sein.<br />
Unbewusst heizen wir das Vergleichen<br />
damit an und reduzieren in<br />
diesem Beispiel vielleicht sogar die<br />
Motivation für die Schule, weil wir<br />
unseren Kindern fixe Rollen zuteilen:<br />
der Sportler, die gute Schülern<br />
usw. Es kann sein, dass sich die Kinder<br />
in der Folge mehr und mehr auf<br />
den Bereich zurückziehen, in dem<br />
Vertrauen Sie darauf,<br />
dass Ihr Kind stark genug ist,<br />
mit Enttäuschungen und<br />
Schwächen umzugehen.<br />
sie glänzen können. Doch vielleicht<br />
hat das Kind ja eine Stärke, die ihm<br />
hilft, sich seiner tatsächlichen oder<br />
vermeintlichen Schwäche zu stellen:<br />
«Ja, deine Schwester hat es momentan<br />
in der Schule leichter. Und weisst<br />
du was? Ich bin stolz auf dich, dass<br />
du dranbleibst und übst, auch wenn<br />
es dir schwerfällt. Du hattest schon<br />
immer ein Kämpferherz.»<br />
Kurztipps<br />
• Vergleiche können schmerzhaft<br />
sein. Zeigen Sie Ihrem Kind, dass<br />
Sie da sind und es diese Gefühle<br />
haben darf.<br />
• Falls sich Ihr Kind nur noch in <br />
tensiver abwertet: Versuchen Sie<br />
etwas anderes, indem Sie es beispielsweise<br />
fragen, was ihm guttun<br />
würde, oder ihm erzählen,<br />
was Ihnen in solchen Momenten<br />
hilft.<br />
• Machen Sie Ihrem Kind bewusst,<br />
dass es stark genug ist, um mit ge <br />
legentlichen Enttäuschungen und<br />
eigenen Schwächen umzugehen,<br />
anstatt es sofort davon abzulenken.<br />
In der nächsten Ausgabe:<br />
Beruf, Haushalt, Kinder: Es ist so viel –<br />
ich fühle mich ausgelaugt und überfordert.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>49
Erziehung & Schule<br />
Grüezi, bonjour, bongiorno!<br />
Immer mehr Mädchen und Buben in der Schweiz wachsen mehrsprachig auf.<br />
Sprachwissenschaftlern zufolge wirkt sich dies positiv auf die kognitive<br />
Entwicklung des jeweiligen Kindes aus. Vorausgesetzt, der Spracherwerb<br />
erfolgt kindgerecht und nach gewissen Regeln. Text: Jacqueline Esslinger<br />
Bild: Fotolia<br />
50 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Kinder lernen schnell und mit<br />
hoher Motivation die<br />
Umgebungssprache, um<br />
Freunde zu finden.<br />
Nathalie hat eine<br />
Deutschschweizer<br />
Mutter und einen<br />
französischsprachigen<br />
Vater aus der<br />
Romandie. In der Schweiz aufgewachsen,<br />
lernte sie sowohl Schweizerdeutsch<br />
als auch Französisch und<br />
spricht heute beides gleichermassen.<br />
Davon profitiere sie sehr, sagt die<br />
heute 24-Jährige, da sie ohne<br />
Sprachbarrieren leicht neue Freundschaften<br />
knüpfen könne. Zurzeit<br />
lässt sich Nathalie zur Lehrerin für<br />
die Sekundarstufe ausbilden. Sie<br />
möchte in Zukunft Deutsch, Englisch<br />
und Französisch als Fremdsprache<br />
unterrichten. Ihre zweisprachig<br />
ausgerichtete Erziehung<br />
be einflusste auch ihre spätere Be -<br />
rufswahl: «Mein Interesse für Sprachen<br />
wurde so geweckt. Ich konnte<br />
nicht nur Deutsch und Französisch<br />
ohne Mühe in frühster Kindheit lernen,<br />
es fiel mir auch leichter, meine<br />
zusätzlichen Sprachen, Englisch und<br />
Italienisch, zu lernen.»<br />
Laut einer Erhebung des Bundesamts<br />
für Statistik aus dem Jahr 2015<br />
sind fast 20 Prozent der ständigen<br />
Wohnbevölkerung in der Schweiz<br />
zweisprachig. Weitere 4 Prozent<br />
geben an, mehr als zwei Hauptsprachen<br />
zu beherrschen. Dies beinhaltet<br />
die Kompetenz, zwei oder mehr<br />
Schweizer Landessprachen als<br />
Hauptsprachen (fast) gleichwertig<br />
zu sprechen. Am häufigsten ist dabei<br />
die Kombination Deutsch/Französisch<br />
(10 Prozent) und Deutsch/<br />
Italienisch (10 Prozent), gefolgt von<br />
Französisch/Italienisch (6 Prozent).<br />
Rätoromanisch als Muttersprache<br />
geht meistens einher mit dem fliessenden<br />
Beherrschen von Deutsch<br />
oder Italienisch oder beidem. Mehrsprachigkeit<br />
beinhaltet jedoch ebenso,<br />
neben einer der vier Landessprachen<br />
eine andere Muttersprache zu<br />
sprechen. Zu den meistgenannten<br />
zählen hier: Englisch, Portugiesisch,<br />
Albanisch, Serbisch, Kroatisch und<br />
Spanisch. Betrachtet man sowohl<br />
die Zeit zu Hause als auch jene am<br />
Arbeitsplatz, so sprechen 40 Prozent<br />
der Schweizer Bevölkerung alltäglich<br />
zwei oder mehr Sprachen.<br />
finden und sich mit der Umwelt verständigen<br />
zu können. Im Einzelfall<br />
kann es jedoch zu ausserordentlich<br />
komplexen Konstellationen kommen:<br />
Eine Deutschschweizerin<br />
spricht Hochdeutsch mit ihrem<br />
Partner, welcher aus der Romandie<br />
stammt. Nun ziehen sie mit ihrem<br />
zweijährigen Sohn nach Norwegen.<br />
Das Kind wäre dadurch mit Hochdeutsch,<br />
Schweizerdeutsch, Französisch,<br />
Norwegisch und – wie oft in<br />
skandinavischen Ländern – mit<br />
Englisch konfrontiert. Welche Sprachen<br />
soll das Kind nun lernen und<br />
wie kann dies geschehen?<br />
Immer mehr junge Schweizer sind<br />
mehrsprachig<br />
Bei der jüngeren Schweizer Wohnbevölkerung<br />
(15–24 Jahre) lebt über<br />
ein Drittel im Alltag mehrsprachig.<br />
Rund 12 Prozent sprechen sogar drei<br />
Sprachen und mehr – Tendenz steigend.<br />
So wachsen in der Schweiz<br />
immer mehr Kinder wie Nathalie<br />
mehrsprachig auf. Durch die Zunahme<br />
von interkulturellen Paarkonstellationen<br />
ergeben sich auch öfter<br />
mehrsprachige Eltern. Der häufigste<br />
Grund sind Wohnortswechsel. Bei<br />
Zuzügen aus dem Ausland kommt<br />
oft eine andere Herkunftssprache<br />
mit einer Schweizer Landessprache<br />
zusammen, oder bei einem Kantonswechsel<br />
kann es zu einer neuen<br />
Umgebungssprache kommen. Zieht<br />
ein französischsprachiges Paar mit<br />
Kindern nach Zürich, sprechen die<br />
Kinder zum Beispiel zu Hause Französisch,<br />
jedoch in der Schule<br />
Deutsch. Vielleicht gehen die Kinder<br />
aber auch in eine französischsprachige<br />
Schule, damit die Herkunftssprache<br />
neben der Umgebungssprache<br />
besser gefestigt werden kann.<br />
Generell lernen Kinder die<br />
Umgebungssprache schnell und mit<br />
Eine Person – eine Sprache<br />
Auch bei weniger komplexen<br />
Sprachkonstellationen ist es lohnenswert,<br />
sich Gedanken über die<br />
Spracherziehung der Kinder zu<br />
machen. Eltern können beispielsweise<br />
gemeinsam überlegen, welche<br />
Sprachen sie weitergeben möchten<br />
und wie sie dies gestalten. Dafür gibt<br />
es scheinbar unendlich viele Konstellationen<br />
und Modelle. Das populärste<br />
und erfolgversprechendste<br />
lautet «Eine Person – eine Sprache»;<br />
das bedeutet, dass das Kind mit einer<br />
Person immer dieselbe Sprache<br />
spricht und mit einer anderen Person<br />
eine andere Sprache. Die betreffende<br />
Person muss kein Elternteil sein, es<br />
kann sich dabei genauso gut um<br />
Betreuungspersonen, Lehrpersonen<br />
oder Grosseltern handeln. Das Konzept<br />
«Eine Person – eine Sprache»<br />
wurde bereits vielfach in der Praxis<br />
getestet und soll das Risiko verringern,<br />
dass Kinder Sprachen vermischen.<br />
Auch bei Nathalie wurde diese<br />
hoher Motivation, um Freunde zu Regel umgesetzt. Die Mutter >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>51
Erziehung & Schule<br />
>>> sprach mit ihr und ihren<br />
Geschwistern konsequent Schweizerdeutsch,<br />
der Vater hingegen<br />
Französisch. Untereinander sprachen<br />
die Eltern Französisch, und die<br />
Umgebungssprache war – bis auf ein<br />
Schuljahr – für Nathalie auch Französisch.<br />
Trotzdem erinnert sich<br />
Na thalie nicht, dass ihre Mutter je<br />
von ihrer Regel abgewichen wäre.<br />
Autoren und Autorinnen wie<br />
Elke Montanari raten zur Einhaltung<br />
dieser Regel, auch bei Schwierigkeiten.<br />
Sie beschreibt, wie die<br />
Tochter einer italienischen Mutter es<br />
peinlich fand, dass die Mutter mit<br />
ihr in der (deutschsprachigen)<br />
Öffentlichkeit ausnahmslos Italienisch<br />
sprach. Sie wollte so sein wie<br />
alle anderen und wünschte sich, dass<br />
auch ihre Mutter dieselbe Sprache<br />
wie ihre Umgebung sprechen würde.<br />
Heute ist die Tochter jedoch froh<br />
über ihre zweisprachige Erziehung.<br />
Die Freude am Kommunizieren<br />
Manchmal braucht es eine gewisse<br />
Gelassenheit, wenn das Kind sich<br />
weigert und eine Sprache nicht<br />
(mehr) sprechen möchte. Montanari<br />
schlägt für solche Situationen vor,<br />
spielerisch so zu tun, als verstehe<br />
man das Kind nicht in der anderen<br />
Sprache. Oder den Satz in der anderen<br />
Sprache «durchgehen zu lassen»<br />
(vor allem bei Kleinkindern), diesen<br />
aber in der eigenen Sprache zu wiederholen<br />
(siehe Buchtipp).<br />
Am Ende gelingt mehrsprachige<br />
Erziehung auch ohne das Modell<br />
«Eine Person – eine Sprache». Laut<br />
Forschungsergebnissen sind die<br />
Chancen jedoch höher, dass ein<br />
Kind eine Sprache beibehält und auf<br />
Je mehr Sie mit ihrem Kind<br />
zusammen sind, desto<br />
intensiver kann der sprachliche<br />
Austausch gestaltet werden.<br />
einem guten Niveau beherrscht. In<br />
manchen Familien braucht es auch<br />
eine gewisse Flexibilität und individuelle<br />
Lösungen: etwa bei häufigerer<br />
Abwesenheit einer der sprachprägenden<br />
Personen oder wenn ein<br />
Familienmitglied die Sprache nicht<br />
versteht und sich ausgeschlossen<br />
fühlt.<br />
Das Wichtigste bleibt aber die<br />
Freude am Kommunizieren! Reden<br />
wir viel mit unserem Kind? Oder<br />
sind wir zu viel unterwegs und das<br />
Kind spricht in unserer Abwesenheit<br />
(z. B. mit der Tagesmutter oder der<br />
Babysitterin) eine andere Sprache?<br />
Je mehr Sie mit Ihrem Kind zusammen<br />
sind und unternehmen, desto<br />
intensiver kann auch der sprachliche<br />
Austausch gestaltet werden.<br />
Muttersprachler verfügen über<br />
einen grösseren Wortschatz<br />
Verliert mein Kind in der globalisierten<br />
Welt den Anschluss, wenn es<br />
nicht mehrsprachig aufwächst?<br />
Wenn die Umgebung Mehrsprachigkeit<br />
ermöglicht, ist es in jedem Fall<br />
zu empfehlen, diese Chancen auch<br />
zu nutzen – vorausgesetzt, es erfolgt<br />
nach gewissen Regeln und kindgerecht.<br />
Ein Kind soll ohne Druck und<br />
Überforderung verschiedene Sprachen<br />
mit Freude lernen dürfen. Lange<br />
war man überzeugt, eine mehrsprachige<br />
Erziehung überfordere<br />
Kinder und führe zu Defiziten in<br />
Spracherwerb und Entwicklung.<br />
Diese Meinung ist jedoch seit den<br />
1970er-Jahren überholt: Kinder können<br />
gut zwei oder mehr Sprachen<br />
von Geburt an lernen, gewisse Studien<br />
deuten sogar auf einen kognitiven<br />
Vorteil mehrsprachiger Kinder<br />
im Schulalter hin. Wenn zwei Elternteile<br />
unterschiedliche Muttersprachen<br />
sprechen oder eine Familie<br />
umzieht und dadurch eine neue<br />
Umgebungssprache hinzukommt,<br />
dann bietet es sich an, diese Ressourcen<br />
weiterzugeben und zu verankern.<br />
Einem Kind eine Sprache beizubringen,<br />
die man selbst nicht perfekt<br />
beherrscht, ist hingegen umstritten.<br />
Von grosser Bedeutung für einen<br />
fundierten und korrekten Spracherwerb<br />
ist nämlich die Möglichkeit,<br />
die Sprache auch richtig hören zu<br />
können. Wenn Eltern sich in einer<br />
Fremdsprache abmühen, lernen<br />
Kinder vor allem eins: die grammatikalischen<br />
Fehler der Eltern. Muttersprachler<br />
verfügen über einen<br />
grösseren Wortschatz und verwenden<br />
verschiedene grammatikalische<br />
Zeiten müheloser. Für die Weitergabe<br />
einer Sprache benötigt es deshalb<br />
nicht nur Konsistenz (Beständigkeit,<br />
wie die Mehrsprachigkeit<br />
umgesetzt wird), sondern auch<br />
Kompetenz. Eine Sprache sollte<br />
(fast) auf Muttersprachniveau be -<br />
herrscht werden, bevor man sich<br />
dazu entscheidet, diese auch dem<br />
Kind beizubringen.<br />
Kein Kind wird heutzutage an<br />
den häufigsten und wichtigsten<br />
Sprachen vorbeikommen. Dies kann<br />
man getrost Fachlehrpersonen überlassen,<br />
welche dazu ausgebildet wurden,<br />
Kindern eine neue Sprache mit<br />
Grammatik und Wortlaut kompetent<br />
und altersgerecht zu vermitteln.<br />
Als Familienmitglied kann man dies<br />
allerdings unterstützen. Kinder spielerisch<br />
an andere Sprachen heranzuführen,<br />
erleichtert den Zugang und<br />
weckt das Interesse für eine Sprache.<br />
Natürlich kann man einem Kind<br />
Farben, Zahlen oder Bezeichnungen<br />
Buchtipp<br />
Elke Montanari: Mit<br />
zwei Sprachen gross<br />
werden: mehrsprachige<br />
Erziehung in Familie,<br />
Kindergarten und<br />
Schule.<br />
Kösel-Verlag, 2002,<br />
ca. Fr. 25.–<br />
52 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
für Tiere in einer anderen Sprache<br />
beibringen, auch ohne Muttersprachler(in)<br />
zu sein. Ergänzend<br />
eignen sich Bücher, Spiele, Filme in<br />
der Fremdsprache, um den Erwerb<br />
zu fördern.<br />
Die Sprache des Ferienlandes<br />
Nicht nur Medien in einer anderen<br />
Sprache sind interessant, sondern<br />
auch Besuche der entsprechenden<br />
Regionen. Ein Kind, welches sich<br />
jedes Jahr auf die Ferien in Italien<br />
oder im Tessin freut, wird mit höherer<br />
Motivation lernen, wie man auf<br />
Italienisch ein Glace bestellt und wie<br />
es mit anderen Kindern kommunizieren<br />
kann. Für Eltern mit einer<br />
Herkunftssprache, welche nicht<br />
Umgebungssprache ist, gibt es in<br />
manchen Regionen spezielle Spielgruppen<br />
für Kinder. Dort hören und<br />
sprechen nicht nur die Kinder die<br />
entsprechende Sprache, sondern<br />
auch den Eltern wird die Gelegenheit<br />
geboten, sich in ihrer Muttersprache<br />
auszutauschen.<br />
Besteht ein (positiver) Bezug zur<br />
Sprache, ist ein guter Grundstein<br />
gelegt. Eltern sollten Fremdsprachen<br />
und deren Erwerb nicht abwerten<br />
(«Bei uns in der Familie kann eh<br />
niemand Französisch, das brauchst<br />
du nie!»), sondern Kinder dazu<br />
ermutigen, neue Sprachen zu lernen<br />
(«Du kannst ja schon fast besser<br />
Englisch als ich!»).<br />
Dies fördert die kognitiven<br />
Fähigkeiten der Kinder, das leichtere<br />
Aneignen weiterer Sprachen und<br />
ermöglicht so nicht nur künftige<br />
Vorteile in der Berufswelt, sondern<br />
auch Freundschaften über geografische<br />
Grenzen hinweg.<br />
>>><br />
Eine Sprache sollte (fast) auf<br />
Muttersprachniveau beherrscht<br />
werden, bevor man diese auch<br />
dem Kind beibringt.<br />
Jacqueline Esslinger<br />
ist Psychologin und Doktorandin am Institut für<br />
Familienforschung und -beratung der Universität<br />
Freiburg.<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>53
Erziehung & Schule<br />
Die Wünsche einer Lehrerin an<br />
die Eltern ihrer Erstklasskinder<br />
Unsere Autorin hat nach den Sommerferien eine erste Klasse übernommen. Als Lehrerin mit fast<br />
30 Jahren Erfahrung hat sie klare Erwartungen an die Eltern ihrer Erstklasskinder. Diese gelten im<br />
Grundsatz für die Eltern aller Kinder, bis hin zur Oberstufe. Eine Wunschliste! Text: Marion Heidelberger<br />
«Schulerfolg hat viel<br />
mit der Kooperation<br />
zwischen Elternhaus<br />
und Schule zu tun.»<br />
Marion Heidelberger ist<br />
Vizepräsidentin des Dachverbands<br />
Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH)<br />
und Pädagogin mit Herzblut.<br />
Wenn Sie diese<br />
Zeilen lesen,<br />
haben meine<br />
neuen Erstklasskinder<br />
die<br />
erste Schulwoche schon hinter sich.<br />
Ich habe mich sehr auf die Buben<br />
und Mädchen mit ihren viel zu grossen<br />
Theks am Rücken gefreut.<br />
Ob ich allen gerecht werden<br />
kann? Ob mein Unterricht für alle<br />
passt? Ob mich die Schülerinnen<br />
und Schüler mögen? Ob ich mit<br />
allen Eltern klarkomme? Wie wohl<br />
die einzelnen Erwartungen und<br />
Wünsche sind?<br />
Für mich ist auch nach fast 30<br />
Berufsjahren die Übernahme einer<br />
neuen Klasse ein Abenteuer geblieben.<br />
So wie Kinder und vor allem<br />
Eltern Wünsche an mich haben, so<br />
habe ich einige an sie. Schulerfolg<br />
hat sehr viel mit der Kooperation<br />
zwischen Elternhaus und Schule zu<br />
tun. Ein Am-gleichen-Strick-Ziehen<br />
bietet die Grundlage, dass das Kind<br />
sich in der Schule wohl fühlt und<br />
sein ganzes Potenzial entfalten kann.<br />
Meine Wunschliste an die Eltern<br />
meiner neuen Erstklasskinder (die<br />
Wünsche gelten aber – leicht angepasst<br />
– auch für Eltern von älteren<br />
Kindern):<br />
Sorgen Sie für genügend Schlaf des<br />
Kindes<br />
• Genügend Schlaf erhöht die Leistungsfähigkeit.<br />
• Ihr Kind sollte auf jegliche Bildschirmnutzung<br />
ab 90 Minuten vor<br />
dem Zubettgehen verzichten.<br />
Achten Sie auf eine ausgewogene<br />
Ernährung<br />
• Mit leerem Bauch lernt es sich<br />
schlecht. Achten Sie darauf, dass<br />
Ihr Kind sich am Morgen und<br />
während des Tages gesund und<br />
ausgewogen ernährt.<br />
Lassen Sie Ihr Kind den Schulweg<br />
alleine gehen<br />
• Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind<br />
jeweils früh genug aus dem Haus<br />
kommt. Auf dem Schulweg passieren<br />
die wirklich wichtigen Din<br />
ge. Nirgends können Freundschaften<br />
besser gepflegt werden.<br />
Zudem verhindern Sie, dass Ihr<br />
Kind rennen muss und so den<br />
Verkehr zu wenig beachtet.<br />
• Seien Sie Vorbild, das ist die beste<br />
Verkehrserziehung.<br />
• Kinder lieben Schnee und Regen,<br />
es ist auch an garstigen Tagen<br />
nicht nötig, Ihr Kind mit dem<br />
Auto zur Schule zu fahren.<br />
Unterstützen Sie Ihr Kind dabei,<br />
Dinge selbst zu tun<br />
• Das ist der wichtigste Grundsatz<br />
überhaupt. Nicht Sie packen<br />
Ihrem Kind den Turnsack und<br />
räumen ihm sein Zimmer auf –<br />
das soll es selbst erledigen.<br />
• Machen Sie einen Ämtliplan für<br />
einfache Arbeiten zu Hause (Tisch<br />
decken oder abräumen, Haustier<br />
füttern, Blumen giessen, Zimmer<br />
aufräumen). So trainieren Sie mit<br />
Ihrem Kind jeden Tag Selbständigkeit,<br />
Pflichtbewusstsein und<br />
Eigenverantwortung, drei wichtige<br />
Faktoren für Schulerfolg.<br />
• Übernehmen Sie nicht die Hausaufgaben<br />
für Ihr Kind! Sie sollten<br />
Sie auch nicht korrigieren, das ist<br />
mein Job. Aber Sie dürfen Ihr<br />
Kind ruhig fragen, was es zu tun<br />
hat und ob es die Aufgaben erledigt<br />
hat.<br />
Setzen Sie Regeln und Grenzen<br />
• Lehren Sie Ihr Kind, Regeln zu<br />
respektieren. Kinder brauchen<br />
Grenzen und Leitlinien. Am bes<br />
54 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
ten geht das, wenn es auch zu<br />
Hause ein paar Regeln gibt. Lieber<br />
nicht zu viele, dafür werden die<br />
wenigen konsequent durchgesetzt.<br />
So helfen Sie Ihrem Kind,<br />
sich in einer Gruppe zu integrieren.<br />
• Eine gute Sozialkompetenz ist<br />
eine Eigenschaft, die auch in einer<br />
Berufslehre einen hohen Stellenwert<br />
hat. Je früher ein Kind dies<br />
lernt, desto einfacher ist es. Dazu<br />
gehört auch, Sanktionen für das<br />
Nichtbefolgen von Regeln zu<br />
akzeptieren.<br />
Zeigen Sie Interesse an der Schule<br />
• Fragen Sie bei Ihrem Kind nach,<br />
was es beschäftigt, was es in der<br />
Schule erlebt hat und was es gerade<br />
lernt.<br />
• Durch aktives Zuhören zeigen Sie<br />
Ihrem Kind, dass für Sie Schule<br />
wichtig ist. Bei diesem Nachfragen<br />
werden Sie auch merken,<br />
wenn etwas nicht in Ordnung ist<br />
oder es Konflikte gibt.<br />
Vertrauen Sie auf Ihre Fähigkeiten<br />
und die Ihres Kindes<br />
• Haben Sie eine positive Haltung<br />
der Schule und der Lehrperson<br />
gegenüber. Denn alle haben ein<br />
gemeinsames Ziel: das Beste für<br />
Ihr Kind.<br />
• Vertrauen Sie auf Ihre Erziehung<br />
und die Fähigkeiten Ihres Kindes.<br />
Das macht Ihr Kind stark. So<br />
unterstützen Sie Ihr Kind am besten<br />
und tragen damit viel zum<br />
Schulerfolg bei.<br />
Suchen Sie das Gespräch<br />
• Zögern Sie nicht, die Lehrperson<br />
zu informieren, wenn sich zu<br />
Hause Veränderungen ergeben<br />
(Erwerbslosigkeit, Trennung, Ge <br />
burt eines Geschwisters, Krank<br />
Vertrauen Sie auf Ihre<br />
Erziehung und die<br />
Fähigkeiten Ihres Kindes.<br />
heit, Todesfall, Umzug, ein neues<br />
Haustier).<br />
• Fragen Sie unbedingt nach, wenn<br />
Sie etwas nicht verstehen oder Sie<br />
das Gefühl haben, Ihr Kind fühle<br />
sich nicht wohl. Dann kann man<br />
gemeinsam eine Lösung suchen.<br />
Oft genug sind es Missverständnisse,<br />
die schnell geklärt werden<br />
können.<br />
• Eine gute Gesprächskultur zwischen<br />
Schule und Elternhaus ist<br />
das A und O des Schulerfolges<br />
Ihres Kindes.<br />
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MACHE KARRIERE<br />
AUF DEM BAU!
Stiftung Elternsein<br />
Böse Fette<br />
Ellen Ringier über die Sorge, dass dereinst eine Lebensmittelpolizei<br />
den Inhalt unseres Kühlschranks kontrolliert.<br />
Bild: Maurice Haas / 13 Photo<br />
Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />
die Stiftung Elternsein.<br />
Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />
Als ich noch Kind war, also in den<br />
50er-Jahren, mischten die Wasserwerke<br />
in Luzern dem Trinkwasser – so sagte man<br />
damals – Fluor bei. Damit wollte man die<br />
damals mehrheitlich miserable Zahnqualität<br />
in vielen Teilen der Bevölkerung verbessern<br />
und schon bei jungen Menschen<br />
vorbeugen. Ich erinnere mich, dass ich<br />
das als absolut übergriffig empfand,<br />
schliesslich gab uns meine Mutter doch morgens neben<br />
Lebertran auch Fluorpastillen zum Frühstück! Aus mir<br />
heute noch unbekanntem Grund fürchtete ich, dass<br />
meine Knochen infolge des vielen Fluors zu hart und<br />
brüchig werden würden … Wer mag mir wohl so eine<br />
Idee in den Kopf gesetzt haben?<br />
50 Jahre später stelle ich fest: Meine Zähne sind gut,<br />
meine Knochen nicht brüchig, die von der Obrigkeit<br />
verordnete Massnahme war wohl zielführend. Dennoch<br />
stelle ich mir die Frage, ob Gesundheitspolitiker und<br />
-beamte in mein Leben bzw. in meine Gesundheit eingreifen<br />
dürfen, ohne dass ich sie dazu legitimiert habe.<br />
Lassen wir hier die Beschränkungen von Tabak-,<br />
Alkohol- und Drogenkonsum, medizinisch indizierte<br />
Beschränkungen von Nahrungsmitteln und dergleichen<br />
beiseite. Derzeit ist, wie das aktuelle Beispiel Deutschland<br />
zeigt, die Rede von Zucker, Salz und Fett, also von<br />
ganz alltäglichen Lebensmitteln. Der deutsche Ernährungsminister<br />
Christian Schmidt will «die Hersteller<br />
von Fertigwaren dazu bringen, weniger Salz, Zucker und<br />
Fett in ihren Produkten zu verwenden». Und das soll<br />
erst der Anfang einer nationalen Strategie sein, die die<br />
Lebensmittel gesünder machen möchte.<br />
Auch die EU bleibt nicht untätig: Bald soll es eine<br />
Obergrenze für die bösen Transfette in Pommes-Chips,<br />
Fertigprodukten und dergleichen geben. Damit und mit<br />
der bereits bestehenden Lebensmittel-Kennzeichnungspflicht<br />
sowie mit Aufklärung und weiteren Programmen<br />
will man Herz-Kreislauf-Krankheiten bekämpfen. Und<br />
verhindern, dass die Menschen immer dicker werden.<br />
Ich verstehe zwar, dass und auch warum die Obrigkeit<br />
sich Sorgen um die oft mehr als ungesunden Ernäh-<br />
rungsgewohnheiten ihrer Bürger und die Folgen macht.<br />
Doch macht mir die Vorstellung Mühe, dass der Staat<br />
die Zusammensetzung meines Kühlschrankinhalts kennen<br />
und beeinflussen will! Und auf ungesunde Lebensmittel<br />
womöglich eine Strafsteuer erheben möchte.<br />
Wird es dereinst eine Lebensmittelpolizei geben, die das<br />
Gastgewerbe auf strafbare kalorienreiche Menüs auf der<br />
Speisekarte überprüft? Oder wird sich ein Beamter hinter<br />
mich stellen, wenn es danach aussieht, als wollte ich<br />
auch noch ein Dessert bestellen: «Frau Ringier, Sie sind<br />
bereits übergewichtig, lassen Sie auf der Stelle die Finger<br />
von Süssspeisen!»<br />
Wie sich der Mensch ernährt, hat wesentlich mit dem<br />
für Lebensmittel zur Verfügung stehenden Budget, aber<br />
auch mit Zeitmangel und mit dem Mangel an Wissen<br />
um die Schädlichkeit gewisser Lebensmittel zu tun. Darum<br />
soll neben der Kennzeichnungspflicht vor allem<br />
auch die Aufklärung über die Auswirkungen einer ungesunden<br />
Lebensweise, zu der neben ungesunder Ernährung<br />
auch Bewegungsmangel gehört, forciert werden.<br />
Wenn die Hälfte der Bevölkerung regelmässig zu<br />
Pizzas und Fertiggerichten greift, so beeinflusst das<br />
zweifellos das Ernährungsverhalten von Kindern massgeblich,<br />
weshalb Aufklärung schon in Kitas und Kindergärten<br />
angesagt ist.<br />
Am erfolgversprechendsten wäre jedoch eine Initiative<br />
der Wirtschaft zur Reduktion von Zucker, Fett und<br />
Salz in den Fertigprodukten. Zum Jahresende 2016 hat<br />
Nestlé jedenfalls angekündigt, seine Rezepturen in<br />
Bezug auf die verwendete Zuckermenge zu überprüfen.<br />
Leider schmeckt mir die kalorienarme dunkle Schokolade<br />
ganz und gar nicht!<br />
STIFTUNG ELTERNSEIN<br />
«Eltern werden ist nicht schwer,<br />
Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />
Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />
Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein<br />
an. Sie richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern<br />
und Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen<br />
Eltern, Kindern, Lehrern und die Vernetzung der elternund<br />
erziehungsrelevanten Organisationen in der<br />
deutschs prachigen Schweiz. Die Stiftung Elternsein<br />
gibt das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus.<br />
www.elternsein.ch<br />
56 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Bilder: Johan Bävman<br />
Dossier<br />
Dossier<br />
Do sier<br />
Weil sich ihr Sohn<br />
nach der Scheidung<br />
nicht um seine<br />
Tochter kümmern<br />
ko nte, nahmen<br />
Ines und Edi Schmid<br />
ihr Enkelkind<br />
Siriwan in Pflege.<br />
Leserbriefe<br />
«Die Mütter werden entwertet»<br />
«Danke für den Schnuppertag»<br />
«Gute Erfahrungen»<br />
(Dossier «Pflegefamilien», Heft 6–7/<strong>2017</strong>)<br />
Wir haben gute Erfahrungen gesammelt und<br />
besonders oft positive Echos bekommen auf die<br />
In guten<br />
Händen<br />
In der Schweiz leben rund 15 000 Kinder in<br />
Pflegefamilien und Heimen. Wer sind sie?<br />
Warum wachsen sie nicht bei Vater und Mutter<br />
auf? Und wie fühlt sich das an: Eltern auf Zeit?<br />
Eine Spurensuche.<br />
Text: Be tina Leinenbach Bilder: Gabi Vogt / 13 Photo<br />
10 Juni/Juli <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Juni/Juli <strong>2017</strong> 1<br />
Fotos von uns auf der Titelseite und im Heft zum Thema Pflegefamilien.<br />
Einfach nochmals ein DANKE an alle Verantwortlichen des ElternMagazins.<br />
Sehr geehrter Herr Niethammer<br />
Vielen Dank nochmals für den tollen Schnuppertag, den meine<br />
Tochter Sarah vor zwei Jahren bei Ihnen erleben durfte. Sie blieb<br />
diesem Weg treu und freut sich nun sehr, dass sie zur Chefredaktorin<br />
der Schülerzeitung in ihrer Kantonsschule gewählt wurde.<br />
Wer weiss, vielleicht erhalten Sie in ein paar Jahren eine<br />
Bewerbung einer motivierten jungen Journalistin.<br />
Lilly Kahler, Roger Gyger, Shana und Fatima Walser<br />
(per Mail)<br />
Freundliche Grüsse<br />
Martina Bocek (per Mail)<br />
«Warum werden die<br />
Väter verherrlicht?»<br />
(Dossier «Väter», Heft 5/<strong>2017</strong>)<br />
Kinder sind Frauensache. Das glaubten bis<br />
vor Kurzem auch die meisten Wissenschaftler.<br />
Doch seit einigen Jahren geraten zusehends<br />
die Männer in den Fokus der Forscher. Väter sind<br />
offenbar viel wichtiger für die Entwicklung<br />
eines Kindes als lange Zeit vermutet.<br />
Text: Jochen Metzger<br />
Bilder: Johan Bävman und Fabian Unternaehrer / 13 Photo<br />
Väter<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Mai <strong>2017</strong> 11<br />
Ihr Beitrag zu den «Vätern» hat bei mir das Fass zum Überlaufen<br />
gebracht. Es kommt mir vor, als wären Väter das einzige Thema in<br />
den Medien!<br />
Woher kommt die Verherrlichung der Väter? Die Kernaussage<br />
des Artikels ist doch «Glückliche Paare haben glückliche Kinder».<br />
Und das ist ja eigentlich – auch wenn hier jede Menge Forschung<br />
bemüht wird – die trivialste und selbstverständlichste Aussage<br />
der Welt. Eine vollkommen intuitive Wahrheit, die wohl jeder mehr<br />
oder weniger anhand der eigenen Biografie bestätigen kann. Und<br />
obendrein eben eine sehr, sehr wichtige Wahrheit, welche es auch<br />
verdienen würde, korrekt dargestellt zu werden.<br />
Warum werden überall nur Väter abgebildet, während es<br />
wesentlich angemessener wäre, Eltern darzustellen, die liebevoll<br />
miteinander und mit den Kindern umgehen und sich gegenseitig<br />
in ihren unterschiedlichen Rollen respektieren und unterstützen?<br />
Es wird hier ein Kampf der Geschlechter geführt, obwohl es exakt<br />
darum gehen würde, sich auf die unterschiedlichen und sich<br />
ergänzenden Rollen von Vater und Mutter zu besinnen und auf die<br />
Wichtigkeit, als Paar zusammenzuhalten!<br />
Aktuell werden Mütter vollkommen entwertet. Dies ist<br />
kontraproduktiv. Mütter haben tatsächlich eine sehr wichtige<br />
Funktion für ihre Kinder. Eine andere als die Väter. Und das Kind<br />
braucht beide.<br />
Schreiben Sie uns!<br />
Ihre Meinung ist uns wichtig. Sie erreichen uns über:<br />
leserbriefe@fritzundfraenzi.ch oder<br />
Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 80<strong>08</strong> Zürich<br />
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Yvonne Kleinlogel (per Mail)<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August <strong>2017</strong>
Erziehung & Schule<br />
MEIN<br />
STOTTERN<br />
UND ICH<br />
Etwa 80 000 Menschen hierzulande stottern, oft so schwer,<br />
dass ihr Alltag leidet – und manchmal ihre Lebensplanung. Die<br />
Autorin Vivian Pasquet kämpft, seit sie fünf Jahre alt ist, gegen<br />
den drohenden Bruch in ihrem Redefluss. Hier erzählt sie ihre<br />
Geschichte. Text: Vivian Pasquet Bilder: Olaf Blecker<br />
Zwischen Tütensuppen<br />
und Trockenobst fasse<br />
ich Mut. Fast eine halbe<br />
Stunde bin ich durch<br />
den Supermarkt gelaufen.<br />
An allen Regalen mehrfach entlang,<br />
selbst bei Küchenrollen und<br />
Klopapier habe ich nachgeschaut.<br />
Mit einer Frage im Kopf, die ich<br />
mich nicht zu stellen traute.<br />
Schliesslich spreche ich eine Verkäuferin<br />
an. «Entschuldigung», sage<br />
ich und atme tief ein. «Wo finde ich<br />
die D-d-d …»<br />
Das Wort steckt fest, zwischen vorderem<br />
Gaumen und Zungenspitze.<br />
Ich beginne zu schwitzen.<br />
Ich bin zum Abendessen eingeladen<br />
und habe versprochen, Datteln<br />
im Speckmantel vorzubereiten. Jetzt<br />
verfluche ich mich dafür. Warum<br />
habe ich nicht Hummus vorgeschlagen,<br />
Salat oder Wackelpudding?<br />
Egal was, Hauptsache nichts, das mit<br />
einem D anfängt und mehr als eine<br />
Silbe hat.<br />
Ich schliesse die Augen und presse<br />
«Die D-d-d-d … – Äpfel?» Die Mitarbeiterin<br />
führt mich zur Obstauslage,<br />
ich fülle eine Tüte mit Äpfeln,<br />
die ich nicht brauche.<br />
Als ich auf die Strasse trete, fühle<br />
ich mich wie eine Versagerin.<br />
ZWEI TAGE ZUVOR habe ich<br />
Ingrid Del Ferro angerufen. Als ich<br />
16 Jahre alt war, hat die Sprechtrainerin<br />
mich aus meiner schlimmsten<br />
Stotterzeit befreit. In der Grundschule<br />
hatte ich in einem Theaterstück<br />
anderthalb Stunden am Büh-<br />
die Zunge gegen den Gaumen. nenrand gekauert und einen<br />
>>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>59
Erziehung & Schule<br />
>>> Stein gespielt – weil es die<br />
einzige Rolle ohne Text war. Im<br />
Gymnasium hatten mich die Lehrer<br />
kurz vor dem Pausenklingeln nicht<br />
mehr aufgerufen, weil ich für meine<br />
Antworten viel zu lange brauchte. In<br />
meinen Frankreichferien sollte ich<br />
zwei Baguettes kaufen und kam mit<br />
acht Stück zurück, der einzigen<br />
Zahl, die ich in der Bäckerei über die<br />
Lippen brachte.<br />
Jetzt, mit 32, erzähle ich Ingrid<br />
Del Ferro, dass ich dank des Sprachkurses<br />
in ihrem Institut als Journalistin<br />
arbeite; dass ich problemlos<br />
telefonieren und Interviews führen<br />
kann. Ich fühle Stolz.<br />
Von meinen Schwierigkeiten<br />
erzähle ich nichts.<br />
Stattdessen frage ich Ingrid Del<br />
Ferro, was aus den anderen Teilnehmern<br />
meines Kurses geworden ist.<br />
Sie erzählt von Anja, jahrelang<br />
stotterf rei, doch jetzt: Rückfall. Sie<br />
wird den Kurs erneut besuchen,<br />
nach 16 Jahren.<br />
Anja war mir so entschlossen<br />
vorgekommen. Eine junge Frau,<br />
damals 26 Jahre alt, die als Köchin<br />
arbeitete, weil sie am Herd nicht<br />
sprechen musste. Die an einem der<br />
Kurstage vor Glück weinte, weil sie<br />
zum ersten Mal in ihrem Leben<br />
flies send erzählen konnte, wer sie<br />
war und wo sie herkam.<br />
Plötzlich fragt mich Ingrid Del<br />
Ferro: «Kann es sein, dass Sie selbst<br />
auch noch Probleme mit dem Sprechen<br />
haben?»<br />
«Warum?»<br />
«Sie setzen Pausen an Stellen, an<br />
denen keine sein sollten. Ich höre<br />
die vernuschelten Buchstaben. Die<br />
abgebrochenen Sätze, die halb beendeten<br />
Wörter. Sie sprechen nicht<br />
wirklich flüssig. Sie tricksen.»<br />
ETWA 16 000 WÖRTER spricht<br />
ein Mensch durchschnittlich am<br />
Tag, 99 Prozent der Erwachsenen<br />
gelingt das flüssig. Aber rund<br />
800 000 Menschen in Deutschland<br />
(80 000 in der Schweiz) stottern.<br />
Nicht weil sie sich «verhaspeln»<br />
oder aufgeregt sind. Stotternde wissen<br />
sehr genau, was sie sagen möchten.<br />
Doch es gelingt ihnen nicht.<br />
Was macht diese Unfähigkeit mit<br />
der Sprache eines Menschen? Die<br />
meisten Stotterer dehnen Laute endlos<br />
in die Länge oder wiederholen<br />
sie. Bei anderen blockiert die Sprache,<br />
manchmal mitten im Wort.<br />
Einige sprechen vollkommen flüssig,<br />
aber stopfen ihre Sätze mit<br />
«Ähs» und «Hms» voll, um sie voranzutreiben.<br />
Andere wiederholen<br />
ganze Wörter immer wieder, wie<br />
kaputte Schallplatten.<br />
All diese Stottertypen haben<br />
eines gemeinsam: Sie werden von<br />
ihrem Stottern nicht überrascht.<br />
Noch ehe sie an einem Wort hängen<br />
bleiben, spüren sie, was ihnen<br />
bevorsteht. Nicht als Vorahnung,<br />
sondern als tiefe Gewissheit.<br />
Als nähere sich in der Nacht ein<br />
Auto mit aufgeblendetem Fernlicht.<br />
Man weiss, man wird geblendet,<br />
aber dieses Wissen ändert nichts.<br />
Sobald der Lichtstrahl die Augen<br />
trifft, kneift man sie zusammen. Es<br />
gibt nur eine Lösung: ganz woanders<br />
hinschauen.<br />
So machen es auch viele Stotternde:<br />
Sie sprechen in eine ganz andere<br />
Richtung. Sie vermeiden das Unaussprechbare.<br />
Sie sind virtuos darin,<br />
ein Wort durch andere Begriffe mit<br />
60 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Stotternde Menschen sind<br />
virtuos darin, ein Wort durch<br />
andere Wörter mit gleicher<br />
Bedeutung zu ersetzen.<br />
gleicher Bedeutung zu ersetzen, Sätze<br />
während des Sprechens umzustellen,<br />
Buchstaben hinzuzuerfinden<br />
oder einfach wegzulassen. Die Wissenschaft<br />
nennt das «covert stuttering»,<br />
verstecktes Stottern. Viele<br />
Stotternde sind darin Meister. Manche<br />
so sehr, dass ihre Umwelt sie<br />
nicht mehr als Stotternde wahrnimmt.<br />
Menschen wie ich.<br />
JA, ICH TRICKSE!, wollte ich<br />
Ingrid Del Ferro am Telefon entgegenrufen.<br />
Ich mache das schon mein<br />
ganzes Leben, und heute besser denn<br />
je.<br />
Meine Kollegen bemerken es<br />
nicht, wenn ich in einer Themenkonferenz<br />
«Kind mit Trisomie 21» statt<br />
«Downsyndrom» sage. Englische<br />
Interviewpartner sehen nicht, wie<br />
ich während eines Telefonats in<br />
einem Wörterbuch nach Synonymen<br />
für unaussprechbare Begriffe suche.<br />
Niemand weiss, dass ich beim Bäcker<br />
keine belegten Brötchen kaufe, weil<br />
ich nicht fragen kann, ob sie mit<br />
Mayonnaise bestrichen sind. Die ich<br />
auch deswegen nicht mag, weil sie<br />
mit M beginnt und zusätzlich ein Y<br />
in der Mitte trägt.<br />
Was Sie heute bei mir hören, Frau<br />
Del Ferro, wollte ich ihr zurufen, ist<br />
das Ergebnis Ihrer Therapie, ergänzt<br />
mit einer lebenslang perfektionierten<br />
Vermeidungsstrategie! Ich<br />
möchte, dass Sie meine Leistung<br />
anerkennen, anstatt mich nur darauf<br />
hinzuweisen, dass der Mangel immer<br />
noch hörbar ist!<br />
Aber natürlich war ich zum<br />
Pöbeln zu feige und schwieg.<br />
Ingrid Del Ferro fragte in die Stille<br />
hinein: «Was würden Sie davon<br />
halten, wenn auch Sie noch einmal<br />
einen Kurs bei mir belegen?»<br />
DAS STOTTERN ist mein Lebensbegleiter.<br />
Meine früheste Erinnerung:<br />
Ich war fünf Jahre alt, als das<br />
H nicht mehr funktionierte. Also<br />
hörte ich auf, davon zu sprechen,<br />
dass ich mir einen Hund wünschte.<br />
Als das F zu haken begann, trank ich<br />
im Kindergarten keinen Früchtetee<br />
mehr. Als das J verschwand, wurde<br />
ich einmal zum Einzelkind; ich hatte<br />
auf die Frage einer Nachbarin, ob<br />
ich Geschwister habe, mit Nein statt<br />
mit Ja geantwortet. Mit jedem Buchstaben,<br />
der auf der Liste des Unaussprechbaren<br />
hinzukam, verlor ich<br />
Selbstverständlichkeiten: Dinge, die<br />
mir wichtig erschienen, Momente,<br />
Gelegenheiten. Und eine Zeit lang<br />
sogar ein Stück meines Selbst, weil<br />
mir das V abhandengekommen war.<br />
Ein Blick in die Autorenzeile dieses<br />
Textes genügt, um zu begreifen,<br />
weshalb ich mich im Alter von neun<br />
Jahren nur noch mit Nachnamen<br />
vorstellte.<br />
Doch irgendwann musste ich laut<br />
vor der Klasse vorlesen; und als alle<br />
Mitschüler den Schulbuchtext vor<br />
Augen hatten, konnte ich nicht einfach<br />
Sätze umbauen.<br />
Irgendwann wollte ich einen Witz<br />
erzählen und schaffte es nicht, die<br />
Worte zu verändern, ohne die Pointe<br />
zu verderben.<br />
Irgendwann sass ich in den ersten<br />
mündlichen Prüfungen, und die<br />
richtige Antwort fing mit D an. Oder<br />
F. Oder J. Oder B, H, W, M, R.<br />
Irgendwann konnte ich die Stotterwörter<br />
nicht mehr austauschen.<br />
Es wurden einfach zu viele.<br />
THERAPIEVERSUCHE, natürlich<br />
hat es die gegeben. Ein Logopäde<br />
forderte mich auf, absichtlich zu<br />
stottern, um mir die Anspannung<br />
beim Sprechen zu nehmen. Ein<br />
Hypnotiseur redete mich in Trance.<br />
Eine Lehrerin horchte auf, als ich ihr<br />
erzählte, dass ich als kleines Mädchen<br />
– unbemerkt von meinem<br />
schlafenden Vater – fast die ganze<br />
Nacht auf dem Boden einer Flugzeugtoilette<br />
verbracht hatte; ich hatte<br />
die Tür nicht öffnen können und<br />
war zu schüchtern zum Klopfen<br />
gewesen. Das musste er gewesen<br />
sein, der traumatische Moment! Der<br />
dieses Sprechmalheur ausgelöst hat!<br />
Ein Psychologe suchte stattdessen<br />
die Gründe in der Trennung meiner<br />
Eltern. Ob mir zu Hause Gewalt<br />
angetan worden sei? Wenigstens ein<br />
kleines bisschen?<br />
Ich weiss nicht, weshalb niemand<br />
auf das Offensichtliche kam. Wieso<br />
sich meine Mutter Vorwürfe machte,<br />
anstatt nachzulesen. Warum sie,<br />
wie als Mantra, immer weiter fragte:<br />
Hätten wir das verhindern können?<br />
Nein, man hätte es nicht verhindern<br />
können.<br />
Mein Onkel stotterte. Einer meiner<br />
Cousins stottert. Stottern, das<br />
weiss man sicher aus verhaltensund<br />
molekulargenetischen Untersuchungen,<br />
ist erblich.<br />
Obwohl es nicht das eine «Stottergen»<br />
gibt, haben Forscher auf<br />
Chromosomen stotternder Menschen<br />
etliche Abschnitte gefunden,<br />
die mit der Sprechstörung zusammenhängen.<br />
70 bis über 80 Prozent<br />
der erwachsenen Stotternden, so<br />
schätzen Wissenschaftler, haben ihr<br />
Stottern geerbt. Männer sind besonders<br />
häufig betroffen, bis zu viermal<br />
mehr als Frauen.<br />
Unter Kindern ist der Anteil von<br />
Stotternden generell höher als bei<br />
Erwachsenen, fünf Prozent statt<br />
einem. Weshalb sich das Stottern bei<br />
einem Teil von ihnen während des<br />
Heranwachsens einfach wieder verliert?<br />
Ebenfalls erblich.<br />
Traumatische Erlebnisse jedenfalls<br />
oder Verfehlungen der Eltern<br />
scheiden als Grund aus, da sind sich<br />
Forscher inzwischen sicher. Ich<br />
weiss nicht mehr, wann ich all >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>61
Erziehung & Schule<br />
>>> das las und meiner Mutter<br />
davon erzählte. Aber ich erinnere<br />
mich an das gute Gefühl als Tochter,<br />
sie von ihrer vermeintlichen Schuld<br />
zu befreien.<br />
WILL DER MENSCH sprechen,<br />
müssen Millionen neuronaler Verbindungen<br />
im Gehirn die richtigen<br />
Signale senden; nur so steuern die<br />
Nerven alle Muskeln, die am Sprechen<br />
beteiligt sind, in der richtigen<br />
Reihenfolge an. Nur so gelingt das<br />
Zusammenspiel aus Atem, Kehlkopf,<br />
Zunge und Lippen, an dessen<br />
Ende ein fliessend gesprochener Satz<br />
steht.<br />
Schon Mitte der 1970er-Jahre<br />
wussten Mediziner, dass Hirnschädigungen<br />
diesen Sprachablauf empfindlich<br />
stören und zum Stottern<br />
führen können, etwa nach einem<br />
Unfall oder durch Blutungen (das<br />
sogenannte neurogene Stottern).<br />
Mitte der 1990er-Jahre trugen<br />
bildgebende Verfahren dazu bei, in<br />
die Gehirne jener Menschen zu<br />
sehen, die scheinbar ohne erkenntlichen<br />
Grund als Kind zu stottern<br />
begonnen hatten. Dabei offenbarten<br />
beispielsweise spezielle computerund<br />
magnettomografische Aufnahmen<br />
Muster, die man sonst von<br />
Schlaganfallpatienten kannte: Die<br />
Forscher sahen verminderte oder<br />
beschädigte Hirnsubstanz, vor allem<br />
im Bereich der Sprachzentren oder<br />
in jenen Hirnarealen, die Bewegungen<br />
der Gesichts- und Kehlkopfmuskeln<br />
koordinieren. Und je mehr<br />
ein Mensch stotterte, desto stärker<br />
waren diese Veränderungen im<br />
Gehirn. Zudem fanden die Mediziner<br />
überdurchschnittlich viel Hirnsubstanz<br />
in Teilen des Gehirns, die<br />
normalerweise eine untergeordnete<br />
Rolle beim Sprechen spielen – ein<br />
Hinweis darauf, dass sie die Aufgaben<br />
geschädigter Hirnareale übernehmen,<br />
um deren Ausfall zu kompensieren.<br />
Ähnlich wie ein Diabetes,<br />
der viele Abläufe im Körper stört,<br />
scheint das Stottern die Arbeit<br />
unterschiedlichster Bereiche des<br />
Gehirns zu beeinträchtigen: der<br />
Basalganglien, des Hirnbalkens, der<br />
Stirn- oder Schläfenlappen und<br />
selbst des limbischen Systems, wo<br />
unsere Emotionen verarbeitet werden.<br />
Dies könnte erklären, weshalb<br />
sogar nur leicht stotternde Menschen<br />
oft eine unverhältnismässig<br />
grosse Angst vor dem Sprechen<br />
haben. Und weshalb ich es vorzog,<br />
den Supermarkt mit Äpfeln im<br />
Rucksack zu verlassen, anstatt der<br />
Verkäuferin weiter etwas vorzustottern.<br />
Zwar haben Wissenschaftler die<br />
Frage, welche Defekte im Gehirn die<br />
Ursache für das Stottern sind und<br />
wo das Gehirn nur auf das Stottern<br />
reagiert, teilweise beantwortet.<br />
Doch noch weiss man nicht genau<br />
genug, wie man therapeutisch im<br />
Gehirn ansetzen müsste, um das<br />
Stottern endgültig zu beenden.<br />
ICH WAR 16 JAHRE ALT, als<br />
mir Ingrid Del Ferro in Amsterdam<br />
ein blaues Büchlein in die Hand<br />
drückte. «Reden ist Gold» stand darauf<br />
geschrieben.<br />
Bis heute steht es in meinem<br />
Regal – als Erinnerung daran, wie<br />
ich, nach zehn Jahren erfolgloser<br />
Therapien, meine Sprache wiederfand.<br />
Nie wieder wurde mein Stottern<br />
so schlimm wie vor dem Besuch in<br />
Amsterdam, nie sprach ich freier als<br />
direkt danach. Doch manchmal, in<br />
ehrlichen Momenten, frage ich<br />
mich, wie lange ich tatsächlich<br />
«komplett stotterfrei» war – so wie<br />
es das Del Ferro Institut den Hilfesuchenden<br />
verspricht.<br />
Wann fing ich wieder an, über<br />
Wörter zu stolpern? Wann vermied<br />
ich schwierige Situationen, nicht aus<br />
gewohnter Angst vor dem Stottern,<br />
sondern weil es tatsächlich zurückgekehrt<br />
war?<br />
War es, als ich mich, drei Jahre<br />
nach dem Sprachkurs, beim Abitur<br />
freiwillig in meinem schlechtesten<br />
Fach, in Mathematik, mündlich prüfen<br />
liess – nur weil ich dabei stumm<br />
an der Tafel rechnen durfte, statt<br />
Unter Kindern ist der<br />
Anteil von Stotternden<br />
generell höher als bei<br />
Erwachsenen, fünf<br />
Prozent statt einem.<br />
einen Vortrag halten zu müssen?<br />
War es, als ich fünf Jahre später die<br />
Trauerrede für meinen Grossvater<br />
schrieb und mir Synonyme für jedes<br />
Stotterwort notierte, nur zur Sicherheit?<br />
Oder als ich, längst erwachsen,<br />
in der Journalistenschule vorgab, auf<br />
die Toilette gehen zu müssen, und<br />
dort bis zum Ende einer Lehreinheit<br />
im Vorraum stehen blieb – weil wir<br />
Texte reihum laut vorlesen sollten?<br />
Wann begann es wieder, mich zu<br />
stören? Störte es mich überhaupt?<br />
Ich kann das nicht beantwor- >>><br />
«Jugendliche sollen lernen,<br />
möglichst souverän mit<br />
dem Stottern umzugehen»<br />
Um stotternden Menschen zu helfen,<br />
verfolgen Experten in der Schweiz einen<br />
auf die Bedürfnisse der Betroffenen<br />
zugeschnittenen Ansatz, sagt Wolfgang<br />
G. Braun von der Interkantonalen<br />
Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.<br />
Interview: Evelin Hartmann<br />
Herr Braun, wie viele Menschen stottern in<br />
der Schweiz?<br />
Studien belegen, dass etwa vier bis fünf Prozent<br />
der Bevölkerung eine Phase des unflüssigen<br />
Sprechens durchlaufen, meist im Vorschulalter.<br />
Bei etwa einem Prozent bleiben die<br />
Sprechprobleme über die Pubertät hinaus bestehen.<br />
Die Autorin des Beitrags «Mein Stottern<br />
und ich» ist für eine Therapie in die Niederlande<br />
gereist. Wie wird das Stottern in der<br />
Regel hierzulande behandelt?<br />
62 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Erst einmal: Die im Beitrag erwähnte Del-Ferro-Methode<br />
gilt in der Fachwelt als umstritten,<br />
da sie sich zu einseitig auf Atemtechnik fokussiert.<br />
In der Schweiz wird seit Jahren eine Methodenkombination<br />
verfolgt, die sich an den<br />
Bedürfnissen der Betroffenen orientiert.<br />
Die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik<br />
HfH führt seit Jahren ein Stottercamp<br />
für Jugendliche aus dem deutschsprachigen<br />
Raum durch. (Vgl. Fritz+Fränzi,<br />
September 2015.) Inwiefern findet dort<br />
eine Methodenkombination statt?<br />
In diesem Therapie-Setting kombinieren wir<br />
vor allem zwei Methoden: Der «Nicht-Vermeidungs-Ansatz»<br />
soll die Kinder dazu bringen,<br />
das Stottern nicht krampfhaft zu umgehen<br />
und die Angst davor zu verlieren. Sie erlernen<br />
einen selbstbewussten Umgang mit dem Stottern.<br />
Zum anderen vermitteln wir eine Sprechtechnik,<br />
wie das «chillige Sprechen», bei dem<br />
die Jugendlichen gemütlich, mit reduziertem<br />
Tempo sowie Pausen sprechen und so das<br />
flüssige Sprechen begünstigt wird.<br />
Es geht also nicht darum, in dieser Woche<br />
ganz stotterfrei zu werden?<br />
Nein. Das können wir nicht versprechen. Kein<br />
Therapeut bzw. keine Therapeutin kann das.<br />
Stottern zeigt sich als Sprechstörung, die ab<br />
dem Jugendalter kaum mehr heilbar ist. Deshalb<br />
ändert sich im Teenageralter das Therapieziel:<br />
Die Jugendlichen sollen möglichst lernen,<br />
souverän mit dem Stottern und Sprechen<br />
umzugehen.<br />
Was können Eltern tun, die bemerken, dass<br />
ihr Kind zu stottern anfängt?<br />
80 Prozent der Kinder machen zwischen dem<br />
dritten und sechsten Lebensjahr eine Phase<br />
durch, in der sie nicht flüssig sprechen. Bei einem<br />
Grossteil von ihnen geben sich diese<br />
Schwierigkeiten von alleine. Fordern die Eltern<br />
ihr Kind jedoch ständig auf, erst einmal zu<br />
überlegen, was sie sagen wollen, machen sie<br />
es erst recht auf diese Störung aufmerksam,<br />
was dazu führen kann, dass sie sich in einem<br />
Stottern manifestiert. Ich rate Eltern daher,<br />
möglichst geduldig und entspannt zu bleiben.<br />
Dabei ist es doch wichtig, eine Sprechstörung<br />
möglichst früh therapieren zu lassen.<br />
Das ist richtig. In einer möglichst frühen Therapie<br />
bekommen Kinder vom Kleinkind- bis ins<br />
Jugendalter eine gute Chance, souverän mit<br />
dem Stottern umzugehen oder Sprechtechniken<br />
zu erlernen, die ein Stottern erst gar nicht<br />
auftreten lassen. Wir haben an der HfH eine<br />
Beratungsplattform erarbeitet, an die sich Eltern<br />
wenden können. Dort werden sie online<br />
beraten oder zusammen mit ihrem Kind für<br />
eine Beratung und Abklärung eingeladen.<br />
Trotzdem: Eine Beratung wie auch eine Abklärung<br />
sind nicht automatisch der Beginn einer<br />
Therapie. Aber sie bieten Eltern Gewissheit.<br />
www.hfh.ch > Unser Service > Expertenwissen<br />
online> Stotterberatungsstelle<br />
Wolfgang G. Braun<br />
ist Logopäde und Dozent an der<br />
interkantonalen Hochschule für<br />
Heilpädagogik in Zürich, Schwerpunkte:<br />
Störungen der Rede, Prävention, Logopädie<br />
im Frühbereich und Diagnostik.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>63
ten. Wenn kaum noch jemand<br />
merkt, dass man stottert, vergisst<br />
man es zeitweise selbst. Brenzlige<br />
Situationen werden seltener, Vermeidungsstrategien<br />
besser.<br />
Doch dann stand, zwei Tage nach<br />
dem Anruf bei Ingrid Del Ferro, diese<br />
Zahl in meinem Notizbuch: 429.<br />
Nach ihrer Frage hatte ich eine<br />
Strichliste geführt, um zu prüfen,<br />
wie oft ich an einem normalen<br />
Wochentag nicht den Satz sage, der<br />
mir zuerst in den Kopf kommt, sondern<br />
den, den ich stotterfrei sprechen<br />
kann. 429 Striche.<br />
Nur ein einziges Mal habe ich an<br />
jenem Tag ein Wort auszusprechen<br />
versucht, obwohl ich wusste, dass es<br />
nicht funktionieren würde. In der<br />
wahnwitzigen Annahme, dass ich es,<br />
wenn ich mich nur genug anstrengen<br />
würde, doch noch artikulieren<br />
könnte. D-d-d-datteln.<br />
DESHALB SITZE ICH schliesslich<br />
im Del Ferro Institut in Amsterdam<br />
und drücke die Hände links<br />
und rechts auf meine Rippen, jeder<br />
Satz ein langes Ausatmen. Ich sehe<br />
den grünen Dozentenstuhl mit der<br />
hölzernen Löwenkopf-Armlehne,<br />
der dort bereits vor 16 Jahren stand,<br />
die Modelle menschlicher Oberkörper,<br />
von denen die Farbe blättert.<br />
Neben mir bläst Anja die Backen<br />
auf, sie hat sich kaum verändert,<br />
schlanker Körperbau, runde Brille,<br />
entschlossener Blick. Ich habe sie<br />
sofort wiedererkannt. Zur Begrüssung<br />
umarmten wir uns schweigend,<br />
sie brachte kaum ein Wort heraus.<br />
Als wir in die Videokamera sprachen,<br />
um unsere Sprache zu analysieren,<br />
stotterte sie fürchterlich.<br />
Dann weinte sie.<br />
ENDE DER 1970ER-JAHRE hat<br />
der Opernsänger Leonard Del Ferro<br />
die Del-Ferro-Methode entwickelt.<br />
Sie ist eine Atemtechnik für das<br />
Zwerchfell, jene kuppelförmige<br />
Muskel-Sehnen-Platte, die den<br />
Brust- vom Bauchraum trennt.<br />
Wenn der Mensch einatmet,<br />
flacht das Zwerchfell ab, beim Ausatmen<br />
wölbt es sich in die Ausgangsposition<br />
zurück. Durch diese Bewegung<br />
strömt Luft aus der Lunge an<br />
den Stimmlippen im Kehlkopf vorbei,<br />
hin zum gesprochenen Wort.<br />
Das Del Ferro Institut geht davon<br />
aus, dass Stotternde während des<br />
Sprechens unbewusst einatmen,<br />
daher das Zwerchfell «flattert» und<br />
der Sprechablauf durcheinander-<br />
Der 10-Tages Kurs in Amsterdam<br />
kostet knapp 1900 Euro. Dennoch<br />
melden sich Hunderte von<br />
Menschen jedes Jahr an.<br />
kommt. Fundierte wissenschaftliche<br />
Studien, die eine Effektivität der<br />
Behandlung beweisen, stehen aus;<br />
der knapp 1900 Euro teure Kurs<br />
wird meist nicht von der Krankenkasse<br />
bezahlt.<br />
Dennoch melden sich seit mehr<br />
als 30 Jahren Hunderte von Menschen<br />
jährlich in Amsterdam, um<br />
64 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
die Methode in dem Zehn-Tage-<br />
Kurs zu erlernen. Im Wartezimmer:<br />
Aktenordner, prall gefüllt mit Dankesschreiben<br />
aus aller Welt.<br />
Die Del-Ferro-Methode läuft in<br />
mehreren Phasen ab. Zunächst lernen<br />
wir, unser Zwerchfell durch<br />
äusseren Druck auf die Rippen zu<br />
kontrollieren, später allein durch<br />
eine Konzentrations- und Atemtechnik.<br />
Ich blicke ins Leere, presse meine<br />
Hand gegen die Rippen. Dann atme<br />
ich ruhig ein und aus, ein und aus,<br />
und wieder ein. Schliesslich spreche<br />
ich, während langsam die Atemluft<br />
entweicht. Es dauert fast eine Minute,<br />
bis auf diese Weise ein Satz entsteht;<br />
langsam und monoton. Und<br />
wieder fast eine Minute bis zum<br />
nächsten Satz. Ich klinge wie ein<br />
Roboter. Und fühle mich wie ein<br />
Idiot.<br />
Doch nach nicht einmal zwei<br />
Stunden im Kurs spricht Anja, die<br />
zu Beginn kaum ein Wort herausbekam,<br />
flüssig. Auch ich spreche Sätze,<br />
die sonst unter meiner Zunge in<br />
Stücke brechen.<br />
Wie vor 16 Jahren verspricht der<br />
Dozent: Wenn ihr die Methode konsequent<br />
anwendet, hat sich die<br />
Bewegung des Zwerchfells nach<br />
einigen Monaten automatisiert.<br />
Dann, sagt er, habt ihr das Stottern<br />
besiegt.<br />
KEINE TELEFONATE, kein<br />
Alkohol während der zehn Tage, das<br />
sind die Regeln. Im Kursraum ist es<br />
verboten, die Heizung aufzudrehen,<br />
weil zu viel Wärme die Konzentration<br />
stört. Und, das Wichtigste:<br />
nicht ein Wort sprechen, ohne die<br />
Del-Ferro-Methode anzuwenden.<br />
Jeden Nachmittag gehen wir,<br />
Anja, drei weitere Teilnehmer und<br />
ich, auf die Strasse, ins Alltagsleben.<br />
Dort sprechen wir bis spät in den<br />
Abend fremde Menschen auf Englisch<br />
an, so viele wie möglich.<br />
Wir sollen in ganz unterschiedlichen<br />
Situationen üben, um sicher zu<br />
sein, dass die Flüssigkeit der Sprache<br />
nicht von der Tagesform abhängt. Es<br />
gibt Stotternde, die artikulieren im<br />
Kursraum fliessend, im Alltag aber<br />
nicht. Andere halten in der Schule<br />
problemlos Referate, doch schaffen<br />
es nicht, einen Kaffee zu bestellen.<br />
Ich konnte meiner Chefin stotterfrei<br />
von meinem Dattel-Erlebnis erzählen,<br />
einer Freundin beim Mittagessen<br />
aber nicht.<br />
Wäre das Stottern ein Tier, es<br />
wäre ein Chamäleon.<br />
WIR ÜBEN HART. Wir quälen<br />
uns. Blicken ins Leere, sprechen<br />
monoton und unerträglich langsam.<br />
Fragen Menschen am Bahnhof nach<br />
dem Weg, wenn sie in Eile sind.<br />
Bestellen unser Abendessen, alle<br />
fünf, hintereinander, in Restaurants<br />
mit Hochbetrieb. Jeder Satz eine halbe<br />
Minute.<br />
«Ich bin so glücklich, wieder<br />
sprechen zu können», sagt Anja.<br />
«Was die Kellnerin wohl von uns<br />
denkt», sage ich.<br />
Eine Frau im Optikgeschäft<br />
droht, die Polizei zu rufen, weil sie<br />
sich von unserer Art zu sprechen<br />
bedroht fühlt. Ein Passant fragt<br />
mich, ob ich medizinische Hilfe<br />
benötige. Eine Gruppe Jugendlicher<br />
lacht uns aus; dabei schaue ich zu<br />
Boden und gebe vor, nur zufällig mit<br />
der Gruppe unterwegs zu sein.<br />
Am sechsten Tag verstecke ich<br />
mich hinter einem Stapel Obstkisten<br />
im Supermarkt und rufe einen<br />
Freund an. «Ich will nicht mehr»,<br />
flüstere ich.<br />
«Was willst du nicht mehr?»<br />
«Ich will mit dieser Sprachtherapie<br />
nichts mehr zu tun haben.»<br />
Weshalb waren meine 429 Striche<br />
kein Anreiz mehr für mich, in Amsterdam<br />
konsequent mit der Del-<br />
Ferro-Methode zu sprechen? Warum<br />
telefonierte ich trotz Verbots,<br />
setzte mich von der Gruppe ab, vermied<br />
Kontakt, statt ihn zu suchen?<br />
Ich habe ein paar Tage gebraucht,<br />
um zwei Gründe zu erkennen.<br />
Vor 16 Jahren hatte ich keine<br />
Wahl.<br />
Ich stotterte oft so stark, dass die<br />
als die Scham, die Del-Ferro-Methode<br />
anzuwenden.<br />
Doch jetzt hatte ich eine Alternative.<br />
Meine Vermeidungsstrategien<br />
funktionieren gut. Meist finde ich<br />
einen Ausweg aus dem Stottern. Ich<br />
habe viele Jahre daran gearbeitet,<br />
beim Sprechen nicht mehr aufzufallen.<br />
Kaum jemand bemerkt heute<br />
noch den Kampf, den ich dabei mit<br />
den Wörtern ausfechte.<br />
In Amsterdam aber fiel ich wieder<br />
auf. Die Leute starrten mich an,<br />
wenn ich sprach – nicht weil ich stotterte,<br />
sondern weil ich die Del-Ferro-Methode<br />
benutzte. Weil ich klang<br />
wie ein Roboter.<br />
Als ich vor dem Kurs die Zahl 429<br />
in meinem Notizbuch gesehen hatte,<br />
war sie mir als Makel erschienen, ich<br />
wollte ihn beseitigen. Jetzt schien sie<br />
mir ein Erfolg zu sein. 429 Striche,<br />
das heisst für mich: 429 Mal keine<br />
Scham gefühlt.<br />
Der zweite Grund für mein Verhalten<br />
in Amsterdam wurde mir am<br />
vierten Tag bewusst. Ich hatte ihn<br />
ignoriert, vielleicht aus Angst, ihn<br />
mir einzugestehen. Doch dann sass<br />
ich mit Anja in der Lobby unseres<br />
Hotels, wir tranken Tee, und sie sagte:<br />
«Ich wiederhole diesen Kurs nicht<br />
zum ersten Mal. Ich bin mindestens<br />
das siebte Mal hier.»<br />
«STOTTERN IST im Erwachsenenalter<br />
bislang selten heilbar», sagt<br />
Katrin Neumann. Zumindest dürfe<br />
kein Therapeut eine Heilung versprechen.<br />
Die Professorin leitet die<br />
Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie<br />
am Universitätsklinikum<br />
Bochum. Seit 18 Jahren erforscht sie<br />
das Stottern; unter ihrem Vorsitz<br />
wurden 2016 Leitlinien für die Diagnose<br />
und Behandlung der Sprechstörung<br />
entwickelt.<br />
Stotterbehandlungen, die auf eine<br />
Regulation der Atmung setzen (wie<br />
es die Del-Ferro-Methode macht),<br />
werden in diesen Leitlinien als<br />
«unzureichend wirksam» bezeichnet.<br />
Und das, obwohl die Grundidee<br />
des Del-Ferro-Ansatzes plausibel ist.<br />
Scham beim Sprechen grösser war Doch beruhen die Erfolge >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>65
Erziehung & Schule<br />
Es stottert nicht, wer singt oder<br />
flüstert. Doch kein Stotterer<br />
schafft es, sein ganzes Leben<br />
lang zu singen oder zu flüstern.<br />
Vivian Pasquet<br />
>>> vermutlich nicht auf der Kontrolle<br />
des Zwerchfells.<br />
Wissenschaftler wie Katrin Neumann<br />
gehen stattdessen davon aus,<br />
dass veränderte Sprechweisen als<br />
«externer Schrittmacher» auf den<br />
gestörten Sprechablauf wirken.<br />
Denn bei Stotternden scheint die<br />
Feinabstimmung von Hören und<br />
Sprechen nicht zu gelingen. Zwar<br />
hören sie ihre Worte, doch kann ihr<br />
Gehirn das Gesagte während des<br />
Sprechens nicht richtig verarbeiten.<br />
Das bringt die Sprachplanung<br />
durcheinander.<br />
Wie wichtig es für das Sprechen<br />
ist, die eigenen Wörter fehlerfrei<br />
wahrzunehmen, zeigt der «Lee-<br />
Effekt»: Hören Flüssigsprechende<br />
über einen Kopfhörer ihre Stimme<br />
wenige Zehntelsekunden verzögert,<br />
können auch sie nicht mehr fliessend<br />
sprechen. Gibt man hingegen<br />
veröffentlichte als freie Journalistin unter anderem Artikel im<br />
SPIEGEL, in der ZEIT, im STERN und in GEO. Seit September 2016<br />
ist sie festangestellte Redaktorin bei GEO.<br />
Stotternden ihre Stimme verzögert<br />
wieder oder spielt ihnen während<br />
des Sprechens laute Geräusche oder<br />
Musik vor, hören sie mit dem Stottern<br />
auf.<br />
Auch stottert nicht, wer singt,<br />
flüstert, schreit oder im Gleichtakt<br />
mit einem Metronom spricht. Sprechen<br />
im Chor kann ebenfalls helfen:<br />
Als meine Englischlehrerin in der<br />
sechsten Klasse den Schulbuchtext<br />
gemeinsam mit mir laut vorlas,<br />
schaffte auch ich es stotterfrei. Veränderte<br />
Sprechweisen scheinen also<br />
als eine Art Taktgeber, als Schrittmacher<br />
zu wirken und das Gehirn<br />
zu überlisten.<br />
Doch kein Stotternder schafft es,<br />
sein ganzes Leben lang zu singen, zu<br />
flüstern oder mit der Del-Ferro-<br />
Methode zu sprechen. Zudem<br />
scheint das Gehirn den Bluff früher<br />
oder später zu bemerken. Das<br />
erklärt, weshalb sich die Sprechflüssigkeit<br />
bei manchen Stottertherapien<br />
erst stark verbessert – und dann<br />
wieder verschlechtert. Es erklärt,<br />
weshalb Anja immer wieder nach<br />
Amsterdam reist. Und warum mein<br />
Stottern zurückkehrte.<br />
Ich habe sieben der zwölf Teilnehmer<br />
meines damaligen Kurses<br />
nach 16 Jahren gefragt, wie es heute<br />
mit dem Sprechen klappt. Keiner<br />
von ihnen bezeichnet sich als komplett<br />
stotterfrei, doch alle sagen, die<br />
Del-Ferro-Methode habe ihnen sehr<br />
geholfen.<br />
Für diesen Artikel hat GEO stotternde<br />
Menschen gebeten, sich im<br />
Moment des Stotterns fotografieren<br />
zu lassen (siehe Box unten: Zu den<br />
Bildern). Nicht jeder empfand dabei<br />
Scham, so wie ich. Die meisten<br />
gehen viel selbstverständlicher und<br />
aufrechter mit ihrer Sprechstörung<br />
um, als ich es je konnte – auch wenn<br />
ihr Stottern hörbarer ist.<br />
Einige haben eine viel besser<br />
erforschte Therapie als die Del-Ferro-Methode<br />
absolviert; stotterfrei<br />
sind auch sie nicht. Doch alle haben<br />
Strategien für das Sprechen entwickelt.<br />
Solange eine komplette Heilung im<br />
Erwachsenenalter noch selten ist,<br />
sagen Forscher wie Katrin Neumann,<br />
müsse jeder seinen eigenen Weg,<br />
seine eigene Sprechkrücke für das<br />
Leben mit dem Stottern finden.<br />
Als ich Anja drei Monate nach<br />
dem Kurs wiedertreffe, spricht sie<br />
mit einer vereinfachten Form der<br />
Del-Ferro-Methode fliessend. Sollte<br />
das Stottern zurückkommen, sagt<br />
sie, fahre sie wieder nach Amsterdam.<br />
AN EINEM MORGEN im Winter,<br />
der Kurs liegt fast ein halbes Jahr<br />
zurück, sitze ich mit Freunden auf<br />
dem Balkon einer Hütte in den<br />
Schweizer Bergen. Wir spielen ein<br />
Gesellschaftsspiel, reihum soll jeder<br />
eine Spielkarte laut vorlesen. Die<br />
Karten sind eng mit Text bedruckt.<br />
Ich zögere, dann gebe ich meine<br />
Karte einer Freundin.<br />
Während sie zu lesen beginnt,<br />
blicke ich auf die Berge; lausche dem<br />
fliessenden Rhythmus der Sätze,<br />
dem stetigen Auf und Ab der Wörter<br />
mit all ihren D und J und B und G.<br />
Ich spüre kein Bedauern und kein<br />
Versagen mehr. Die Sonne scheint.<br />
Auf den Gipfeln liegt Schnee.<br />
Man muss sich seines Selbstwerts<br />
als Mensch bewusst sein, dann spürt<br />
man beim Stottern keine Scham<br />
mehr. Wenn ich selbstbewusst stottere,<br />
fällt es auch meinen Zuhörern<br />
leichter. Manchmal beenden sie<br />
trotzdem einen Satz für mich. Ich<br />
verstehe das; aber auch wenn ich<br />
sehr stottere, spreche ich jeden Satz<br />
zu Ende. Das bedeutet für mich<br />
Selbständigkeit.<br />
>>><br />
Dieser Text ist in GEO erschienen.<br />
Ab druck mit freundlicher Genehmigung.<br />
Zu den Bildern<br />
Der Fotograf Olaf Blecker hat<br />
stotternde Menschen im<br />
verletzlichsten Augenblick ihres<br />
Sprechens fotografiert. Wie die<br />
Autorin Vivian Pasquet.<br />
66 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Kolumne<br />
«Was soll ich machen,<br />
wenn ich traurig bin?»<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
Mikael Krogerus<br />
ist Autor und Journalist.<br />
Der Finne ist Vater einer Tochter<br />
und eines Sohnes, lebt in Biel<br />
und schreibt regelmässig für<br />
das Schweizer ElternMagazin<br />
Fritz+Fränzi und andere<br />
Schweizer Medien.<br />
Was soll ich machen, wenn ich traurig bin?» Die Frage kam<br />
etwas unvermittelt, aber meine Tochter hatte sie gestellt,<br />
und nun schaute sie mich fragend an. In ihrem Gesicht<br />
konnte ich nicht eindeutig erkennen, ob es sich um eine<br />
klinische Depression handelte, einen frühen Liebeskummer<br />
oder einfach um jene bodenlose Traurigkeit, die uns Menschen in den<br />
merkwürdigsten Momenten anfällt wie ein böser Hund. Ich schluckte. Zu dem<br />
Schock, dass es meinem Kind schlecht gehen könnte, gesellte sich schleichend<br />
die ungute Einsicht, dass ich, im fortgeschrittenen Alter von 40 Jahren, noch<br />
immer nicht weiss, was Traurigkeit lindert.<br />
Vor vielen Jahren hatte ich der österreichischen Schriftstellerin Friederike<br />
Mayröcker die gleiche Frage gestellt. Sie war damals tief in der Trauerarbeit<br />
um ihren verstorbenen Lebenspartner Paul Jandl versunken und hatte mit<br />
«Und ich schüttelte einen Liebling» so etwas wie eine persönliche Erinnerung,<br />
einen Nachruf auf Jandl verfasst. Das Buch war ihr Versuch, das Unsagbare<br />
in Worte zu kleiden und ihm so den Schrecken zu nehmen. Ich sass damals in<br />
einem Wiener Kaffeehaus der alten, gebückten Dame gegenüber und fragte sie:<br />
«Was lindert die Trauer?»<br />
Sie überlegte lange, und dann sagte sie: «Gehen. Sehr rasch und viel gehen.<br />
Das ist gut, wenn man einen grossen Schmerz hat. So kann man den überbrücken.»<br />
Ich verstand auf Anhieb. Auch mir hat Gehen in so manch dunkler Stunde<br />
geholfen. Paradoxerweise endet beim Gehen das Grübeln und beginnt das<br />
Denken. Und wer richtig weit läuft, bei dem hört beides auf. Besonders<br />
gut geht es sich übrigens in Grossstädten, denn wie viel Kümmernisse du<br />
auch mit dir herumträgst, so genügen doch oft nur wenige Schritte, um auf<br />
jemanden zu stossen, der im Spiel des Lebens noch schlechtere Karten gezogen<br />
hat als du.<br />
Gleichzeitig ist das kein Ratschlag für eine Zehnjährige. Also fragte ich sie:<br />
«Was machst du, wenn du traurig bist?»<br />
Sie dachte kurz nach, dann sagte sie: «Ich weine. Dann gehe ich zu dir oder<br />
zu Mamma. Und dann mache ich etwas, was mir Spass macht.»<br />
Sie schaute mich an und schaute dann auf ihre Uhr: Es war 14 Uhr, sie<br />
musste zum Zirkus. Also sprang sie auf, küsste mich und rannte zur Tür<br />
hinaus.<br />
Ich schaute ihr aus dem Fenster hinterher und hatte ihre Worte im Kopf:<br />
Gefühle zulassen; Leute suchen, bei denen du dich aufgehoben fühlst; Dinge<br />
tun, die dir etwas bedeuten. Das waren ziemlich gute Ratschläge. Plötzlich<br />
drehte sie sich um und winkte mir. Ich winkte zurück und dachte bei mir, dass<br />
sie für eines der grossen Rätsel des Lebens deutlich weniger Zeit gebraucht<br />
hatte als ich.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>67
Mama, die Buchstaben<br />
Wenn Kinder häufig über Kopfschmerzen klagen, schlecht lesen und krakelig schreiben,<br />
unkonzentriert und motorisch unsicher sind, wird dies nicht selten auf eine Lese-Rechtschreib-<br />
Schwäche oder gar ADHS zurückgeführt. Die Ursache könnte aber auch in einem latenten<br />
Schielen, umgangssprachlich einer Winkelfehlsichtigkeit, liegen. Text: Anja Lang<br />
Bild: iStockphoto<br />
68 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Luca findet Lesen doof.<br />
Wann immer es geht,<br />
drückt er sich davor.<br />
Auch das Schreiben fällt<br />
ihm schwer. Er verrutscht<br />
in den Zeilen, verdreht die Buchstaben<br />
und macht viele Rechtschreibfehler.<br />
Oft hat er Kopfschmerzen<br />
und ist müde. «Musst halt fleissiger<br />
üben», kriegt er oft zu hören. Doch<br />
so sehr er sich auch anstrengt, die<br />
Buchstaben «hüpfen» ihm einfach<br />
vor den Augen davon. Hilfe be <br />
kommt Luca erst, als bei ihm eine<br />
Winkelfehlsichtigkeit als Ursache<br />
seiner Probleme entdeckt wird.<br />
Winkelfehlsichtigkeit ist keine<br />
Fehlsichtigkeit oder Krankheit im<br />
eigentlichen Sinne. «Es handelt sich<br />
vielmehr um eine latente Abweichung<br />
der Augen im Ruhezustand<br />
aus der optimalen Position», erklärt<br />
Daniel Bruun, Augenarzt und<br />
Augenchirurg aus Kreuzlingen TG.<br />
«Diese Abweichung kann aber Auswirkungen<br />
auf das simultane beidseitige<br />
Sehen haben.»<br />
stellung von Natur aus kleine Abweichungen<br />
nach innen oder aussen,<br />
seltener auch nach oben oder unten.»<br />
Diese Abweichung vom Idealzustand<br />
nennt man Winkelfehlsichtigkeit.<br />
In der Augenmedizin spricht<br />
man auch von Heterophorie oder<br />
verstecktem Schielen. «Versteckt<br />
deshalb, weil die leichte Fehlstellung<br />
nur dann sichtbar wird, wenn sich<br />
das Auge im Ruhezustand befindet<br />
– beispielsweise bei Müdigkeit oder<br />
beim abgedeckten Auge», erklärt der<br />
Schielexperte. «Sobald die Augen ein<br />
Objekt fokussieren, justiert das<br />
Gehirn die Abweichung in Sekundenbruchteilen<br />
nach, sodass die<br />
Augen wieder synchron gestellt werden.»<br />
Anders als ein echtes Schielen<br />
fällt das latente Schielen im Alltag<br />
deshalb auch nicht auf.<br />
Rund 80 Prozent aller Sehenden<br />
haben eine Winkelfehlsichtigkeit.<br />
Die meisten Menschen verkraften<br />
die ständige Zusatzarbeit, die Gehirn<br />
und Augenmuskulatur für die optimale<br />
Fusion leisten müssen, ohne<br />
grössere Probleme. «Ein gewisser<br />
Prozentsatz aber entwickelt Anstrengungsbeschwerden,<br />
die mitunter<br />
massive Auswirkungen auf die<br />
Lebensqualität haben können»,<br />
weiss Bruun.<br />
Winkelfehlsichtigkeit kann krank<br />
machen<br />
«Ein deutliches Zeichen für mögliche<br />
Probleme mit dem versteckten<br />
Schielen ist, wenn Patienten immer<br />
wieder Doppelbilder sehen», sagt<br />
Augenexperte Daniel Bruun. «Auch<br />
Latentes Schielen<br />
Damit ein dreidimensionales Bild<br />
entsteht, müssen die zwei Einzelbilder,<br />
die auf den Netzhäuten der beiden<br />
Augen entstehen, vom Gehirn<br />
zu einem einzigen räumlichen Bild<br />
verschmolzen werden. Diesen Vorgang<br />
nennt man in der Fachsprache<br />
Fusion. «Für eine optimale Fusion<br />
sollten die beiden Augen stets gleich<br />
ausgerichtet sein», weiss Bruun. «Bei<br />
der überwiegenden Mehrheit finden<br />
häufige Kopfschmerzen, die vor<br />
allem abends auftreten, können ein<br />
Hinweis darauf sein.» Bei Kindern<br />
zeigen sich zudem Symptome wie<br />
häufiges Stolpern, schlechte Orientierung<br />
im Raum, Probleme beim<br />
Verfolgen von bewegten Objekten<br />
wie Bällen. Aufgaben, die konzentrierte<br />
Augenarbeit erfordern wie<br />
Basteln, Ausmalen oder Ausschneiden,<br />
werden konsequent gemieden.<br />
Betroffene Schulkinder leiden oft an<br />
sich aber in der entspannten Augen Konzentrationsschwierigkei >>><br />
80 Prozent aller Menschen<br />
haben ein sogenanntes<br />
verstecktes Schielen, auch<br />
Winkelfehlsichtigkeit genannt.<br />
Symptome durch<br />
Winkelfehlsichtigkeit<br />
• Zeitweiliges Doppelbildsehen<br />
• Kopfschmerzen vor allem<br />
abends<br />
• Konzentrationsschwierigkeiten<br />
• Bei kleinen Kindern auch<br />
Bauchschmerzen<br />
• Stolpern, gegen Hindernisse<br />
laufen, Probleme beim<br />
Ballfangen<br />
• Vermeidung von Basteln,<br />
Ausmalen, Ausschneiden<br />
• Probleme beim Lesen:<br />
Zeilenspringen, stockendes<br />
Lesen, schnelle Ermüdung<br />
• Probleme beim Schreiben:<br />
krakelige Schrift, Zeilen<br />
werden nicht gehalten,<br />
Buchstaben werden verdreht<br />
Was ist eine Prismenbrille?<br />
Die Gläser einer Prismenbrille<br />
sind prismatisch. Damit<br />
sehen sie aus wie zwei rund<br />
geschliffene Keile. In der<br />
Augenheilkunde werden<br />
Prismengläser bei bestimmten<br />
Schielerkrankungen eingesetzt,<br />
um Doppelbilder<br />
zusammenzuführen. Bei einer<br />
Winkelfehlsichtigkeit sollen sie<br />
die gemessene Abweichung<br />
des Auges im Ruhezustand<br />
ausgleichen. Durch den Mehraufwand<br />
sind Prismenbrillen<br />
teurer als normale Brillen, und<br />
die Gläser sind schwerer.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>69
Informationsangebote<br />
für Betroffene von<br />
Winkelfehlsichtigkeit<br />
Die Schweizer Selbsthilfegruppe<br />
Winkelfehlsichtigkeit<br />
trifft sich nicht mehr aktiv,<br />
betreibt aber unter www.winkelfehlsichtigkeit.org<br />
eine eigene<br />
Webseite.<br />
Die Deutsche Selbsthilfegruppe<br />
Winkelfehlsichtigkeit<br />
ist noch aktiv und bietet unter<br />
www.shgwf.de/cms/ Infos<br />
und Adressen von Ansprechpartnern<br />
in Deutschland, Österreich<br />
und der Schweiz.<br />
Forum: Erfahrungsaustausch<br />
Binokularsehen<br />
Unter www.optometrieonline.<br />
de/forum/5 können sich<br />
Betroffene austauschen.<br />
IVBS – Internationale<br />
Vereinigung für binokulares<br />
Sehen<br />
Eine Vereinigung von Augenoptikern<br />
und Augenärzten, die<br />
sich auf Winkelfehlsichtigkeit<br />
spezialisiert haben.<br />
www.ivbs.org<br />
Bewegung unterstützt das<br />
Gehirn dabei, Informationen<br />
im Kopf zu behalten.<br />
>>> ten und zeigen starke Auffälligkeiten<br />
beim Lesen und Schreiben.<br />
«Typisch ist, dass die Kinder das<br />
Lesen am liebsten vermeiden, bei<br />
Aufforderung mit der Nase fast am<br />
Papier kleben, nur stockend vorwärtskommen<br />
und häufig in der<br />
Zeile verrutschen», so Daniel Bruun.<br />
«Beim Schreiben können die Linien<br />
nicht gehalten werden und die Wörter<br />
sind unleserlich und oft unvollständig.»<br />
Aufwendige Diagnose<br />
Behandelt werden muss eine Winkelfehlsichtigkeit<br />
nur, wenn sie Probleme<br />
macht. «Ich vergleiche das<br />
immer mit leichten X- oder O-Beinen,<br />
die ja an sich auch keine Krankheit<br />
sind», betont der Schielexperte.<br />
«Erst wenn dadurch Beschwerden<br />
wie Schmerzen wegen Fehlbelastungen<br />
auftreten, muss etwas unternommen<br />
werden.» Um festzustellen, ob<br />
die beschriebenen Symptome von<br />
einer Überlastung der Augen durch<br />
Winkelfehlsichtigkeit herrühren<br />
oder eine andere Ursache haben, ist<br />
eine sehr ausführliche Anamnese<br />
nötig. «Hier braucht man viel Erfahrung<br />
und Fingerspitzengefühl, gerade<br />
bei Kindern», so Daniel Bruun.<br />
Ausserdem müssen andere mögliche<br />
Ursachen wie etwa bestehende echte<br />
Fehlsichtigkeiten ausgeschlossen<br />
beziehungsweise fachgerecht behandelt<br />
werden. «Leider wird diese<br />
umfassende und zeitraubende<br />
Untersuchung von den Krankenkassen<br />
nicht besonders hoch entlohnt»,<br />
weiss Bruun. «Damit ist sie für viele<br />
Augenärzte wirtschaftlich gesehen<br />
nicht lukrativ und wird entsprechend<br />
vernachlässigt.» Aktuell gibt es in der<br />
Schweiz und den Nachbarländern<br />
nur eine verschwindend geringe<br />
Anzahl an Augenärzten, die sich mit<br />
dem Thema Winkelfehlsichtigkeit<br />
intensiver beschäftigt. Leidtragende<br />
dieser Entwicklung sind betroffene<br />
Kinder und Erwachsene, deren Winkelfehlsichtigkeit<br />
oft jahrelang unerkannt<br />
und unbehandelt bleibt, weil<br />
gängige Untersuchungen keinerlei<br />
Auffälligkeiten zeigen. Ruth Schmid,<br />
Mutter von drei Kindern mit Winkelfehlsichtigkeit<br />
und Gründerin<br />
einer Schweizer Selbsthilfegruppe in<br />
Winterthur, hat selbst derartige<br />
Erfahrungen gemacht und kennt<br />
viele Familien, denen erst nach<br />
einem langen Leidensweg mit einer<br />
Prismenbrille (siehe Box Seite 69)<br />
oder einer Schieloperation geholfen<br />
werden konnte. Sie sagt: «Hilfe finden<br />
Eltern von betroffenen Kindern<br />
oft eher beim Augenoptiker als beim<br />
Augenarzt.»<br />
Mess- und Korrektionsmethodik<br />
nach Haase<br />
In den 1950ern entwickelte der<br />
Augenoptikermeister Hans-Joachim<br />
Haase eine spezielle Messmethode,<br />
bekannt als Mess- und Korrektionsmethodik<br />
nach H.-J. Haase – kurz<br />
MKH. Früher bekannt unter dem<br />
Namen Polatest, wird die MKH heute<br />
vor allem von Augenoptikern und<br />
einigen wenigen überzeugten<br />
Augen ärzten angewendet, die sich<br />
in der Internationalen Vereinigung<br />
für Binokulares Sehen (IVBS) zusammengeschlossen<br />
haben. «Bei der<br />
MKH wird die Augenstellung mithilfe<br />
von Polarisationsfiltern ge -<br />
trennt, aber unter erhaltener Fusion<br />
wie beim natürlichen Sehen vermessen»,<br />
erklärt Fritz Gorzny, Vizepräsident<br />
der IVBS und Augenarzt aus<br />
Deutschland. Anders als bei gängigen<br />
Sehtests sind bei der MKH-Messung<br />
dazu beide Augen am Sehvorgang<br />
beteiligt. Polarisationsfilter in<br />
der Messbrille sorgen dafür, dass<br />
trotzdem jedes Auge einzeln gemessen<br />
werden kann.<br />
«Bei der Messung selbst muss der<br />
Patient dann polarisierte Testbilder<br />
70 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
analysieren, denen so lange unterschiedliche<br />
Prismengläser vorgeschaltet<br />
werden, bis die Bilder beider<br />
Augen subjektiv jeweils auf den<br />
schärfsten Punkt beider Netzhäute<br />
treffen und das Testbild korrekt<br />
anzeigen.»<br />
Ziel der Messung ist, die genaue<br />
Abweichung der Augen in sogenannten<br />
Prismendioptrien zu ermitteln.<br />
Mit diesen Werten kann dann<br />
eine Prismenbrille gefertigt werden,<br />
die die gemessene Abweichung ausgleichen<br />
und die Augen bei der täglichen<br />
Seharbeit entlasten soll. «Da<br />
sich die Augenmuskeln durch die<br />
jahrelange Anstrengung teilweise<br />
regelrecht verkrampfen, muss die<br />
Stärke der Prismen später gegebenenfalls<br />
erhöht werden», betont<br />
Fritz Gorzny. «In weniger als zwei<br />
Prozent der Fälle kann dann die<br />
endgültige Prismenzahl so hoch<br />
sein, dass eine Schieloperation sinnvoll<br />
wird.»<br />
In der Schulmedizin hat sich die<br />
MKH nie wirklich durchgesetzt.<br />
Trotz unzähliger positiver Erfahrungsberichte<br />
fehlen bis heute wissenschaftlich<br />
haltbare Studien zur<br />
Messgenauigkeit der Methode und<br />
auch zum Erfolg der Behandlung<br />
mit Prismenbrillen.<br />
Eine Kritikerin der MKH ist beispielsweise<br />
Gabriela Wirth Barben,<br />
Augenärztin für Schielen und Kinderaugenheilkunde<br />
in St. Gallen. Sie<br />
bezeichnet Winkelfehlsichtigkeit als<br />
Kunstprodukt: «Die Messmethode<br />
nach Haase misst Werte in einem<br />
durch Polarisationsfilter künstlich<br />
erzeugten Zustand, der mit natürlichem<br />
Sehen nichts zu tun hat.»<br />
Ausserdem kritisiert Wirth Barben,<br />
dass die nachträgliche Erhöhung der<br />
Prismen den Schielwinkel künstlich<br />
in die Höhe treibe. «Am Ende steht<br />
dann eine Schieloperation, die ohne<br />
Prismenbrille überhaupt nicht nötig<br />
gewesen wäre.»<br />
Ähnlich kritisch äussert sich<br />
Véronique Glauser, Präsidentin von<br />
Swiss Orthoptics und Dozentin am<br />
Zentrum für Ausbildung im Ge <br />
sundheitswesen in Winterthur. Sie<br />
hält die Messmethode nach Haase<br />
für zu kurz gegriffen und rät zu<br />
zu sätzlichen Tests. «Orthoptisten<br />
untersuchen als Spezialisten für<br />
beidseitiges Sehen das Zusammenspiel<br />
beider Augen unter natürlichen<br />
Bedingungen und führen dazu nicht<br />
nur einen, sondern unterschiedliche<br />
Tests durch», erklärt Véronique<br />
Glauser.<br />
Was sollen Eltern mit betroffenen<br />
Kindern jetzt tun?<br />
Einig sind sich Befürworter und Kritiker,<br />
dass vor der Behandlung einer<br />
Winkelfehlsichtigkeit immer erst alle<br />
anderen möglichen Ursachen für die<br />
Beschwerden fachkundig ausgeschlossen<br />
werden müssen. Véronique<br />
Glauser rät, dabei auch das<br />
soziale Umfeld des Kindes zu beachten.<br />
«Eine Scheidungssituation, Er <br />
wartungsdruck der Eltern oder Mobbing<br />
in der Schule können ebenfalls<br />
zu Kopfschmerzen und Schulversagen<br />
führen.» Erst dann empfiehlt<br />
Wirth Barben, sich zur weiteren<br />
Abklärung an eine Klinik mit<br />
orthoptischer Abteilung oder einen<br />
mit Kindern erfahrenen Augenarzt<br />
zu wenden, der mit einem Orthoptisten<br />
zusammenarbeitet.<br />
Fritz Gorzny hält Augenoptiker,<br />
die nachweislich Erfahrung auf dem<br />
Gebiet der Winkelfehlsichtigkeit<br />
haben und mit Prismenbrillen<br />
arbeiten, für die geeigneten An <br />
sprechpartner. Bruun bietet seinen<br />
Patienten nach der Messung versuchsweise<br />
eine Prismenleihbrille an.<br />
Bessern sich die Beschwerden damit<br />
nicht, liegt die Ursache woanders und<br />
der Patient kann die Brille einfach<br />
wieder zurückgeben.<br />
Bei der Abklärung sollte auch<br />
das soziale Umfeld des<br />
Kindes einbezogen werden.<br />
>>><br />
Anja Lang<br />
ist langjährige Medizinjournalistin. Sie<br />
ist Mutter von drei Kindern und lebt mit<br />
ihrer Familie in der Nähe von München.<br />
Das Thema Winkelfehlsichtigkeit ist ihr<br />
besonders wichtig, da auch ihre älteste<br />
Tochter davon betroffen ist.<br />
HELFEN IST EIN<br />
KINDERSPIEL:<br />
Mit dem SWISSAID-Abzeichenverkauf<br />
setzen sich<br />
Schulkinder auf spielerische<br />
Art für eine gerechtere Welt<br />
ein und entwickeln dabei<br />
früh wichtige personale,<br />
soziale und methodische<br />
Kompetenzen.<br />
Informieren Sie sich unter:<br />
www.swissaid.ch/abzeichen<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>
Digital & Medial<br />
Ist Kontrolle besser<br />
als Vertrauen?<br />
Was sieht mein Kind im Internet? Wie habe ich Kontrolle über mein Kind<br />
an der Spielkonsole? Es gibt zahlreiche technische Möglichkeiten, den<br />
Medienkonsum des Kindes im Blick zu behalten oder einzuschränken.<br />
Viele Eltern nutzen sie allerdings nicht. Text: Stephan Petersen<br />
Vertrauen ist gut, Kontrolle<br />
ist besser.» Das<br />
Lenin zugeschriebene<br />
Zitat dürfte vielen<br />
bekannt sein. Allerdings<br />
haben gerade Lenins Sowjetunion<br />
oder die DDR genau das<br />
Gegenteil bewiesen: Kontrolle<br />
untergräbt Handlungsfreiheit und<br />
Kreativität. Vertrauen ist hingegen<br />
eine Voraussetzung für menschliche<br />
Beziehungen: Nachbarn, die sich<br />
gegenseitig helfen. Eltern, die ihrem<br />
Kind mehr geben als blosse ökonomische<br />
Sicherheit. Freunde, die in<br />
Notzeiten füreinander da sind. Vertrauen<br />
ist der Klebstoff menschlicher<br />
Beziehungen, jenseits von<br />
Zwang und Regeln.<br />
Sollten Eltern also ihren Kindern<br />
einfach voll vertrauen? Wenn ich<br />
einem Menschen vertraue, hat dieser<br />
mehr Freiheit. Allerdings weiss<br />
nicht jeder mit dieser Freiheit<br />
umzugehen. Insbesondere Kinder<br />
müssen diese Fähigkeit erst noch<br />
entwickeln. Ausserdem haben Eltern<br />
die Sorge- und Aufsichtspflicht für<br />
ihre Kinder. Das gilt auch für deren<br />
Kinder anfangs im Internet<br />
zu kontrollieren, kann<br />
auch helfen, auf Dauer<br />
Vertrauen aufzubauen!<br />
Umgang mit den neuen Medien, für<br />
ihre ersten Erfahrungen mit Internet,<br />
Konsole und Handy. Doch ausgerechnet<br />
hier bewegen sich selbst<br />
medienerfahrene Eltern nicht im -<br />
mer sicher. Das digitale Angebot ist<br />
riesig, ständig gibt es neue Trends<br />
und Entwicklungen.<br />
Ein Grund zur Resignation?<br />
Ganz und gar nicht: Eltern sollten<br />
nicht vergessen, dass es zum Heranwachsen<br />
gehört, Fehler zu machen<br />
und daraus zu lernen. Wer im Hinblick<br />
auf neue Medien nur Verbote<br />
ausspricht, der handelt kontraproduktiv<br />
– in Bezug auf die kindliche<br />
Entwicklung und auf die Beziehung<br />
untereinander. Anfängliche Kontrolle<br />
ist besser als Verbote. Denn sie<br />
kann auch dabei helfen, nach und<br />
nach Vertrauen aufzubauen. Es gibt<br />
zahlreiche technische Mittel, mit<br />
Hilfe derer Eltern zum Beispiel Einfluss<br />
darauf nehmen können, was<br />
ihre Kinder im Internet sehen.<br />
Doch oftmals machen sie keinen<br />
Gebrauch davon: «Es ist bekannt,<br />
dass Eltern relativ selten technische<br />
Möglichkeiten nutzen, um die Internetnutzung<br />
ihres Kindes zu reglementieren»,<br />
sagt Martina Zemp,<br />
Psychologin mit Schwerpunkt Kinder-<br />
und Jugendpsychologie. Und<br />
sie fügt an: «Auf der Grundlage des<br />
aktuellen Forschungsstands muss es<br />
insgesamt als problematisch angesehen<br />
werden, wenn Kinder in der<br />
Sozialisierung mit neuen Medien<br />
allein gelassen werden.» Denn<br />
damit steigt die Gefahr, dass sie zu<br />
viel oder auf gefährlichen Webseiten<br />
surfen.<br />
Wie können Eltern die Mediennutzung<br />
ihrer Kinder kontrollieren<br />
oder einschränken?<br />
• Internet nachts abschalten: Viele<br />
WLAN-Router (Netzwerkgerät<br />
des Telefon-/Internetanbieters)<br />
kann man mit einer Zeitschaltung<br />
versehen. Auf diese Weise lässt<br />
sich das WLAN zu bestimmten<br />
Zeiten, etwa nachts, automatisch<br />
abschalten, sodass niemand<br />
heimlich zu später Stunde im<br />
Netz surfen kann.<br />
• Webfilter: Im Internet gibt es viele<br />
spannende Themen, aber auch<br />
bedenkliche, zum Beispiel gewaltverherrlichende<br />
oder pornografische<br />
Inhalte. Damit Kinder sicher<br />
durch das Netz surfen, sind Webfilter<br />
empfehlenswert. Diese<br />
arbeiten mit White- und Blacklists.<br />
Whitelists eignen sich für<br />
jüngere Kinder. Dabei ist nur der<br />
Aufruf von Webseiten erlaubt, die<br />
vorher auf einer Liste gespeichert<br />
wurden. Blacklists hingegen sind<br />
für ältere Kinder gut. Hier sind<br />
alle Seiten erreichbar ausser<br />
denen auf der schwarzen Liste.<br />
• Passwörter: Einkäufe von digitalen<br />
Inhalten sollten immer mit<br />
einem Passwort gesichert sein,<br />
das nur die Eltern kennen. So<br />
Bild: iStockphoto<br />
72 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
ehalten sie den Überblick darüber,<br />
was ihre Kinder auf der Konsole<br />
oder dem Handy spielen, und<br />
es werden keine versehentlichen<br />
Einkäufe innerhalb eines Spiels<br />
getätigt.<br />
• Jugendschutzeinstellungen bei<br />
Spielkonsolen: Alle modernen<br />
Spielkonsolen verfügen über<br />
Jugendschutzeinstellungen. Diese<br />
sind je nach Konsole in einem<br />
Untermenü der «Einstellungen»<br />
zu finden. Dort kann etwa die<br />
Spielzeit festgelegt werden. Eine<br />
weitere Möglichkeit: Eltern können<br />
anhand der Altersfreigaben<br />
(USK/PEGI) den Zugang zu Spielen<br />
festlegen. So lässt sich beispielsweise<br />
einstellen, dass nur<br />
Spiele mit USK 12 oder niedriger<br />
auf der Konsole spielbar sind. Am<br />
PC laufen viele Spiele über die<br />
Vertriebsplattform Steam. Auch<br />
dort sind Jugendschutzeinstellungen<br />
vorhanden.<br />
• Google Alert: Was veröffentlicht<br />
mein Kind im Internet? Was veröffentlichen<br />
andere dort über<br />
mein Kind? Dank Google >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Alert (einfach im Web-Browser<br />
eingeben) kann man eine Suchanfrage<br />
zu einem bestimmten<br />
Thema starten. «Vorname Nachname»<br />
des Kindes eingeben,<br />
Suchabfrage starten und sich<br />
benachrichtigen lassen, wenn es<br />
neue Inhalte hierzu gibt.<br />
• Familonet: Mit Hilfe der App<br />
Familonet können Familien ihre<br />
Standorte untereinander kommunizieren.<br />
So bekommen Eltern<br />
etwa eine Nachricht, wenn das<br />
August <strong>2017</strong><br />
Anzeige<br />
Denn sie ist in einer<br />
zertifi zierten Kita.<br />
Spielkonsolen lassen sich so<br />
einstellen, dass keine Games<br />
darauf laufen, für die das<br />
Kind noch zu jung ist.<br />
Finden Sie eine zertifizierte<br />
Kita unter quali-kita.ch
Digital & Medial<br />
Je mehr Kinder Medienregeln<br />
mitgestalten können, umso<br />
besser funktionieren diese.<br />
>>> Kind die Schule verlässt und<br />
wenn es zu Hause angekommen<br />
ist. Eine Echtzeit-Ortung gibt es<br />
aus datenschutzrechtlichen Gründen<br />
nicht. Dafür können Kinder<br />
durch den integrierten Alarm-Ruf<br />
jederzeit ihren Standort mitteilen.<br />
Ein weiteres Feature: Verlorene<br />
oder gestohlene Handys lassen<br />
sich mit Familonet orten. Die App<br />
existiert für iOS- und Android-<br />
Telefone und -Tablets.<br />
• Fröschli-Telefon: Das «Fröschli»<br />
ist ein kleines, robustes und mit<br />
vier Nummern vorprogrammiertes<br />
Telefon für jüngere Kinder. Die<br />
Nummern sind frei programmierbar<br />
(zum Beispiel Mutter, Vater,<br />
Grosseltern, Nachbarn). So kann<br />
das Kind mit einem einzigen Tastendruck<br />
einen Anruf tätigen.<br />
Zudem gibt es eine SOS-Taste, die<br />
mit einer Notruf-Nummer programmiert<br />
werden kann. Eine<br />
weitere Funktion ist das sogenannte<br />
Geofencing: Verlässt das<br />
Kind einen zuvor festgelegten geografischen<br />
Bereich, gibt es einen<br />
Alarm per Mail oder SMS.<br />
• Eingeschränkter Modus bei Youtube:<br />
Youtube erfreut sich bei<br />
Kindern und Jugendlichen grösster<br />
Beliebtheit. Fast zwangsläufig<br />
kommen sie hier mit bedenklichen<br />
Inhalten in Berührung. Hier<br />
hilft der «eingeschränkte Modus»,<br />
der sich am Ende der Youtube-<br />
Seite (ganz nach unten scrollen)<br />
einstellen lässt und einen Zugriff<br />
auf potenziell nicht jugendfreie<br />
Inhalte verhindert. Zuvor muss<br />
man ein kostenloses Konto bei<br />
Youtube einrichten. Nicht vergessen:<br />
nach der Aktivierung des Filters<br />
ausloggen, damit die Einstellungen<br />
nicht einfach geändert<br />
werden können.<br />
>>><br />
Stephan Petersen<br />
ist studierter Historiker und freier Journalist.<br />
Zu seinen Themen gehören unter anderem<br />
Videospiele und Familie. Er ist Vater zweier<br />
Kinder im Alter von sieben und elf Jahren.<br />
Jetzt<br />
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Fritz+Fränzi verlost …<br />
August-Verlosung<br />
5 × 1 Familienticket (2 Erw./2 Kinder)<br />
inkl. geführter Tour durchs<br />
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Das FIFA World Football Museum ist mitten in der Stadt<br />
Zürich direkt beim Bahnhof Enge gelegen und bietet eine<br />
spannende Entdeckungsreise durch die Geschichte des<br />
internationalen Fussballs. Die multimediale und interaktive<br />
Ausstellung mit 500 Videos auf 60 Bildschirmen,<br />
rund 1400 Fotos, über 1000 einzigartigen Objekten und<br />
15 interaktiven Stationen bietet ein einmaliges Erlebnis<br />
für die ganze Familie.<br />
Mehr Infos: www.fifamuseum.com<br />
Wettbewerbsteilnahme auf www.fritzundfraenzi.ch/verlosung<br />
Teilnahmeschluss: 10. September <strong>2017</strong>.<br />
Teilnahme per SMS: Stichwort FF FIFA an 959 senden (30 Rp./SMS)
Mediennutzung zwischen<br />
Kontrolle und Vertrauen<br />
Wann sollten Eltern Kinder kontrollieren<br />
und wie sollte man das angehen? Tipps<br />
von Martina Zemp, Psychologin mit<br />
Schwerpunkt Kinder- und<br />
Jugendpsychologie.<br />
• Begleiten Sie Ihre Kinder! Geringes<br />
elterliches Monitoring der medialen<br />
Tätigkeiten, also kaum Kontrolle und<br />
keine Ahnung, was die Kinder da tun,<br />
gehört zu den grössten Risikofaktoren<br />
für eine falsche oder übermässige<br />
Nutzung von neuen Medien durch Kinder<br />
und Jugendliche.<br />
• Reglementieren und reflektieren Sie die<br />
Mediennutzung Ihres Kindes. Die völlige<br />
Abschottung von den digitalen<br />
Verlockungen ist realitätsfern. Legen Sie<br />
Inhalt und Dauer sowie verständliche<br />
und konsequente Regeln fest und passen<br />
Sie diese der Entwicklungsstufe des<br />
Kindes immer wieder an. Grundsätzlich<br />
sollten keine Konsolen und Co. im<br />
Schlafzimmer der Kinder stehen.<br />
• Aktive Massnahmen wirken vor allem bei<br />
älteren Kindern nachhaltiger. Aktiv<br />
heisst, gemeinsam mit dem Kind Absprachen<br />
zu treffen. Medienerzieherische<br />
Bemühungen zielen vornehmlich darauf<br />
ab, Kindern und Jugendlichen einen<br />
selbstbestimmten Umgang mit neuen<br />
Medien zu vermitteln. Die kritische<br />
Auseinandersetzung zwischen Eltern<br />
und Kindern über Medieninhalte ist die<br />
erfolgreichste Erziehungs strategie. Die<br />
konstruktive Aus einandersetzung und<br />
die interessierte Begleitung der<br />
kindlichen Mediennutzung durch die<br />
Eltern können die potenziell negativen<br />
Konsequenzen der Medien auf Kinder<br />
ausgleichen.<br />
• Bekunden Sie Interesse und bleiben Sie<br />
im Gespräch mit Ihrem Kind! Informieren<br />
Sie sich, legen Sie die eigene Haltung zu<br />
Medien klar dar und seien Sie ein angemessenes<br />
Vorbild.<br />
• Reservieren Sie Zeit für Offline-<br />
Aktivitäten mit dem Kind. Engagierten<br />
Eltern, die viel Zeit mit ihren Kindern<br />
verbringen, gelingt häufig intuitiv eine<br />
angemessenere Erziehung zur<br />
Medienkompetenz.<br />
Gestalte die Welt<br />
von morgen<br />
Steig ein in die Schweizer Hightech-Branche und mach Neues möglich.<br />
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Digital & Medial<br />
Kind, ärgere<br />
dich nicht!<br />
Gamen macht Spass – vor allem, wenn<br />
man gewinnt! Doch bei jedem Spiel gibt es<br />
auch Verlierer. Und Verlieren will gelernt<br />
sein. Text: Michael In Albon<br />
Es ist eigentlich ganz einfach:<br />
Mal gewinnt man,<br />
mal verliert man. So<br />
funktionieren Spiele.<br />
Allein, so einfach ist es<br />
eben nicht. Sicherlich haben Sie als<br />
Eltern auch schon erlebt, dass beim<br />
geselligen Spiel plötzlich die Stimmung<br />
kippt und Ihr fröhliches Kind<br />
zum Rumpelstilzchen wird, das<br />
wütend die Karten vom Tisch wischt<br />
und sich weigert, weiter mitzuspielen.<br />
Schuld für das Verhalten ist<br />
nicht das Spiel, sondern was im<br />
Kind schlummert. Bei jüngeren<br />
Kindern ist es oft die Vorstellung,<br />
dass sie über alles bestimmen können.<br />
In dieser Vorstellung kommt<br />
Verlieren nicht vor, deshalb kollidieren<br />
Fantasie und Wirklichkeit. Der<br />
Grund für das Nicht-verlieren-Können<br />
liegt aber vielleicht auch im<br />
Selbstwertgefühl des Kindes oder<br />
Jugendlichen – einem zu hohen oder<br />
einem zu niedrigen. Ist Ihr Kind<br />
daran gewöhnt, dass es nicht immer<br />
alle Wünsche erfüllt bekommt? Hat<br />
Ihr Kind das Gefühl, es komme<br />
immer zu kurz, habe immer Pech?<br />
Und gehen Sie als Vorbild mit gutem<br />
Beispiel voran und lassen sich bei<br />
Niederlagen nicht so schnell unterkriegen?<br />
Ausdauer ist gefragt<br />
Es geht nicht darum, dass Ihr Kind<br />
lernt, bedingungslos zu verlieren. Es<br />
geht darum, sich zu motivieren,<br />
nicht aufzugeben. Das lässt sich mit<br />
Games vortrefflich trainieren – real<br />
und digital. Vor dem Spiel steht<br />
jedoch die wichtigste Grundregel:<br />
Lassen Sie Ihr Kind in gegenseitiger<br />
Wertschätzung aufwachsen. Damit<br />
es spürt, dass es als Person im Vordergrund<br />
steht, nicht das Erbringen<br />
einer Leistung. Hinzu kommt beim<br />
Spiel: Lassen Sie Ihr Kind nicht dem<br />
Frieden zuliebe gewinnen. Niederlagen<br />
und Frustration gehören zum<br />
Leben, der Umgang damit sollte trainiert<br />
werden. Und lassen Sie sich von<br />
Wutausbrüchen nicht beeindrucken,<br />
halten Sie diese aus. Schimpfen Sie<br />
nicht, spiegeln Sie vielmehr das Verhalten<br />
und fragen Sie nach den aufsteigenden<br />
Emotionen. So lernt Ihr<br />
Kind, seine Gefühle anzunehmen<br />
und damit umzugehen.<br />
Gamen Sie mit<br />
In der Pubertät gehören Konflikte<br />
mit sich selbst und mit anderen zur<br />
Tagesordnung. Gerade jetzt kann<br />
gemeinsames Gamen dazu beitragen,<br />
die verkrampfte Familiensituation<br />
zu lockern: Lachen Sie zusammen,<br />
erreichen Sie gemeinsam ein<br />
Ziel, wetteifern Sie – das ist oft ein<br />
Weg, miteinander ins Gespräch zu<br />
kommen. Zudem können Games<br />
dabei helfen, Dampf abzulassen, zu<br />
entspannen, Kräfte zu tanken und<br />
Bestätigung zu finden. Dazu eignen<br />
sich unterschiedliche Game-Genres:<br />
Bild: ponomareva<br />
Action-Games, Abenteuer-Games,<br />
Sport-Games, Simulations-Games.<br />
Sie finden dazu online zahlreiche<br />
Ideen. Und wenn nicht? Fragen Sie<br />
Ihr Kind.<br />
Beliebt sind bei Jugendlichen<br />
auch sogenannte Multiplayer-<br />
Games. Bei diesen kooperativen<br />
Spielen steht die Gemeinsamkeit im<br />
Vordergrund. Gemeinsam mit<br />
anderen soll eine Strategie entwickelt<br />
oder ein gemeinsam definiertes<br />
Ziel erreicht werden. Nicht der<br />
Wettkampf, sondern die Teamarbeit<br />
ist wichtig. Alle gewinnen oder verlieren<br />
zusammen. Dabei erfährt Ihr<br />
Kind zudem, dass es in der Lage ist,<br />
etwas für die Gemeinschaft zu tun.<br />
Das fördert das Selbstwertgefühl.<br />
Michael In Albon<br />
ist Beauftragter Jugendmedienschutz<br />
und Experte Medienkompetenz von<br />
Swisscom.<br />
Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive<br />
Lernmodule für den kompetenten Umgang mit<br />
digitalen Medien im Familienalltag.<br />
swisscom.ch/medienstark<br />
76 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Unsere<br />
Kinderschürzen sind<br />
hochwertige Produkte<br />
und ermöglichen<br />
benachteiligten<br />
Menschen Ausbildungsund<br />
Arbeitsplätze.<br />
Kinderschürzen<br />
HANDGEFERTIGTE KINDERSCHÜRZEN<br />
FÜR SPIELGRUPPE, KINDERGARTEN, SCHULE ODER ZU HAUSE<br />
Gestalten Sie die Kinderschürzen nach Ihrem Geschmack. Sie bestimmen, ob mit oder ohne Tasche, wählen<br />
aus einer Vielzahl von Farben und können sogar einen Namen auf die Schürze sticken lassen.<br />
WWW.DIVERSIS.CH
Unser Wochenende …<br />
im «Heidiland»<br />
St. Gallen / Zürich<br />
A3<br />
Lago Mio<br />
Ziegelbrücke<br />
Weesen<br />
Betlis<br />
Ferienregion<br />
Heidiland<br />
Erleben …<br />
Quinten<br />
Walensee<br />
Unterterzen<br />
Flumserberg<br />
Mulchenhütte<br />
Flums<br />
Wildmannlihütte<br />
Walenstadt<br />
Sargans<br />
… Ein abwechslungsreiches Klettererlebnis ist Ihnen auf dem<br />
Kletterturm CLiiMBER auf Prodalp in Flumserberg gewiss.<br />
Über 100 Kletterstationen sind in den dreistöckigen, kristallförmigen<br />
Turm eingebettet. Und jede Etage bietet<br />
30 verschiedene, originell ausgearbeitete Kletterstationen mit<br />
unterschiedlichem Design und Schwierigkeitsgrad. Die<br />
Parcoursreihenfolge ist flexibel, und so entscheiden Sie mit<br />
Ihren Kindern selber, welche Route Sie nehmen. Ihren<br />
Schwierigkeitsgrad hinauf zur 3. Etage auf luftige 15 Meter<br />
erhöhen Sie nach eigenem Ermessen. Kinder ab 4 Jahren<br />
können sich an der CLiiMBERwall versuchen und bis zu einer<br />
Grösse von 1,40 m Kraxeltouren am MiniCLiiMBER unternehmen.<br />
Das Selbstsicherungssystem sorgt dafür, dass alle<br />
wieder sicher auf den Boden kommen.<br />
CLiiMBER, bis 22. Oktober <strong>2017</strong>, von 10 bis 16.45 Uhr. Gondelbahn<br />
Prodalp-Express bis 22. Oktober, Mo bis Fr von 8 bis 12<br />
und 13.15 bis 16.45 Uhr; Sa/So und 8. Juli bis 13. August bzw.<br />
30. September bis 22. Oktober 8 bis 16.45 Uhr. Kinder/<br />
Jugendliche zwischen 1,30 m und 1,40 m werden nur in<br />
Be gleitung Erwachsener zugelassen. Preisbeispiel für einen<br />
13-Jährigen: 3 Stunden Klettern Fr. 19.–, inkl. Seilbahn hin und<br />
zurück Fr. 27.–. Weitere Infos: www.flumserberg.ch > Sommer ><br />
Klettern > Öffnungszeiten und Tarife<br />
… Zu einem rauschenden Vergnügen am Flumserberg<br />
kommen Sie auf der Rodelbahn Floomzer. Durch Tunnel,<br />
über Brücken, Kurven, Wellen und Kreisel flitzen Sie in<br />
modernen und kindersicheren Coastern mit bis zu 40 km/h<br />
von der Bergstation Chrüz auf 1600 m ü. M. auf der zwei<br />
Kilometer langen Bahn hinunter zum 250 Meter tiefer<br />
gelegenen Tannenboden. Die Bahn ist bei jedem Wetter offen.<br />
Und täglich sind die Fahrten von 10 bis 12 Uhr unlimitiert.<br />
Start: Bergstation Chrüz, Ziel: Talstation Kabinenbahn. Offen:<br />
Rodelbahn Floomzer und Sesselbahn Chrüz bis 22. Oktober<br />
<strong>2017</strong> von 10 bis 17 Uhr. Details zu den Preisen auf www.<br />
flumserberg.ch > Sommer > Rodeln > Tarife. www.floomzer.ch<br />
Geniessen …<br />
… Am Fuss der steilen Churfirsten liegt auf einem kleinen<br />
Landvorsprung im Walensee Quinten. Der mächtige<br />
Gebirgszug schützt diesen Ort mit seinen gut 50 Einwohnern<br />
vor den kalten Nordwinden. In diesem fast schon mediterranen<br />
Klima wachsen Trauben, aber auch Feigen, Kiwis und<br />
weitere Südfrüchte. Das autofreie Dorf auf 434 m ü. M. ist nur<br />
zu Fuss oder mit dem Schiff zu erreichen. Beliebt und fast das<br />
ganze Jahr begehbar ist jener Wanderweg, der in Weesen<br />
beginnt und vorerst knapp über dem Wasserspiegel die<br />
Riviera Walensee durchquert. Teils ist er in den Fels gehauen,<br />
teils führt er durch Tunnels. Später gehts dann recht aufwärts,<br />
und im Abstieg ist Ihre Trittsicherheit gefragt. Nach etwa<br />
dreieinhalb Stunden erreichen Sie Quinten mit den beiden<br />
Restaurants Seehus und Schifflände.<br />
Wanderung Weesen–Quinten: Länge 10,5 km, Aufstieg/Abstieg<br />
je 487 m. www.seehusquinten.ch; www.schifflaende.eu;<br />
www.walenseeschiff.ch<br />
… Der Walensee gehört nicht zu den wärmsten Seen, aber<br />
zum Verweilen am Wasser lädt auch er. Etwa beim Badeplatz<br />
Lago Mio etwas ausserhalb von Weesen am Weg nach<br />
Quinten, mit Liegewiesen, WC, Freiluftdusche, Restaurant mit<br />
Sonnenterrasse, Feuerstellen zum Grillieren direkt am Seeufer,<br />
Beachvolleyballfeld, Bootsvermietung. Der Zugang zum See<br />
führt über Steinstufen. Oder bei Betlis, einer Anlage mit<br />
Liegewiesen, schattenspendenden Bäumen, Sitzbänken, WC,<br />
Grillstellen direkt am Seeufer, Zugang zum See über Steinstufen.<br />
Und in Weesen selbst gibt es den Naturbadestrand<br />
Flihorn. Er liegt auf dem Delta des Flybachs, hat Kiesstrände<br />
78 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Service<br />
Der Kletterturm in<br />
Flumserberg,<br />
unterwegs an die<br />
Riviera Walensee,<br />
die «Schifflände»<br />
in Quinten.<br />
Bilder: Heidiland Tourismus<br />
und eine kleine Insel, Liegewiesen, Floss mit Rutschbahn,<br />
Garderoben und WC, Grillstelle direkt am Seeufer.<br />
Diese drei Badeplätze sind öffentlich und jederzeit gratis<br />
zugänglich. Lago Mio: Das Restaurant ist von Mitte März bis<br />
gegen Ende Oktober geöffnet. lago-mio.ch. Betlis: Die Strasse<br />
nach Betlis ist nur einspurig und zu bestimmten Fahrzeiten<br />
befahrbar.<br />
Übernachten …<br />
… Von Flums aus geht es hinein ins Schilstal auf die Alp<br />
Lauiboden mit der Mulchenhütte, einer einfachen Unterkunft<br />
für bis zu sechs Personen. Sie schlafen mit Wolldecken im<br />
Stroh, Wasser gibts, ausser im WC, nur draussen am Brunnen,<br />
Petrollampen spenden Licht, und gekocht wird auf einem<br />
nostalgischen Herd. Käse, Butter und Milch können Sie bei<br />
den Alpsennen beziehen.<br />
Preise: Pauschale exkl. Kurtaxen Fr. 70.–/Nacht, ab 3 Nächten<br />
Fr. 60.–/Nacht. Offen bis Mitte September. Anreise mit dem<br />
Auto (nur mit Bewilligung) oder zu Fuss ab Bergstation<br />
Maschgenkamm. www.flumserberg.ch > Unterkunft > Ferien<br />
auf dem Bauernhof<br />
… Eine ähnlich einfache Alternative ist die Wildmannlihütte<br />
auf der Alp Wildenberg am Kleinberg, die Sie ebenfalls von<br />
Flums aus erreichen. Sie schlafen im selbst mitgebrachten<br />
Schlafsack in einem einfachen Matratzenlager für bis zu neun<br />
Personen. Es gibt nur kaltes Wasser und einen Holzkochherd.<br />
Frische Alpprodukte können Sie direkt beim Senn beziehen.<br />
Preis: Pauschale exkl. Kurtaxen Fr. 70.–/Nacht, ab 3 Nächten<br />
Fr. 60.00/Nacht. Die Miete ist jeweils gültig von und bis 11 Uhr<br />
morgens. Offen: bis Mitte September. Anreise ist mit dem Auto<br />
sowie mit einer schönen Wanderung möglich.<br />
www.flumserberg.ch > Unterkunft > Ferien auf dem Bauernhof<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>79
Service<br />
Vielen Dank<br />
an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />
Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsor<br />
Dr. iur. Ellen Ringier<br />
Walter Haefner Stiftung<br />
Credit Suisse AG<br />
Rozalia Stiftung<br />
UBS AG<br />
Jacobs Foundation<br />
Impressum<br />
17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />
Herausgeber<br />
Stiftung Elternsein,<br />
Seehofstrasse 6, 80<strong>08</strong> Zürich<br />
www.elternsein.ch<br />
Präsidentin des Stiftungsrates:<br />
Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />
Tel. 044 400 33 11<br />
(Stiftung Elternsein)<br />
Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />
ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 01 01<br />
Redaktion<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />
n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />
Verlag<br />
Fritz+Fränzi,<br />
Dufourstrasse 97, 80<strong>08</strong> Zürich,<br />
Tel. 044 277 72 62,<br />
info@fritzundfraenzi.ch,<br />
verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />
www.fritzundfraenzi.ch<br />
Business Development & Marketing<br />
Leiter: Tobias Winterberg,<br />
t.winterberg@fritzundfraenzi.ch<br />
Anzeigen<br />
Administration: Dominique Binder,<br />
d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />
Tel. 044 277 72 62<br />
Art Direction/Produktion<br />
Partner & Partner, Winterthur<br />
Bildredaktion<br />
13 Photo AG, Zürich<br />
Korrektorat<br />
Brunner Medien AG, Kriens<br />
Auflage<br />
(WEMF/SW-beglaubigt 2016)<br />
total verbreitet 101 725<br />
davon verkauft 18 572<br />
Preis<br />
Jahresabonnement Fr. 68.–<br />
Einzelausgabe Fr. 7.50<br />
iPad pro Ausgabe Fr. 3.–<br />
Abo-Service<br />
Galledia Verlag AG Berneck<br />
Tel. <strong>08</strong>00 814 813, Fax 058 344 92 54<br />
abo.fritzundfraenzi@galledia.ch<br />
Für Spenden<br />
Stiftung Elternsein, 80<strong>08</strong> Zürich<br />
Postkonto 87-447004-3<br />
IBAN: CH40 0900 0000 8744 7004 3<br />
Inhaltspartner<br />
Institut für Familienforschung und -beratung<br />
der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen<br />
und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und<br />
Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation /<br />
Elternnotruf / Pro Juventute / Interkantonale<br />
Hochschule für Heilpädagogik Zürich /<br />
Schweizerisches Institut für Kinder- und<br />
Jugendmedien<br />
Stiftungspartner<br />
Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule<br />
Zürich / Elternbildung CH / Marie-Meierhofer-<br />
Institut für das Kind / Schule und Elternhaus<br />
Schweiz / Schweizerischer Verband<br />
alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV /<br />
Kinderlobby Schweiz / kibesuisse Verband<br />
Kinderbetreuung Schweiz<br />
Publireportage<br />
FÜRSTLICHE ERLEBNISSE<br />
FÜR KLEIN UND GROSS<br />
Das Liechtensteiner Bergdorf Malbun liegt auf 1600 m ü. M. und<br />
ist von einer traumhaften, intakten Alpenlandschaft umgeben.<br />
Malbun ist die perfekte Familiendestination. So sieht das auch der<br />
Schweizer Tourismusverband, der die Ausrichtung der Angebote<br />
auf die Bedürfnisse von Kindern, Eltern und Grosseltern mit dem<br />
Gütesiegel «Family Destination» auszeichnete.<br />
Fürstliche Herbstferien<br />
Z. B. 2 Übernachtungen inkl. Halbpension bereits ab CHF 114.–<br />
pro Erwachsenem oder 7 Übernachtungen zum Preis von 5<br />
inkl. Halbpension, Museums- und Erlebnispass, geführten<br />
Wanderungen und vielem mehr ab CHF 625.– pro Erwachsenem.<br />
Alle Angebote finden Sie auf www.tourismus.li/familien<br />
Informationen und Buchung<br />
Liechtenstein Marketing, Äulestrasse 30, 9490 Vaduz,<br />
Tel. +423 239 63 63, info@liechtenstein.li, www.tourismus.li<br />
Entdecken und entspannen<br />
Damit die Ferien nicht nur für die<br />
Kinder zum Highlight werden, sind<br />
familienorientierte Aktivitäten in<br />
Malbun selbstverständlich. Das<br />
Kinderprogramm lässt auch die<br />
Eltern entspannen. Für gemeinsame<br />
Unternehmungen, die der ganzen<br />
Familie Spass machen, bietet der<br />
Museums- und Erlebnispass viele<br />
familienfreundliche Vergünstigungen<br />
an: Die Greifvögel der Falknerei Galina<br />
aus nächster Nähe bewundern,<br />
mit dem City Train den Hauptort<br />
Vaduz erkunden, die Freizeitanlage<br />
«Grossabünt» mit dem Piratenspielplatz<br />
erobern, Busse und Bergbahnen<br />
benutzen – dies sind nur einige<br />
der vielen Attraktionen.<br />
Auch die zahlreichen Themenwege<br />
lassen Kinderherzen höher schlagen.<br />
Ausgestattet mit dem Forscherrucksack,<br />
Lupe und viel Spass meistern<br />
die Kleinen auf dem Forscherweg<br />
Suchspiele, Steintisch-Memory und<br />
musikalische Aufgaben.
Buchtipps<br />
Hannas Väter<br />
versorgen<br />
das erkältete<br />
Zebra mit<br />
Hustensaft.<br />
Wie heiraten<br />
eigentlich<br />
Trockennasenaffen?<br />
Mama hat immer<br />
zu tun. Mutz hingegen<br />
lässt sich<br />
nicht beunruhigen. Gut, dass Matti<br />
sie beide hat. Ina Voigt und Jacky<br />
Gleich erzählen in Text und Bild konsequent<br />
aus der Perspektive des<br />
Kindergärtlers Matti.<br />
kwasi, 2015, Fr. 21.00, ab 5 Jahren<br />
Bilder: Moritz Verlag, ZVG<br />
Gleichgeschlechtliche Elternpaare kommen<br />
in immer mehr Kinder- und<br />
Jugendbüchern vor – und der Umgang<br />
damit ist oft dann besonders gelungen,<br />
wenn dies nicht zum grossen Thema wird.<br />
Homosensationelle Väter und Mütter<br />
Da steht eines Morgens<br />
doch einfach ein<br />
Zebra in Hannas<br />
Zimmer! Der unerwartete<br />
Gast heisst<br />
Bräuniger und isst nicht nur mit<br />
Vorliebe Nutellabrote, sondern kann<br />
auch sprechen, lesen und schreiben.<br />
Hanna nimmt ihn erst einmal mit in<br />
die Schule. Als der Direktor jedoch<br />
kurzerhand die Zoowärter bestellt,<br />
damit sie Bräuniger abholen, wird es<br />
brenzlig: Schaffen es Hanna und ihre<br />
Klassenkameraden, ihren gestreiften<br />
neuen Freund zu retten?<br />
Die Vor- und Selbstlesegeschichte<br />
von Markus Orths thematisiert<br />
das Anderssein am Beispiel des witzigen<br />
sprechenden Zebras, das definitiv<br />
nicht «normal» ist, wie der<br />
Schuldirektor immer wieder betont.<br />
Und: Das Buch flicht ganz nebenbei<br />
ein Motiv ein, das genau dies wieder<br />
aufnimmt. Denn Hanna hat zwei<br />
Väter, mit denen sie eben neu zugezogen<br />
ist. Doch die gleichgeschlechtliche<br />
Elternschaft ist nicht das be -<br />
herrschende Thema des Buches. Nur<br />
nebenbei erwähnt Hanna diese Tatsache<br />
im Gespräch mit Bräuniger:<br />
«Meine Papas sagen, nur bei frischer<br />
Luft kann man gut schlafen.» –<br />
«Deine Papas?» – «Ich hab zwei<br />
davon.» – «Was für’n Glück!» – «Ja.<br />
Find ich auch.» Um kurz darauf<br />
noch einmal darauf zurückzukommen:<br />
«Das heisst homosensationell.<br />
Also, wenn zwei Männer sich lieben.<br />
Oder zwei Frauen.» – «Und? Lieben<br />
sie sich?» – «Und wie!» – «Und<br />
dich?» – «Aber klar! […]» – «Dann<br />
bist du ganz schön verwöhnt, was?»<br />
Ganz ohne Fingerzeig und pädagogischen<br />
Übereifer zeigt «Das<br />
Zebra unterm Bett», dass es bei<br />
Freundschaft und Liebe nur auf das<br />
wirklich Wesentliche ankommt.<br />
Markus Orths:<br />
Das Zebra<br />
unterm Bett.<br />
Moritz, 2016,<br />
Fr. 14.90,<br />
ab 6 Jahren<br />
Väterland<br />
Christophe Léon<br />
malt ein düsteres<br />
Zukunftsszenario<br />
für ein rechtskonservatives<br />
Frankreich:<br />
Gabrielles<br />
Väter müssen eine rosa Raute tragen<br />
und dürfen sich in der Innenstadt<br />
nicht mehr blicken lassen. Ein Buch<br />
als Grundlage für Gespräche, nicht<br />
nur in der Schule.<br />
Mixtvision, <strong>2017</strong>, Fr. 14.90,<br />
ab 12 Jahren<br />
Dass ich ich bin,<br />
ist genauso<br />
verrückt wie die<br />
Tatsache, dass du<br />
du bist<br />
In der Küche er <br />
fährt Darren von<br />
seinem Vater, dass dieser schwul sei.<br />
Damit kann Darren gar nicht<br />
umgehen. Die Listenform dieses<br />
mitreissenden Jugendromans macht<br />
Darrens Versuch, seine Welt wieder<br />
zu ordnen, greifbar.<br />
Beltz & Gelberg, 2016, Fr. 27.90,<br />
ab 14 Jahren<br />
Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />
Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />
Instituts für Kinder- und<br />
Jugendmedien SIKJM.<br />
Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind<br />
weitere B uch empfehlungen zu finden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
August <strong>2017</strong>81
Eine Frage – drei Meinungen<br />
Dass Geschwister auch mal streiten, ist normal. Unsere beiden Töchter,<br />
12 und 9, liegen sich aber ständig in den Haaren. Da wir in einer<br />
3-Zimmer-Wohnung leben, müssen sie sich ein Zimmer teilen, was<br />
insbesondere der Grossen überhaupt nicht passt. Was können wir tun?<br />
Reto, 41, und Katja, 38, Zürich<br />
Nicole Althaus<br />
Zoff im Kinderzimmer nervt,<br />
aber er ist gut für die Persönlichkeitsentwicklung.<br />
Kinder<br />
lernen im Streit, wie man<br />
Konflikte löst und Kompromisse<br />
findet. Auch die Tatsache,<br />
dass die beiden Streithähne<br />
sich ein Zimmer teilen,<br />
muss Sie nicht sorgen. Das<br />
haben Generationen von Kindern vor Ihnen auch überlebt.<br />
Das Bedürfnis nach Privatsphäre verstärkt sich<br />
allerdings in der Pubertät. Um das zu befriedigen,<br />
genügt schon eine kleine Ecke, die Sie Ihrer älteren<br />
Tochter etwa im Elternschlafzimmer einrichten. Der<br />
Streit wird nicht verschwinden, aber weniger werden.<br />
Tonia von Gunten<br />
Streit gehört bei den meisten<br />
Geschwistern dazu. Die Kinder<br />
haben sich schliesslich<br />
nicht ausgesucht. Entweder<br />
richten Sie Ihren Fokus auf<br />
die schöneren Momente in<br />
der Familie. Oder Sie bitten<br />
Ihre Kinder um Unterstützung:<br />
«Ihr müsst euch ein<br />
Zimmer teilen, das lässt sich leider nicht ändern. Ihr<br />
streitet so oft, und wir wissen echt nicht mehr weiter!<br />
Gerne hätten wir es bei uns wieder lustiger. Bitte helft<br />
uns: Was können wir tun?» Vielleicht kommen dabei<br />
umsetzbare Vorschläge zusammen, die zu einem besseren<br />
Klima in Ihrer Familie führen.<br />
Peter Schneider<br />
In eine grössere Wohnung<br />
ziehen? Ich fürchte allerdings,<br />
dass Sie auch schon auf diesen<br />
Gedanken gekommen<br />
sind und derselbe aus finanziellen<br />
oder sonstigen Gründen<br />
nicht ohne Weiteres<br />
durchführbar ist. Was wiederum<br />
bedeutet, dass Sie beiden<br />
Töchtern (insbesondere der grossen) ehrlich erklären,<br />
dass Sie die Wohnsituation auch schwierig finden, aber<br />
leider (im Moment) nichts daran ändern können. Und<br />
Sie nur dringend darum bitten können, sich einfach<br />
mal zusammenzureissen. Und dass dies nicht nur eine<br />
Bitte, sondern fast schon ein Befehl sei. Und wahrscheinlich<br />
werden Sie das mehr als nur einmal in der<br />
Woche sagen müssen.<br />
Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin<br />
und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am<br />
Sonntag». Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir<br />
eltern» und hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.<br />
ch» initiiert und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter<br />
von zwei Kindern, 16 und 12.<br />
Tonia von Gunten, 44, ist Elterncoach, Pädagogin<br />
und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />
Programm, das frische Energie in die Familien<br />
bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />
stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />
und Mutter von zwei Kindern, 11 und 8.<br />
Peter Schneider, 59, ist praktizierender<br />
Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />
andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />
für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />
ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />
der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />
erwachsenen Sohnes.<br />
Haben Sie auch eine Frage?<br />
Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO<br />
82 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Pausen-Hit!
Bett<br />
Karo Fichte massiv,<br />
natur, gewachst<br />
Liegefläche 160 x 200 cm 699.-<br />
Liegefläche 180 x 200 cm 749.-<br />
Tisch<br />
Otto Eiche massiv,<br />
geölt<br />
180 x 90 cm 398.-<br />
220 x 100 cm 499.-<br />
398.-<br />
699.-<br />
89.-<br />
Nachttisch<br />
Karo 45 x 40 x 35 cm<br />
MASSIVHOLZ<br />
BOIS MASSIF<br />
Auch online<br />
erhältlich.<br />
ottos.ch<br />
Auch online<br />
erhältlich.<br />
ottos.ch<br />
Stuhl<br />
Lugano Eiche massiv,<br />
geölt, Kunstleder schwarz<br />
MASSIVHOLZ<br />
BOIS MASSIF<br />
99.-<br />
Neuheit<br />
mit<br />
fonction Relaxfunktion<br />
relax<br />
Salontisch<br />
Eiche massiv, geölt<br />
Tokai II<br />
Höhe 42 cm,<br />
Ø 60 cm<br />
Polstergarnitur<br />
Nürnberg Stoff, Fuss Holz Buche massiv,<br />
275/226 x 74-92 x 98 cm<br />
Wohnraummöbel<br />
Country Dekor Balkeneiche, ohne Beleuchtung<br />
1998.-<br />
GROSSE TYPENAUSWAHL<br />
Grosse<br />
Farbauswahl<br />
TV-Möbel<br />
Vaste<br />
2-türig, Belastbarkeit bis 30 kg,<br />
de coloris<br />
choix<br />
139 x 57 x 50 cm<br />
Auch online<br />
erhältlich.<br />
Grosse<br />
Farbauswahl<br />
ottos.ch<br />
Vasta scelta<br />
di colori<br />
79.-<br />
99.-<br />
MASSIVHOLZ<br />
BOIS MASSIF<br />
Auch online<br />
erhältlich.<br />
Tokai ottos.ch I<br />
Höhe 35 cm, Ø 50 cm<br />
Stauraumelement<br />
2-türig,<br />
74 x 141 x 42 cm<br />
Auch online<br />
erhältlich.<br />
ottos.ch<br />
239.-<br />
239.-<br />
369.-<br />
Stauraumelement<br />
1-türig, 2 Schubladen, 107 x 141 x 42 cm<br />
Salontisch<br />
110 x 38 x 70 cm<br />
159.-<br />
Auch online<br />
erhältlich.<br />
ottos.ch<br />
o<br />
Riesenauswahl. Immer. Günstig.<br />
ottos.ch