08/2017

Fritz + Fränzi Fritz + Fränzi

11.08.2017 Aufrufe

Fr. 7.50 8/August 2017 Fabian Grolimund «Das Kinderzimmer ist ein denkbar schlechter Ort zum Lernen» Mariam Tazi-Preve «Das heutige Mutterbild treibt die Frauen in die Erschöpfung» Leben in einer eigenen Welt Autismus

Fr. 7.50 8/August <strong>2017</strong><br />

Fabian Grolimund<br />

«Das Kinderzimmer ist<br />

ein denkbar schlechter<br />

Ort zum Lernen»<br />

Mariam Tazi-Preve<br />

«Das heutige Mutterbild<br />

treibt die Frauen<br />

in die Erschöpfung»<br />

Leben in einer eigenen Welt<br />

Autismus


Graubünden Vollmilch,<br />

Engadin<br />

Als Bergbewohner grasen die<br />

Kühe hier oft am Hang.<br />

Und wie man vom Wein weiss,<br />

haben Hanglagen ein<br />

besonders gutes Aroma.<br />

Bio Regio Ostschweiz<br />

Vollmilch, Bischofszell<br />

Frische Kräuter und Gras,<br />

duftiges Heu – Milch<br />

mit der Bio-Knospe stammt<br />

von Kühen, die man als<br />

Gourmets bezeichnen darf.<br />

Bio Regio Vollmilch, Schlatthof<br />

Diese Milch wird direkt<br />

nach dem Melken abgefüllt und<br />

nicht standardisiert. Kenner<br />

behaupten, sie könnten die einzelne<br />

Kuh rausschmecken.<br />

Valait lait entier de<br />

montagne, Sierre<br />

Die Walliser gelten als selbstkritisch.<br />

Der Vorteil dieser<br />

Einstellung: eine Bergmilch,<br />

an der es wirklich nichts<br />

zu kritisieren gibt.<br />

Davoser Vollmilch<br />

Die Davoser Milchkühe werden<br />

auf den Alpen gesömmert. Wo<br />

andere Sommerbesucher Ferien<br />

machen, sind sie bei der Arbeit.<br />

Diemtigtaler Alpmilch<br />

Mit dieser zertifizierten<br />

Alpmilch aus dem Naturpark<br />

Diemtigtal geniesst man<br />

die Natur gern in vollen Zügen.<br />

Bio Regio Napf<br />

Vollmilch, Hergiswil<br />

Beruhigend, sanft und<br />

100% Natur. Diese Milch steht<br />

ihrer Region in nichts nach.<br />

Bio Regio Nordwestschweiz<br />

Vollmilch, Frenkendorf<br />

Diese Milch aus dem Baselbiet ist<br />

der feinste Weg, die etwas<br />

harten Basler Leckerli gleich noch<br />

geniessbarer zu machen.


Editorial<br />

Bild: Geri Born<br />

Nik Niethammer<br />

Chefredaktor<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

Auf den ersten Blick sieht der Bub auf unserem Cover ganz gewöhnlich aus.<br />

Blaues Hemd, Hosenträger und Crocks, wacher Blick, interessiert an Technik.<br />

Spätestens aber wenn der Junge am Boden liegt und schreit, weil sein Verständnis<br />

von Ordnung durcheinandergerät, wird klar: Emilio ist anders. Emilio ist Autist,<br />

er leidet an einer Entwicklungsstörung, die seine sozialen Kommunikationsfähigkeiten<br />

stark einschränkt.<br />

Unsere Autorin Sarah King erzählt die Geschichte von Emilio und seiner<br />

Erkrankung auf wunderbar einfühlsame Weise. Sie erklärt uns, warum der Bub<br />

mehrmals am Tag in die Waschküche huscht und das Drehen der Trommeln<br />

beobachtet. Sie zeigt auf, wie sehr Eltern von autistischen Kindern an ihre Grenzen<br />

stossen. Und wie sie entlastet werden können. Schliesslich nimmt uns Sarah<br />

King mit nach Tel Aviv ins weltweit führende Autismuszentrum «Mifne».<br />

Leben mit Autismus – ab Seite 10.<br />

«Man muss die Erfolge<br />

zählen, die man im Leben<br />

erzielt hat. Und dann die<br />

Träume, die man noch hat.<br />

Wenn man mehr Träume als<br />

Erfolge hat, ist man jung.»<br />

Schimon Peres, israelischer Politiker und<br />

Friedensnobelpreisträger (1923–2016)<br />

Wussten Sie, dass etwa fünf Prozent aller Kinder im Vorschulalter eine Phase des<br />

unflüssigen Sprechens durchlaufen und die Sprechprobleme etwa bei einem Prozent<br />

aller Menschen über die Pubertät hinaus bestehen bleiben? Die Autorin<br />

Vivian Pasquet gehört zu dieser Minderheit. Sie kämpft seit<br />

ihrem fünften Lebensjahr gegen den drohenden Bruch in<br />

ihrem Redefluss. Bei uns erzählt sie ihre Geschichte. Und<br />

wie sie gelernt hat, mit ihrem Handicap umzugehen.<br />

Mein Stottern und ich – ab Seite 58.<br />

Unser April-Dossier «Hausaufgaben – sinnvoll oder ungerecht?»<br />

hat für viel Gesprächsstoff gesorgt. Befürworter und<br />

Gegner haben sich auf diversen Kanälen gleichermassen pointiert<br />

und engagiert zu Wort gemeldet. Nun möchten wir die<br />

Diskussion weiterführen. Bei einer Podiumsveranstaltung<br />

in Zürich. Mit diesen hochkarätigen Gästen:<br />

• Urs Moser, Leiter des Instituts für Bildungsforschung, Zürich<br />

• Samuel Zingg, Seklehrer, Mitglied der LCH-Geschäftsleitung, Glarus<br />

• Gabriel Romano, Dozent an der Pädagogischen Hochschule, Bern<br />

• Claudia Landolt, leitende Autorin F+F, Mutter von vier Buben, Aarau<br />

Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind zu dieser Veranstaltung herzlich eingeladen.<br />

Wo: Kulturpark, Hamasil-Stiftung, Pfingstweidstrasse 16, 8005 Zürich<br />

Wann: Montag, 18. September <strong>2017</strong>, Einlass 17.30 Uhr, Diskussion 18 bis 19 Uhr,<br />

anschl. Apéro. Die Teilnehmerzahl ist beschränkt.<br />

Informationen/Anmeldung unter: www.fritzundfraenzi.ch/veranstaltung<br />

Ich freue mich auf Sie!<br />

Herzlichst – Ihr Nik Niethammer<br />

850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org


Inhalt<br />

Ausgabe 8 / August <strong>2017</strong><br />

Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />

fritzundfraenzi.ch und<br />

facebook.com/fritzundfraenzi.<br />

Psychologie & Gesellschaft<br />

38 Gespensterstunde<br />

Viele Kinder plagt in der Nacht die<br />

Angst vor Monstern und Gespenstern.<br />

Wie Eltern ihnen diese nehmen können.<br />

Augmented Reality<br />

Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert<br />

erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und<br />

Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />

10<br />

Dossier: Autismus<br />

10 Das andere Kind<br />

Jedes hundertste Kind in der Schweiz<br />

ist von Autismus betroffen. Was heisst<br />

das für den Familienalltag?<br />

Eine Annäherung.<br />

Bild: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />

28 «Ich wurde als Kind angespuckt»<br />

Matthias Huber hilft Autisten. Er ist<br />

Psychologe und hat selber das<br />

Asperger-Syndrom. Wie geht das?<br />

30 So wichtig sind die Eltern<br />

Der Mifne-Ansatz setzt auf eine<br />

spezielle Frühförderung von autistischen<br />

Kindern. Ein Besuch im weltweit<br />

führenden Autismuszentrum in Tel Aviv.<br />

Cover<br />

Emilio, 9, hat Autismus.<br />

Er geht jeden Tag in die<br />

Waschküche, schaut<br />

zu, wie die Trommeln<br />

sich drehen. Das Ritual<br />

beruhigt ihn.<br />

Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo, Martin Mischkulnig / 13 Photo, iStockphoto, Olaf Blecker<br />

4


32<br />

42<br />

58<br />

Mariam Irene Tazi-Preve, warum sollten<br />

Mütter besser auf sich achten?<br />

Ohne Musik lernt es sich doch besser! Oder<br />

etwa nicht?<br />

Autorin Vivian Pasquet hat sich im Moment<br />

ihres Stotterns fotografieren lassen.<br />

Erziehung & Schule<br />

42 Lernmythen<br />

Gerade sitzen, keine Ablenkung<br />

und bloss nicht zu später Stunde –<br />

welche Vorstellungen rund ums<br />

Lernen stimmen?<br />

46 Die Sache mit den Fehlern<br />

Was Kindern mit Lese- und<br />

Rechtschreibschwäche hilft.<br />

50 Mehrsprachige Erziehung<br />

Als Kind mit mehreren Sprachen<br />

aufzuwachsen, ist eine Chance – wenn<br />

die Eltern einige Regeln befolgen.<br />

54 «Was ich mir wünsche»<br />

Die Lehrperson Marion Heidelberger<br />

übernimmt nach den Ferien eine<br />

1. Klasse – und richtet sich in einem<br />

offenen Brief an die Eltern.<br />

58 Mein Stottern und ich<br />

Die Autorin Vivian Pasquet kämpft seit<br />

ihrem 5. Lebensjahr mit den Worten –<br />

ihre bewegende Geschichte.<br />

Ernährung & Gesundheit<br />

68 Winkelfehlsichtigkeit<br />

Verstecktes Schielen ist nicht<br />

krankhaft – je nach Fall sollten Ärzte<br />

die Betroffenen aber doch behandeln.<br />

Digital & Medial<br />

72 Das überwachte Kind<br />

Es gibt viele technische<br />

Möglichkeiten, den Medienkonsum<br />

des eigenen Kindes im Blick zu haben.<br />

76 «Kind, ärgere dich nicht!»<br />

Verlieren will gelernt sein.<br />

Eine Anleitung.<br />

Rubriken<br />

03 Editorial<br />

06 Entdecken<br />

32 Monatsinterview<br />

Das Ideal von der Kleinfamilie treibt<br />

Mütter in die völlige Erschöpfung, sagt<br />

die Politikwissenschaftlerin Mariam<br />

Irene Tazi-Preve.<br />

40 Jesper Juul<br />

Eine Mutter versteht nicht, warum ihr<br />

neunjähriger Sohn in letzter Zeit<br />

so wenig kooperiert – und bittet den<br />

Familientherapeuten um Rat.<br />

48 Fabian Grolimund<br />

Was sollen Eltern tun, wenn sich<br />

ihr Kind ständig vergleicht?<br />

56 Stiftung Elternsein<br />

Ellen Ringier über die Frage, wie<br />

weit sich der Staat in die<br />

Ernährungsgewohnheiten mündiger<br />

Bürger einmischen darf.<br />

57 Leserbriefe<br />

67 Mikael Krogerus<br />

Über eine wichtige Frage seiner<br />

Tochter: «Was mache ich, wenn ich<br />

traurig bin?»<br />

82 Eine Frage – drei Meinungen<br />

Was tun, wenn Geschwister ständig<br />

streiten?<br />

Service<br />

39 Abo<br />

74 Verlosung<br />

78 Unser Wochenende im …<br />

… «Heidiland»<br />

80 Sponsoren/Impressum<br />

81 Buchtipps<br />

Die nächste Ausgabe erscheint<br />

am 12. September <strong>2017</strong>.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>5


Entdecken<br />

Kirchenmann<br />

und Comic-Held<br />

3 FRAGEN<br />

an Caroline Morel, Geschäftsleiterin von Swissaid<br />

«Kinder sind sehr engagiert»<br />

Seit beinahe 70 Jahren gehen jedes Jahr rund 25 000 Schulkinder<br />

schweizweit auf die Strasse und von Haus zu Haus, um für das Non-<br />

Profit-Hilfswerk Swissaid handgemachte Holzfiguren, Döschen und andere<br />

Alltagshelfer zu verkaufen. Der Erlös geht an Not leidende Familien im<br />

Süden. Geschäftsleiterin Caroline Morel über eine bewährte Tradition.<br />

Kennen Sie Ulrich Zwingli?<br />

Den Mann mit den grossen<br />

Ideen, der mit seinen wortstarken<br />

Predigten die Kirche veränderte<br />

und spaltete? Von ihm<br />

erzählt der Comic «Zwingli –<br />

Ein Glaube versetzt Berge», der<br />

junge Leser in die Zeit der<br />

Reformation führt. 36 Comic-<br />

Seiten mit starken Bildern und<br />

vielen Infokästen. Ein Lesespass<br />

für die ganze Familie.<br />

«Zwingli – Ein<br />

Glaube versetzt<br />

Berge», Fr. 5.80<br />

Zu bestellen auf<br />

www.tut.ch<br />

Vor 100 Jahren litt nur etwa 1 Prozent<br />

der Bevölkerung an einer Pollenallergie, heute<br />

sind es 15 bis 20 Prozent.<br />

(Quelle: Mirgos-Magazin)<br />

Interview: Evelin Hartmann<br />

Caroline Morel, vor 70 Jahren war es noch üblicher als heute, über<br />

einen Bauchladen Geld zu verdienen, oder?<br />

Das ist richtig. Uns ging es aber schon immer darum, über das Spendensammeln<br />

hinaus Aufklärungsarbeit an Schulen zu leisten. So erhalten<br />

Lehrer Unterrichtsmaterial über Entwicklungshilfe im Allgemeinen und<br />

unsere Arbeit im Speziellen – und die Schüler eine Möglichkeit, selbst<br />

einen Beitrag zu leisten gegen die Ungerechtigkeiten auf der Welt.<br />

Wie wird die Aktion von Lehrpersonen und Schülern aufgenommen?<br />

Sehr gut. Das Prinzip ist einfach. Die Abzeichen können bei uns bestellt<br />

und nicht verkaufte Exemplare einfach zurückgeschickt werden. Kinder<br />

zwischen 10 und 15 Jahre, unsere Zielgruppe bei dieser Aktion, sind sehr<br />

engagiert und wollen sich für eine gerechtere Welt einsetzen.<br />

Gibt es Pläne, das «Vertriebssystem» zu modernisieren?<br />

Einen Abzeichenverkauf übers Internet? Auf keinen Fall! Dafür bekommen<br />

wir zu viele positive Rückmeldungen. Für unseren Jubiläumsverkauf haben<br />

wir die schönsten Abzeichen der letzten Jahre zusammengestellt.<br />

www.swissaid.ch/de/abzeichen<br />

Der Hase wird gemobbt<br />

Der kleine Hase geht nicht mehr in die Schule, zu viel Angst hat er<br />

vor seinen Klassenkameraden, die ihn schikanieren. Zum Glück<br />

weiss der Lehrer, Herr Dachs, Rat. Wie kann eine Klasse für das<br />

Thema Mobbing sensibilisiert werden? Und wie können Regeln in<br />

einer Klasse eingeführt werden, damit die Schülerinnen und Schüler<br />

diese eher einhalten? Diesen und weiteren Fragen gehen die<br />

Psychologen Fabian Grolimund, Stefanie Rietzler und Nora Völker<br />

in der Kurzfilmserie «Gemeinsam<br />

sind wir Klasse» auf den<br />

Grund. Auch die Episode<br />

«Mobbing in der Schulklasse<br />

auflösen» richtet sich direkt an<br />

Kinder und soll Lehrpersonen<br />

unterstützen.<br />

www.mit-kindern-lernen.ch<br />

Starten Sie<br />

die aktuelle<br />

Fritz+Fränzi-App,<br />

scannen Sie diese Seite<br />

und erleben Sie, wie<br />

Herr Dachs dem kleinen<br />

Hasen hilft.<br />

Bilder:ZVG<br />

6 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Publireportage<br />

Milchprodukte sind gesunde und hochwertige Grundnahrungsmittel.<br />

Laktoseintoleranz<br />

Geniessen statt vermeiden<br />

Probleme mit der Milch? Dann ist es wahrscheinlich eine Milchzuckerunverträglichkeit.<br />

Auf Milchprodukte zu verzichten, ist dennoch nicht<br />

nötig. Die Palette an gut verträglichen Milchprodukten ist gross.<br />

Wer eine Laktoseintoleranz hat, kann den<br />

Milchzucker nicht genügend gut abbauen. Die<br />

Folge sind unangenehme Beschwerden. Zum<br />

Glück gibt es schmackhafte und individuell gut<br />

durchführbare Lösungen.<br />

Alltagstauglich<br />

Wer laktosehaltige Milchprodukte nicht verträgt,<br />

kann sie ganz einfach durch die laktosefreie<br />

Variante ersetzen: Milch, Jogurt, Quark<br />

und Hüttenkäse gibt es auch laktosefrei. Hart-,<br />

Halbhart- und Weichkäse sind von Natur aus<br />

laktosefrei und verursachen somit keine Verdauungsbeschwerden.<br />

Butter enthält kaum<br />

Milchzucker, und weil sie nur in geringen Mengen<br />

konsumiert wird, ist sie ebenfalls gut verträglich.<br />

Nicht so einfach ist es mit verarbeiteten<br />

Produkten, denen oft Milchzucker zugesetzt<br />

ist. Wie viel es ist, steht meist nicht auf der<br />

Zutatenliste. Hier hilft nur ausprobieren oder<br />

verzichten.<br />

Milchzucker ist besser verträglich, wenn er<br />

über den Tag verteilt und zusammen mit einer<br />

Mahlzeit konsumiert wird. Denn kleine Mengen<br />

Milchzucker aufs Mal und «eingepackt» in<br />

einer Mahlzeit, strömen langsam in den Verdauungstrakt.<br />

Das gibt dem Darm ausreichend<br />

Zeit, das Verdauungsenzym Laktase zu bilden.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Zu wenig Laktase, zu viel Laktose<br />

Babys starten ins Leben mit einer guten Produktion<br />

des milchzuckerspaltenden Enzyms<br />

Laktase. Das ist notwendig, denn sonst würden<br />

sie die Muttermilch nicht vertragen. Doch im<br />

Laufe des Lebens produziert der Körper weniger<br />

Laktase. Er kann dann auf zu viel Milchzucker<br />

überempfindlich reagieren. Dies zeigt sich in<br />

Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall.<br />

Eine Laktoseintoleranz kann aber auch als<br />

«Nebenerscheinung» eines Darmleidens auftreten<br />

und vergeht wieder, sobald dieses abgeklungen<br />

ist.<br />

!<br />

Hier gibt es Hilfe<br />

Ohne gesundheitliche Gründe auf Milch<br />

zu verzichten, kann dazu führen, dass man<br />

zu wenige Nährstoffe aufnimmt. Insbesondere<br />

Eiweiss, Kalzium, Fettsäuren, Jod<br />

sowie die Vitamine A, B und E sind kritisch.<br />

Wer glaubt, an einer Laktoseintoleranz<br />

zu leiden, lässt dies am besten von einer<br />

spezialisierten Fachperson abklären.<br />

Informationen und Beratung:<br />

aha! Allergiezentrum Schweiz<br />

www.aha.ch oder 031 359 90 50<br />

Mehr erfahren?<br />

Weitere Informationen<br />

und Tipps bei Laktoseintoleranz<br />

unter<br />

www.swissmilk.ch/<br />

unvertraeglichkeiten<br />

Milchprodukte gehören in<br />

die tägliche Ernährung, weil<br />

sie nährstoffreich sind und<br />

wesentlich zum ausgewogenen<br />

Essen beitragen. Drei<br />

Portionen sind genau richtig.<br />

Das vielfältige Angebot an<br />

laktosearmen Produkten<br />

bietet genügend Auswahl<br />

bei Milchzuckerunverträglichkeit.<br />

Käse ist von Natur<br />

aus laktosefrei.<br />

Milchprodukte sind eine<br />

genussvolle Bereicherung<br />

jeder Mahlzeit. Zusammen<br />

mit anderen Lebensmitteln<br />

ist der Milchzucker besser<br />

verdaulich.<br />

August <strong>2017</strong>7


Entdecken<br />

Was macht eigentlich<br />

ein Bauer?<br />

Ferien auf dem Bauernhof haben Ihre Kinder<br />

immer gemocht? Sehr gut, dann könnten<br />

sie in ihren nächsten Ferien bei der<br />

Hofarbeit mal kräftig mit anpacken. Der<br />

gemeinnützige Verein Agriviva vermittelt<br />

Jugendlichen ab 14 Jahren einen Aufenthalt<br />

bei Schweizer Bauernfamilien. Ziel ist es,<br />

die Entwicklung der Jugendlichen zu<br />

fördern sowie einen schonenden Umgang<br />

mit unseren natürlichen Ressourcen durch<br />

Erlebnisse rund um Boden, Pflanzen<br />

und Tiere zu vermitteln.<br />

www.agriviva.ch<br />

Von Prinzen und Piratinnen Mädchen mögen Rosa, Buben Blau.<br />

Buben sind laut, Mädchen können ganz schön zickig sein. Wirklich? Oder verhält es sich<br />

manchmal nicht auch genau andersherum? Spielt das Geschlecht überhaupt eine Rolle<br />

– und wenn ja, inwiefern? Diesen Fragen geht die Ausstellung «Mädchen oder Junge –<br />

spielt das eine Rolle?» in der Pestalozzi-Bibliothek Altstadt, Zürich, auf den Grund. In 15<br />

Schatztruhen können Besucher vom 1. September bis 21. Oktober ein Universum erkunden,<br />

in dem Mädchen und Buben mehr sind als Prinzessinnen und Piraten. Veranstalter<br />

ist die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich.<br />

Alle Infos auf www.stadt-zuerich.ch/gleichstellung > Weiterbildung & Veranstaltungen<br />

«Ich habe in meinem Berufsleben<br />

Tausende Kinder kennengelernt, die<br />

mir zugewiesen wurden, weil sie von<br />

der ‹Norm› abwichen. Das eigentliche<br />

Problem dieser Kinder war, dass<br />

sie, weil sie den Normvorstellungen<br />

nicht entsprachen, nicht ‹sie selbst›<br />

sein durften.»<br />

(Quelle: Remo Largo in einem Interview auf www.luzernerzeitung.ch)<br />

Remo Largo leitete 30 Jahre<br />

lang die Abteilung Wachstum<br />

und Entwicklung am Zürcher<br />

Kinderspital. Seine Werke wie<br />

«Babyjahre», «Kinderjahre»<br />

oder «Schülerjahre» sind<br />

Standardwerke und Longseller.<br />

Manege frei!<br />

Schöne Frauen, die auf<br />

Pferden durch die Manege<br />

reiten, Löwen, die durch<br />

brennende Reifen springen,<br />

und Seehunde, die einen Ball<br />

auf der Schnauze balancieren?<br />

Fehlanzeige. Auf die<br />

altbekannten Zirkusnummern<br />

wartet man bei einem<br />

Circus-Monti-Besuch vergebens, und sogar der Clown<br />

sieht hier ein bisschen anders aus. Dabei stolpert die<br />

tragisch-komische Figur auch in dieser Tournee durch<br />

das mit Weltklasseartisten besetzte Stück Dreambox.<br />

Ein zauberhafter Zirkusbesuch voller Magie, Jonglage<br />

und Artistik ist garantiert. Traumhaft schön!<br />

Alle Termine und Preise auf www.circus-monti.ch<br />

Bilder: ZVG, Tanja Demarmels / 13 Photo<br />

8 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


© UBS <strong>2017</strong>. Alle Rechte vorbehalten.<br />

Es geht um viel<br />

mehr als den Sieg.<br />

Grosse Emotionen am UBS Kids Cup erleben.<br />

ubs.com/kidscup


10 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Das andere Kind –<br />

leben mit Autismus<br />

Eine Störung für die einen, eine Wesensart für die anderen<br />

und eine Herausforderung für alle. Das ist Autismus.<br />

Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist davon betroffen.<br />

Was heisst das für das Kind? Was für seine Eltern?<br />

Und vor allem: Wer hilft?<br />

Text: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />

Der 9-jährige Emilio<br />

hat Autismus. Rituale<br />

bestimmen sein<br />

Leben. Mehrmals am<br />

Tag geht er in den<br />

Wäscheraum und<br />

beobachtet die<br />

drehenden Trommeln.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>11


Dossier<br />

12 <br />

August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Autisten nehmen die Welt<br />

anders wahr. Mit all ihren<br />

Sinnen sind sie stets auf<br />

Empfang, unfähig, unwichtige<br />

Reize auszublenden.<br />

ist in den letzten Jahrzehnten stark<br />

angestiegen. Erhielten sie in den<br />

70er-Jahren noch etwa 5 von 10 000<br />

Personen, so sind es heute gut 20<br />

Mal mehr. Verschiedene Ursachen<br />

werden für den Anstieg angenommen:<br />

bessere Diagnoseinstrumente,<br />

die Einführung der Diagnose Asperger-Syndrom<br />

in den 90ern und eine<br />

grössere Aufmerksamkeit vonseiten<br />

der Fachpersonen und Eltern zum<br />

Beispiel.<br />

Was ist denn nun Autismus? Und<br />

wie sieht der Alltag von autistischen<br />

Kindern und ihren Eltern aus?<br />

Bruna Rausa<br />

über Emilio:<br />

«Sind wir<br />

getrennt,<br />

vermisse ich<br />

ihn schon nach<br />

einer Stunde.»<br />

Ein Lama summt, den Ton<br />

langgezogen, ein G vielleicht,<br />

schön im Takt, bei<br />

jedem vierten Schritt.<br />

Nach einer Weile stimmt<br />

eine Quint höher eine leise Stimme<br />

ein: «I ghöre äs Glöggli, das lütet so<br />

nätt (…)». Die Stimme gehört dem<br />

9-jährigen Emilio. Er zeigt kein Interesse<br />

an den Tieren, die heute statt<br />

auf der Alp im Garten der Blindenschule<br />

Zollikofen ihre Runden drehen.<br />

Auch nicht am Lama an seiner<br />

Seite. Ohne es anzuschauen, geht er<br />

neben ihm her und singt. Das harmonische<br />

Duett erstaunt – vor allem<br />

Emilio, wie er jeden Ton und jedes<br />

Wort so präzise trifft. Derselbe Junge<br />

ist sonst still. Oder er wiederholt<br />

die immer selben drei, vier Wörter.<br />

Emilio ist Autist. Einer von bis zu<br />

80 000 in der Schweiz. Genaue Zahlen<br />

gibt es hierzulande nicht. Internationalen<br />

Schätzungen zufolge ist<br />

jedoch gegen 1 Prozent der Bevölkerung<br />

von Autismus betroffen, was<br />

auch für die Schweiz gilt, wie Ronnie<br />

Gundelfinger sagt. Er ist leitender<br />

Arzt an der Klinik für Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie und Psychotherapie<br />

Zürich. Die Anzahl Diagnosen<br />

Ein vielfältiges Spektrum<br />

Autismus ist vieles. Für manche eine<br />

Störung, für andere eine Wesensart,<br />

für wieder andere eine Zeiterscheinung.<br />

Medizinisch handelt es sich<br />

um eine vorwiegend genetisch verursachte<br />

Entwicklungsstörung, die<br />

mit einer Beeinträchtigung der<br />

sozia len Kommunikation und Interaktion<br />

einhergeht sowie mit wiederholenden<br />

Verhaltensmustern und<br />

restriktiven Interessen (siehe Box<br />

Seite 26).<br />

Autisten nehmen die Welt anders<br />

wahr als «Neurotypische» (Nichtautisten).<br />

Mit all ihren Sinnen sind sie<br />

auf Empfang – je nach Schweregrad<br />

unfähig, unwichtige Reize auszublenden<br />

und den Blick vom Detail<br />

auf das Ganze zu lenken. Das kann<br />

so grossen Stress verursachen, dass<br />

sie sich von der Aussenwelt abkapseln.<br />

Autismus kann sich so klischeehaft<br />

zeigen wie der Charakter im<br />

Film «Rain Man», der in ein paar<br />

Minuten ein ganzes Telefonbuch<br />

auswendig lernt. Oder er ist ein einzelnes<br />

Symptom, wie es der Psychiater<br />

Eugen Bleuler 1911 der Schizophrenie<br />

zugeschrieben hat: ein<br />

In-sich-gekehrt- und Von-der-Weltabgewandt-Sein.<br />

Selbst wenn wir von Bleulers Auffassung<br />

absehen und uns auf die<br />

kindliche Entwicklungsstörung be -<br />

schränken, wie sie ab 1943 von den<br />

Ärzten Leo Kanner (früh- >>><br />

13


Dossier<br />

>>> kindlicher Autismus) und<br />

Hans Asperger (Asperger-Syndrom)<br />

beschrieben wurde, füllt Autismus<br />

ein Spektrum mit so vielen Ausprägungen,<br />

wie es autistische Menschen<br />

gibt. Unter anderem deshalb setzt<br />

sich in der Schweiz der im angelsächsischen<br />

Klassifikationssystem<br />

DSM 5 eingeführte Begriff «Autismus-Spektrum-Störung»<br />

(ASS)<br />

zunehmend durch.<br />

Farbige Socken und<br />

Wasch maschinen<br />

Emilio bewegt sich am «schweren<br />

Ende» dieses Spektrums. Er hat<br />

einen frühkindlichen Autismus.<br />

Fremde sehen vorerst einen normalen<br />

9-Jährigen. Ein hübsches Kind<br />

mit hellbraunen Locken. Ein bisschen<br />

verträumt mutet es an, wenn<br />

Emilio über die Wiese spaziert und<br />

jedes Ästchen eingehend betrachtet.<br />

Pflichtbewusst wirkt er, wenn er den<br />

Weg zurückgeht, um ein offenstehendes<br />

Gartentor zu schliessen,<br />

frech, wenn er Fremde darauf hinweist,<br />

dass sie zwei verschiedenfarbige<br />

Socken tragen und darauf<br />

be harrt, dass sie dieses Versehen<br />

ändern. Spätestens wenn er am<br />

Boden liegt und schreit, weil sein<br />

Verständnis von Ordnung durcheinandergerät,<br />

wird klar: Emilio ist<br />

anders. Er hat eine tiefgreifende Verhaltens-<br />

und Wahrnehmungsstörung.<br />

Neben anderem sind sein<br />

Spracherwerb und seine Eigenmotivation<br />

eingeschränkt. Er braucht 24<br />

Stunden Betreuung. Nachts hält er<br />

seine Mutter Bruna Rausa wach, tags<br />

beschäftigt er mehrere Betreuungspersonen.<br />

Schon als Baby zeigte Emilio Auffälligkeiten,<br />

wie seine Mutter sagt:<br />

«Er versteifte sich, wenn ihn jemand<br />

in die Arme nahm, und blickte Menschen<br />

nicht ins Gesicht.» Das Blickverhalten<br />

ist eines der deutlichsten<br />

Zeichen der ASS. «Forschung mit<br />

autistischen Kindern hat gezeigt,<br />

dass sie auf einem Bildschirm geometrische<br />

Figuren oft interessanter<br />

finden als Menschen», sagt Autismusexperte<br />

Ronnie Gundelfinger.<br />

Emilio faszinierten zuerst die Räder<br />

des Kinderwagens. Heute sind es<br />

Waschmaschinen. Während andere<br />

Kinder auf den Pausenhof strömen,<br />

huscht er in den Wäscheraum und<br />

beobachtet die drehenden Trommeln.<br />

Manchmal wiederholt er dazu<br />

fast singend die immer gleichen<br />

Wörter, die er Minuten, Stunden<br />

oder Tage zuvor irgendwo aufgeschnappt<br />

hat: «Het mi öppe öpper<br />

gärn? Het mi öppe öpper gärn?»<br />

Asperger – die schweigende<br />

Mehrheit<br />

Nicht alle sind so schwer betroffen<br />

wie Emilio. Kinder mit dem Asperger-Syndrom<br />

sind vor allem im<br />

sprachlichen und kognitiven Bereich<br />

weniger eingeschränkt. Aber die<br />

sozialen Kommunikations- >>><br />

Der Weg in die Schule ist eine<br />

Herausforderung. Ein<br />

Cola-Deckelchen am Boden,<br />

ein offenes Gartentor – Emilio<br />

will sofort Ordnung schaffen.<br />

14


Dossier<br />

Emilio geht in die<br />

Blindenschule. Dort<br />

werden auch Autisten<br />

unterrichtet. Neben<br />

dem Einzelunterricht<br />

besucht er zur<br />

Förderung seiner<br />

sozialen Fähigkeiten<br />

die Oberstufenklasse.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August <strong>2017</strong>15


Dossier<br />

16 <br />

August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Emilio ist einer<br />

von rund 80 000<br />

Autisten in der<br />

Schweiz.<br />

Genaue Zahlen<br />

gibt es nicht.<br />

>>> probleme wiegen auch bei<br />

ihnen schwer, wie der Psychologe<br />

Matthias Huber weiss. Er hat selbst<br />

ein Asperger-Syndrom (siehe Seite<br />

28). Es brauche mehr Fachpersonen,<br />

die vermitteln und übersetzen.<br />

Übersetzen gehört zu Claudia<br />

Leupolds Alltag. Sie sitzt mit ihrem<br />

Mann und vier von sieben Kindern<br />

am Frühstückstisch. Die beiden<br />

Jüngsten – Quirin und Elea – plaudern<br />

über den bevorstehenden<br />

Schultag. Der 14-jährige Julian zieht<br />

sich wortlos in sein Zimmer zurück.<br />

«Besuch verändert die gewohnte<br />

Struktur. Das irritiert ihn», erklärt<br />

Claudia Leupold. Julian hat ein diagnostiziertes<br />

Asperger-Syndrom. So<br />

auch seine 12-jährige Schwester<br />

Mia. Sie streicht ihr Brot – >>><br />

Immer wieder erklären<br />

Der 9-jährige Emilio hat Autismus.<br />

Waschmaschinen, Pouletaufschnitt und stets<br />

dieselben Wege sind für ihn unverzichtbar. Wie<br />

der Alltag mit einem autistischen Kind aussieht,<br />

beschreibt Emilios Mutter Bruna Rausa.<br />

Aufgezeichnet: Sarah King<br />

Der Tag beginnt mit einem Kuss. Mal um 6 Uhr, mal mitten<br />

in der Nacht. Emilios Nächte sind kurz. Somit auch meine.<br />

Vor dem Frühstück folgt der Kontrollgang: Leuchten alle<br />

Lämpchen im Zimmer? Funktioniert der Kühlschrank? Das<br />

ist ein zeitaufwendiges Unterfangen.<br />

Auch das morgendliche Waschritual braucht viel Zeit.<br />

Alleine die Zahnpflege dauert je nach Stimmung 20 Minuten.<br />

Saubere Zähne sind wichtig, denn Emilio verweigert den<br />

Zahnarzt. Das Ankleiden geht nicht schneller. Hier zwitschert<br />

ein Vogel, da zieht eine Wolke vorbei. Manchmal wiederhole<br />

ich meine Anweisungen zehn Mal. Das erfordert eine Ruhepause,<br />

denn der Weg in die Schule ist die nächste Herausforderung:<br />

Ob ein Cola-Deckelchen am Boden oder zwei<br />

ungleiche Socken bei einem Passanten – Emilio will Ordnung<br />

schaffen. Ich mahne ihn jeweils: Egal, was du siehst, wir<br />

müssen weiter.<br />

Emilio besucht die Blindenschule. Sie unterrichtet auch<br />

Autisten. Neben dem Einzelunterricht besucht er zur Förderung<br />

seiner sozialen Fähigkeiten die Oberstufenklasse.<br />

Dort ist er das Nesthäkchen und wird umsorgt. Das Mittagessen<br />

nimmt er in der Schule mit anderen Kindern ein und<br />

einmal pro Woche übernachtet er in einer Wohngruppe. Er<br />

muss lernen, ohne mich zu sein. Ich bin trotzdem stets auf<br />

Abruf bereit, falls seine Stimmung umschlägt. Das kann von<br />

einer Minute auf die andere geschehen.<br />

Das Abendessen nehmen wir immer bei meinen Eltern<br />

ein, in der Regel früh, damit genug Zeit bleibt für den allabendlichen<br />

Einkauf. Darauf besteht Emilio. Zum Glück hat<br />

der Laden um die Ecke bis 20 Uhr geöffnet. Notfalls weichen<br />

wir auf Geschäfte im Bahnhof aus. Auf Emilios Einkaufsliste<br />

stehen gluten- und laktosefreie Produkte. Und Pouletaufschnitt.<br />

Egal, ob er Hunger hat oder nicht. Fällt der Einkauf<br />

aus, bereitet das Emilio seelischen Schmerz. Dann schreit er.<br />

Im Laden folgt Emilio den Linien am Boden. Immer in derselben<br />

Reihenfolge, begonnen bei der Milch. Die Probleme<br />

beginnen, sobald Kunden Waren ins falsche Regal zurückstellen.<br />

Er räumt es um und fordert von den Kunden denselben<br />

Ordnungssinn, manchmal vehement. Bei den Selbstbedienungskassen<br />

fasziniert ihn der technische Aufbau, und<br />

zwar von jeder einzelnen Kasse. Das gibt jeweils Ärger. Die<br />

Leute sehen ihm den Autismus nicht an. Da ist einfach ein<br />

frecher 9-jähriger Bub mit einer Mutter, die in der Erziehung<br />

versagt. Immer wieder muss ich erklären, warum Emilio so<br />

ist, wie er ist. Autismus kann undankbar sein.<br />

Von Emilios Vater lebe ich getrennt. Manchmal verbringt<br />

Emilio das Wochenende bei ihm. Ich schaffe das alles nur<br />

dank familiärer Hilfe. Oft wünsche ich mir aber mehr Unterstützung<br />

für die Familie. Alles in meinem Leben dreht sich<br />

nur noch um das Kind. Manchmal bin ich verzweifelt. Das<br />

Abklären und Organisieren hört nie auf und stellt mich immer<br />

wieder vor neue Herausforderungen. Ich kam ja nicht als<br />

Mutter eines Autisten zur Welt. Ich brauchte viel Zeit, bis ich<br />

Autismus als Lebenseinstellung akzeptierte.<br />

Das heisst eben auch, all die Rituale zu akzeptieren. Wenn<br />

wir abends nach Hause kommen, ist es das Waschmaschinenritual.<br />

Emilio prüft, ob die Lüftung funktioniert und der<br />

Tumbler gereinigt ist. Oft schaut er auch nur zu, wie die<br />

Waschtrommeln drehen. Hört er aus der Wohnung, dass sich<br />

in der Waschküche etwas regt, kann ich ihn manchmal nicht<br />

vor einem weiteren Kontrollgang abhalten. Seine Leidenschaft<br />

erfordert viel Verständnis von den Nachbarn.<br />

Mit dem Schlafritual endet der Tag. Hat er Angst, schläft er<br />

in meinem Bett. Ist seine Angst gross, legt er sich auf meinen<br />

Rücken. So verhindert er, dass ich plötzlich davongehe. Wie<br />

könnte ich nur? Er ist ein so liebes Kind. Sind wir getrennt,<br />

vermisse ich ihn schon nach einer Stunde.<br />

17


Claudia Leupold<br />

ist Mutter von<br />

sieben Kindern.<br />

Der 14-jährige<br />

Julian und seine<br />

12-jährige<br />

Schwester Mia<br />

(im Bild) leiden<br />

am Asperger-<br />

Syndrom.<br />

>>> scheinbar unbeteiligt, aber<br />

doch wachsam: Kommt die Rede<br />

auf das Drohnenfliegen, diskutiert<br />

sie mit.<br />

Die Leidenschaft für Technik<br />

und Computer teilt Mia mit ihrem<br />

Vater René Leupold. Er ist Softwarearchitekt<br />

und -entwickler. Wie er<br />

zwischen Würstchen und Rührei<br />

über digitale Transformation und<br />

Sensoren spricht, kommt der Ge ­<br />

danke auf, dass auch er ein Asperger<br />

ist. Naheliegend ist es, denn laut<br />

Ronnie Gundelfinger spielt die<br />

Genetik neben allfälligen Umwelteinflüssen<br />

während der Schwangerschaft<br />

die Hauptrolle beim Autismus.<br />

«Abklären liess ich mich<br />

nicht», sagt René Leupold, «aber<br />

wahrscheinlich ist es so.» Sei ne Frau<br />

zweifelt nicht daran: Gefühle könne<br />

er nicht gut ausdrücken. «Er ist die<br />

schweigende Mehrheit.»<br />

Auch Mia verbirgt ihre Gefühle<br />

hinter einem maskenhaften Gesicht.<br />

Claudia Leupold lernte sie zu lesen.<br />

«Geht es ihr nicht gut, rutscht sie<br />

langsam unter den Tisch». Als Mädchen<br />

gehört Mia zur Minderheit<br />

unter autistischen Kindern. «Buben<br />

sind anfälliger für Entwicklungsstörungen<br />

und deshalb häufiger von<br />

Autismus betroffen», sagt Ronnie<br />

Gundelfinger. «Bei Mädchen wird<br />

die Diagnose aber manchmal verpasst<br />

oder verspätet gestellt. Sie fallen<br />

weniger auf und versuchen sich<br />

mehr anzupassen.» Das trifft >>><br />

Bei Mädchen wird die<br />

Diagnose Autismus oft<br />

verpasst oder verspätet gestellt.<br />

Mädchen fallen weniger<br />

auf und versuchen<br />

sich eher anzupassen.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>19


Dossier


Dossier<br />

«Wie sollen Julian und Mia<br />

eine Lehrstelle finden?», fragt<br />

die Mutter. «Wir erkennen<br />

das Potenzial unserer<br />

Kinder. Aber sie können<br />

keine Noten vorweisen.»<br />

Starten Sie<br />

die aktuelle<br />

Fritz+Fränzi-App,<br />

scannen Sie diese Seite<br />

und lassen Sie sich<br />

Autismus anschaulich<br />

erklären.<br />

«Besuche<br />

verändern die<br />

gewohnte<br />

Struktur. Das<br />

irritiert Julian»,<br />

sagt seine<br />

Mutter.<br />

>>> auf Mia zu. Über Eigenheiten<br />

blickten die Eltern hinweg: So liess<br />

sich Mia nicht gerne frisieren oder<br />

sie bestand auf wenige, vertraute<br />

Kleidungsstücke. Selbst wenn sie<br />

abgetragen waren. Erst mit dem<br />

Klassenwechsel in die Mittelstufe<br />

wurden die Probleme deutlich:<br />

Zunehmend verweigerte Mia die<br />

Schule, bis sie 11-jährig gar nicht<br />

mehr hinging. Eine Abklärung<br />

bestätigte die Vermutung der Eltern.<br />

Ein Alltag voller Herausforderungen<br />

Für Claudia und René Leupold war<br />

es eine schwierige Zeit. Ihre Erziehungsmethoden<br />

wurden in Frage<br />

gestellt. Lehnten sie Therapien ab,<br />

galten sie als renitente Eltern. Neben<br />

Mobbing, Querelen und wachen<br />

Nächten gehörten runde Tische,<br />

langwierige Therapien und Finanzierungsfragen<br />

zum Familienalltag.<br />

Kanton und Gemeinden unterstützen<br />

zwar finanziell in pädagogischen<br />

Belangen und die IV in medizinischen<br />

– doch bis dahin braucht<br />

es einen langen Atem, wie Claudias<br />

Beispiel zeigt: Sie stellte für Julian<br />

und Mia ein Gesuch bei der IV um<br />

die Kostenübernahme der medizinischen<br />

Massnahmen. Wie von der<br />

IV gefordert konnte sie nachweisen,<br />

dass bis zum vollendeten fünften<br />

Lebensjahr vom Arzt dokumentierte<br />

Anzeichen einer ASS vorhanden<br />

waren. Die Gesuche wurden dennoch<br />

abgelehnt. Claudia erhob Einsprache.<br />

Mit Erfolg zwar, aber auf<br />

Kosten der eigenen Kräfte. «Wir<br />

haben nur noch funktioniert.» Auch<br />

heute funktioniert die Familie – oft<br />

im positiven Sinn. Über dem Tisch<br />

hängt ein detaillierter Tagesplan.<br />

«Die Kinder wissen genau, was auf<br />

sie zukommt», sagt Claudia.<br />

Braucht sie Unterstützung, wendet<br />

sie sich an die Beratungsstelle<br />

der Nathalie Stiftung in Gümligen<br />

BE. Sie war es auch, die Mia in<br />

Zusammenarbeit mit dem Kinderund<br />

Jugendpsychiatrischen Dienst<br />

Bern auf Autismus abklärte. Bald<br />

wird Claudia wieder froh sein um<br />

Beratung. Für Julian rückt das Thema<br />

Ausbildung näher. Davor hat<br />

Claudia wie viele andere Eltern Re -<br />

spekt. Zu wenige Ausbildner und<br />

Arbeitgeber wissen um die Fähigkeiten<br />

autistischer Menschen.<br />

Sie liegen nicht nur, aber oft im<br />

technischen Bereich. Das entgeht<br />

Informatikdienstleistern nicht. In<br />

Zürich und neu auch in Bern bietet<br />

die Stiftung Informatik für Autisten<br />

eine Ausbildung im IT-Bereich an.<br />

In Bern kümmert sich ausserdem<br />

die Stiftung Autismuslink um die<br />

berufliche Integration, so auch die<br />

Pädagogische Hochschule Bern mit<br />

ihrem Service für unterstützte<br />

Berufsbildung (SUB). Jugendliche<br />

und Erwachsene mit einer ASS<br />

erhalten zum Beispiel ein IV-vermitteltes<br />

Coaching. Trotzdem: «Betroffene<br />

und Angehörige fühlen sich zu<br />

wenig unterstützt. Das Angebot<br />

deckt den Bedarf nicht ab», weiss<br />

Fabienne Serna von der Beratungsstelle<br />

«autismus deutsche schweiz».<br />

Der Verein unterstützt und vernetzt<br />

Eltern von autistischen Kindern,<br />

Selbstbetroffene und Fachpersonen.<br />

«Es fehlt an autismusspezifi- >>><br />

Nützliche Links<br />

• autismus deutsche schweiz:<br />

www.autismus.ch<br />

Verein für Angehörige, Betroffene<br />

und Fachleute. Bietet u. a.<br />

Informationen und Unterstützung<br />

zu Diagnose- und Beratungsstellen,<br />

Therapie-, Schul- und<br />

Wohnmöglichkeiten sowie weiteren<br />

Massnahmen. (Als Pendant<br />

dazu: autisme suisse romande,<br />

www.autisme.ch und autismo<br />

svizzera italiana, www.autismo.ch)<br />

• Stiftung autismuslink:<br />

www.autismuslink.ch<br />

Ein Kompetenzzentrum zum<br />

Thema Autismus, das ein<br />

vielfältiges Leistungsangebot<br />

bietet und primär auf die<br />

berufliche Integration zielt.<br />

• Stiftung Informatik für<br />

Autisten:<br />

www.informatik-und-autismus.ch<br />

Bietet Autisten eine Ausbildung<br />

im Bereich IT. Standorte in<br />

Dietikon und Bern.<br />

• Autismus Forum Schweiz:<br />

autismusforumschweiz.ch<br />

In diesem Forum können sich<br />

Betroffene, Angehörige und<br />

Fachpersonen untereinander<br />

austauschen.<br />

• Amazing Things Happen:<br />

amazingthingshappen.tv<br />

Der Kurzfilm von Regisseur Alex<br />

Amelines hat das Ziel, Autismus<br />

einfach und anschaulich zu<br />

erklären, um die Öffentlichkeit für<br />

die Thematik zu<br />

sensibilisieren. Der Film wurde in<br />

mehrere Sprachen übersetzt.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>21


Dossier<br />

Für Kinder mit<br />

frühkindlichem Autismus<br />

braucht es mehr Plätze in<br />

autismusspezifischen<br />

Einrichtungen.<br />

Kinder mit Asperger-Syndrom<br />

dagegen profitieren von<br />

integrativer Beschulung.<br />

>>> schen Angeboten und Arbeitsplätzen.»<br />

Ein interessegeleiteter<br />

Schullehrplan<br />

Daran mag Claudia noch nicht denken.<br />

«Wie sollen Mia und Julian eine<br />

Lehrstelle finden? Wir erkennen das<br />

Potenzial unserer Kinder. Aber sie<br />

können keine Noten vorweisen.» Seit<br />

einem Jahr gehen sie nicht mehr zur<br />

Schule. Mia verlässt das Haus überhaupt<br />

nur noch in Begleitung der<br />

Eltern. Claudia unterrichtet ihre<br />

Kinder nun selbst. Zusätzlich kommt<br />

an zwei Vormittagen pro Woche die<br />

mobile Schule für je zwei Lektionen<br />

ins Haus.<br />

«Homeschooling» nennt sich das<br />

Angebot der Blindenschule Zollikofen.<br />

«Können Kinder trotz Lernbegleitung<br />

nicht mehr in die Regelschule<br />

integriert werden, setzt eine<br />

Heilpädagogin die schulische Arbeit<br />

im Elternhaus fort mit dem Ziel,<br />

Anschluss zu finden an ein Setting<br />

in einer Volks- oder Sonderschule»,<br />

erklärt Christian Niederhauser,<br />

Direktor der Stiftung für blinde und<br />

sehbehinderte Kinder und Jugendliche.<br />

Ab Sommer bietet die Blindenschule<br />

im Auftrag des Kantons<br />

zusätzlich eine Lernumgebung für<br />

sechs autistische, nicht blinde Kinder<br />

an: Sie arbeiten in Gruppen, um<br />

ihren Gemeinschaftssinn zu fördern.<br />

Gleichzeitig besteht die Möglichkeit,<br />

einzeln in einem separaten<br />

Raum mit den Kindern zu arbeiten.<br />

Neben der Blindenschule Zollikofen<br />

erarbeiten schweizweit zunehmend<br />

mehr Schulen autismusspezifische<br />

Angebote. Damit handeln sie<br />

bedarfsgerecht, wie Andreas Eckert,<br />

Professor an der Interkantonalen<br />

Hochschule für Heilpädagogik<br />

Zürich, in mehreren Studien nachweist.<br />

Für Kinder mit frühkindlichem<br />

Autismus brauche es mehr<br />

Plätze in autismusspezifischen Einrichtungen.<br />

Kinder mit dem Asperger-Syndrom<br />

hingegen würden von<br />

integrativer Beschulung profitieren.<br />

Ob Regel- oder Sonderschule –<br />

die schulische Arbeit mit autistischen<br />

Kindern stellt eine Herausforderung<br />

dar. «Lernen loszulassen»,<br />

empfiehlt Christian Niederhauser<br />

seinen Angestellten. «Die Kunst ist,<br />

dass sich die Lehrkraft nicht verpflichtet<br />

fühlt für ein Bildungsziel,<br />

das nicht realisierbar ist, sondern<br />

dort ansetzt, wo das Kind Interesse<br />

zeigt.»<br />

Psychotherapie statt<br />

Delfinschwimmen<br />

Ein Blick in Emilios Schulstube<br />

macht sein Interesse deutlich: Er liegt<br />

auf einem Sitzwürfel. «Sibe chugelrundi<br />

Söi, liged näbenand im Höi. Si<br />

tüend grunze, si tüend schmatze … »,<br />

erklingt ein Lied aus den Lautsprechern.<br />

Emilios Aufmerksamkeitsphasen<br />

seien kurz, sagt seine<br />

Lehrerin Melanie Radalewski. Die<br />

Psychologin unterrichtet Emilio vormittags<br />

im Einzelsetting. In den Liederpausen<br />

sammelt Emilio Energie<br />

für die nächste Lerneinheit. Heute<br />

ist er konzentriert: Auf Anweisung<br />

seiner Lehrerin schreibt er Buchstabe<br />

für Buchstabe das Wort Sonne<br />

an die Tafel. Diese Fähigkeit verdankt<br />

er auch einer intensiven Therapie:<br />

Drei mal drei Stunden Verhaltenstherapie<br />

erhält er in der<br />

Woche.<br />

Die geeignete Therapie zu finden,<br />

ist eine Herausforderung. Das >>><br />

Mia legt ihr<br />

Handy kaum aus<br />

der Hand. Die<br />

Welt der Technik<br />

gibt ihr<br />

Sicherheit.<br />

22


Dossier<br />

23


24 <br />

Dossier


Dossier<br />

>>> Angebot reicht von psychotherapeutischen<br />

Massnahmen über<br />

spezielle Diäten bis hin zu Delfintherapien<br />

oder Medikamenten.<br />

Vom Schwimmen mit Delfinen<br />

hält Ronnie Gundelfinger nichts.<br />

Auch das heilende Medikament gebe<br />

es nicht. «Medikamentös behandelt<br />

werden die Begleitsymptome.» So<br />

würden zum Beispiel viele autistische<br />

Kinder ADHS-Symptome aufweisen<br />

und von Ritalin profitieren.<br />

Für den Experten ist aber klar: «Die<br />

einzigen Ansätze, von denen man bis<br />

jetzt weiss, dass sie etwas bringen,<br />

sind spezifisch für Autismus entwickelte<br />

Therapieprogramme. Am besten<br />

untersucht sind verhaltenstherapeutische.<br />

Dabei spielen der frühe<br />

Beginn und die hohe Intensität der<br />

Behandlung eine entscheidende Rolle.»<br />

Einzelne Aspekte der autistischen<br />

Störung können durch Ergotherapie<br />

oder Logopädie behandelt<br />

werden. Daneben arbeiten in der<br />

Schweiz viele heilpädagogische<br />

Schulen mit der TEACCH-Methode<br />

(Treatment and Education for Autistic<br />

and related Communication handicapped<br />

Children). Intensivere<br />

Therapien stützen oft auf den verhaltenstherapeutischen<br />

Ansatz ABA<br />

(Applied Behavior Analysis).<br />

Letzteren kennt Emilio gut.<br />

Soeben sitzt er mit seiner ABA-Therapeutin<br />

Jessica Stauffacher über<br />

Aufgaben gebeugt, die seine sprach-<br />

Mia geht seit<br />

einem Jahr nicht<br />

mehr zur Schule.<br />

Ihre Mutter<br />

unterrichtet sie.<br />

lichen, kognitiven, motorischen und<br />

sozialen Fertigkeiten fördern. Der<br />

Raum ist abgedunkelt. Emilio ist<br />

sehr lichtempfindlich. «Wofür willst<br />

du arbeiten», fragt die Psychologin,<br />

«für einen Sirup oder für den Zottelbären?»<br />

Für seine gewünschte<br />

«Zoggubär»-Pause muss Emilio<br />

zuerst Kärtchen einer Bildergeschichte<br />

in die richtige Reihenfolge<br />

bringen. Danach setzt er sich aufs<br />

Sofa und sieht zu, wie der Bär durch<br />

den Raum segelt, um schliesslich auf<br />

seinem Bauch zu landen. Begeistert<br />

gibt sich Emilio dem Spiel hin. Dann<br />

steht die nächste Aufgabe an. Und<br />

die nächste Belohnung.<br />

Ein bisschen erinnert das Ganze<br />

an einen Dressurakt. «Das ist die<br />

häufigste Kritik», sagt Jessica Stauffacher.<br />

Emilio spreche jedoch gut<br />

auf diesen Ansatz an. «Er bleibt länger<br />

sitzen als früher, löst manche<br />

Aufgaben leichter und zeigt ausserdem<br />

kaum mehr aggressive Verhaltensweisen.»<br />

Je früher, desto besser<br />

Emilio begann seine Therapie mit<br />

vier Jahren. Der Trend heute ist ein<br />

anderer: Studien weisen auf den Nutzen<br />

eines möglichst frühen Therapiebeginns<br />

hin. In der Schweiz<br />

existieren sechs Frühinterventionszentren<br />

– zum Beispiel das FIAS<br />

in Basel, das 2010 aus dem israelischen<br />

Mifne-Ansatz hervor- >>><br />

Mia verbirgt ihre<br />

Gefühle hinter einem<br />

maskenhaften Gesicht.<br />

Geht es ihr nicht gut,<br />

rutscht sie langsam unter<br />

den Tisch.<br />

Buch und Film<br />

• Louis. Brot. Von Res Brandenberger (2014).<br />

Landverlag, Langnau. Roman über Louis,<br />

einen autistischen Jungen, der sich von<br />

seinem Heimatdorf Trubschachen aus auf<br />

eine lange Reise in eine neue Welt begibt.<br />

• Autismus mal anders. Einfach,<br />

Authentisch, Autistisch. Von Aleksander<br />

Knauerhase (2016). Books on Demand<br />

GmbH, Norderstedt. Der Autor ist selbst<br />

Autist und beschreibt sein zum Teil<br />

herausforderndes Leben mit einer<br />

Autismus-Spektrum-Störung.<br />

• Schattenspringer. Wie es ist, anders zu<br />

sein. Von Daniela Schreiter (2014). Panini<br />

Verlag. Die Autorin beschreibt in einer<br />

Art gezeichnetem Tagebuch, wie sie ihre<br />

Kindheit und Jugend als Asperger-Autistin<br />

erlebte. Ein zweiter Band «Schattenspringer<br />

2» erschien 2015.<br />

• Autismus-Spektrum-Störungen in der<br />

Schweiz. Lebenssituation und fachliche<br />

Begleitung. Von Andreas Eckert (2015).<br />

Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und<br />

Sonderpädagogik (SZH) Bern. Auf der<br />

Grundlage einer Elternbefragung zeigt<br />

der Autor in diesem Forschungsbericht<br />

Erkenntnisse und Entwicklungen im Bereich<br />

Autismus-Spektrum-Störungen auf.<br />

• Sesame Street (amerikanische Version der<br />

Kinderserie «Sesamstrasse»). Hat seit April<br />

2016 die 4-jährige autistische Julia als neuen<br />

Charakter. Mit dieser Initiative sollen die<br />

Kleinsten in der Gesellschaft für Autismus<br />

sensibilisiert und autistische Kinder besser<br />

integriert werden.<br />

• Life Animated. Von Ron Suskind (2016). Der<br />

Spielfilm zeigt, wie sich der stumme, autistische<br />

Owen Suskind mithilfe von Disneyfiguren<br />

Zugang zur Aussenwelt verschafft.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>25


Die Storen im Therapieraum<br />

sind nicht gleichmässig<br />

hochgezogen. Sorgfältig<br />

behebt Emilio den Mangel.<br />

>>> ging (siehe Seite 30) und Kinder<br />

zwischen 1,5- und 4-jährig<br />

aufnimmt.<br />

Die Frühinterventionen sind im<br />

Moment jedoch nicht allen autistischen<br />

Kindern zugänglich. Für<br />

manche Eltern ist der Aufwand zu<br />

gross – sei es wegen der Reise oder<br />

wegen der Kosten. Zwar finanziert<br />

die IV pauschal 45 000 Franken für<br />

die Intensivbehandlung von frühkindlichem<br />

Autismus in einem der<br />

sechs Frühinterventionszentren. Der<br />

Betrag deckt jedoch die Gesamtkosten<br />

nicht. Im FIAS zum Beispiel kostet<br />

die 3-wöchige Intensivbehandlung<br />

mit 2-jähriger Nachsorge<br />

90 000 Franken.<br />

Oft werden Diagnosen für eine<br />

Frühintervention auch zu spät<br />

gestellt. «Vor 4-jährig ist es kompliziert,<br />

eine Diagnose zu erhalten»,<br />

sagt Emilios Mutter Bruna Rausa.<br />

«Ich erkannte von Anfang an, dass<br />

mit meinem Baby etwas nicht<br />

stimmt. Aber Kinderärzte erkennen<br />

die frühen Anzeichen zum Teil<br />

nicht.» Emilio war schliesslich 3-jährig,<br />

als seine ASS ärztlich bestätigt<br />

wurde.<br />

Ronnie Gundelfinger vergibt die<br />

Autismusdiagnose in der Regel ab<br />

2,5-jährig. Manchmal seien die<br />

Begriffserklärungen<br />

Autismus (aus dem Griechischen:<br />

selbstbezogenes Handeln, auf sich selbst<br />

bezogen sein) ist eine schwerwiegende<br />

Störung der kindlichen Entwicklung. Bis<br />

anhin gelten die Definitionen aus zwei<br />

Klassifikationssystemen. Das internationale<br />

Klassifikationssystem ICD-10 der<br />

WHO unterteilt Autismus in verschiedene<br />

Subtypen. Die geläufigsten sind:<br />

• Frühkindlicher Autismus, auch<br />

Kanner-Autismus (nach Leo Kanner):<br />

manifestiert sich in den ersten drei<br />

Lebensjahren, häufig stark eingeschränkte<br />

Sprachentwicklung und<br />

kognitive Beeinträchtigung.<br />

• Asperger-Syndrom (nach Hans<br />

Asperger): keine Sprachentwicklungsverzögerung,<br />

mindestens durchschnittliche<br />

Intelligenz, oft motorische<br />

Auffälligkeiten, manchmal erst in der<br />

Interaktion mit anderen erkennbar –<br />

in der Primarschule oder später.<br />

• Atypischer Autismus: Symptome des<br />

frühkindlichen Autismus sind unvollständig<br />

oder in milder Form vorhanden,<br />

manifestiert sich oft nach dem dritten<br />

Lebensjahr.<br />

Da die einzelnen Subtypen nicht immer<br />

einfach zu unterscheiden sind, wurde<br />

2013 der Begriff Autismus-Spektrum-<br />

Störung (ASS) ins angloamerikanische<br />

Klassifikationssystem DSM 5 aufgenommen.<br />

Er ersetzt zunehmend obengenannte<br />

Diagnosen. Die ASS umfasst<br />

ein Kontinuum von Störungen mit unterschiedlichem<br />

Schweregrad – je nachdem,<br />

wie viel Unterstützung das Kind braucht.<br />

Weiter wird spezifiziert, ob eine Störung<br />

in der intellektuellen Entwicklung und im<br />

Gebrauch der Sprache vorliegt.<br />

Gemeinsam sind Autistinnen und Autisten<br />

Auffälligkeiten in folgenden beiden<br />

Bereichen:<br />

• Soziale Kommunikation: z.B. kaum<br />

Augenkontakt, kaum oder ungewöhnliche<br />

Reaktion auf Mitmenschen, kaum<br />

Kontakt mit Gleichaltrigen, fehlende<br />

Mimik und Gestik und/oder Mühe,<br />

Gestik und Mimik von anderen zu verstehen,<br />

verzögerte bis fehlende Sprachentwicklung<br />

oder aussergewöhnlicher<br />

Gebrauch von Sprache, z. B. repetitive<br />

Verwendung von Sprache, Wortneuschöpfungen,<br />

altkluges Sprechen.<br />

• Begrenzte, stereotype Verhaltensmuster,<br />

Interessen und Aktivitäten:<br />

übermässig fokussierte Interessen und<br />

beharrliche Beschäftigung mit einem<br />

Thema (z. B. meteorologische Daten),<br />

stereotype Handlungen (z. B. mit Oberkörper<br />

schaukeln).<br />

Die Begriffe High Functioning Autism<br />

und Low Functioning Autism beziehen<br />

sich auf das kognitive Level. Während Low<br />

Functioning mit einem unterdurchschnittlichen<br />

IQ einhergeht, weisen Kinder mit<br />

High Functioning einen normalen bis<br />

überdurchschnittlichen IQ auf. Das heisst:<br />

Kinder können die Kriterien für frühkindlichen<br />

Autismus erfüllen, eine verzögerte<br />

Sprachentwicklung zeigen und einen<br />

überdurchschnittlichen IQ haben.<br />

Ist die Rede von autistischen Zügen,<br />

dann sind gewisse Charakteristika des<br />

Störungsbildes vorhanden, jedoch zu<br />

wenig ausgeprägt für eine Diagnose.<br />

26 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Anzeichen schon früher deutlich.<br />

«Die Behandlung eines 1-jährigen<br />

Kindes finanziert aber niemand.» Es<br />

sei auch fraglich, Frühdiagnosen zu<br />

pushen. «Das Angebot für Frühinterventionen<br />

stagniert in der<br />

Schweiz.» Es hat also zu wenig Plätze.<br />

«Für jeden Kanton sollte sichergestellt<br />

werden, dass mindestens ein<br />

Autismuskompetenzzentrum mit<br />

bedarfsdeckenden Kapazitäten zur<br />

Verfügung steht.» Unter anderem<br />

das empfahl der Bundesrat 2015 als<br />

Antwort auf ein Postulat von Claude<br />

Hêche, um die Lage autistischer<br />

Kinder und deren Umfeld zu verbessern.<br />

Die Ideen sind vorhanden.<br />

Die Umsetzung braucht Zeit.<br />

Emilio nimmt sie sich. Seine Therapie<br />

ist zu Ende. Die Mutter wartet.<br />

Die Therapeutin wartet. Und Emi-<br />

lio? Der geht nochmals zurück in den<br />

Therapieraum. Die Storen sind nicht<br />

alle gleichmässig hochgezogen. Sorgfältig<br />

behebt er den Mangel, vertieft<br />

in seinen leisen Singsang: «I gaa itz,<br />

tschüüss. I gaa itz, tschüüss.»<br />

>>><br />

Sarah King<br />

Dr. phil. Linguistik und MSc Psychologie,<br />

arbeitet in einer psychiatrischen Klinik im<br />

Kanton Bern. Sie ist freie Journalistin und<br />

Autorin. Ihre beruflichen Interessen gelten<br />

der nonverbalen und verbalen<br />

Synchronisation in der sozialen Interaktion,<br />

ihre privaten der Sprache und Musik.<br />

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Dossier<br />

«Ich wurde als Kind gemobbt»<br />

Kann ein Autist Autisten helfen? Matthias Huber zeigt, dass es geht. Seit zwölf Jahren arbeitet<br />

der Psychologe an der Autismusfachstelle der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären<br />

Psychiatrischen Dienste Bern UPD. Das Aussergewöhnliche: Er ist selbst «Asperger» und weiss,<br />

wie autistische Kinder die Welt wahrnehmen. Interview: Sarah King<br />

Herr Huber, beim Betreten Ihrer<br />

Praxis erspäht man als Erstes viele<br />

kleine Plastiktierchen im Wandregal.<br />

Mögen Autisten Tiere?<br />

Es kommt vor, dass Autisten Tiere<br />

gerne haben. Das Verhalten von Tieren<br />

ist oft einfacher einzuordnen als<br />

dasjenige von Menschen. Freut sich<br />

zum Beispiel ein Hund, wedelt er mit<br />

dem Schwanz. Ein Mensch drückt<br />

seine Freude mal mit Lachen aus,<br />

mal anders. Er nutzt subtilere Ausdrucksformen.<br />

Das ist für Menschen<br />

im Autismus-Spektrum schwierig.<br />

Sie sind oft eingeschränkt im Verstehen<br />

von Mimik und Gestik des<br />

Gegenübers.<br />

Nun haben Sie selbst ein Asperger-<br />

Syndrom und das Einordnen von Verhalten<br />

und Gefühlen anderer gehört<br />

zu Ihrem Beruf. Erleben Sie diesbezüglich<br />

Einschränkungen?<br />

Im Gegenteil. Für mich ist es einfacher,<br />

Autisten einzuschätzen, da ich<br />

«Ich kann Sprache so<br />

einsetzen, dass das Kind mit<br />

grosser Wahrscheinlichkeit<br />

auf mich reagiert und redet.»<br />

eine ähnliche Art habe, wie ich die<br />

Welt betrachte, wie ich sie analysiere<br />

und die Sprache verwende und<br />

decodiere. Ich kann Sprache so einsetzen,<br />

dass das Kind mit grosser<br />

Wahrscheinlichkeit auf mich reagiert<br />

und redet.<br />

Zum Beispiel?<br />

Offene Fragen erzeugen Stress. Darum<br />

formuliere ich meine Fragen sehr<br />

präzise und detailliert. Zum Beispiel:<br />

«Wenn du Gitarre übst, schaust du<br />

auf die Saiten oder geradeaus oder<br />

an einen Ort, den ich nicht genannt<br />

habe?» Autisten sind Detailmenschen<br />

– sowohl im Denken wie auch<br />

in der Wahrnehmung. Ein Dialog<br />

mit genauen Fragen ist für sie interessant<br />

und sie können besser antworten.<br />

Kinder ohne Autismus erleben<br />

ihn als seltsam. «Spinnt der?»,<br />

fragte mal ein Jugendlicher. Meine<br />

Fragen waren ihm zu detailliert.<br />

Mit wem und wie führen Sie Autismusabklärungen<br />

durch?<br />

Zu uns kommen Kinder mit der Verdachtsdiagnose<br />

ASS, Asperger-Syndrom,<br />

frühkindlicher Autismus oder<br />

atypischer Autismus. Die Diagnose<br />

wird immer im Team durch medizinische<br />

und psychologische Fachpersonen<br />

gestellt. Mit den Eltern<br />

zusammen erheben wir eine Familien-<br />

und Entwicklungsanamnese,<br />

holen Informationen von Lehrper-<br />

sonen und Heilpädagoginnen ein<br />

und führen Wahrnehmungs-, IQsowie<br />

autismusspezifische Tests<br />

durch. Ein wichtiger Teil bildet das<br />

klinische Gespräch. Dabei geben<br />

Inhalt und Form der Antwort wie<br />

auch das nonverbale Verhalten Aufschluss.<br />

Frage ich zum Beispiel ein<br />

autistisches Kind, ob es eine Lieblingsfarbe<br />

hat, dann antwortet es oft<br />

mit «Ja». Ein Kind ohne Autismus<br />

nennt die Farbe und erwähnt vielleicht<br />

noch sein Fahrrad, das dieselbe<br />

Farbe hat.<br />

Wie hoch ist das Durchschnittsalter<br />

der Kinder, die Sie untersuchen?<br />

Sie können zwischen 1,5- und<br />

18-jährig sein. Im Durchschnitt sind<br />

sie etwa 11-jährig. Oft kommen<br />

Jugendliche, die zuvor andere Diagnosen<br />

erhielten, die nicht alle Auffälligkeiten<br />

oder Besonderheiten<br />

erklärten.<br />

Wie äusserte sich das Asperger-<br />

Syndrom bei Ihnen, als Sie ein Kind<br />

waren?<br />

Ich redete kaum. Fragen beantwortete<br />

ich nur, wenn ich die Antwort<br />

zu 100 Prozent wusste. Es gelang mir<br />

auch nicht, Gedanken sprechend zu<br />

entwickeln und in Sätze umzuformen.<br />

So antwortete ich oft erst, wenn<br />

das Thema schon vorbei war. Ich<br />

schaute ausserdem meist weg, wenn<br />

jemand redete. Sonst wurde ich zu<br />

28 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


stark abgelenkt von visuellen Reizen<br />

und hörte nur wuwuh, wuwuh.<br />

Zudem erkannte ich früher Ironie<br />

oft nicht. Das ist typisch für Autisten.<br />

Das kann zu zwischenmenschlichen<br />

Problemen führen.<br />

Können und wollen autistische<br />

Kinder Freundschaften eingehen?<br />

Ich kenne viele, die keine Freunde<br />

haben. Sie wünschen sich das eigentlich,<br />

können aber nicht so leicht<br />

Kontakt knüpfen. Oft sind andere<br />

Kinder irritiert: Der starrt ja nur<br />

oder schaut einen nicht an. Sie wissen<br />

nicht, dass sich auch jemand mit<br />

Autismus einen besten Freund<br />

wünscht und mal an einen Geburtstag<br />

eingeladen werden möchte. Viele<br />

autistische Kinder haben ausserdem<br />

Angst vor Mobbing.<br />

Sprechen Sie aus Erfahrung?<br />

Ich wurde als Kind angespuckt und<br />

geschlagen, weil ich nicht der Norm<br />

entsprechend kommunizierte. Oft<br />

mobben Kinder aus Hilflosigkeit. Sie<br />

wissen zu wenig über Autismus. Das<br />

heisst: Wer Autisten plagt, der<br />

braucht mehr Informationen.<br />

Die Hilflosigkeit ist im ganzen<br />

Umfeld spürbar. Wo erhalten zum<br />

Beispiel Eltern Informationen und<br />

Unterstützung?<br />

Sie erhalten von spezialisierten Beratungsstellen<br />

Unterstützung (siehe<br />

Box Seite 21). Mit mehr Aufklärung<br />

und Verständnis erübrigt sich zum<br />

Teil auch eine Therapie. Ich erlebe<br />

oft, dass bereits die Diagnose alleine<br />

Erleichterung schafft. Betroffene<br />

erkennen, dass sie nicht komisch<br />

sind. Dass ihnen ihre Art der Wahrnehmung<br />

und des Denkens neue<br />

Perspektiven eröffnet.<br />

Welche Perspektiven hat Ihnen Ihre<br />

Art des Denkens eröffnet?<br />

Ich hatte viele Spezialinteressen:<br />

neben Paläontologie oder Rauchmeldern<br />

auch das menschliche Denken,<br />

was mich in die Psychologie<br />

führte. Da ich kein sozial perfektes<br />

Profil aufweise, hatte ich nach dem<br />

Studium vorerst Mühe, eine Stelle zu<br />

finden, bis ich schliesslich vor 12<br />

Jahren vom damaligen Direktor der<br />

KJP Bern, Herrn Prof. W. Felder, das<br />

Angebot erhielt, klinische Gespräche<br />

mit Kindern mit Verdacht auf Autismus<br />

durchzuführen, um herauszufinden,<br />

wie sie denken, fühlen und<br />

wahrnehmen. Daraus entwickelte<br />

sich über die Jahre hinweg eine 70-<br />

Prozent-Anstellung. Ich beschränke<br />

mich in meiner Tätigkeit auf Autismus.<br />

In diesem Bereich fühle ich<br />

mich sehr sicher, auch wenn ich<br />

immer wieder Neues lerne.<br />

Das führt zur letzten Frage: Autistische<br />

Menschen sind angewiesen auf<br />

vertraute Situationen und Abläufe.<br />

Wie war es nun für Sie, Fragen zu<br />

beantworten, die Sie vor dem<br />

Gespräch nicht kannten?<br />

Generell sind unvorhergesehene Fragen<br />

zu fremden Themen schwieriger.<br />

In diesem Fall war es kein Problem,<br />

weil die Fragen alle den Autismus<br />

betrafen. Ich öffnete einen Speicher<br />

mit sämtlichen Fragen, die mir in<br />

den letzten 12 Jahren gestellt wurden,<br />

und suchte nach Ähnlichkeiten.<br />

So konnte ich auf bestehende Antworten<br />

zurückgreifen.<br />

«Andere Kinder wissen nicht,<br />

dass sich auch jemand<br />

mit Autismus einen besten<br />

Freund wünscht.»<br />

Zur Person<br />

Matthias Huber, 49, lic. phil., ist<br />

Psychologe an der Uniklinik für Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD<br />

Bern. Er arbeitet im Spezialbereich Autismus<br />

in der Diagnostik, Beratung und Therapie. Die<br />

Zuweisung erfolgt über Ärztinnen und Ärzte<br />

sowie über Psychotherapeutinnen und<br />

Psychotherapeuten an die jeweiligen<br />

Zweigstellen der KJP im Kanton Bern.<br />

Kontakt: info.kjpp@upd.ch,<br />

www.upd.ch<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>29


Dossier<br />

Die Eltern sind die wichtigsten<br />

Ressourcen des Kindes<br />

Eine spezielle Frühintervention unterstützt bei autistischen Kindern eine normale Entwicklung.<br />

Mifne heisst der Ansatz. Ein Besuch bei der Mitbegründerin Hanna Alonim in Israel gibt<br />

Einblick in eine Therapie, bei der Eltern die Experten sind. Text: Sarah King<br />

Vorbei an Orangenbäumen<br />

und Lavendel<br />

führt eine Strasse<br />

steil durch die kleine<br />

israelische Ortschaft<br />

Rosh Pina hinauf. Da, wo sie endet,<br />

soll für Eltern mit autistischen Kindern<br />

ein neues Leben beginnen. Das<br />

zumindest verspricht der Name des<br />

Mifne-Zentrums. Mifne heisst übersetzt<br />

«der Wendepunkt». Das grosse<br />

Backsteinhaus ruht erhaben auf dem<br />

Hügel. In der Ferne erstreckt sich die<br />

Chulaebene, hinter ihr die Golanhöhen.<br />

Das einzige Geräusch erklingt<br />

von einem hölzernen Windspiel.<br />

Das ist die Kulisse eines intensiven<br />

Therapieprogramms: 3 Wochen,<br />

7 Tage die Woche, 8 Stunden am Tag<br />

arbeiten hier Eltern mit ihren autistischen<br />

Kleinkindern und therapeutischen<br />

Fachpersonen. Dafür reisen<br />

sie oft von weit her an und zahlen<br />

25 000 US-Dollar.<br />

Was ist die Besonderheit des<br />

Mifne-Ansatzes? Warum nehmen<br />

Eltern diesen Aufwand auf sich?<br />

Eine Besonderheit offenbart sich<br />

auf dem Schreibtisch der Autismusexpertin<br />

und Direktorin des Mifne-<br />

Zentrums, Dr. Hanna Alonim. In<br />

Essprobleme gehören zu den<br />

acht Frühzeichen bei<br />

autistischen Störungen.<br />

einem kleinen Fernseher läuft die<br />

Life-Aufnahme aus dem Therapieraum.<br />

Der 35-jährige Diego Barbosa*<br />

aus Brasilien ist mit seinem Sohn<br />

Rafael* ins Spiel vertieft. Rafael ist<br />

1,5 Jahre.<br />

Zeichen lassen sich früh erkennen<br />

«Das Alter ist zentral», sagt Hanna<br />

Alonim. «Wir nehmen nur Kleinkinder<br />

bis 2-jährig.» Das war nicht<br />

immer so. Als die Psychologin 1987<br />

das Mifne-Zentrum in Israel mitbegründete,<br />

nahm sie auch ältere Kinder<br />

in Therapie. In ihrer 30-jährigen<br />

Arbeit mit autistischen Kindern und<br />

ihren Familien hat sich jedoch die<br />

Autismuslandschaft stark verändert<br />

– nicht zuletzt das Diagnosealter.<br />

«Wir geben die Diagnose auch 1- bis<br />

1,5-jährigen Kleinkindern», sagt<br />

Hanna Alonim. «Manche sagen, ein<br />

Kind so früh zu ‹etikettieren›, sei<br />

unverantwortlich. Wir wissen aber<br />

aus unseren Studien, dass 89 Prozent<br />

von 110 autistischen Kindern bereits<br />

im ersten Lebensjahr Frühzeichen<br />

aufgewiesen hatten. Und 2016 konnten<br />

wir mit einer Folgestudie nachweisen,<br />

dass bei einer Frühintervention<br />

in den ersten 24 Monaten ein<br />

Grossteil der Kinder eine altersentsprechende<br />

Entwicklung zeigt.»<br />

Hanna Alonim untermauert ihre<br />

Beobachtungen mit Studien aus der<br />

Hirnforschung. «Bis zum zweiten<br />

Lebensjahr wird das neuronale<br />

Netzwerk ausgebildet, auf dessen<br />

Grundlage sich die Persönlichkeit,<br />

die Lernfähigkeit und der IQ entwickeln.<br />

In dieser Zeit können wir am<br />

meisten Einfluss nehmen.» Die USamerikanische<br />

Autismusforscherin<br />

Geraldine Dawson spricht im Zu -<br />

sammenhang mit Frühintervention<br />

gar von einer «präventiven Massnahme».<br />

Eltern als Experten<br />

Zurück in den Therapieraum. Im<br />

Beisein der Therapeutin Veronica<br />

Jacubson nehmen Vater und Sohn<br />

das Mittagessen ein. Rafael verharrt<br />

still mit einem gefüllten Löffel in der<br />

Hand. «Er weigert sich, das Essen zu<br />

berühren.» Das sagt Giora Shayngesicht.<br />

Hinter einer spiegelverglasten<br />

Wand beobachtet er die Szene. Essprobleme<br />

gehören zu den acht Frühzeichen<br />

bei autistischen Störungen<br />

(siehe Box Seite 31). «Der Vater<br />

reagiert typisch: Er übernimmt die<br />

Fütterung.»<br />

«Was würde geschehen, wenn Sie<br />

einen Moment warten, bevor Sie<br />

den Löffel zum Mund Ihres Sohnes<br />

führen?», fragt der Therapeut in der<br />

Nachbesprechung. «Ich sehe, was<br />

Eltern tun, aber nicht, was sie denken.<br />

Sie sollen ein vertieftes Ver-<br />

30 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


ständnis für die besonderen Bedürfnisse<br />

ihres Kindes entwickeln und<br />

gleichzeitig die Gründe für ihr eigenes<br />

Handeln verstehen. So gewinnen<br />

die Eltern mehr Selbstwert und<br />

Vertrauen, was die Interaktion<br />

zwischen ihnen und dem Kind verbessert.»<br />

Das ist eine weitere Besonderheit<br />

des Mifne-Ansatzes: Mutter wie<br />

Vater werden als die wichtigste Ressource<br />

des Kindes betrachtet und<br />

sind deshalb beide in der Therapie<br />

anwesend. «Sie sind es, die handeln<br />

müssen, wenn das Kind schreit oder<br />

nicht isst. Ich könnte die beste Therapeutin<br />

auf der Welt sein und hätte<br />

doch keinen Einfluss auf das Kind»,<br />

sagt Hanna Alonim. «Zu Beginn<br />

sind die Eltern aber oft in einer Krise<br />

und brauchen Hilfe.» Manche<br />

Eltern verdrängen die Auffälligkeiten.<br />

Andere haben schon etliche<br />

Abklärungen hinter sich.<br />

Das Kind im Zentrum<br />

So auch Diego Barbosa. Das Nichtwissen<br />

ist für ihn schwierig. «Ich bin<br />

Wissenschaftler», sagt er am Tag der<br />

Ankunft. «Ich brauche Fakten.»<br />

Hanna Alonim nickt. «Wir arbeiten<br />

aber mit Ihrem Kind, nicht mit Fakten.»<br />

Diese Haltung vertritt auch<br />

Giora Shayngesicht. «Manchmal<br />

hinterfragen Leute, ob die Frühzeichen<br />

wirklich durch eine autistische<br />

Störung bedingt sind. Die Gewissheit<br />

haben wir nicht. Lindert jedoch<br />

die Therapie das Leid der Familie,<br />

spielt die Diagnose letztlich keine<br />

Rolle.»<br />

Liegt aber eine Diagnose vor,<br />

besteht die Chance auf einen Beitrag<br />

an die Therapiekosten durch die<br />

öffentliche Hand. Auch die Stiftung<br />

Mifne Schweiz mit Sitz in Zürich<br />

unterstützt bei Bedarf. Hanna Alonim<br />

und das Mifne-Team sind darüber<br />

hinaus bestrebt, ihr Konzept<br />

auch in anderen Ländern bekannt<br />

zu machen. So ging beispielsweise<br />

2010 in Basel aus dem Mifne-Ansatz<br />

das FIAS-Zentrum hervor. Die Be -<br />

handlung im eigenen Land erleichtert<br />

die Nachbetreuung. Bis zur<br />

Integra tion des Kindes in den Kin -<br />

dergarten wird die Familie von<br />

Mifne-Therapeuten weiterbegleitet.<br />

So weit ist Rafael noch nicht.<br />

Noch lebt er in sein Inneres zurückgezogen,<br />

angewiesen auf Eltern, die<br />

das Chaos aus Reizen in der Aussenwelt<br />

für ihn ordnen. Im Moment<br />

macht die Familie Pause. In Rosh<br />

Pina herrscht Mittagsruhe. Selbst<br />

das Windspiel ist verklungen.<br />

* Namen der Redaktion bekannt<br />

Weitere Informationen:<br />

www.mifne-autism.com<br />

Manche Eltern verdrängen<br />

die Auffälligkeiten. Andere<br />

haben etliche Abklärungen<br />

hinter sich.<br />

Frühwarnzeichen im 1. Lebensjahr<br />

Die israelische Autismusexpertin Hanna Alonim<br />

und ihr Team entwickelten 2007 das Diagnosetool<br />

ESPASI (Early signs of pre-autism scale for<br />

infants). Es hilft Eltern und Fachleuten, erste<br />

Anzeichen von Autismus beim Kind innerhalb<br />

des ersten Lebensjahres zu erkennen. Geordnet<br />

nach Signifikanz sind dies:<br />

1. übermässige Passivität (kein Weinen, kaum<br />

Bewegung, wenig Interesse an der Umgebung)<br />

2. kaum direkter Augenkontakt mit Menschen<br />

3. kaum Reaktion auf die Stimme oder die<br />

Präsenz der Eltern<br />

4. übermässige Aktivität (kontinuierliches<br />

Weinen, fehlende Ruhe)<br />

5. verweigert zu essen<br />

6. lehnt elterliche Berührung ab<br />

7. verzögerte motorische Entwicklung<br />

8. beschleunigtes Wachstum des Kopfumfangs<br />

Im nächsten Heft:<br />

Resilienz<br />

Bild: iStockphoto<br />

Eltern wollen ihren Kindern ein möglichst schönes<br />

und behütetes Leben bieten – doch wie geht man<br />

mit Schicksalsschlägen um? Und wie gehen<br />

Kinder aus Krisensituationen gestärkt hervor?<br />

Unser Dossier-Thema im September.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>31


Monatsinterview<br />

32 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Monatsinterview<br />

«Ich will den Müttern das<br />

schlechte Gewissen nehmen»<br />

Das heutige Mutterbild treibt die Frauen in die Erschöpfung, sagt die<br />

österreichische Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve. Schuld sei das<br />

vermeintliche Ideal der Kleinfamilie. Text: Claudia Landolt Bilder: Martin Mischkulnig / 13 Photo<br />

Die in Innsbruck<br />

geborene<br />

Mariam<br />

IreneTazi-Preve<br />

ist Professorin<br />

in den USA.<br />

Grosse Ehrfurcht. Ich treffe Mariam<br />

Irene Tazi-Preve, die Retterin der<br />

Frauen. Die österreichische<br />

Politikwissenschaftlerin, die als Erste<br />

die Vereinbarkeitslüge publik<br />

gemacht hat, sitzt im Café Sacher in<br />

Innsbruck, ihrer Geburtsstadt. Lüster<br />

glitzern, das Holz ist poliert, die<br />

Sessel laden in rotem Plüsch. An den<br />

Wänden Bilder aus der kaiserlichköniglichen<br />

Zeit Österreichs. Die<br />

Männer tragen Kaiser-Wilhelm-<br />

Schnäuze, die Frauen rauschende<br />

Roben. Eine Kulisse, die besser nicht<br />

passen könnte zu Mariam Irene<br />

Tazi-Preve, einer Frau, welche die<br />

Lebensumstände von Müttern und<br />

Vätern erforscht. Ein Gespräch mit<br />

vielen Doppelmokkas und zwei Stück<br />

Sachertorte.<br />

Frau Tazi-Preve, warum sind Mütter oft<br />

müde?<br />

Sie sind müde vom Dauerspagat zwischen<br />

Job und Familie, Haushalt und<br />

den vielen Tausend anderen Dingen,<br />

um die sie sich kümmern. Doch das<br />

ist nicht ihre Schuld.<br />

Wessen Schuld ist es dann?<br />

Die Schuld trägt unser Lebensmodell,<br />

die Kleinfamilie. Sie ist der<br />

Quell unseres Unglücks.<br />

Können Sie das erklären?<br />

Die Kleinfamilie ist falsch aufgesetzt.<br />

Familie ist ein weiterer Begriff, er<br />

umfasst Geschwister, Onkel, Tanten.<br />

Doch in der Politik, den Medien, der<br />

Gesellschaft ist stets von der Kleinfamilie<br />

die Rede.<br />

Was ist daran falsch?<br />

Die Kleinfamilie ist ein winzig kleines,<br />

sehr fragiles Konstrukt, das sich<br />

«Die Kleinfamilie<br />

muss sich immer<br />

wieder emotional<br />

selbst aufladen.»<br />

die lebenslange romantische Zweierbeziehung<br />

nur in Ausnahmefällen.<br />

Suggeriert wird aber, sie sei die Normalität.<br />

Die ewige Liebe existiert nicht?<br />

Nein. Die Statistik zeigt es ja. Die<br />

Hälfte aller Ehen wird geschieden.<br />

Die Paare, die im Konkubinat leben<br />

und sich trennen, werden statistisch<br />

gar nicht erfasst. Trennungen und<br />

Scheidungen aber werden noch<br />

immer moralisch sanktioniert. Die<br />

Politik spricht von einem Verfall der<br />

Werte. Oder man beschuldigt die<br />

Frau, die sich anmasst, arbeiten zu<br />

gehen.<br />

Trotzdem sehnen wir uns alle nach<br />

romantischer Zweisamkeit.<br />

Das muss uns nicht verwundern.<br />

Uns wird ununterbrochen suggeriert,<br />

dass die romantische, legitimierte<br />

Liebe, die ein Leben lang hält,<br />

die anzustrebende Norm sei. Und<br />

dass jene, die daran scheiterten, selber<br />

schuld seien. Die Ironie dabei ist:<br />

Die romantische Idee von der Ehe<br />

ist historisch erst spät aufgekommen.<br />

Schon die Römer, die das juristische<br />

Fundament für die Ehe- und Familiengesetze<br />

legten, haben sich über-<br />

permanent emotional selbst aufladen<br />

muss. In diese isolierte Einheit, die<br />

die Politik gern die kleinste Zelle des<br />

Staates nennt, sperrt man zwei Dinge<br />

zusammen und behauptet, das<br />

müsse so sein.<br />

Welche beiden Dinge?<br />

Erstens die lebenslange romantische<br />

Beziehung und zweitens das sichere haupt keine Illusionen darüber<br />

Aufziehen von Kindern. Nun gibt es gemacht, was sie für die Men- >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>33


Monatsinterview<br />

>>> schen bedeutet. Sie haben<br />

offen gesagt, dass die Ehe eine «Quelle<br />

des Verdrusses» für die Beteiligten<br />

sei, aber dass sie «Bürgerpflicht» sei<br />

«Schon die Römer<br />

sagten, die Ehe sei<br />

eine Quelle des<br />

Verdrusses für alle<br />

Beteiligten.»<br />

und man sie für das Funktionieren<br />

von Politik und Gesellschaft eben<br />

brauche. Damit wird klar, dass das<br />

Wohl zweier Menschen nie im Vordergrund<br />

gestanden hat, wenn es um<br />

Heirat ging. Trotzdem sind wir der<br />

Idee bis heute verfallen.<br />

Romantische Liebe ist eine Illusion?<br />

Ja. Dabei sollten wir erkennen, dass<br />

sie die Ausnahme ist. Das Perfide<br />

daran ist, dass man es heute als Norm<br />

darstellt. Das finde ich den jungen<br />

Menschen gegenüber besonders problematisch.<br />

Warum?<br />

Weil man ihnen eintrichtert, dass ihr<br />

Lebensglück mit einem anderen<br />

Menschen verknüpft ist. Wir glauben,<br />

dass es irgendwo da draussen<br />

einen Menschen gibt, der perfekt zu<br />

uns passt. Mit dem es keinen Streit,<br />

keine Konflikte gibt. In den USA sagt<br />

man: «It wasn’t the right one.» Das<br />

heisst, man stellt den Menschen in<br />

Frage, nicht das Ideal, dem man aufsitzt.<br />

Die Menschen suchen etwas,<br />

das es nicht gibt, und verzweifeln an<br />

der Realität.<br />

Nun gibt es wenig Alternativen zur<br />

Ehe oder Lebensgemeinschaft.<br />

Die Partnerschaft wird häufig als<br />

Ersatz für fehlende emotionale<br />

Zuwendung durch die Herkunftsfamilie<br />

gelebt. Das heisst, dass der<br />

Mangel an lebbaren Alternativen<br />

zum Glauben an die Paarbildung als<br />

einzige Glücksverheissung führt.<br />

Und die Kleinfamilie gilt als<br />

unumstössliches Idyll.<br />

Ja, und darunter leiden Männer wie<br />

Frauen. Und hier kommen wir zur<br />

zweiten Problematik, die ich angesprochen<br />

habe, nämlich der, dass<br />

Kinder in der Familie über 10 bis 20<br />

Jahre lang sicher aufwachsen sollen.<br />

Das kann aber gar nicht gelingen,<br />

weil zwei Personen einfach nicht<br />

genug dafür sind. Im Grunde sind<br />

alle Beteiligten überfordert.<br />

Sie haben die Vereinbarkeitsdebatte<br />

geprägt. Was verstehen Sie darunter?<br />

Wunsch und Wirklichkeit liegen so<br />

weit voneinander entfernt. Hier sollen<br />

zwei per se divergierende soziale<br />

Systeme – das des Arbeitsmarkts<br />

und das der Familie – klaglos miteinander<br />

vereinbart werden.<br />

Wie ist das zu verstehen?<br />

Der kontinuierlichen Fürsorge,<br />

emotionalen Zuwendung und<br />

Betreuung von Familienangehörigen,<br />

also dem Familienbereich, steht<br />

eine auf Flexibilität, Leistung und<br />

Effizienz abgestimmte Arbeitswelt<br />

gegenüber.<br />

Wie kamen Sie auf das Thema der<br />

Mütter in Ihrer Forschung?<br />

Dazu zu forschen begann ich, als ich<br />

feststellte, dass der Leidensdruck der<br />

Mütter enorm ist. Das habe ich über<br />

die Jahre auch bei den Reaktionen<br />

auf meine Vorträge bestätigt bekommen.<br />

Irgendwann habe ich begriffen,<br />

dass das Leiden strukturell bedingt<br />

ist. Dem wollte ich nachgehen und<br />

den Müttern ihr schlechtes Gewissen<br />

nehmen.<br />

Die Schuldgefühle von Müttern sind<br />

systembedingt?<br />

Ich lebe in den USA, und hier gibt<br />

es mittlerweile den Ausdruck der<br />

«mummy wars». Er beschreibt die<br />

Konkurrenz zwischen Frauen um<br />

die noch bessere Mutterschaft. Man<br />

muss das Kind heute von klein auf<br />

fördern, in alle möglichen Kurse<br />

schicken. Das ist die neue, moderne<br />

Form des Drucks auf Mütter. Der<br />

Ruf, eine schlechte Mutter zu sein,<br />

war immer schon eine sehr wirksame<br />

Sanktionsandrohung. Keine Frau<br />

will eine schlechte Mutter sein – das<br />

hat auch der Feminismus nicht geändert.<br />

Und die Frau wird alles tun, um<br />

dieser Drohung zu entgehen.<br />

Das Pendant des schlechten Vaters<br />

gibt es nicht?<br />

Zumindest nicht in dieser Form. Die<br />

Mütter sind immer schuld. Sie werden<br />

als Schuldige identifiziert, wenn<br />

sie durch Überforderung bei der<br />

Erziehung ihrer Kinder – in mancher<br />

Hinsicht – versagen, zum Beispiel<br />

bei Essstörungen oder Schulproblemen.<br />

Väter können etwa als Manager<br />

am Ende ihrer Karriere immer noch<br />

sagen: Ich habe meine Kinder wegen<br />

des Berufs kaum gesehen. Man stelle<br />

sich vor, eine Frau sage, sie habe<br />

sich leider nicht um ihre Kinder<br />

kümmern können. Trotzdem wird<br />

Frauen heute suggeriert, sie könnten<br />

alles haben. Mütter müssen sexy,<br />

erfolgreich und immer für die Kinder<br />

da sein. Das hat eine totale<br />

Erschöpfung zur Folge. Ich nenne<br />

das die «Vereinbarkeitslüge». Ob als<br />

Hausfrau, Teilzeit- oder Vollzeitberufstätige,<br />

immer stolpert sie in die<br />

«Mutterfalle», weil Mutterschaft und<br />

Existenzsicherung einander ausschliessen.<br />

Und auch, weil Männer<br />

immer noch weit mehr verdienen.<br />

«Frauen wird<br />

suggeriert, sie<br />

könnten alles haben.<br />

Das hat eine totale<br />

Erschöpfung zur<br />

Folge.»<br />

Mütter bleiben als Hausfrauen ab ­<br />

hängig, als Teilzeitberufstätige sind<br />

sie auf weitere Einkommen durch<br />

den Staat oder den Ehemann angewiesen<br />

und als Vollzeitberufstätige<br />

dauererschöpft.<br />

Manche leben sich im Mutterdasein<br />

aus.<br />

34 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Viele Frauen definieren sich tatsächlich<br />

über Mutterschaft, weil sie<br />

sowieso kaum in die obersten Etagen<br />

kommen. Das liegt aber auch daran,<br />

dass sie ihr Leben um die Kinder<br />

herum planen. Das ist eine Wechselwirkung.<br />

Karriere bedeutet oft, allzeit<br />

verfügbar zu sein, und das wollen<br />

Frauen selten. Deshalb komme ich<br />

beim Thema Familie immer wieder<br />

auf den Arbeitsmarkt zu sprechen.<br />

Dort müssen sich die Regeln ändern.<br />

Denn auch die Männer geraten unter<br />

die Räder des Patriarchats. Am<br />

Leben ihrer Kinder sehr beteiligte<br />

Väter berichten, dass sie sich aktiv<br />

gegen die Forderung nach ständiger<br />

Verfügbarkeit im Job stellen müssen.<br />

Sie müssen bewusst die Karriere hinten<br />

anstellen und zum Beispiel klar<br />

sagen, dass sie nach vier Uhr nicht<br />

an Sitzungen teilnehmen können,<br />

weil ihr Kind aus der Schule kommt.<br />

Diese bewussten Väter sind noch<br />

immer in der Minderheit.<br />

Wie ginge es denn besser?<br />

Wichtig ist, dass man ein stabiles<br />

Netz hat, auf das man sich stützen<br />

kann. Kinder und Mütter vom Rest<br />

der Gesellschaft zu isolieren, ist für<br />

beide gesundheitsschädlich. Wir wissen<br />

auch, dass manche Frauen und<br />

Männer als Mütter und Väter nicht<br />

oder nur wenig geeignet sind, oder<br />

sie können zeitweise ausfallen. Es<br />

gibt aber häufig keine oder nur sehr<br />

wenige andere Ansprechpartner für<br />

Kinder. Dazu kommt, dass die Familie<br />

nach wie vor der grösste Gewaltschauplatz<br />

gegen Frauen und Kinder<br />

ist – auch entgegen allen Mythen, in<br />

denen die Familie als Sehnsuchtsort<br />

dargestellt wird.<br />

Wie können Mütter entlastet werden?<br />

Sie müssen zuallererst aufhören, ein<br />

schlechtes Gewissen zu haben, und<br />

verstehen, dass das «Mutterelend»<br />

gesellschaftliche und historische<br />

Gründe hat. Zweitens müssen sie<br />

aufhören zu glauben, dass die Kleinfamilie<br />

der ideale Ort sei, um Kinder<br />

aufzuziehen. Drittens sollten Frauen<br />

beginnen, Familie als matrilinear<br />

(lateinisch: in der Linie der >>><br />

Kinder und<br />

Mütter von der<br />

Gesellschaft zu<br />

isolieren, sei<br />

schädlich, sagt<br />

Tazi-Preve.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>35


Monatsinterview<br />

>>> Mutter) zu verstehen. Familie<br />

so verstanden bedeutet Verwandtschaft<br />

über die Mutter, nicht über<br />

Heirat oder einen teilweise oder oft<br />

abwesenden Vater. Denn mit Männern<br />

ist aufgrund ihres Eingebundenseins<br />

in das herrschende System,<br />

das die Berufstätigkeit vor die<br />

Bedürfnisse der Familie reiht, kaum<br />

zu rechnen. Auch gibt es immer wieder<br />

Ansätze für andere Wohn- und<br />

Lebensformen, in denen man sich<br />

gewisse Bereiche teilt, die Kinderbetreuung,<br />

Mahlzeitenzubereitung,<br />

Haushalt.<br />

Und viertens?<br />

Viertens braucht es generell eine Kultur<br />

des Teilens von Erwerbsarbeit,<br />

Kinderbetreuung und Familienmanagement,<br />

da wir sonst nicht weiterkommen.<br />

Und fünftens müssen<br />

wir uns vom Irrglauben verabschieden,<br />

dass Arbeit frei und glücklich<br />

macht.<br />

Wirtschaftsvertreter setzen sich für<br />

Frauenförderung ein.<br />

Das Interesse an der weiblichen oder<br />

mütterlichen Arbeitskraft hat nichts<br />

mit Gleichstellung zu tun. Auch steht<br />

«Das Interesse an<br />

der mütterlichen<br />

Arbeitskraft hat<br />

nichts mit<br />

Gleichstellung<br />

zu tun.»<br />

nicht das Wohl der Kinder im Vordergrund.<br />

Im gegenwärtigen neoliberalen<br />

Wirtschafts- und Politiksystem<br />

geht es einzig darum, den<br />

Profit des Unternehmens oder das<br />

Wirtschaftswachstum des Landes zu<br />

vergrössern. Es will, dass die «Menschenproduktion»,<br />

also die Be reitstellung<br />

von Arbeitskräften und<br />

Konsumentinnen und Konsumenten,<br />

klaglos funktioniert.<br />

Sie sprechen davon, dass es das «Private»<br />

nicht gibt.<br />

Ja. Innerhalb des Systems geht es<br />

immer um Macht, Geld oder Moral.<br />

Das widerspricht allen Bedürfnissen<br />

nach Empathie und Sicherheit in<br />

einem Familienleben. Die meisten<br />

Menschen sind auf Arbeit zur Existenzsicherung<br />

angewiesen. Beruf<br />

und Familie sind zusammen aber<br />

eine unzumutbare Belastung, die<br />

Mütter, Väter und Kinder überfordert.<br />

Analysen zu Vereinbarkeitsfragen<br />

zeigen diese Überforderung und<br />

das Leiden am System, was sich in<br />

Krankheitssymptomen wie Stress,<br />

Burnout und Depressionen äussert.<br />

Deshalb sollten Frauen aufhören, an<br />

Zur Person<br />

Mariam Irene Tazi-Preve ist<br />

Professorin an der University of New<br />

Orleans. Sie war an den Universitäten<br />

Wien und Innsbruck wissenschaftlich<br />

tätig und ist Zivilisationstheoretikerin.<br />

Die gebürtige Österreicherin hat<br />

zahlreiche Werke (wie etwa «Die<br />

Vereinbarkeitslüge») zu den<br />

Schwerpunkten Geschlechterfragen,<br />

Mutter- und Vaterschaft sowie<br />

Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik<br />

publiziert. Im April <strong>2017</strong> ist ihr Buch<br />

«Vom Versagen der<br />

Kleinfamilie.<br />

Kapitalismus,<br />

Liebe und der Staat»<br />

erschienen. Sie ist<br />

Mutter eines<br />

erwachsenen Sohnes.<br />

Die Zivilisationstheoretikerin und Politikwissenschaftlerin Mariam<br />

Irene Tazi-Preve (rechts) im Gespräch mit Fritz+Fränzi-Autorin<br />

Claudia Landolt. Das Treffen fand im legendären Café Sacher in<br />

Innsbruck statt, der Heimat von Tazi-Preve, wo sie zu Besuch weilte.<br />

36 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


das Märchen von Karriere und einfacher<br />

Vereinbarkeit zu glauben. Die<br />

Karrierefrau mit Kindern, die das<br />

mühelos schafft, ist eine Erfindung<br />

der Medien und der Wirtschaft.<br />

Sie selbst haben erfahren, was es<br />

heisst, in patriarchalen Strukturen<br />

aufzuwachsen.<br />

Meine Mutter wurde sehr jung mit<br />

mir schwanger, von einem älteren<br />

Mann anderer Nationalität, dem das<br />

Studium wichtiger war und der ein<br />

Jahr nach meiner Geburt das Land<br />

verliess. Damals war die Sozialfürsorge<br />

berüchtigt dafür, minderjährigen<br />

Müttern ihre Kinder wegzunehmen.<br />

Meine Mutter musste sich<br />

daher dem Willen meiner Grosseltern<br />

unterwerfen, wo wir beide<br />

wohnten. Sie bekam nie das Sorgerecht,<br />

das blieb beim Jugendamt, und<br />

sie erhielt auch keinerlei finanzielle<br />

Unterstützung. Auch ihre Schulbildung<br />

konnte sie nicht abschliessen.<br />

Sie heiratete später, war damit nach<br />

aussen hin rehabilitiert, machte Abitur<br />

und holte ihr Studium nach. Die<br />

Geschichte meines Familiennamens,<br />

die ich in meinem Buch schildere,<br />

zeigt die patriarchale Verfasstheit<br />

von Rechtsprechung und staatlicher<br />

Bürokratie, die letztlich unsere<br />

gesellschaftlichen und politischen<br />

Verhältnisse widerspiegelt.<br />

Claudia Landolt<br />

>>><br />

ist Mariam Irene Tazi-Preve echt dankbar.<br />

Endlich hat sie eine fundierte und schlüssige<br />

Erklärung für Müdigkeit, Erschöpfung und<br />

zeitweiligen Unmut über die Dreifachbelastung<br />

von so vielen Müttern (und Vätern!) gefunden.<br />

Von Mariam Irene Tazi-Preve<br />

kurz erklärt<br />

Mütter: Frauen werden in unserem<br />

gesellschaftspolitischen System gezwungen,<br />

sich zwischen dem Verzicht auf Kinder, dem<br />

Verzicht auf Berufstätigkeit und der<br />

Dreifachbelastung bei propagierter<br />

Vereinbarkeit zu entscheiden.<br />

Väter: Männern wird suggeriert, die Gewinner<br />

zu sein, sie sind aber ebenso in die Vorgaben<br />

des Systems eingespannt. Ihnen wird somit<br />

verunmöglicht, den Preis zu erkennen, den sie<br />

für ihr persönliches Leben zahlen müssen.<br />

Kinder: Um das System aufrechtzuerhalten,<br />

erfolgt eine dementsprechende Sozialisation<br />

der Kinder. Ihnen wird somit die Möglichkeit<br />

genommen, als nächste Generation das<br />

System grundsätzlich in Frage zu stellen<br />

und zu verändern. Voraussetzung für die<br />

Erwerbspartizipation der Eltern ist das klaglose<br />

«Funktionieren» der Kinder.<br />

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>37


Psychologie & Gesellschaft<br />

Keine Angst vor<br />

Gruselmonstern!<br />

Beim Einschlafen plagt viele Kinder die Angst, dass sich Monster,<br />

Ungeheuer oder Gespenster im Zimmer eingenistet haben. Es hilft,<br />

wenn Eltern solche Ängste kreativ angehen und den Ungeheuern<br />

mit Fantasie begegnen. Text: Susan Edthofer<br />

«Wer lernt, Ängste<br />

aktiv anzugehen,<br />

stärkt sein<br />

Selbstvertrauen.»<br />

Susan Edthofer ist Redaktorin<br />

im Bereich Kommunikation<br />

von Pro Juventute.<br />

Pyjama anziehen, Zähne putzen und hopp ins<br />

Bett», ruft der Vater seiner Tochter zu. Weil<br />

Eva weiss, dass Papa noch eine Geschichte<br />

erzählt, geht alles relativ schnell und ohne<br />

Widerrede. Bloss gruselig darf die Geschichte<br />

nicht werden, denn das siebenjährige Mädchen hat<br />

seit einiger Zeit Mühe, einzuschlafen. Aus unerfindlichen<br />

Gründen ist es überzeugt, dass ein Gruselmonster<br />

bei ihm übernachtet. Deshalb wird das Einschlafen<br />

meist zur Prozedur. Dunkel darf es nicht sein im Zimmer,<br />

und die Türe muss offen bleiben. Aus Erfahrung<br />

wissen Evas Eltern, dass ihre Tochter noch ein paar Mal<br />

rufen wird: «Ich cha nöd ischlofe.» Obwohl das Monster<br />

eigentlich bereits vertrieben wurde.<br />

Immer wieder fragen sich Eltern, wie man gegen<br />

«Einschlaf-Ungeheuer» ankommt. Evas Eltern haben<br />

gelernt, die Ängste ihrer Tochter ernst zu nehmen und<br />

auf Kinderebene zu reagieren. Statt unter das Bett zu<br />

schauen und zu entgegnen, dass sich da unten nichts<br />

versteckt, überlegen Mama und Papa gemeinsam mit<br />

Eva, wie sich verhindern lässt, dass sich Monster überhaupt<br />

in ihrem Zimmer einnisten.<br />

Die Kunst, Monster in Schach zu halten<br />

Mütter und Väter brauchen einen Reichtum an Ideen,<br />

wenn es darum geht, Ängste zu besiegen und ungebetene<br />

Gestalten aus den Zimmern ihrer Kinder zu vertreiben.<br />

Kinder besitzen viel Fantasie, was man anstellen<br />

muss, um angsteinflössende Gestalten in Schach zu<br />

halten. Eltern können sich diese Vorstellungskraft im<br />

Umgang mit Ungeheuern zunutze machen und Strategien<br />

auf Kinderebene entwickeln. So machte der neunjährige<br />

Tim eine Zeit lang abends Krach, damit das<br />

Monster aus Angst gar nicht erscheine. Die kleine Laura<br />

zähmte das Krokodil mit ihrem Lieblingspausenstengel.<br />

Und ihr Freund Elias überlistete das Gespenst und<br />

schlief nur ein, wenn noch etwas Licht brannte. Einzig<br />

wenn die Eltern nicht zu Hause waren, reichte diese<br />

Massnahme nicht aus. Dann baute er eine Gespensterfalle<br />

und spannte Fäden quer durch sein Zimmer.<br />

Kinder, die lernen, ihre Ängste aktiv anzugehen, stärken<br />

ihr Selbstvertrauen und entwickeln ein grösseres<br />

Selbstbewusstsein. Eltern können diese Entwicklung<br />

unterstützen und ihr Kind bestärken. In der Hoffnung,<br />

dass das Einschlafen bald wieder störungsfrei verläuft.<br />

Was Eltern tun können – vier Tipps<br />

• Nehmen Sie die Angst Ihres Kindes ernst. Vielleicht hilft es, wenn<br />

beim Einschlafen noch ein Lichtschein zu sehen ist, die Türe<br />

offen bleibt, leise Musik erklingt oder ein Kuscheltier aufpasst und<br />

Wache hält.<br />

• Helfen Sie Ihrem Kind, Strategien zu entwickeln, um seine Angst<br />

zu überwinden. Es fördert das Selbstbewusstsein und<br />

Selbstvertrauen Ihres Kindes, wenn es lernt, seiner Angst aktiv zu<br />

begegnen und diese womöglich zu besiegen.<br />

• Suchen Sie zusammen mit Ihrem Kind nach Lösungen, um<br />

furchteinflössende Gestalten fernzuhalten, zu vertreiben oder<br />

zu besänftigen.<br />

• Manchmal helfen auch Symbole, beispielsweise ein Traumfänger,<br />

ein selbst gezeichnetes Monster-Stoppschild, ein Duftspray,<br />

den Ungeheuer scheusslich finden, Gefahren der Nacht und<br />

Ungeheuer fernzuhalten.<br />

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Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder online<br />

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38 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Kolumne<br />

«Der häufige Wechsel zwischen zwei<br />

Wohnorten verunsichert ein Kind»<br />

Die Eltern des neunjährigen Bela teilen sich die elterliche Sorge. Das funktioniert gut.<br />

Doch seit einiger Zeit wirkt der Bub verträumt, unaufmerksam und unkooperativ.<br />

In einem Brief bittet die Mutter von Bela Jesper Juul um Rat.<br />

Jesper Juul<br />

ist Familientherapeut und Autor<br />

zahlreicher internationaler Bestseller<br />

zum Thema Erziehung und Familien.<br />

1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />

nach dem Schulabschluss zur See, war<br />

später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />

und Barkeeper. Nach der<br />

Lehrerausbildung arbeitete er als<br />

Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />

und bildete sich in den Niederlanden<br />

und den USA bei Walter Kempler zum<br />

Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />

leidet Juul an einer Entzündung der<br />

Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />

Rollstuhl.<br />

Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />

Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />

Ehe geschieden.<br />

Ich lebe mit meinem neunjährigen<br />

Sohn Bela getrennt von<br />

seinem Vater. Wir haben uns<br />

getrennt, als unser Sohn vier<br />

alt war. Obwohl die Trennung<br />

sehr anstrengend verlief, waren wir<br />

uns in Bezug auf Bela meistens einig.<br />

Wir haben unsere Differenzen nicht<br />

über unseren Sohn ausgetragen.<br />

Ich arbeite selbständig, drei Tage<br />

pro Woche ist das Kind bei einer<br />

Tagesmutter. Jeden Dienstagabend<br />

geht Bela zu seinem Vater und<br />

kommt am Donnerstag zurück. Die<br />

Wochenenden teilen wir auf. Jeden<br />

zweiten Samstag wohnt er bis Sonntag<br />

beim Vater. In den Ferien verbringt<br />

er zwei bis drei Wochen bei<br />

ihm, den Rest bei mir oder bei Verwandten.<br />

Bela ist ein kreatives, offenes und<br />

flexibles Kind und hat ganz tolle Seiten.<br />

In der Schule bereiten ihm die<br />

Selbst organisation und die Grafomotorik<br />

allerdings Schwierigkeiten,<br />

und es wurde bei ihm zudem eine<br />

Lese- und Schreibschwäche festgestellt.<br />

Seit einiger Zeit fordert mich Bela<br />

sehr. Erst hat er beim Zähneputzen<br />

komplett dichtgemacht und mir vor­<br />

Ihre Liebe und Offenheit macht<br />

es dem Kind unmöglich,<br />

seine unbehaglichen Gefühle<br />

auszudrücken.<br />

geworfen, ich sage immer, er sei<br />

noch zu klein und dumm und er<br />

dürfe nichts selbst machen. Was<br />

mich extrem erstaunt hat, da ich<br />

eher grosszügig bin und ihm viele<br />

Dinge zutraue.<br />

In anderen Bereichen behandle<br />

ich ihn tatsächlich wie ein Kleinkind.<br />

Ich weiss nicht, wie oft ich ihn<br />

schon gebeten habe, seinen Rucksack<br />

auszuräumen, die Schuhe nicht<br />

nass aufs Parkett zu stellen, die Hände<br />

mit Seife zu waschen (ich bin<br />

immungeschwächt), die Toilette zu<br />

spülen, das Geschirr abzuräumen.<br />

Doch ihm scheinen diese Dinge<br />

komplett egal zu sein. In Gedanken<br />

ist er ganz woanders.<br />

Ich bestrafe ihn nicht dafür. Stattdessen<br />

renne ich hinter ihm her und<br />

predige. Das muss ihn unheimlich<br />

nerven. Mich nervt es auch. Über<br />

Konflikte und Gefühle zu reden,<br />

hasst er und versucht sich zu entziehen.<br />

Irgendetwas mache ich dabei<br />

wohl falsch.<br />

Inzwischen haben wir ein ge ­<br />

meinsames Gespräche vereinbart,<br />

einmal die Woche. Ich habe Bela<br />

gesagt, dass ich ihm gerne zuhören<br />

und von ihm gehört werden möchte.<br />

Das fand er viel überzeugender als<br />

«ich will mit dir reden».<br />

Wie kann ich unsere Beziehung<br />

und Situation ändern? Wie weiss<br />

ich, was ich ihm an Verantwortung<br />

übertragen kann, ohne ihn zu überfordern?<br />

Freundliche Grüsse, Frau K.<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

40 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Jesper Juul antwortet<br />

Liebe Frau K.<br />

Haben Sie vielen Dank für Ihr Vertrauen<br />

und die sehr gute Be ­<br />

schreibung Ihrer Familiensituation.<br />

Es besteht kein Zweifel, dass Sie und<br />

Ihr Mann sich in Bezug auf Belas<br />

Leben und Wohlergehen grosse<br />

Mühe geben. Was also will Ihnen<br />

sein Verhalten sagen?<br />

Gegen Ende meiner Antwort<br />

werde ich Ihnen meine «Übersetzung»<br />

seines Verhaltens geben. Ich<br />

schlage vor, dass Sie ihm diese bei<br />

Ihrem nächsten Treffen vorlesen.<br />

Seine Reaktion darauf ist die ultimative<br />

Rückmeldung für uns alle.<br />

Wenn Eltern versuchen, das<br />

«Richtige» für ihr Kind zu tun, und<br />

dabei sehr offen sind, fühlt sich das<br />

Kind in diesem Moment wirklich<br />

geliebt und geschätzt. Gleichzeitig<br />

macht diese Erfahrung es dem Kind<br />

aber unmöglich, seine unbehaglichen<br />

Gefühle auszudrücken.<br />

Ich schätze, dass diese Erfahrung<br />

einen Teil von Belas unangenehmen<br />

Gefühlen ausmacht und diese Reaktion<br />

hervorruft, wenn Sie mit ihm<br />

über Emotionen und Konflikte<br />

reden möchten.<br />

Ein anderer Aspekt des Problems<br />

resultiert aus Ihrem Eifer und Ihrer<br />

Entschlossenheit, «Probleme» zu<br />

analysieren und zu lösen. Kinder<br />

denken und betrachten viel langsamer<br />

als Erwachsene. Oft ist es besser<br />

zu sagen: «Hör zu, ich habe über XY<br />

von heute Morgen nachgedacht und<br />

möchte wissen, was du darüber<br />

denkst. Bitte lass es mich wissen,<br />

sobald du weisst, was du sagen<br />

möchtest. Solltest du es vergessen,<br />

werde ich dich in ein paar Tagen<br />

wieder danach fragen.»<br />

Von der Art und Weise, wie Sie<br />

Ihre momentane Familiensituation<br />

beschreiben, erhalte ich den Eindruck,<br />

dass Bela einen Zeitplan hat,<br />

der für ihn zu anspruchsvoll ist, um<br />

ihm folgen zu können. Meine Erfahrungen<br />

zeigen, dass die meisten<br />

Kinder betrachten Dinge viel<br />

langsamer als wir Erwachsene.<br />

Oft ist es besser, ihnen ein paar Tage<br />

Zeit für eine Entscheidung zu geben.<br />

Kinder das Gefühl haben, eine Regelung,<br />

bei der sich die Wohnorte nur<br />

wöchentlich wechseln (sieben Tage<br />

beim Vater, sieben bei der Mutter),<br />

sei das optimale Arrangement für<br />

sie. Dies gilt, bis sie in die Pubertät<br />

kommen und ihren Zeitplan besser<br />

ihren persönlichen Bedürfnissen<br />

anpassen können. Das Problem für<br />

Eltern besteht darin, dass Kinder zu<br />

viel Rücksicht auf die Bedürfnisse<br />

ihrer Eltern nehmen, sich anpassen<br />

und deswegen dazu neigen, zu<br />

«lügen», wenn wir sie fragen.<br />

Ihren Sohn verstehe ich so: «Liebe<br />

Eltern, ich wünschte, ich könnte<br />

euch erzählen, wie hart es für mich<br />

ist, so zu leben, aber ich kann die<br />

Worte dafür nicht finden und ich<br />

habe Angst davor, dass ihr euch über<br />

mich ärgert, wenn ich es sage.<br />

Manchmal fühle ich mich wie ein<br />

viel kleineres Kind und benehme<br />

mich kindisch, und manchmal<br />

möchte ich einfach NEIN sagen und<br />

frech sein. Ich weiss, was ihr von mir<br />

erwartet, aber das ist zu viel. Ich bin<br />

erst neun Jahre alt.»<br />

Mein Vorschlag ist, dass Sie ihm<br />

erzählen, was Sie mir geschrieben<br />

haben, und ihn fragen, ob er hören<br />

beziehungsweise lesen möchte, was<br />

meiner Meinung nach in seinem<br />

Kopf vorgeht. Wenn Sie und er<br />

gewillt sind, das zu tun, gibt es zwei<br />

Möglichkeiten:<br />

• Meine Worte werden ihn bewegen,<br />

und er wird Ihnen erzählen,<br />

was Sie wissen müssen. Sie und<br />

sein Vater müssen dann einen<br />

oder zwei alternative Zeitpläne<br />

erarbeiten und ihn bitten, zu wählen.<br />

Bitten Sie aber NICHT ihn<br />

um alternative Vorschläge. Dies<br />

ist Ihr Job als Eltern. Erinnern Sie<br />

sich immer daran, wie extrem loyal<br />

er Ihren Bedürfnissen gegenüber<br />

ist.<br />

• Er widerspricht mir. In diesem<br />

Fall müssen Sie von diesem Punkt<br />

aus weitergehen und Ihre Kreativität<br />

und Flexibilität nutzen, um<br />

die Bedürfnisse aller zu kombinieren.<br />

Ich wünsche Ihnen viel Glück!<br />

Jesper Juul<br />

Haben auch Sie eine Frage an Jesper Juul,<br />

die er persönlich beantworten soll?<br />

Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch oder<br />

einen Brief an: Schweizer ElternMagazin<br />

Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97,<br />

80<strong>08</strong> Zürich<br />

Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />

in Zusammenarbeit mit<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>41


Lernmythen auf dem Prüfstand<br />

Es gibt viele Vorstellungen und Ratschläge darüber, wie Kinder «richtig» lernen. Dabei zeigt die<br />

jüngste Forschung, dass wir unseren Kindern deutlich mehr Freiheiten lassen können als<br />

bisher angenommen. Eine Bestandsaufnahme. Text: Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund<br />

Wie sieht «richtiges<br />

Lernen»<br />

aus? Dazu gibt<br />

es eine Menge<br />

Vorstellungen<br />

und Ratschläge, die seit Jahrzehnten<br />

weitergegeben werden. Lernt ein<br />

Kind oder Jugendlicher auf eine<br />

andere Art und Weise, wird er rasch<br />

dazu aufgefordert, sich beispielsweise<br />

«ordentlich hinzusetzen und<br />

nicht herumzuhampeln». Es wird<br />

ihm erklärt, dass man sich so «doch<br />

nicht konzentrieren kann» und er<br />

sich nicht wundern müsse, wenn am<br />

Ende nichts hängen bleibe.<br />

Doch dürfen wir den gängigen<br />

Lernratgebern trauen, wenn sie<br />

einen festen Arbeitsplatz und Ruhe<br />

verordnen und betonen, dass das<br />

Kind die Hausaufgaben in einer<br />

ordentlichen Arbeitshaltung alleine<br />

in seinem Zimmer machen soll?<br />

Die Forschung zeigt: Wir dürfen<br />

den Kindern und Jugendlichen<br />

guten Gewissens deutlich mehr<br />

Freiheiten lassen als bisher angenommen.<br />

Mythos 1: Mach die Musik<br />

aus! So kannst du dich doch<br />

nicht konzentrieren!<br />

Dieser Ratschlag ist für viele Menschen<br />

hilfreich. Vor allem introvertierten<br />

Personen gelingt es besonders<br />

gut, sich zu fokussieren, wenn sie in<br />

Ruhe arbeiten können – das zeigt die<br />

Forschung eindrücklich.<br />

Es gibt jedoch auch Menschen,<br />

die das Arbeiten bei Stille als Qual<br />

Bild: Salvatore Vinci /13 Photo<br />

42 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

empfinden. Gerade bei leicht<br />

ablenkbaren Kindern wird oft empfohlen,<br />

dass die Lernumgebung<br />

möglichst reizarm sein soll. Neuere<br />

Studien deuten jedoch darauf hin,<br />

dass dies kontraproduktiv ist. Die<br />

Stille führt bei unaufmerksamen<br />

Kindern dazu, dass sie innerlich<br />

unruhig werden und unbewusst<br />

nach Ablenkung suchen. In Studien<br />

machten diese Kinder beim Lösen<br />

von Mathematikaufgaben weniger<br />

Fehler, wenn sie dazu Musik hören<br />

durften. Sie konnten sich bei einem<br />

Gedächtnistest auch an mehr erinnern,<br />

wenn während der Lernphase<br />

moderate Hintergrundgeräusche zu<br />

hören waren.<br />

Viele Jugendliche berichten zu ­<br />

dem, dass sie die richtige Musik in<br />

die nötige Stimmung versetze, um<br />

auch unliebsamen Aufgaben zu Leibe<br />

zu rücken. Neben der Konzentration<br />

kann also auch die Motivation<br />

durch die passende Musik<br />

gefördert werden.<br />

Wenn Ihr Kind mit Musik arbeiten<br />

möchte, empfehlen wir Folgendes:<br />

Erstellen Sie gemeinsam eine<br />

Playlist mit Liedern, die sich zum<br />

Lernen eignen (eher ruhige Stücke<br />

ohne Text). Das Drücken der Playtaste<br />

kann von diesem Moment an<br />

zum Startsignal werden und dem<br />

Kind helfen, anzufangen und in die<br />

Arbeit einzutauchen.<br />

Was jedoch stört, sind Geräusche,<br />

die zum Hinhören und Mitmachen<br />

einladen – beispielsweise der<br />

Ton eines spannenden Films, der im<br />

Hintergrund läuft, eine Radioansage<br />

oder Gespräche von anderen.<br />

Zum Thema Musik gilt also: ausprobieren!<br />

Wir Menschen reagieren<br />

unterschiedlich darauf. Für den<br />

einen ist sie eine Lernhilfe, für den<br />

anderen eine Belastung und Ablenkung.<br />

Ein Kinderzimmer ist mit<br />

Freizeitstimmung assoziiert.<br />

Es ist ein denkbar schlechter<br />

Ort zum Lernen.<br />

stärker auf Wissen verlassen, das<br />

man an unterschiedlichen Orten<br />

gelernt hat.<br />

Ähnlich verhält es sich mit Konditionierungseffekten:<br />

Macht ein<br />

Kind regelmässig sehr positive<br />

Erfahrungen beim Lernen, hilft ihm<br />

ein fixer Arbeitsort, in seine Arbeitsstimmung<br />

zu kommen. Bei vielen<br />

Kindern, die das Lernen eher mit<br />

Frust und Mühsal verbinden, passiert<br />

genau das Gegenteil. Kaum<br />

sitzen sie auf ihrem Bürostuhl am<br />

Pult, kann man zusehen, wie sie<br />

innerlich abschalten und körperlich<br />

erschlaffen. Das Gesicht schläft ein,<br />

der Blutdruck sinkt ab und sie<br />

beginnen zu gähnen.<br />

In diesem Fall kann ein Ortswechsel<br />

einen Neustart mit sich<br />

bringen und dem Kind dabei helfen,<br />

neue, positivere Erfahrungen mit<br />

dem Lernen zu verknüpfen.<br />

Konditionierungseffekte machen<br />

auch das eigene Zimmer für viele<br />

Kinder und Jugendliche zum un ­<br />

günstigsten Lernort überhaupt.<br />

Denn was tut das Kind normalerweise<br />

in seinem Schlafzimmer?<br />

Spielen! Dieser Ort ist demnach mit<br />

Freizeitstimmung assoziiert. Kaum<br />

rollt Ihr Kind mit dem ergonomisch<br />

geformten Stuhl an den höhenverstellbaren<br />

Tisch, fallen ihm die<br />

spannenden Spielsachen ins Auge.<br />

Die Sehnsucht, aufzustehen und sich<br />

damit zu beschäftigen, wächst.<br />

Nun benötigt das Kind eine grosse<br />

Portion Selbstdisziplin, um seine<br />

Aufmerksamkeit weiterhin auf die<br />

gierten Müttern und Vätern pilgern<br />

mit dem Nachwuchs in die Büroabteilungen,<br />

um ergonomisch geformte<br />

Schreibtischstühle, höhenverstellbare<br />

Pulte und augenfreundliche<br />

Leselampen auf Herz und Nieren zu<br />

prüfen. Kurze Zeit später ist der optimale<br />

Arbeitsplatz im Kinderzimmer<br />

eingerichtet. So weit, so gut. Vieles<br />

spricht dafür, die Hausaufgaben stets<br />

im Kinderzimmer zu erledigen: das<br />

Kind kann sich zurückziehen, wird<br />

nicht von den Geschwistern bei der<br />

Arbeit unterbrochen und sollte nach<br />

und nach lernen, selbständig zu<br />

arbeiten.<br />

Für einen fixen Arbeitsort scheinen<br />

auch Konditionierungseffekte<br />

zu sprechen: Wird immer am gleichen<br />

Ort gearbeitet, verbindet das<br />

Gehirn diesen Ort nach und nach<br />

mit dieser Tätigkeit. Das kann sehr<br />

nützlich sein: Sobald Sie sich ins<br />

Büro setzen und den Computer<br />

hochfahren, fühlen Sie sich in<br />

Arbeitsstimmung versetzt.<br />

Zudem zeigen Studien aus der<br />

Gedächtnisforschung, dass man sich<br />

besser an Inhalte erinnert, wenn<br />

man diese mehrmals am gleichen<br />

Ort lernt und dort abruft. Zu diesem<br />

Thema wurden einige interessante<br />

Experimente durchgeführt. So<br />

konnten beispielsweise Taucher, die<br />

sich unter Wasser Listen mit Wörtern<br />

eingeprägt hatten, diese unter<br />

Wasser besser erinnern als an Land<br />

und umgekehrt. Diese Wirkung der<br />

Umgebung auf die Lern- und Abrufleistung<br />

wird als kontextabhängiges<br />

Erinnern bezeichnet.<br />

Genau diese beiden Effekte können<br />

aber auch zur Falle werden. Der<br />

Mechanismus des kontextabhängigen<br />

Erinnerns spricht nicht unbedingt<br />

dafür, immer am gleichen Ort<br />

zu lernen. Prägt man sich den Stoff<br />

immer in derselben Umgebung ein,<br />

kann man sich dort zwar besser an<br />

das Gelernte erinnern – dafür wird<br />

es an allen anderen Orten schwieriger.<br />

Wenn man also nicht die Chan­<br />

Mythos 2: Kinder benötigen<br />

einen fixen Arbeitsplatz!<br />

Wenn der Schuleintritt bevorsteht,<br />

haben die Möbelhäuser einmal mehr ce hat, genau dort zu lernen, wo Aufgaben zu lenken. Es sagt sich<br />

Hochkonjunktur. Scharen an enga­ auch geprüft wird, kann man sich vielleicht: «Eigentlich wür­ >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>43


Lerntipps für Jugendliche<br />

Die neue Filmserie<br />

mit Adi & Jess<br />

«Adi, du machst wirklich super<br />

Arbeit, aber wenn du den<br />

Lehrabschluss nicht schaffst,<br />

können wir dich hier im Betrieb<br />

nicht behalten!» Diese Ansage<br />

des Lehrmeisters hat gesessen.<br />

Zum Glück tritt die quirlige Jess<br />

in Adis Leben und hilft ihm,<br />

das Steuer herumzureissen.<br />

Erleben Sie in fünf Episoden,<br />

wie sich Adi in dieser turbulenten<br />

Zeit behauptet, gegen<br />

innere und äussere Hindernisse<br />

kämpft und Verantwortung für<br />

seine Zukunft übernimmt. Wird<br />

es Adi gelingen, im Wettlauf<br />

gegen die Zeit und seinen<br />

inneren Schweinehund zu<br />

triumphieren?<br />

Die erste Folge der neuen Serie<br />

finden Sie auf der Website<br />

www.fritzundfraenzi.ch unter<br />

der Rubrik Video.<br />

Starten Sie<br />

die aktuelle<br />

Fritz+Fränzi-App,<br />

scannen Sie diese Seite –<br />

und schon sehen Sie die<br />

oben beschriebene<br />

erste Folge.<br />

Bewegung unterstützt das<br />

Gehirn dabei, Informationen<br />

im Kopf zu behalten.<br />

>>> dest du am liebsten am Raumschiff<br />

weiterbauen, aber du musst<br />

jetzt Hausaufgaben machen. Wo war<br />

ich nochmal? (…) Ah ja, hier.» Solche<br />

inneren Konflikte lenken ab und<br />

sind zermürbend. Hierzu ein kleines<br />

Beispiel aus der Erwachsenenwelt:<br />

Es ist vielleicht etwas ungünstig, sich<br />

zum Kaffee in einer Konditorei zu<br />

verabreden, wenn man gerade auf<br />

Diät ist. Wie lange braucht es wohl,<br />

bis der Blick zu den Rahmtorten<br />

wandert und man der süssen Verführung<br />

nachgibt?<br />

Welche Plätze würden sich für Ihr<br />

Kind eignen? Kann es auch einmal<br />

in der Küche oder im Wohnzimmer<br />

lernen? Die Vokabelliste auf die Terrasse,<br />

in die Badewanne oder in den<br />

Zug mitnehmen? Oder ist es schon<br />

älter und darf in der Schule oder in<br />

der Bibliothek arbeiten?<br />

Mythos 3: Sitz jetzt still und<br />

konzentriere dich!<br />

Manche Eltern werden ganz kribbelig,<br />

wenn sie ihren Kindern beim<br />

Lernen oder Arbeiten zusehen. Wer<br />

auf dem Stuhl herumturnt, den<br />

Radiergummi von einer Hand in die<br />

andere wandern lässt oder sich am<br />

Boden mit dem Lesebuch in seltsame<br />

Positionen verknotet, kann doch<br />

nicht wirklich konzentriert sein,<br />

oder? Bei dieser Annahme handelt<br />

es sich offenbar um einen Trugschluss.<br />

Forscher konnten nämlich<br />

nachweisen, dass Primarschüler sich<br />

bei Stillarbeiten mehr bewegen,<br />

sobald ihr Arbeitsgedächtnis beansprucht<br />

wird. Mussten Kinder sich<br />

beispielsweise eine Fülle von Zahlen<br />

und Buchstaben merken und diese<br />

am Ende in eine Reihenfolge bringen,<br />

also eine klassische Aufgabe für<br />

das Kurzzeitgedächtnis lösen, nahm<br />

ihre körperliche Unruhe zu.<br />

Bewegung unterstützt das Gehirn<br />

offenbar dabei, Informationen im<br />

Kopf zu behalten. Vielleicht ist<br />

Ihnen auch schon einmal aufgefallen,<br />

wie man – ohne gross darüber<br />

nachzudenken – aufsteht und im<br />

Zimmer umhergeht, wenn man sich<br />

die Inhalte für eine Präsentation einprägen<br />

möchte oder fieberhaft nach<br />

Lösungen für ein Problem sucht.<br />

Schon im antiken Rom war der<br />

förderliche Effekt von Bewegung auf<br />

die Gedächtnisleistung bestens be ­<br />

kannt. So prägten sich Profiredner<br />

wie der bekannte Politiker Marcus<br />

Tullius Cicero ihre ellenlangen<br />

Manuskripte am liebsten im Gehen<br />

ein. Vielleicht darf Ihr Kind das<br />

nächste Mal durch den Garten streifen,<br />

wenn es ein Gedicht auswendig<br />

lernen muss, oder ein wenig Trampolin<br />

hüpfen, während Sie ihm<br />

Einmaleins-Rechnungen oder<br />

Vokabeln vorgeben?<br />

Mythos 4: Lernen muss Spass<br />

machen!<br />

Während die bisher beschriebenen<br />

Mythen bereits von unseren Eltern<br />

und Grosseltern geäussert wurden,<br />

ist die Überzeugung, dass Lernen<br />

nur dann effektiv ist, wenn es durchgehend<br />

Spass macht, erst seit Kurzem<br />

auf dem Vormarsch. In diesem<br />

Credo steckt viel Wahrheit, aber es<br />

lohnt sich auch hier, etwas genauer<br />

hinzusehen.<br />

Im Allgemeinen gilt: Freude,<br />

Neugier und Begeisterung machen<br />

es uns leichter, uns auf ein Themengebiet<br />

einzulassen, neues Wissen<br />

aufzunehmen und unsere Fähigkei­<br />

44 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Begeisterung beim Lernen<br />

führt nicht automatisch<br />

zu besseren Leistungen.<br />

ten weiterzuentwickeln. Es gibt<br />

jedoch mehrere Missverständnisse<br />

rund um die obige Aussage.<br />

Das eine Missverständnis besteht<br />

darin, dass wir davon ausgehen, dass<br />

Begeisterung beim Lernen automatisch<br />

zu besseren Leistungen führt.<br />

Es macht mehr Spass, Volleyball<br />

oder Fussball zu spielen, als an der<br />

Technik zu feilen. Es ist cooler, mit<br />

Freunden zu jammen als Stunden<br />

für Fingerübungen auf der Gitarre<br />

zu investieren. Es ist auch lustvoller,<br />

Buchstaben zu kneten und aus Sandpapier<br />

auszuschneiden als sie immer<br />

wieder zu schreiben. Aber ist der<br />

Lerneffekt deswegen auch höher?<br />

Wenn man dieser Logik folgt, müssten<br />

die Menschen, die beim Üben<br />

am meisten Spass haben, auch die<br />

beste Leistung erbringen.<br />

Interessanterweise aber empfinden<br />

die Profis das Üben auf einem<br />

Gebiet als unangenehmer und<br />

anstrengender als Amateure. Ein<br />

Grossteil der Schriftsteller berichtet,<br />

dass das Schrei ben ihre grösste Leidenschaft<br />

sei und gleichzeitig eine<br />

zuverlässige Quelle von Anstrengung<br />

und Mühsal. Für Peter Bichsel<br />

bedeutet «eine Kolumne zu schreiben»<br />

beispielsweise «eine ganze<br />

Woche Leidenszeit». Und der<br />

bekannte Schriftsteller Philip Roth<br />

meint: «Es ist eine Qual. Wenn ich<br />

ein Kind hätte, das Schriftsteller<br />

werden wollte, würde ich versuchen,<br />

ihm das auszureden.»<br />

Im Grunde wissen wir es alle –<br />

wir hören es nur nicht gerne: Wenn<br />

wir in einem Bereich wirklich Fortschritte<br />

machen wollen, ist das<br />

anstrengend. Wenn wir uns in der<br />

Rechtschreibung verbessern möchten,<br />

sollten wir herausfinden, wo wir<br />

die meisten Fehler machen – und<br />

dann beispielsweise zwei Monate<br />

lang jeden Tag während zehn Minuten<br />

die Gross- und Kleinschreibung<br />

üben. Wenn wir unsere Vortragskompetenzen<br />

erweitern möchten,<br />

wäre es wertvoll und unangenehm,<br />

sich dabei auf Video aufzunehmen,<br />

daraus spezifische Verbesserungsmöglichkeiten<br />

abzuleiten und mit<br />

Ausdauer daran zu feilen.<br />

Überall, wo die Leistung klar<br />

messbar ist – zum Beispiel im Sport<br />

oder in der klassischen Musik –,<br />

folgt das Üben einer gewissen Struktur.<br />

Übergeordnete Fertigkeiten<br />

werden in Teilfertigkeiten zerlegt,<br />

die jeweils intensiv geübt werden.<br />

Freude, spielerisches Entdecken,<br />

Kreativität und Begeisterung: All<br />

das soll in der Schule Platz haben<br />

und einen wichtigen Stellenwert<br />

besitzen. Bestimmte Grundfertigkeiten<br />

müssen aber einfach trainiert<br />

und automatisiert werden. Sonst<br />

sind kreative Leistungen nicht möglich.<br />

Wer beispielsweise ständig über<br />

die Rechtschreibung nachdenken<br />

und sich jedes Mal fragen muss, ob<br />

man ein Wort gross- oder kleinschreibt,<br />

kann schlecht die Handlung<br />

des Aufsatzes weiterspinnen.<br />

Wenn es um den Aufbau solcher<br />

Fertigkeiten geht, ist Üben notwendig<br />

und nicht altmodisch.<br />

Es ist spannend, dazu einen Blick<br />

in das Gehirn zu werfen. Dabei wird<br />

deutlich: Wenn wir etwas Neues lernen,<br />

wird vor allem der präfrontale<br />

Kortex, der Sitz unseres bewussten<br />

Denkens, aktiviert. Dieser Teil des<br />

Gehirns arbeitet seriell: Eins nach<br />

dem anderen. Wir können nicht<br />

gleichzeitig über zwei Sachen nachdenken.<br />

Wenn wir etwas so lange üben, bis<br />

es automatisiert ist, übernehmen<br />

andere Bereiche des Gehirns diese<br />

Aufgabe. Ab dieser Stufe können wir<br />

die Aufgabe ohne bewusstes Nachdenken<br />

lösen. Der präfrontale Kortex<br />

wird entlastet und kann sich einer<br />

anderen, zusätzlichen Aufgabe<br />

zuwenden: Das Kind kann sich nun<br />

die Schuhe binden und gleichzeitig<br />

mit Ihnen plaudern. Es schreibt die<br />

Nomen gross, ohne sich bei jedem<br />

Wort zu fragen, ob man der/die/das<br />

davorsetzen kann – und kann sich<br />

stattdessen auf seine Geschichte konzentrieren.<br />

Es kann mit den Augen<br />

auf dem Notenblatt verweilen und<br />

das Stück interpretieren, anstatt<br />

andauernd auf die Klaviertasten zu<br />

schielen, um den richtigen Ton zu<br />

treffen.<br />

Halten wir also fest: Übung und<br />

Automatisierung sind keine Gegenspieler<br />

von Kreativität und Flexibilität,<br />

sondern deren Voraussetzung.<br />

Es ist erfreulich und kindgerecht,<br />

dass die Schule von unnötigem Drill<br />

weggekommen ist und dem spielerischen<br />

Lernen und Entdecken mehr<br />

Raum gibt. Aber wir sollten das<br />

Üben und Schleifen – dort, wo es<br />

notwendig ist – nicht verteufeln.<br />

Stefanie Rietzler<br />

Fabian Grolimund<br />

>>><br />

sind Psychologen und leiten die Akademie für<br />

Lerncoaching in Zürich. Sie sind Autoren der<br />

Bücher «Mit Kindern lernen» und «Erfolgreich<br />

lernen mit ADHS».<br />

Weitere Tipps rund um das Thema Lernen<br />

finden Sie unter: www.mit-kindern-lernen.ch<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>45


In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post<br />

«Nicht schon wieder schreiben»<br />

Für Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche ist das Lesen und Schreiben ein «Chnorz».<br />

Die Logopädin Andrea Weber-Hunziker über Anzeichen und Ursachen und wie das Lernen<br />

in der Schule trotzdem gelingen kann. Interview: Johanna Oeschger<br />

Bild: Tim Leu<br />

Frau Weber-Hunziker, nach den ersten<br />

Schuljahren können die meisten<br />

Kinder flüssig lesen und kurze Texte<br />

schreiben. Für einige Kinder bleibt das<br />

Lesen und Schreiben ein Krampf.<br />

Warum?<br />

Wenn ein Kind grosse Mühe hat, lesen<br />

und schreiben zu lernen, könnte eine<br />

LRS, eine Lese- und Rechtschreibschwäche,<br />

die Ursache sein. Im Volksmund<br />

nennt man LRS auch «Legasthenie».<br />

Ungefähr zwei bis vier Prozent der Kinder<br />

sind von einer LRS betroffen, Jungen<br />

etwa doppelt so häufig wie Mädchen.<br />

Wie erkennt man eine Lese- und<br />

Rechtschreibschwäche?<br />

Im Rahmen einer LRS-Abklärung überprüft<br />

man das Lesen und Schreiben<br />

und führt einen Intelligenztest durch.<br />

Ausserdem müssen Ursachen wie neurologische<br />

Störungen oder eine ungenügende<br />

Förderung im Unterricht ausgeschlossen<br />

werden können.<br />

Welche Schwierigkeiten treten beim<br />

Lesen und Schreiben konkret auf?<br />

Kinder mit einer LRS lesen oft ungenau,<br />

lassen Wortendungen weg oder lesen<br />

nur den Wortanfang und erraten den<br />

Rest. Sie lesen relativ lange langsam und<br />

«abgehackt». Das kostet die Kinder so<br />

viel Anstrengung, dass es ihnen schwerfallen<br />

kann, den Sinn der Texte zu erfassen.<br />

Beim Schreiben fallen vor allem die<br />

vielen Rechtschreibfehler auf. Betroffene<br />

Kinder schreiben manchmal dasselbe<br />

Wort in einem Text in vier oder fünf<br />

verschiedenen Schreibweisen oder verwechseln<br />

Buchstaben. Es kann auch zu<br />

Umstellungen und Auslassungen von<br />

Buchstaben oder Wörtern kommen.<br />

Wie sollten Eltern vorgehen, wenn sie<br />

bei ihrem Kind eine LRS vermuten?<br />

46 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Bei Verdacht auf eine LRS sollten Eltern<br />

zunächst das Gespräch mit der Lehrperson<br />

und der Heilpädagogin suchen und<br />

dann, wenn angezeigt, eine Logopädin<br />

beziehungsweise einen Logopäden kontaktieren.<br />

Vor dem Lese- und Schreiberwerb gibt<br />

es also noch keine Anzeichen?<br />

Doch, die kann es geben. Bei Kindern<br />

mit einer LRS fällt auf Kindergartenstufe<br />

häufig auf, dass sie Mühe haben, bei<br />

gesprochenen Wörtern Reime oder einzelne<br />

Laute zu erkennen oder Silben zu<br />

klatschen. Die Kinder brauchen oft auch<br />

länger, um das Wort für Buchstaben<br />

oder Bilder abzurufen und auszusprechen.<br />

Daraus muss sich aber nicht zwingend<br />

eine LRS entwickeln.<br />

Was ist die Ursache für eine LRS?<br />

Diese Frage wird von Eltern häufig<br />

gestellt. Die Ursache von LRS kann aber<br />

nicht so einfach festgemacht werden. Es<br />

wirken unterschiedliche Faktoren<br />

zusammen. Die Erbanlage spielt eine<br />

wichtige Rolle, aber auch, wie Gehörtes<br />

und Gesehenes wahrgenommen und<br />

verarbeitet wird: Kinder mit einer LRS<br />

können z. B. Wortbilder weniger gut<br />

abspeichern und lesen deshalb Wörter<br />

nicht «automatisch», sondern müssen<br />

diese oft Buchstabe für Buchstabe oder<br />

Silbe für Silbe entziffern. Weiter kann<br />

eine LRS zusammen mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten<br />

wie einer<br />

Rechenschwäche, Schwierigkeiten bei<br />

der motorischen Koordination oder<br />

einer Sprachentwicklungsstörung auftreten.<br />

Fest steht, dass LRS nicht mit<br />

einer minderen Intelligenz zusammenhängt.<br />

Kinder mit LRS sind normal bis<br />

sehr gut begabt.<br />

Wie stark wirkt sich eine LRS auf die<br />

Schulleistung aus?<br />

Weil das Lesen und Schreiben praktisch<br />

in jedem Fach eine Rolle spielt, kann sich<br />

eine LRS auf fast alle Fächer auswirken.<br />

Für Kinder mit einer LRS kann es sehr<br />

frustrierend sein, wenn sie selbst in<br />

Mathematik bei den «Sätzchenrechnungen»<br />

oder in Musik einen Liedtext lesen<br />

müssen. Das drückt auf die Lernmotivation.<br />

Diese Erfahrungen können auch<br />

psychische und soziale Auswirkungen<br />

haben. Die Kinder nehmen sich als<br />

anders wahr und fragen sich, warum die<br />

anderen bestimmte Dinge besser können.<br />

Manchmal versuchen sie auch,<br />

bestimmte Situationen zu vermeiden,<br />

wollen beispielsweise nicht an ein<br />

Geburtstagsfest gehen aus Angst, dass<br />

sie dort etwas lesen müssen oder als<br />

dumm wahrgenommen werden.<br />

Was hilft Kindern in dieser Situation?<br />

In der logopädischen Therapie bespreche<br />

und übe ich mit den Kindern und<br />

Jugendlichen verschiedene Strategien.<br />

Beim Schreiben kann es beispielsweise<br />

wichtig sein, sich erst einmal nur auf den<br />

Inhalt zu konzentrieren und erst dann<br />

das Geschriebene systematisch mit<br />

Regeln zu überprüfen. Zu wissen, dass<br />

die Rechtschreibung logisch nach<br />

Regeln hergeleitet werden kann, ist für<br />

jemanden mit einer LRS sehr entlastend.<br />

Auch das Lesen und die Wahrnehmung<br />

von Gehörtem und Gesehenem können<br />

gezielt trainiert werden. Daneben kann<br />

auch die Stärkung des Selbstvertrauens<br />

Inhalt der Therapie sein. Grosse Erleichterung<br />

schafft zudem der Nachteilsausgleich.<br />

Was ist ein Nachteilsausgleich?<br />

Betroffene Kinder und Jugendliche sind<br />

oft aufgrund ihrer LRS in der Bildung<br />

benachteiligt. Mit einem LRS-Attest<br />

haben sie deshalb für ihren gesamten<br />

Ausbildungsweg von Primarschule über<br />

Berufsfachschule oder Gymnasium bis<br />

zur Hochschule Anrecht auf einen<br />

Nachteilsausgleich. Wie dieser aussieht,<br />

hängt von der Schulstufe und von den<br />

Bedürfnissen der betroffenen Person ab.<br />

Die Lehrpersonen können zum Beispiel<br />

die Rechtschreibung bei Prüfungen<br />

weniger stark oder gar nicht bewerten.<br />

Schafft ein Kind dank Therapie und<br />

Nachteilsausgleich alles, was es auch<br />

ohne LRS erreicht hätte?<br />

Der Erfolg einer Therapie hängt stark<br />

von der Motivation des Kindes bzw. des<br />

Jugendlichen und der Unterstützung<br />

durch die Eltern ab. Kann eine logopädische<br />

Therapie erfolgreich stattfinden<br />

und wird der Nachteilsausgleich umgesetzt,<br />

stehen die Chancen gut, dass das<br />

Kind seinen Weg im Rahmen seiner<br />

persönlichen Möglichkeiten gehen<br />

kann.<br />

LRS-Therapie: So können Eltern<br />

ihr Kind unterstützen<br />

• Regelmässig das Gespräch mit der Lehrperson<br />

und der Logopädin / dem Logopäden suchen.<br />

• Den Nachteilsausgleich geltend machen.<br />

• Bei den Hausaufgaben entlasten: einen ruhigen<br />

Arbeitsplatz bieten und Tipps aus der Therapie<br />

umsetzen (z. B. abwechselnd lesen, Texte mit<br />

Hilfsmitteln überprüfen).<br />

• Freude am Lesen und Schreiben wecken:<br />

Lese material bereitstellen, das den Interessen und<br />

dem Niveau des Kindes entspricht. Gemeinsame<br />

Projekte entwickeln, bei denen die Kinder<br />

«nebenbei» lesen und schreiben, z. B. vor dem<br />

Ausflug gemeinsam den Fahrplan lesen.<br />

• Druck abbauen: Zusätzliches Üben kann sinnvoll<br />

sein. Dies sollte aber spielerisch und ohne<br />

Leistungsdruck stattfinden.<br />

• Vermeiden Sie Stresssituationen wie z. B. lautes<br />

Vorlesen vor Leuten.<br />

Starten Sie<br />

die aktuelle<br />

Fritz+Fränzi-App,<br />

scannen Sie diese Seite<br />

und schauen Sie in eine<br />

LRS-Therapiestunde<br />

hinein.<br />

Zur Person<br />

Andrea Weber-Hunziker ist diplomierte<br />

Logopädin EDK. In der Praxis für Logopädie<br />

Lautart (www.lautart.ch) in Bern führt sie<br />

Abklärungen und Therapien von Kindern<br />

und Jugendlichen im Alter von 3 bis<br />

20 Jahren durch und bietet Beratungen<br />

für Eltern und Fachpersonen an.<br />

Johanna Oeschger<br />

ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin,<br />

unterrichtet Deutsch und Englisch<br />

auf der Sekundarstufe II und arbeitet<br />

als Mediendidaktikerin bei LerNetz.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>47


Elterncoaching<br />

Wenn Kinder sich vergleichen<br />

Für unsere Entwicklung ist es wichtig, dass wir uns mit anderen<br />

messen. Was aber sollen Eltern tun, wenn das eigene Kind sich<br />

ständig vergleicht und daraus Enttäuschung und Frust entstehen?<br />

Fabian Grolimund<br />

ist Psychologe und Autor («Mit<br />

Kindern lernen»). In der Rubrik<br />

«Elterncoaching» beantwortet<br />

er Fragen aus dem Familienalltag.<br />

Der 37-Jährige ist verheiratet<br />

und Vater eines Sohnes, 4,<br />

und einer Tochter, 1. Er lebt<br />

mit seiner Familie in Freiburg.<br />

www.mit-kindern-lernen.ch<br />

www.biber-blog.com<br />

Im Frühling 1960 lieferten sich<br />

in einem Innenhof in St. Gallen<br />

zwei Kindergartenkinder<br />

das folgende hitzige Wortgefecht:<br />

«Meine Eltern haben das grössere<br />

Auto als ihr!» – «Dafür haben wir<br />

ein Haus!» – «Aber ein altes! Wir<br />

haben eine neue Wohnung und<br />

mehr Geld!» Jetzt wurde es schwierig<br />

für meinen Onkel: «Dafür hat<br />

mein Vater mehr Kinder!» – «Aber<br />

wir reisen dafür in den Ferien weiter<br />

weg!» Mein Onkel hörte sich fast<br />

verzweifelt an, als er seinen letzten<br />

Trumpf ausspielte: «Dafür hat mein<br />

Vater viel mehr Haare auf dem<br />

Bauch als deiner!» Mit dem haarigen<br />

Argument hatte mein Onkel, damals<br />

fünf Jahre alt, den Schlagabtausch<br />

gewonnen.<br />

Eltern fragen mich immer wieder,<br />

wie sie ihren Kindern das Vergleichen<br />

abgewöhnen und sie darin<br />

bestärken können, mehr auf die<br />

eigenen Stärken und Fortschritte zu<br />

achten.<br />

Bevor ich auf diese Frage eingehe,<br />

möchte ich betonen, dass es zur<br />

Bleiben Sie gelassen, wenn Kinder<br />

sich vergleichen. Kommentieren Sie<br />

so wenig wie möglich.<br />

Oft reicht ein «Hm» oder «Aha».<br />

natürlichen Entwicklung eines Kindes<br />

gehört, sich mit anderen zu vergleichen<br />

und zu messen.<br />

Sobald Kinder sich selbst und<br />

andere erforschen, beginnen sie, auf<br />

Ähnlichkeiten und Unterschiede zu<br />

achten. Kleineren Kindern fallen<br />

zunächst die gut sichtbaren äusseren<br />

Unterschiede auf – insbesondere<br />

diejenigen, die in der kindlichen<br />

Welt Bedeutung haben: Wer ist der<br />

Grösste, der Stärkste, die mit den<br />

längsten Haaren?<br />

Jüngere Kinder sind dabei meist<br />

noch sehr von sich selbst überzeugt.<br />

Und natürlich sind auch ihre Väter<br />

die Stärksten und Grössten, das<br />

Mami das Schönste. Nach und nach<br />

entdecken sie, dass andere in be ­<br />

stimmten Dingen besser abschneiden.<br />

Erste Enttäuschungen schleichen<br />

sich ein, und gleichzeitig wird<br />

das Bild von sich und anderen differenzierter:<br />

«Papa, der Papa von<br />

Marius ist grösser als du!»<br />

Im Grundschulalter, wenn die<br />

Gleichaltrigen wichtiger werden<br />

und die Kinder sich und andere<br />

immer besser einschätzen können,<br />

nimmt das Vergleichen meist zu.<br />

Dabei lernen wir uns mit unseren<br />

Stärken und Schwächen kennen.<br />

Das eigene Bild wird im Verlauf der<br />

Jahre und Jahrzehnte nuancierter<br />

und realistischer. Wenn wir Glück<br />

haben, gelingt es uns in diesem Prozess,<br />

uns selbst immer besser anzunehmen,<br />

unsere starken Seiten zur<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

48 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Geltung zu bringen und uns mit<br />

unseren Defiziten und Schwächen<br />

auszusöhnen.<br />

Wie soll ich reagieren, wenn mein<br />

Kind sich mit anderen vergleicht?<br />

Ganz allgemein würde ich dazu<br />

raten, mit Vergleichen unter Kindern<br />

gelassen umzugehen. Vielleicht<br />

ist es gar nicht nötig, etwas dazu zu<br />

sagen ausser ein kleines «Hm» oder<br />

«Aha»?<br />

Wenn Kinder dabei schmerzhafte<br />

Erfahrungen machen, können wir<br />

sie als Eltern begleiten – im Vertrauen<br />

darauf, dass Kinder auch mit<br />

gelegentlichen Enttäuschungen zu ­<br />

rechtkommen.<br />

Als ich nach einem zusätzlichen<br />

Kindergartenjahr in die Schule kam,<br />

war ich noch immer auffallend langsam<br />

und verträumt. Eine wunderbare<br />

Lehrerin und meine Eltern<br />

bestärkten mich und gaben mir das<br />

Gefühl, auf gutem Weg zu sein.<br />

Ende der ersten Klasse trug ich stolz<br />

mein Zeugnis nach Hause. Ich öffnete<br />

den Umschlag kurz vor unserem<br />

Haus und betrachtete die zwei<br />

Vierer und den Viereinhalber, die in<br />

schöner Handschrift eingetragen<br />

waren.<br />

Mein bester Freund lief neben<br />

mir und schaute sich seines an. Als<br />

ich durch das Gartentor zu unserem<br />

Haus wollte, meinte er: «Zeig mal<br />

deines!» Er hielt die Zeugnisse ne ­<br />

beneinander. Ich sah seine Fünfeinhalber<br />

und Sechser und er erklärte<br />

mir, dass meine Noten «schlecht»<br />

seien. Alle Beteuerungen meiner<br />

Eltern, dass eine Vier doch bedeute,<br />

dass ich «genügend» sei und sie sich<br />

darüber freuten, halfen wenig. Ich<br />

wusste nun, wo ich stand.<br />

Ich habe ein wenig geweint, meine<br />

Mutter hat mich in den Arm<br />

genommen und am nächsten Tag<br />

waren die Insekten im Garten wieder<br />

wichtiger als die Noten –<br />

schliesslich waren jetzt Sommerferien!<br />

Dass meine Eltern gelassen<br />

geblieben sind und mir zugetraut<br />

haben, dass ich mit der Enttäu­<br />

schung umgehen kann, hat ihr viel<br />

von ihrer Schwere genommen.<br />

In den letzten Jahren konnte ich<br />

oft beobachten: Je besser die Eltern<br />

eine Enttäuschung und negative<br />

Gefühle ihres Kindes aushalten können,<br />

desto leichter fällt es dem Kind,<br />

damit umzugehen.<br />

Wir können beispielsweise gelassener<br />

bleiben, wenn wir mehr auf<br />

die Gefühle des Kindes anstatt den<br />

Vergleich eingehen. Sagt das Kind,<br />

dass es dumm und alle anderen viel<br />

klüger seien, reagieren wir meist,<br />

indem wir das entschieden zurückweisen:<br />

«Du bist doch nicht dumm!»<br />

Meist treten wir damit eine Diskussion<br />

los, in der sich das Kind auf<br />

seinen Standpunkt versteift. Wir<br />

können dieses Gefühl aber auch als<br />

Momentaufnahme verstehen und<br />

zeigen: Ich kenne das. Vielleicht<br />

sagen wir dann: «Du fühlst dich<br />

gerade richtig dumm. Das geht mir<br />

manchmal auch so. Dann kommt<br />

man sich richtig klein und doof vor.»<br />

Darauf kann man von einer eigenen<br />

Erfahrung erzählen oder fragen:<br />

«Was würde dir jetzt guttun?» Es ist<br />

beruhigend für ein Kind, wenn es<br />

sieht, dass seine Eltern solche<br />

Gefühle kennen, da sind und es darin<br />

begleiten können.<br />

Wir können dem Kind auch<br />

direkt vermitteln, dass wir ihm<br />

zutrauen, mit der Situation umzugehen.<br />

Beklagt sich beispielsweise der<br />

Sohn darüber, dass die Tochter in<br />

der Schule viel besser ist, antworten<br />

wir gerne mit einem Satz wie: «Dafür<br />

bist du viel besser im Sport.» Damit<br />

bleiben wir jedoch im Schema des<br />

Vergleichens und zeigen dem Kind<br />

indirekt: Es ist eben doch wichtig,<br />

besser zu sein.<br />

Unbewusst heizen wir das Vergleichen<br />

damit an und reduzieren in<br />

diesem Beispiel vielleicht sogar die<br />

Motivation für die Schule, weil wir<br />

unseren Kindern fixe Rollen zuteilen:<br />

der Sportler, die gute Schülern<br />

usw. Es kann sein, dass sich die Kinder<br />

in der Folge mehr und mehr auf<br />

den Bereich zurückziehen, in dem<br />

Vertrauen Sie darauf,<br />

dass Ihr Kind stark genug ist,<br />

mit Enttäuschungen und<br />

Schwächen umzugehen.<br />

sie glänzen können. Doch vielleicht<br />

hat das Kind ja eine Stärke, die ihm<br />

hilft, sich seiner tatsächlichen oder<br />

vermeintlichen Schwäche zu stellen:<br />

«Ja, deine Schwester hat es momentan<br />

in der Schule leichter. Und weisst<br />

du was? Ich bin stolz auf dich, dass<br />

du dranbleibst und übst, auch wenn<br />

es dir schwerfällt. Du hattest schon<br />

immer ein Kämpferherz.»<br />

Kurztipps<br />

• Vergleiche können schmerzhaft<br />

sein. Zeigen Sie Ihrem Kind, dass<br />

Sie da sind und es diese Gefühle<br />

haben darf.<br />

• Falls sich Ihr Kind nur noch in ­<br />

tensiver abwertet: Versuchen Sie<br />

etwas anderes, indem Sie es beispielsweise<br />

fragen, was ihm guttun<br />

würde, oder ihm erzählen,<br />

was Ihnen in solchen Momenten<br />

hilft.<br />

• Machen Sie Ihrem Kind bewusst,<br />

dass es stark genug ist, um mit ge ­<br />

legentlichen Enttäuschungen und<br />

eigenen Schwächen umzugehen,<br />

anstatt es sofort davon abzulenken.<br />

In der nächsten Ausgabe:<br />

Beruf, Haushalt, Kinder: Es ist so viel –<br />

ich fühle mich ausgelaugt und überfordert.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>49


Erziehung & Schule<br />

Grüezi, bonjour, bongiorno!<br />

Immer mehr Mädchen und Buben in der Schweiz wachsen mehrsprachig auf.<br />

Sprachwissenschaftlern zufolge wirkt sich dies positiv auf die kognitive<br />

Entwicklung des jeweiligen Kindes aus. Vorausgesetzt, der Spracherwerb<br />

erfolgt kindgerecht und nach gewissen Regeln. Text: Jacqueline Esslinger<br />

Bild: Fotolia<br />

50 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Kinder lernen schnell und mit<br />

hoher Motivation die<br />

Umgebungssprache, um<br />

Freunde zu finden.<br />

Nathalie hat eine<br />

Deutschschweizer<br />

Mutter und einen<br />

französischsprachigen<br />

Vater aus der<br />

Romandie. In der Schweiz aufgewachsen,<br />

lernte sie sowohl Schweizerdeutsch<br />

als auch Französisch und<br />

spricht heute beides gleichermassen.<br />

Davon profitiere sie sehr, sagt die<br />

heute 24-Jährige, da sie ohne<br />

Sprachbarrieren leicht neue Freundschaften<br />

knüpfen könne. Zurzeit<br />

lässt sich Nathalie zur Lehrerin für<br />

die Sekundarstufe ausbilden. Sie<br />

möchte in Zukunft Deutsch, Englisch<br />

und Französisch als Fremdsprache<br />

unterrichten. Ihre zweisprachig<br />

ausgerichtete Erziehung<br />

be einflusste auch ihre spätere Be -<br />

rufswahl: «Mein Interesse für Sprachen<br />

wurde so geweckt. Ich konnte<br />

nicht nur Deutsch und Französisch<br />

ohne Mühe in frühster Kindheit lernen,<br />

es fiel mir auch leichter, meine<br />

zusätzlichen Sprachen, Englisch und<br />

Italienisch, zu lernen.»<br />

Laut einer Erhebung des Bundesamts<br />

für Statistik aus dem Jahr 2015<br />

sind fast 20 Prozent der ständigen<br />

Wohnbevölkerung in der Schweiz<br />

zweisprachig. Weitere 4 Prozent<br />

geben an, mehr als zwei Hauptsprachen<br />

zu beherrschen. Dies beinhaltet<br />

die Kompetenz, zwei oder mehr<br />

Schweizer Landessprachen als<br />

Hauptsprachen (fast) gleichwertig<br />

zu sprechen. Am häufigsten ist dabei<br />

die Kombination Deutsch/Französisch<br />

(10 Prozent) und Deutsch/<br />

Italienisch (10 Prozent), gefolgt von<br />

Französisch/Italienisch (6 Prozent).<br />

Rätoromanisch als Muttersprache<br />

geht meistens einher mit dem fliessenden<br />

Beherrschen von Deutsch<br />

oder Italienisch oder beidem. Mehrsprachigkeit<br />

beinhaltet jedoch ebenso,<br />

neben einer der vier Landessprachen<br />

eine andere Muttersprache zu<br />

sprechen. Zu den meistgenannten<br />

zählen hier: Englisch, Portugiesisch,<br />

Albanisch, Serbisch, Kroatisch und<br />

Spanisch. Betrachtet man sowohl<br />

die Zeit zu Hause als auch jene am<br />

Arbeitsplatz, so sprechen 40 Prozent<br />

der Schweizer Bevölkerung alltäglich<br />

zwei oder mehr Sprachen.<br />

finden und sich mit der Umwelt verständigen<br />

zu können. Im Einzelfall<br />

kann es jedoch zu ausserordentlich<br />

komplexen Konstellationen kommen:<br />

Eine Deutschschweizerin<br />

spricht Hochdeutsch mit ihrem<br />

Partner, welcher aus der Romandie<br />

stammt. Nun ziehen sie mit ihrem<br />

zweijährigen Sohn nach Norwegen.<br />

Das Kind wäre dadurch mit Hochdeutsch,<br />

Schweizerdeutsch, Französisch,<br />

Norwegisch und – wie oft in<br />

skandinavischen Ländern – mit<br />

Englisch konfrontiert. Welche Sprachen<br />

soll das Kind nun lernen und<br />

wie kann dies geschehen?<br />

Immer mehr junge Schweizer sind<br />

mehrsprachig<br />

Bei der jüngeren Schweizer Wohnbevölkerung<br />

(15–24 Jahre) lebt über<br />

ein Drittel im Alltag mehrsprachig.<br />

Rund 12 Prozent sprechen sogar drei<br />

Sprachen und mehr – Tendenz steigend.<br />

So wachsen in der Schweiz<br />

immer mehr Kinder wie Nathalie<br />

mehrsprachig auf. Durch die Zunahme<br />

von interkulturellen Paarkonstellationen<br />

ergeben sich auch öfter<br />

mehrsprachige Eltern. Der häufigste<br />

Grund sind Wohnortswechsel. Bei<br />

Zuzügen aus dem Ausland kommt<br />

oft eine andere Herkunftssprache<br />

mit einer Schweizer Landessprache<br />

zusammen, oder bei einem Kantonswechsel<br />

kann es zu einer neuen<br />

Umgebungssprache kommen. Zieht<br />

ein französischsprachiges Paar mit<br />

Kindern nach Zürich, sprechen die<br />

Kinder zum Beispiel zu Hause Französisch,<br />

jedoch in der Schule<br />

Deutsch. Vielleicht gehen die Kinder<br />

aber auch in eine französischsprachige<br />

Schule, damit die Herkunftssprache<br />

neben der Umgebungssprache<br />

besser gefestigt werden kann.<br />

Generell lernen Kinder die<br />

Umgebungssprache schnell und mit<br />

Eine Person – eine Sprache<br />

Auch bei weniger komplexen<br />

Sprachkonstellationen ist es lohnenswert,<br />

sich Gedanken über die<br />

Spracherziehung der Kinder zu<br />

machen. Eltern können beispielsweise<br />

gemeinsam überlegen, welche<br />

Sprachen sie weitergeben möchten<br />

und wie sie dies gestalten. Dafür gibt<br />

es scheinbar unendlich viele Konstellationen<br />

und Modelle. Das populärste<br />

und erfolgversprechendste<br />

lautet «Eine Person – eine Sprache»;<br />

das bedeutet, dass das Kind mit einer<br />

Person immer dieselbe Sprache<br />

spricht und mit einer anderen Person<br />

eine andere Sprache. Die betreffende<br />

Person muss kein Elternteil sein, es<br />

kann sich dabei genauso gut um<br />

Betreuungspersonen, Lehrpersonen<br />

oder Grosseltern handeln. Das Konzept<br />

«Eine Person – eine Sprache»<br />

wurde bereits vielfach in der Praxis<br />

getestet und soll das Risiko verringern,<br />

dass Kinder Sprachen vermischen.<br />

Auch bei Nathalie wurde diese<br />

hoher Motivation, um Freunde zu Regel umgesetzt. Die Mutter >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>51


Erziehung & Schule<br />

>>> sprach mit ihr und ihren<br />

Geschwistern konsequent Schweizerdeutsch,<br />

der Vater hingegen<br />

Französisch. Untereinander sprachen<br />

die Eltern Französisch, und die<br />

Umgebungssprache war – bis auf ein<br />

Schuljahr – für Nathalie auch Französisch.<br />

Trotzdem erinnert sich<br />

Na thalie nicht, dass ihre Mutter je<br />

von ihrer Regel abgewichen wäre.<br />

Autoren und Autorinnen wie<br />

Elke Montanari raten zur Einhaltung<br />

dieser Regel, auch bei Schwierigkeiten.<br />

Sie beschreibt, wie die<br />

Tochter einer italienischen Mutter es<br />

peinlich fand, dass die Mutter mit<br />

ihr in der (deutschsprachigen)<br />

Öffentlichkeit ausnahmslos Italienisch<br />

sprach. Sie wollte so sein wie<br />

alle anderen und wünschte sich, dass<br />

auch ihre Mutter dieselbe Sprache<br />

wie ihre Umgebung sprechen würde.<br />

Heute ist die Tochter jedoch froh<br />

über ihre zweisprachige Erziehung.<br />

Die Freude am Kommunizieren<br />

Manchmal braucht es eine gewisse<br />

Gelassenheit, wenn das Kind sich<br />

weigert und eine Sprache nicht<br />

(mehr) sprechen möchte. Montanari<br />

schlägt für solche Situationen vor,<br />

spielerisch so zu tun, als verstehe<br />

man das Kind nicht in der anderen<br />

Sprache. Oder den Satz in der anderen<br />

Sprache «durchgehen zu lassen»<br />

(vor allem bei Kleinkindern), diesen<br />

aber in der eigenen Sprache zu wiederholen<br />

(siehe Buchtipp).<br />

Am Ende gelingt mehrsprachige<br />

Erziehung auch ohne das Modell<br />

«Eine Person – eine Sprache». Laut<br />

Forschungsergebnissen sind die<br />

Chancen jedoch höher, dass ein<br />

Kind eine Sprache beibehält und auf<br />

Je mehr Sie mit ihrem Kind<br />

zusammen sind, desto<br />

intensiver kann der sprachliche<br />

Austausch gestaltet werden.<br />

einem guten Niveau beherrscht. In<br />

manchen Familien braucht es auch<br />

eine gewisse Flexibilität und individuelle<br />

Lösungen: etwa bei häufigerer<br />

Abwesenheit einer der sprachprägenden<br />

Personen oder wenn ein<br />

Familienmitglied die Sprache nicht<br />

versteht und sich ausgeschlossen<br />

fühlt.<br />

Das Wichtigste bleibt aber die<br />

Freude am Kommunizieren! Reden<br />

wir viel mit unserem Kind? Oder<br />

sind wir zu viel unterwegs und das<br />

Kind spricht in unserer Abwesenheit<br />

(z. B. mit der Tagesmutter oder der<br />

Babysitterin) eine andere Sprache?<br />

Je mehr Sie mit Ihrem Kind zusammen<br />

sind und unternehmen, desto<br />

intensiver kann auch der sprachliche<br />

Austausch gestaltet werden.<br />

Muttersprachler verfügen über<br />

einen grösseren Wortschatz<br />

Verliert mein Kind in der globalisierten<br />

Welt den Anschluss, wenn es<br />

nicht mehrsprachig aufwächst?<br />

Wenn die Umgebung Mehrsprachigkeit<br />

ermöglicht, ist es in jedem Fall<br />

zu empfehlen, diese Chancen auch<br />

zu nutzen – vorausgesetzt, es erfolgt<br />

nach gewissen Regeln und kindgerecht.<br />

Ein Kind soll ohne Druck und<br />

Überforderung verschiedene Sprachen<br />

mit Freude lernen dürfen. Lange<br />

war man überzeugt, eine mehrsprachige<br />

Erziehung überfordere<br />

Kinder und führe zu Defiziten in<br />

Spracherwerb und Entwicklung.<br />

Diese Meinung ist jedoch seit den<br />

1970er-Jahren überholt: Kinder können<br />

gut zwei oder mehr Sprachen<br />

von Geburt an lernen, gewisse Studien<br />

deuten sogar auf einen kognitiven<br />

Vorteil mehrsprachiger Kinder<br />

im Schulalter hin. Wenn zwei Elternteile<br />

unterschiedliche Muttersprachen<br />

sprechen oder eine Familie<br />

umzieht und dadurch eine neue<br />

Umgebungssprache hinzukommt,<br />

dann bietet es sich an, diese Ressourcen<br />

weiterzugeben und zu verankern.<br />

Einem Kind eine Sprache beizubringen,<br />

die man selbst nicht perfekt<br />

beherrscht, ist hingegen umstritten.<br />

Von grosser Bedeutung für einen<br />

fundierten und korrekten Spracherwerb<br />

ist nämlich die Möglichkeit,<br />

die Sprache auch richtig hören zu<br />

können. Wenn Eltern sich in einer<br />

Fremdsprache abmühen, lernen<br />

Kinder vor allem eins: die grammatikalischen<br />

Fehler der Eltern. Muttersprachler<br />

verfügen über einen<br />

grösseren Wortschatz und verwenden<br />

verschiedene grammatikalische<br />

Zeiten müheloser. Für die Weitergabe<br />

einer Sprache benötigt es deshalb<br />

nicht nur Konsistenz (Beständigkeit,<br />

wie die Mehrsprachigkeit<br />

umgesetzt wird), sondern auch<br />

Kompetenz. Eine Sprache sollte<br />

(fast) auf Muttersprachniveau be -<br />

herrscht werden, bevor man sich<br />

dazu entscheidet, diese auch dem<br />

Kind beizubringen.<br />

Kein Kind wird heutzutage an<br />

den häufigsten und wichtigsten<br />

Sprachen vorbeikommen. Dies kann<br />

man getrost Fachlehrpersonen überlassen,<br />

welche dazu ausgebildet wurden,<br />

Kindern eine neue Sprache mit<br />

Grammatik und Wortlaut kompetent<br />

und altersgerecht zu vermitteln.<br />

Als Familienmitglied kann man dies<br />

allerdings unterstützen. Kinder spielerisch<br />

an andere Sprachen heranzuführen,<br />

erleichtert den Zugang und<br />

weckt das Interesse für eine Sprache.<br />

Natürlich kann man einem Kind<br />

Farben, Zahlen oder Bezeichnungen<br />

Buchtipp<br />

Elke Montanari: Mit<br />

zwei Sprachen gross<br />

werden: mehrsprachige<br />

Erziehung in Familie,<br />

Kindergarten und<br />

Schule.<br />

Kösel-Verlag, 2002,<br />

ca. Fr. 25.–<br />

52 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


für Tiere in einer anderen Sprache<br />

beibringen, auch ohne Muttersprachler(in)<br />

zu sein. Ergänzend<br />

eignen sich Bücher, Spiele, Filme in<br />

der Fremdsprache, um den Erwerb<br />

zu fördern.<br />

Die Sprache des Ferienlandes<br />

Nicht nur Medien in einer anderen<br />

Sprache sind interessant, sondern<br />

auch Besuche der entsprechenden<br />

Regionen. Ein Kind, welches sich<br />

jedes Jahr auf die Ferien in Italien<br />

oder im Tessin freut, wird mit höherer<br />

Motivation lernen, wie man auf<br />

Italienisch ein Glace bestellt und wie<br />

es mit anderen Kindern kommunizieren<br />

kann. Für Eltern mit einer<br />

Herkunftssprache, welche nicht<br />

Umgebungssprache ist, gibt es in<br />

manchen Regionen spezielle Spielgruppen<br />

für Kinder. Dort hören und<br />

sprechen nicht nur die Kinder die<br />

entsprechende Sprache, sondern<br />

auch den Eltern wird die Gelegenheit<br />

geboten, sich in ihrer Muttersprache<br />

auszutauschen.<br />

Besteht ein (positiver) Bezug zur<br />

Sprache, ist ein guter Grundstein<br />

gelegt. Eltern sollten Fremdsprachen<br />

und deren Erwerb nicht abwerten<br />

(«Bei uns in der Familie kann eh<br />

niemand Französisch, das brauchst<br />

du nie!»), sondern Kinder dazu<br />

ermutigen, neue Sprachen zu lernen<br />

(«Du kannst ja schon fast besser<br />

Englisch als ich!»).<br />

Dies fördert die kognitiven<br />

Fähigkeiten der Kinder, das leichtere<br />

Aneignen weiterer Sprachen und<br />

ermöglicht so nicht nur künftige<br />

Vorteile in der Berufswelt, sondern<br />

auch Freundschaften über geografische<br />

Grenzen hinweg.<br />

>>><br />

Eine Sprache sollte (fast) auf<br />

Muttersprachniveau beherrscht<br />

werden, bevor man diese auch<br />

dem Kind beibringt.<br />

Jacqueline Esslinger<br />

ist Psychologin und Doktorandin am Institut für<br />

Familienforschung und -beratung der Universität<br />

Freiburg.<br />

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>53


Erziehung & Schule<br />

Die Wünsche einer Lehrerin an<br />

die Eltern ihrer Erstklasskinder<br />

Unsere Autorin hat nach den Sommerferien eine erste Klasse übernommen. Als Lehrerin mit fast<br />

30 Jahren Erfahrung hat sie klare Erwartungen an die Eltern ihrer Erstklasskinder. Diese gelten im<br />

Grundsatz für die Eltern aller Kinder, bis hin zur Oberstufe. Eine Wunschliste! Text: Marion Heidelberger<br />

«Schulerfolg hat viel<br />

mit der Kooperation<br />

zwischen Elternhaus<br />

und Schule zu tun.»<br />

Marion Heidelberger ist<br />

Vizepräsidentin des Dachverbands<br />

Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH)<br />

und Pädagogin mit Herzblut.<br />

Wenn Sie diese<br />

Zeilen lesen,<br />

haben meine<br />

neuen Erstklasskinder<br />

die<br />

erste Schulwoche schon hinter sich.<br />

Ich habe mich sehr auf die Buben<br />

und Mädchen mit ihren viel zu grossen<br />

Theks am Rücken gefreut.<br />

Ob ich allen gerecht werden<br />

kann? Ob mein Unterricht für alle<br />

passt? Ob mich die Schülerinnen<br />

und Schüler mögen? Ob ich mit<br />

allen Eltern klarkomme? Wie wohl<br />

die einzelnen Erwartungen und<br />

Wünsche sind?<br />

Für mich ist auch nach fast 30<br />

Berufsjahren die Übernahme einer<br />

neuen Klasse ein Abenteuer geblieben.<br />

So wie Kinder und vor allem<br />

Eltern Wünsche an mich haben, so<br />

habe ich einige an sie. Schulerfolg<br />

hat sehr viel mit der Kooperation<br />

zwischen Elternhaus und Schule zu<br />

tun. Ein Am-gleichen-Strick-Ziehen<br />

bietet die Grundlage, dass das Kind<br />

sich in der Schule wohl fühlt und<br />

sein ganzes Potenzial entfalten kann.<br />

Meine Wunschliste an die Eltern<br />

meiner neuen Erstklasskinder (die<br />

Wünsche gelten aber – leicht angepasst<br />

– auch für Eltern von älteren<br />

Kindern):<br />

Sorgen Sie für genügend Schlaf des<br />

Kindes<br />

• Genügend Schlaf erhöht die Leistungsfähigkeit.<br />

• Ihr Kind sollte auf jegliche Bildschirmnutzung<br />

ab 90 Minuten vor<br />

dem Zubettgehen verzichten.<br />

Achten Sie auf eine ausgewogene<br />

Ernährung<br />

• Mit leerem Bauch lernt es sich<br />

schlecht. Achten Sie darauf, dass<br />

Ihr Kind sich am Morgen und<br />

während des Tages gesund und<br />

ausgewogen ernährt.<br />

Lassen Sie Ihr Kind den Schulweg<br />

alleine gehen<br />

• Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind<br />

jeweils früh genug aus dem Haus<br />

kommt. Auf dem Schulweg passieren<br />

die wirklich wichtigen Din­<br />

ge. Nirgends können Freundschaften<br />

besser gepflegt werden.<br />

Zudem verhindern Sie, dass Ihr<br />

Kind rennen muss und so den<br />

Verkehr zu wenig beachtet.<br />

• Seien Sie Vorbild, das ist die beste<br />

Verkehrserziehung.<br />

• Kinder lieben Schnee und Regen,<br />

es ist auch an garstigen Tagen<br />

nicht nötig, Ihr Kind mit dem<br />

Auto zur Schule zu fahren.<br />

Unterstützen Sie Ihr Kind dabei,<br />

Dinge selbst zu tun<br />

• Das ist der wichtigste Grundsatz<br />

überhaupt. Nicht Sie packen<br />

Ihrem Kind den Turnsack und<br />

räumen ihm sein Zimmer auf –<br />

das soll es selbst erledigen.<br />

• Machen Sie einen Ämtliplan für<br />

einfache Arbeiten zu Hause (Tisch<br />

decken oder abräumen, Haustier<br />

füttern, Blumen giessen, Zimmer<br />

aufräumen). So trainieren Sie mit<br />

Ihrem Kind jeden Tag Selbständigkeit,<br />

Pflichtbewusstsein und<br />

Eigenverantwortung, drei wichtige<br />

Faktoren für Schulerfolg.<br />

• Übernehmen Sie nicht die Hausaufgaben<br />

für Ihr Kind! Sie sollten<br />

Sie auch nicht korrigieren, das ist<br />

mein Job. Aber Sie dürfen Ihr<br />

Kind ruhig fragen, was es zu tun<br />

hat und ob es die Aufgaben erledigt<br />

hat.<br />

Setzen Sie Regeln und Grenzen<br />

• Lehren Sie Ihr Kind, Regeln zu<br />

respektieren. Kinder brauchen<br />

Grenzen und Leitlinien. Am bes­<br />

54 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


ten geht das, wenn es auch zu<br />

Hause ein paar Regeln gibt. Lieber<br />

nicht zu viele, dafür werden die<br />

wenigen konsequent durchgesetzt.<br />

So helfen Sie Ihrem Kind,<br />

sich in einer Gruppe zu integrieren.<br />

• Eine gute Sozialkompetenz ist<br />

eine Eigenschaft, die auch in einer<br />

Berufslehre einen hohen Stellenwert<br />

hat. Je früher ein Kind dies<br />

lernt, desto einfacher ist es. Dazu<br />

gehört auch, Sanktionen für das<br />

Nichtbefolgen von Regeln zu<br />

akzeptieren.<br />

Zeigen Sie Interesse an der Schule<br />

• Fragen Sie bei Ihrem Kind nach,<br />

was es beschäftigt, was es in der<br />

Schule erlebt hat und was es gerade<br />

lernt.<br />

• Durch aktives Zuhören zeigen Sie<br />

Ihrem Kind, dass für Sie Schule<br />

wichtig ist. Bei diesem Nachfragen<br />

werden Sie auch merken,<br />

wenn etwas nicht in Ordnung ist<br />

oder es Konflikte gibt.<br />

Vertrauen Sie auf Ihre Fähigkeiten<br />

und die Ihres Kindes<br />

• Haben Sie eine positive Haltung<br />

der Schule und der Lehrperson<br />

gegenüber. Denn alle haben ein<br />

gemeinsames Ziel: das Beste für<br />

Ihr Kind.<br />

• Vertrauen Sie auf Ihre Erziehung<br />

und die Fähigkeiten Ihres Kindes.<br />

Das macht Ihr Kind stark. So<br />

unterstützen Sie Ihr Kind am besten<br />

und tragen damit viel zum<br />

Schulerfolg bei.<br />

Suchen Sie das Gespräch<br />

• Zögern Sie nicht, die Lehrperson<br />

zu informieren, wenn sich zu<br />

Hause Veränderungen ergeben<br />

(Erwerbslosigkeit, Trennung, Ge ­<br />

burt eines Geschwisters, Krank­<br />

Vertrauen Sie auf Ihre<br />

Erziehung und die<br />

Fähigkeiten Ihres Kindes.<br />

heit, Todesfall, Umzug, ein neues<br />

Haustier).<br />

• Fragen Sie unbedingt nach, wenn<br />

Sie etwas nicht verstehen oder Sie<br />

das Gefühl haben, Ihr Kind fühle<br />

sich nicht wohl. Dann kann man<br />

gemeinsam eine Lösung suchen.<br />

Oft genug sind es Missverständnisse,<br />

die schnell geklärt werden<br />

können.<br />

• Eine gute Gesprächskultur zwischen<br />

Schule und Elternhaus ist<br />

das A und O des Schulerfolges<br />

Ihres Kindes.<br />

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MACHE KARRIERE<br />

AUF DEM BAU!


Stiftung Elternsein<br />

Böse Fette<br />

Ellen Ringier über die Sorge, dass dereinst eine Lebensmittelpolizei<br />

den Inhalt unseres Kühlschranks kontrolliert.<br />

Bild: Maurice Haas / 13 Photo<br />

Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />

die Stiftung Elternsein.<br />

Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />

Als ich noch Kind war, also in den<br />

50er-Jahren, mischten die Wasserwerke<br />

in Luzern dem Trinkwasser – so sagte man<br />

damals – Fluor bei. Damit wollte man die<br />

damals mehrheitlich miserable Zahnqualität<br />

in vielen Teilen der Bevölkerung verbessern<br />

und schon bei jungen Menschen<br />

vorbeugen. Ich erinnere mich, dass ich<br />

das als absolut übergriffig empfand,<br />

schliesslich gab uns meine Mutter doch morgens neben<br />

Lebertran auch Fluorpastillen zum Frühstück! Aus mir<br />

heute noch unbekanntem Grund fürchtete ich, dass<br />

meine Knochen infolge des vielen Fluors zu hart und<br />

brüchig werden würden … Wer mag mir wohl so eine<br />

Idee in den Kopf gesetzt haben?<br />

50 Jahre später stelle ich fest: Meine Zähne sind gut,<br />

meine Knochen nicht brüchig, die von der Obrigkeit<br />

verordnete Massnahme war wohl zielführend. Dennoch<br />

stelle ich mir die Frage, ob Gesundheitspolitiker und<br />

-beamte in mein Leben bzw. in meine Gesundheit eingreifen<br />

dürfen, ohne dass ich sie dazu legitimiert habe.<br />

Lassen wir hier die Beschränkungen von Tabak-,<br />

Alkohol- und Drogenkonsum, medizinisch indizierte<br />

Beschränkungen von Nahrungsmitteln und dergleichen<br />

beiseite. Derzeit ist, wie das aktuelle Beispiel Deutschland<br />

zeigt, die Rede von Zucker, Salz und Fett, also von<br />

ganz alltäglichen Lebensmitteln. Der deutsche Ernährungsminister<br />

Christian Schmidt will «die Hersteller<br />

von Fertigwaren dazu bringen, weniger Salz, Zucker und<br />

Fett in ihren Produkten zu verwenden». Und das soll<br />

erst der Anfang einer nationalen Strategie sein, die die<br />

Lebensmittel gesünder machen möchte.<br />

Auch die EU bleibt nicht untätig: Bald soll es eine<br />

Obergrenze für die bösen Transfette in Pommes-Chips,<br />

Fertigprodukten und dergleichen geben. Damit und mit<br />

der bereits bestehenden Lebensmittel-Kennzeichnungspflicht<br />

sowie mit Aufklärung und weiteren Programmen<br />

will man Herz-Kreislauf-Krankheiten bekämpfen. Und<br />

verhindern, dass die Menschen immer dicker werden.<br />

Ich verstehe zwar, dass und auch warum die Obrigkeit<br />

sich Sorgen um die oft mehr als ungesunden Ernäh-<br />

rungsgewohnheiten ihrer Bürger und die Folgen macht.<br />

Doch macht mir die Vorstellung Mühe, dass der Staat<br />

die Zusammensetzung meines Kühlschrankinhalts kennen<br />

und beeinflussen will! Und auf ungesunde Lebensmittel<br />

womöglich eine Strafsteuer erheben möchte.<br />

Wird es dereinst eine Lebensmittelpolizei geben, die das<br />

Gastgewerbe auf strafbare kalorienreiche Menüs auf der<br />

Speisekarte überprüft? Oder wird sich ein Beamter hinter<br />

mich stellen, wenn es danach aussieht, als wollte ich<br />

auch noch ein Dessert bestellen: «Frau Ringier, Sie sind<br />

bereits übergewichtig, lassen Sie auf der Stelle die Finger<br />

von Süssspeisen!»<br />

Wie sich der Mensch ernährt, hat wesentlich mit dem<br />

für Lebensmittel zur Verfügung stehenden Budget, aber<br />

auch mit Zeitmangel und mit dem Mangel an Wissen<br />

um die Schädlichkeit gewisser Lebensmittel zu tun. Darum<br />

soll neben der Kennzeichnungspflicht vor allem<br />

auch die Aufklärung über die Auswirkungen einer ungesunden<br />

Lebensweise, zu der neben ungesunder Ernährung<br />

auch Bewegungsmangel gehört, forciert werden.<br />

Wenn die Hälfte der Bevölkerung regelmässig zu<br />

Pizzas und Fertiggerichten greift, so beeinflusst das<br />

zweifellos das Ernährungsverhalten von Kindern massgeblich,<br />

weshalb Aufklärung schon in Kitas und Kindergärten<br />

angesagt ist.<br />

Am erfolgversprechendsten wäre jedoch eine Initiative<br />

der Wirtschaft zur Reduktion von Zucker, Fett und<br />

Salz in den Fertigprodukten. Zum Jahresende 2016 hat<br />

Nestlé jedenfalls angekündigt, seine Rezepturen in<br />

Bezug auf die verwendete Zuckermenge zu überprüfen.<br />

Leider schmeckt mir die kalorienarme dunkle Schokolade<br />

ganz und gar nicht!<br />

STIFTUNG ELTERNSEIN<br />

«Eltern werden ist nicht schwer,<br />

Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />

Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />

Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein<br />

an. Sie richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern<br />

und Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen<br />

Eltern, Kindern, Lehrern und die Vernetzung der elternund<br />

erziehungsrelevanten Organisationen in der<br />

deutschs prachigen Schweiz. Die Stiftung Elternsein<br />

gibt das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus.<br />

www.elternsein.ch<br />

56 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Bilder: Johan Bävman<br />

Dossier<br />

Dossier<br />

Do sier<br />

Weil sich ihr Sohn<br />

nach der Scheidung<br />

nicht um seine<br />

Tochter kümmern<br />

ko nte, nahmen<br />

Ines und Edi Schmid<br />

ihr Enkelkind<br />

Siriwan in Pflege.<br />

Leserbriefe<br />

«Die Mütter werden entwertet»<br />

«Danke für den Schnuppertag»<br />

«Gute Erfahrungen»<br />

(Dossier «Pflegefamilien», Heft 6–7/<strong>2017</strong>)<br />

Wir haben gute Erfahrungen gesammelt und<br />

besonders oft positive Echos bekommen auf die<br />

In guten<br />

Händen<br />

In der Schweiz leben rund 15 000 Kinder in<br />

Pflegefamilien und Heimen. Wer sind sie?<br />

Warum wachsen sie nicht bei Vater und Mutter<br />

auf? Und wie fühlt sich das an: Eltern auf Zeit?<br />

Eine Spurensuche.<br />

Text: Be tina Leinenbach Bilder: Gabi Vogt / 13 Photo<br />

10 Juni/Juli <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Juni/Juli <strong>2017</strong> 1<br />

Fotos von uns auf der Titelseite und im Heft zum Thema Pflegefamilien.<br />

Einfach nochmals ein DANKE an alle Verantwortlichen des ElternMagazins.<br />

Sehr geehrter Herr Niethammer<br />

Vielen Dank nochmals für den tollen Schnuppertag, den meine<br />

Tochter Sarah vor zwei Jahren bei Ihnen erleben durfte. Sie blieb<br />

diesem Weg treu und freut sich nun sehr, dass sie zur Chefredaktorin<br />

der Schülerzeitung in ihrer Kantonsschule gewählt wurde.<br />

Wer weiss, vielleicht erhalten Sie in ein paar Jahren eine<br />

Bewerbung einer motivierten jungen Journalistin.<br />

Lilly Kahler, Roger Gyger, Shana und Fatima Walser<br />

(per Mail)<br />

Freundliche Grüsse<br />

Martina Bocek (per Mail)<br />

«Warum werden die<br />

Väter verherrlicht?»<br />

(Dossier «Väter», Heft 5/<strong>2017</strong>)<br />

Kinder sind Frauensache. Das glaubten bis<br />

vor Kurzem auch die meisten Wissenschaftler.<br />

Doch seit einigen Jahren geraten zusehends<br />

die Männer in den Fokus der Forscher. Väter sind<br />

offenbar viel wichtiger für die Entwicklung<br />

eines Kindes als lange Zeit vermutet.<br />

Text: Jochen Metzger<br />

Bilder: Johan Bävman und Fabian Unternaehrer / 13 Photo<br />

Väter<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Mai <strong>2017</strong> 11<br />

Ihr Beitrag zu den «Vätern» hat bei mir das Fass zum Überlaufen<br />

gebracht. Es kommt mir vor, als wären Väter das einzige Thema in<br />

den Medien!<br />

Woher kommt die Verherrlichung der Väter? Die Kernaussage<br />

des Artikels ist doch «Glückliche Paare haben glückliche Kinder».<br />

Und das ist ja eigentlich – auch wenn hier jede Menge Forschung<br />

bemüht wird – die trivialste und selbstverständlichste Aussage<br />

der Welt. Eine vollkommen intuitive Wahrheit, die wohl jeder mehr<br />

oder weniger anhand der eigenen Biografie bestätigen kann. Und<br />

obendrein eben eine sehr, sehr wichtige Wahrheit, welche es auch<br />

verdienen würde, korrekt dargestellt zu werden.<br />

Warum werden überall nur Väter abgebildet, während es<br />

wesentlich angemessener wäre, Eltern darzustellen, die liebevoll<br />

miteinander und mit den Kindern umgehen und sich gegenseitig<br />

in ihren unterschiedlichen Rollen respektieren und unterstützen?<br />

Es wird hier ein Kampf der Geschlechter geführt, obwohl es exakt<br />

darum gehen würde, sich auf die unterschiedlichen und sich<br />

ergänzenden Rollen von Vater und Mutter zu besinnen und auf die<br />

Wichtigkeit, als Paar zusammenzuhalten!<br />

Aktuell werden Mütter vollkommen entwertet. Dies ist<br />

kontraproduktiv. Mütter haben tatsächlich eine sehr wichtige<br />

Funktion für ihre Kinder. Eine andere als die Väter. Und das Kind<br />

braucht beide.<br />

Schreiben Sie uns!<br />

Ihre Meinung ist uns wichtig. Sie erreichen uns über:<br />

leserbriefe@fritzundfraenzi.ch oder<br />

Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 80<strong>08</strong> Zürich<br />

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Yvonne Kleinlogel (per Mail)<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August <strong>2017</strong>


Erziehung & Schule<br />

MEIN<br />

STOTTERN<br />

UND ICH<br />

Etwa 80 000 Menschen hierzulande stottern, oft so schwer,<br />

dass ihr Alltag leidet – und manchmal ihre Lebensplanung. Die<br />

Autorin Vivian Pasquet kämpft, seit sie fünf Jahre alt ist, gegen<br />

den drohenden Bruch in ihrem Redefluss. Hier erzählt sie ihre<br />

Geschichte. Text: Vivian Pasquet Bilder: Olaf Blecker<br />

Zwischen Tütensuppen<br />

und Trockenobst fasse<br />

ich Mut. Fast eine halbe<br />

Stunde bin ich durch<br />

den Supermarkt gelaufen.<br />

An allen Regalen mehrfach entlang,<br />

selbst bei Küchenrollen und<br />

Klopapier habe ich nachgeschaut.<br />

Mit einer Frage im Kopf, die ich<br />

mich nicht zu stellen traute.<br />

Schliesslich spreche ich eine Verkäuferin<br />

an. «Entschuldigung», sage<br />

ich und atme tief ein. «Wo finde ich<br />

die D-d-d …»<br />

Das Wort steckt fest, zwischen vorderem<br />

Gaumen und Zungenspitze.<br />

Ich beginne zu schwitzen.<br />

Ich bin zum Abendessen eingeladen<br />

und habe versprochen, Datteln<br />

im Speckmantel vorzubereiten. Jetzt<br />

verfluche ich mich dafür. Warum<br />

habe ich nicht Hummus vorgeschlagen,<br />

Salat oder Wackelpudding?<br />

Egal was, Hauptsache nichts, das mit<br />

einem D anfängt und mehr als eine<br />

Silbe hat.<br />

Ich schliesse die Augen und presse<br />

«Die D-d-d-d … – Äpfel?» Die Mitarbeiterin<br />

führt mich zur Obstauslage,<br />

ich fülle eine Tüte mit Äpfeln,<br />

die ich nicht brauche.<br />

Als ich auf die Strasse trete, fühle<br />

ich mich wie eine Versagerin.<br />

ZWEI TAGE ZUVOR habe ich<br />

Ingrid Del Ferro angerufen. Als ich<br />

16 Jahre alt war, hat die Sprechtrainerin<br />

mich aus meiner schlimmsten<br />

Stotterzeit befreit. In der Grundschule<br />

hatte ich in einem Theaterstück<br />

anderthalb Stunden am Büh-<br />

die Zunge gegen den Gaumen. nenrand gekauert und einen<br />

>>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>59


Erziehung & Schule<br />

>>> Stein gespielt – weil es die<br />

einzige Rolle ohne Text war. Im<br />

Gymnasium hatten mich die Lehrer<br />

kurz vor dem Pausenklingeln nicht<br />

mehr aufgerufen, weil ich für meine<br />

Antworten viel zu lange brauchte. In<br />

meinen Frankreichferien sollte ich<br />

zwei Baguettes kaufen und kam mit<br />

acht Stück zurück, der einzigen<br />

Zahl, die ich in der Bäckerei über die<br />

Lippen brachte.<br />

Jetzt, mit 32, erzähle ich Ingrid<br />

Del Ferro, dass ich dank des Sprachkurses<br />

in ihrem Institut als Journalistin<br />

arbeite; dass ich problemlos<br />

telefonieren und Interviews führen<br />

kann. Ich fühle Stolz.<br />

Von meinen Schwierigkeiten<br />

erzähle ich nichts.<br />

Stattdessen frage ich Ingrid Del<br />

Ferro, was aus den anderen Teilnehmern<br />

meines Kurses geworden ist.<br />

Sie erzählt von Anja, jahrelang<br />

stotterf rei, doch jetzt: Rückfall. Sie<br />

wird den Kurs erneut besuchen,<br />

nach 16 Jahren.<br />

Anja war mir so entschlossen<br />

vorgekommen. Eine junge Frau,<br />

damals 26 Jahre alt, die als Köchin<br />

arbeitete, weil sie am Herd nicht<br />

sprechen musste. Die an einem der<br />

Kurstage vor Glück weinte, weil sie<br />

zum ersten Mal in ihrem Leben<br />

flies send erzählen konnte, wer sie<br />

war und wo sie herkam.<br />

Plötzlich fragt mich Ingrid Del<br />

Ferro: «Kann es sein, dass Sie selbst<br />

auch noch Probleme mit dem Sprechen<br />

haben?»<br />

«Warum?»<br />

«Sie setzen Pausen an Stellen, an<br />

denen keine sein sollten. Ich höre<br />

die vernuschelten Buchstaben. Die<br />

abgebrochenen Sätze, die halb beendeten<br />

Wörter. Sie sprechen nicht<br />

wirklich flüssig. Sie tricksen.»<br />

ETWA 16 000 WÖRTER spricht<br />

ein Mensch durchschnittlich am<br />

Tag, 99 Prozent der Erwachsenen<br />

gelingt das flüssig. Aber rund<br />

800 000 Menschen in Deutschland<br />

(80 000 in der Schweiz) stottern.<br />

Nicht weil sie sich «verhaspeln»<br />

oder aufgeregt sind. Stotternde wissen<br />

sehr genau, was sie sagen möchten.<br />

Doch es gelingt ihnen nicht.<br />

Was macht diese Unfähigkeit mit<br />

der Sprache eines Menschen? Die<br />

meisten Stotterer dehnen Laute endlos<br />

in die Länge oder wiederholen<br />

sie. Bei anderen blockiert die Sprache,<br />

manchmal mitten im Wort.<br />

Einige sprechen vollkommen flüssig,<br />

aber stopfen ihre Sätze mit<br />

«Ähs» und «Hms» voll, um sie voranzutreiben.<br />

Andere wiederholen<br />

ganze Wörter immer wieder, wie<br />

kaputte Schallplatten.<br />

All diese Stottertypen haben<br />

eines gemeinsam: Sie werden von<br />

ihrem Stottern nicht überrascht.<br />

Noch ehe sie an einem Wort hängen<br />

bleiben, spüren sie, was ihnen<br />

bevorsteht. Nicht als Vorahnung,<br />

sondern als tiefe Gewissheit.<br />

Als nähere sich in der Nacht ein<br />

Auto mit aufgeblendetem Fernlicht.<br />

Man weiss, man wird geblendet,<br />

aber dieses Wissen ändert nichts.<br />

Sobald der Lichtstrahl die Augen<br />

trifft, kneift man sie zusammen. Es<br />

gibt nur eine Lösung: ganz woanders<br />

hinschauen.<br />

So machen es auch viele Stotternde:<br />

Sie sprechen in eine ganz andere<br />

Richtung. Sie vermeiden das Unaussprechbare.<br />

Sie sind virtuos darin,<br />

ein Wort durch andere Begriffe mit<br />

60 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Stotternde Menschen sind<br />

virtuos darin, ein Wort durch<br />

andere Wörter mit gleicher<br />

Bedeutung zu ersetzen.<br />

gleicher Bedeutung zu ersetzen, Sätze<br />

während des Sprechens umzustellen,<br />

Buchstaben hinzuzuerfinden<br />

oder einfach wegzulassen. Die Wissenschaft<br />

nennt das «covert stuttering»,<br />

verstecktes Stottern. Viele<br />

Stotternde sind darin Meister. Manche<br />

so sehr, dass ihre Umwelt sie<br />

nicht mehr als Stotternde wahrnimmt.<br />

Menschen wie ich.<br />

JA, ICH TRICKSE!, wollte ich<br />

Ingrid Del Ferro am Telefon entgegenrufen.<br />

Ich mache das schon mein<br />

ganzes Leben, und heute besser denn<br />

je.<br />

Meine Kollegen bemerken es<br />

nicht, wenn ich in einer Themenkonferenz<br />

«Kind mit Trisomie 21» statt<br />

«Downsyndrom» sage. Englische<br />

Interviewpartner sehen nicht, wie<br />

ich während eines Telefonats in<br />

einem Wörterbuch nach Synonymen<br />

für unaussprechbare Begriffe suche.<br />

Niemand weiss, dass ich beim Bäcker<br />

keine belegten Brötchen kaufe, weil<br />

ich nicht fragen kann, ob sie mit<br />

Mayonnaise bestrichen sind. Die ich<br />

auch deswegen nicht mag, weil sie<br />

mit M beginnt und zusätzlich ein Y<br />

in der Mitte trägt.<br />

Was Sie heute bei mir hören, Frau<br />

Del Ferro, wollte ich ihr zurufen, ist<br />

das Ergebnis Ihrer Therapie, ergänzt<br />

mit einer lebenslang perfektionierten<br />

Vermeidungsstrategie! Ich<br />

möchte, dass Sie meine Leistung<br />

anerkennen, anstatt mich nur darauf<br />

hinzuweisen, dass der Mangel immer<br />

noch hörbar ist!<br />

Aber natürlich war ich zum<br />

Pöbeln zu feige und schwieg.<br />

Ingrid Del Ferro fragte in die Stille<br />

hinein: «Was würden Sie davon<br />

halten, wenn auch Sie noch einmal<br />

einen Kurs bei mir belegen?»<br />

DAS STOTTERN ist mein Lebensbegleiter.<br />

Meine früheste Erinnerung:<br />

Ich war fünf Jahre alt, als das<br />

H nicht mehr funktionierte. Also<br />

hörte ich auf, davon zu sprechen,<br />

dass ich mir einen Hund wünschte.<br />

Als das F zu haken begann, trank ich<br />

im Kindergarten keinen Früchtetee<br />

mehr. Als das J verschwand, wurde<br />

ich einmal zum Einzelkind; ich hatte<br />

auf die Frage einer Nachbarin, ob<br />

ich Geschwister habe, mit Nein statt<br />

mit Ja geantwortet. Mit jedem Buchstaben,<br />

der auf der Liste des Unaussprechbaren<br />

hinzukam, verlor ich<br />

Selbstverständlichkeiten: Dinge, die<br />

mir wichtig erschienen, Momente,<br />

Gelegenheiten. Und eine Zeit lang<br />

sogar ein Stück meines Selbst, weil<br />

mir das V abhandengekommen war.<br />

Ein Blick in die Autorenzeile dieses<br />

Textes genügt, um zu begreifen,<br />

weshalb ich mich im Alter von neun<br />

Jahren nur noch mit Nachnamen<br />

vorstellte.<br />

Doch irgendwann musste ich laut<br />

vor der Klasse vorlesen; und als alle<br />

Mitschüler den Schulbuchtext vor<br />

Augen hatten, konnte ich nicht einfach<br />

Sätze umbauen.<br />

Irgendwann wollte ich einen Witz<br />

erzählen und schaffte es nicht, die<br />

Worte zu verändern, ohne die Pointe<br />

zu verderben.<br />

Irgendwann sass ich in den ersten<br />

mündlichen Prüfungen, und die<br />

richtige Antwort fing mit D an. Oder<br />

F. Oder J. Oder B, H, W, M, R.<br />

Irgendwann konnte ich die Stotterwörter<br />

nicht mehr austauschen.<br />

Es wurden einfach zu viele.<br />

THERAPIEVERSUCHE, natürlich<br />

hat es die gegeben. Ein Logopäde<br />

forderte mich auf, absichtlich zu<br />

stottern, um mir die Anspannung<br />

beim Sprechen zu nehmen. Ein<br />

Hypnotiseur redete mich in Trance.<br />

Eine Lehrerin horchte auf, als ich ihr<br />

erzählte, dass ich als kleines Mädchen<br />

– unbemerkt von meinem<br />

schlafenden Vater – fast die ganze<br />

Nacht auf dem Boden einer Flugzeugtoilette<br />

verbracht hatte; ich hatte<br />

die Tür nicht öffnen können und<br />

war zu schüchtern zum Klopfen<br />

gewesen. Das musste er gewesen<br />

sein, der traumatische Moment! Der<br />

dieses Sprechmalheur ausgelöst hat!<br />

Ein Psychologe suchte stattdessen<br />

die Gründe in der Trennung meiner<br />

Eltern. Ob mir zu Hause Gewalt<br />

angetan worden sei? Wenigstens ein<br />

kleines bisschen?<br />

Ich weiss nicht, weshalb niemand<br />

auf das Offensichtliche kam. Wieso<br />

sich meine Mutter Vorwürfe machte,<br />

anstatt nachzulesen. Warum sie,<br />

wie als Mantra, immer weiter fragte:<br />

Hätten wir das verhindern können?<br />

Nein, man hätte es nicht verhindern<br />

können.<br />

Mein Onkel stotterte. Einer meiner<br />

Cousins stottert. Stottern, das<br />

weiss man sicher aus verhaltensund<br />

molekulargenetischen Untersuchungen,<br />

ist erblich.<br />

Obwohl es nicht das eine «Stottergen»<br />

gibt, haben Forscher auf<br />

Chromosomen stotternder Menschen<br />

etliche Abschnitte gefunden,<br />

die mit der Sprechstörung zusammenhängen.<br />

70 bis über 80 Prozent<br />

der erwachsenen Stotternden, so<br />

schätzen Wissenschaftler, haben ihr<br />

Stottern geerbt. Männer sind besonders<br />

häufig betroffen, bis zu viermal<br />

mehr als Frauen.<br />

Unter Kindern ist der Anteil von<br />

Stotternden generell höher als bei<br />

Erwachsenen, fünf Prozent statt<br />

einem. Weshalb sich das Stottern bei<br />

einem Teil von ihnen während des<br />

Heranwachsens einfach wieder verliert?<br />

Ebenfalls erblich.<br />

Traumatische Erlebnisse jedenfalls<br />

oder Verfehlungen der Eltern<br />

scheiden als Grund aus, da sind sich<br />

Forscher inzwischen sicher. Ich<br />

weiss nicht mehr, wann ich all >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>61


Erziehung & Schule<br />

>>> das las und meiner Mutter<br />

davon erzählte. Aber ich erinnere<br />

mich an das gute Gefühl als Tochter,<br />

sie von ihrer vermeintlichen Schuld<br />

zu befreien.<br />

WILL DER MENSCH sprechen,<br />

müssen Millionen neuronaler Verbindungen<br />

im Gehirn die richtigen<br />

Signale senden; nur so steuern die<br />

Nerven alle Muskeln, die am Sprechen<br />

beteiligt sind, in der richtigen<br />

Reihenfolge an. Nur so gelingt das<br />

Zusammenspiel aus Atem, Kehlkopf,<br />

Zunge und Lippen, an dessen<br />

Ende ein fliessend gesprochener Satz<br />

steht.<br />

Schon Mitte der 1970er-Jahre<br />

wussten Mediziner, dass Hirnschädigungen<br />

diesen Sprachablauf empfindlich<br />

stören und zum Stottern<br />

führen können, etwa nach einem<br />

Unfall oder durch Blutungen (das<br />

sogenannte neurogene Stottern).<br />

Mitte der 1990er-Jahre trugen<br />

bildgebende Verfahren dazu bei, in<br />

die Gehirne jener Menschen zu<br />

sehen, die scheinbar ohne erkenntlichen<br />

Grund als Kind zu stottern<br />

begonnen hatten. Dabei offenbarten<br />

beispielsweise spezielle computerund<br />

magnettomografische Aufnahmen<br />

Muster, die man sonst von<br />

Schlaganfallpatienten kannte: Die<br />

Forscher sahen verminderte oder<br />

beschädigte Hirnsubstanz, vor allem<br />

im Bereich der Sprachzentren oder<br />

in jenen Hirnarealen, die Bewegungen<br />

der Gesichts- und Kehlkopfmuskeln<br />

koordinieren. Und je mehr<br />

ein Mensch stotterte, desto stärker<br />

waren diese Veränderungen im<br />

Gehirn. Zudem fanden die Mediziner<br />

überdurchschnittlich viel Hirnsubstanz<br />

in Teilen des Gehirns, die<br />

normalerweise eine untergeordnete<br />

Rolle beim Sprechen spielen – ein<br />

Hinweis darauf, dass sie die Aufgaben<br />

geschädigter Hirnareale übernehmen,<br />

um deren Ausfall zu kompensieren.<br />

Ähnlich wie ein Diabetes,<br />

der viele Abläufe im Körper stört,<br />

scheint das Stottern die Arbeit<br />

unterschiedlichster Bereiche des<br />

Gehirns zu beeinträchtigen: der<br />

Basalganglien, des Hirnbalkens, der<br />

Stirn- oder Schläfenlappen und<br />

selbst des limbischen Systems, wo<br />

unsere Emotionen verarbeitet werden.<br />

Dies könnte erklären, weshalb<br />

sogar nur leicht stotternde Menschen<br />

oft eine unverhältnismässig<br />

grosse Angst vor dem Sprechen<br />

haben. Und weshalb ich es vorzog,<br />

den Supermarkt mit Äpfeln im<br />

Rucksack zu verlassen, anstatt der<br />

Verkäuferin weiter etwas vorzustottern.<br />

Zwar haben Wissenschaftler die<br />

Frage, welche Defekte im Gehirn die<br />

Ursache für das Stottern sind und<br />

wo das Gehirn nur auf das Stottern<br />

reagiert, teilweise beantwortet.<br />

Doch noch weiss man nicht genau<br />

genug, wie man therapeutisch im<br />

Gehirn ansetzen müsste, um das<br />

Stottern endgültig zu beenden.<br />

ICH WAR 16 JAHRE ALT, als<br />

mir Ingrid Del Ferro in Amsterdam<br />

ein blaues Büchlein in die Hand<br />

drückte. «Reden ist Gold» stand darauf<br />

geschrieben.<br />

Bis heute steht es in meinem<br />

Regal – als Erinnerung daran, wie<br />

ich, nach zehn Jahren erfolgloser<br />

Therapien, meine Sprache wiederfand.<br />

Nie wieder wurde mein Stottern<br />

so schlimm wie vor dem Besuch in<br />

Amsterdam, nie sprach ich freier als<br />

direkt danach. Doch manchmal, in<br />

ehrlichen Momenten, frage ich<br />

mich, wie lange ich tatsächlich<br />

«komplett stotterfrei» war – so wie<br />

es das Del Ferro Institut den Hilfesuchenden<br />

verspricht.<br />

Wann fing ich wieder an, über<br />

Wörter zu stolpern? Wann vermied<br />

ich schwierige Situationen, nicht aus<br />

gewohnter Angst vor dem Stottern,<br />

sondern weil es tatsächlich zurückgekehrt<br />

war?<br />

War es, als ich mich, drei Jahre<br />

nach dem Sprachkurs, beim Abitur<br />

freiwillig in meinem schlechtesten<br />

Fach, in Mathematik, mündlich prüfen<br />

liess – nur weil ich dabei stumm<br />

an der Tafel rechnen durfte, statt<br />

Unter Kindern ist der<br />

Anteil von Stotternden<br />

generell höher als bei<br />

Erwachsenen, fünf<br />

Prozent statt einem.<br />

einen Vortrag halten zu müssen?<br />

War es, als ich fünf Jahre später die<br />

Trauerrede für meinen Grossvater<br />

schrieb und mir Synonyme für jedes<br />

Stotterwort notierte, nur zur Sicherheit?<br />

Oder als ich, längst erwachsen,<br />

in der Journalistenschule vorgab, auf<br />

die Toilette gehen zu müssen, und<br />

dort bis zum Ende einer Lehreinheit<br />

im Vorraum stehen blieb – weil wir<br />

Texte reihum laut vorlesen sollten?<br />

Wann begann es wieder, mich zu<br />

stören? Störte es mich überhaupt?<br />

Ich kann das nicht beantwor- >>><br />

«Jugendliche sollen lernen,<br />

möglichst souverän mit<br />

dem Stottern umzugehen»<br />

Um stotternden Menschen zu helfen,<br />

verfolgen Experten in der Schweiz einen<br />

auf die Bedürfnisse der Betroffenen<br />

zugeschnittenen Ansatz, sagt Wolfgang<br />

G. Braun von der Interkantonalen<br />

Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.<br />

Interview: Evelin Hartmann<br />

Herr Braun, wie viele Menschen stottern in<br />

der Schweiz?<br />

Studien belegen, dass etwa vier bis fünf Prozent<br />

der Bevölkerung eine Phase des unflüssigen<br />

Sprechens durchlaufen, meist im Vorschulalter.<br />

Bei etwa einem Prozent bleiben die<br />

Sprechprobleme über die Pubertät hinaus bestehen.<br />

Die Autorin des Beitrags «Mein Stottern<br />

und ich» ist für eine Therapie in die Niederlande<br />

gereist. Wie wird das Stottern in der<br />

Regel hierzulande behandelt?<br />

62 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Erst einmal: Die im Beitrag erwähnte Del-Ferro-Methode<br />

gilt in der Fachwelt als umstritten,<br />

da sie sich zu einseitig auf Atemtechnik fokussiert.<br />

In der Schweiz wird seit Jahren eine Methodenkombination<br />

verfolgt, die sich an den<br />

Bedürfnissen der Betroffenen orientiert.<br />

Die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik<br />

HfH führt seit Jahren ein Stottercamp<br />

für Jugendliche aus dem deutschsprachigen<br />

Raum durch. (Vgl. Fritz+Fränzi,<br />

September 2015.) Inwiefern findet dort<br />

eine Methodenkombination statt?<br />

In diesem Therapie-Setting kombinieren wir<br />

vor allem zwei Methoden: Der «Nicht-Vermeidungs-Ansatz»<br />

soll die Kinder dazu bringen,<br />

das Stottern nicht krampfhaft zu umgehen<br />

und die Angst davor zu verlieren. Sie erlernen<br />

einen selbstbewussten Umgang mit dem Stottern.<br />

Zum anderen vermitteln wir eine Sprechtechnik,<br />

wie das «chillige Sprechen», bei dem<br />

die Jugendlichen gemütlich, mit reduziertem<br />

Tempo sowie Pausen sprechen und so das<br />

flüssige Sprechen begünstigt wird.<br />

Es geht also nicht darum, in dieser Woche<br />

ganz stotterfrei zu werden?<br />

Nein. Das können wir nicht versprechen. Kein<br />

Therapeut bzw. keine Therapeutin kann das.<br />

Stottern zeigt sich als Sprechstörung, die ab<br />

dem Jugendalter kaum mehr heilbar ist. Deshalb<br />

ändert sich im Teenageralter das Therapieziel:<br />

Die Jugendlichen sollen möglichst lernen,<br />

souverän mit dem Stottern und Sprechen<br />

umzugehen.<br />

Was können Eltern tun, die bemerken, dass<br />

ihr Kind zu stottern anfängt?<br />

80 Prozent der Kinder machen zwischen dem<br />

dritten und sechsten Lebensjahr eine Phase<br />

durch, in der sie nicht flüssig sprechen. Bei einem<br />

Grossteil von ihnen geben sich diese<br />

Schwierigkeiten von alleine. Fordern die Eltern<br />

ihr Kind jedoch ständig auf, erst einmal zu<br />

überlegen, was sie sagen wollen, machen sie<br />

es erst recht auf diese Störung aufmerksam,<br />

was dazu führen kann, dass sie sich in einem<br />

Stottern manifestiert. Ich rate Eltern daher,<br />

möglichst geduldig und entspannt zu bleiben.<br />

Dabei ist es doch wichtig, eine Sprechstörung<br />

möglichst früh therapieren zu lassen.<br />

Das ist richtig. In einer möglichst frühen Therapie<br />

bekommen Kinder vom Kleinkind- bis ins<br />

Jugendalter eine gute Chance, souverän mit<br />

dem Stottern umzugehen oder Sprechtechniken<br />

zu erlernen, die ein Stottern erst gar nicht<br />

auftreten lassen. Wir haben an der HfH eine<br />

Beratungsplattform erarbeitet, an die sich Eltern<br />

wenden können. Dort werden sie online<br />

beraten oder zusammen mit ihrem Kind für<br />

eine Beratung und Abklärung eingeladen.<br />

Trotzdem: Eine Beratung wie auch eine Abklärung<br />

sind nicht automatisch der Beginn einer<br />

Therapie. Aber sie bieten Eltern Gewissheit.<br />

www.hfh.ch > Unser Service > Expertenwissen<br />

online> Stotterberatungsstelle<br />

Wolfgang G. Braun<br />

ist Logopäde und Dozent an der<br />

interkantonalen Hochschule für<br />

Heilpädagogik in Zürich, Schwerpunkte:<br />

Störungen der Rede, Prävention, Logopädie<br />

im Frühbereich und Diagnostik.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>63


ten. Wenn kaum noch jemand<br />

merkt, dass man stottert, vergisst<br />

man es zeitweise selbst. Brenzlige<br />

Situationen werden seltener, Vermeidungsstrategien<br />

besser.<br />

Doch dann stand, zwei Tage nach<br />

dem Anruf bei Ingrid Del Ferro, diese<br />

Zahl in meinem Notizbuch: 429.<br />

Nach ihrer Frage hatte ich eine<br />

Strichliste geführt, um zu prüfen,<br />

wie oft ich an einem normalen<br />

Wochentag nicht den Satz sage, der<br />

mir zuerst in den Kopf kommt, sondern<br />

den, den ich stotterfrei sprechen<br />

kann. 429 Striche.<br />

Nur ein einziges Mal habe ich an<br />

jenem Tag ein Wort auszusprechen<br />

versucht, obwohl ich wusste, dass es<br />

nicht funktionieren würde. In der<br />

wahnwitzigen Annahme, dass ich es,<br />

wenn ich mich nur genug anstrengen<br />

würde, doch noch artikulieren<br />

könnte. D-d-d-datteln.<br />

DESHALB SITZE ICH schliesslich<br />

im Del Ferro Institut in Amsterdam<br />

und drücke die Hände links<br />

und rechts auf meine Rippen, jeder<br />

Satz ein langes Ausatmen. Ich sehe<br />

den grünen Dozentenstuhl mit der<br />

hölzernen Löwenkopf-Armlehne,<br />

der dort bereits vor 16 Jahren stand,<br />

die Modelle menschlicher Oberkörper,<br />

von denen die Farbe blättert.<br />

Neben mir bläst Anja die Backen<br />

auf, sie hat sich kaum verändert,<br />

schlanker Körperbau, runde Brille,<br />

entschlossener Blick. Ich habe sie<br />

sofort wiedererkannt. Zur Begrüssung<br />

umarmten wir uns schweigend,<br />

sie brachte kaum ein Wort heraus.<br />

Als wir in die Videokamera sprachen,<br />

um unsere Sprache zu analysieren,<br />

stotterte sie fürchterlich.<br />

Dann weinte sie.<br />

ENDE DER 1970ER-JAHRE hat<br />

der Opernsänger Leonard Del Ferro<br />

die Del-Ferro-Methode entwickelt.<br />

Sie ist eine Atemtechnik für das<br />

Zwerchfell, jene kuppelförmige<br />

Muskel-Sehnen-Platte, die den<br />

Brust- vom Bauchraum trennt.<br />

Wenn der Mensch einatmet,<br />

flacht das Zwerchfell ab, beim Ausatmen<br />

wölbt es sich in die Ausgangsposition<br />

zurück. Durch diese Bewegung<br />

strömt Luft aus der Lunge an<br />

den Stimmlippen im Kehlkopf vorbei,<br />

hin zum gesprochenen Wort.<br />

Das Del Ferro Institut geht davon<br />

aus, dass Stotternde während des<br />

Sprechens unbewusst einatmen,<br />

daher das Zwerchfell «flattert» und<br />

der Sprechablauf durcheinander-<br />

Der 10-Tages Kurs in Amsterdam<br />

kostet knapp 1900 Euro. Dennoch<br />

melden sich Hunderte von<br />

Menschen jedes Jahr an.<br />

kommt. Fundierte wissenschaftliche<br />

Studien, die eine Effektivität der<br />

Behandlung beweisen, stehen aus;<br />

der knapp 1900 Euro teure Kurs<br />

wird meist nicht von der Krankenkasse<br />

bezahlt.<br />

Dennoch melden sich seit mehr<br />

als 30 Jahren Hunderte von Menschen<br />

jährlich in Amsterdam, um<br />

64 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

die Methode in dem Zehn-Tage-<br />

Kurs zu erlernen. Im Wartezimmer:<br />

Aktenordner, prall gefüllt mit Dankesschreiben<br />

aus aller Welt.<br />

Die Del-Ferro-Methode läuft in<br />

mehreren Phasen ab. Zunächst lernen<br />

wir, unser Zwerchfell durch<br />

äusseren Druck auf die Rippen zu<br />

kontrollieren, später allein durch<br />

eine Konzentrations- und Atemtechnik.<br />

Ich blicke ins Leere, presse meine<br />

Hand gegen die Rippen. Dann atme<br />

ich ruhig ein und aus, ein und aus,<br />

und wieder ein. Schliesslich spreche<br />

ich, während langsam die Atemluft<br />

entweicht. Es dauert fast eine Minute,<br />

bis auf diese Weise ein Satz entsteht;<br />

langsam und monoton. Und<br />

wieder fast eine Minute bis zum<br />

nächsten Satz. Ich klinge wie ein<br />

Roboter. Und fühle mich wie ein<br />

Idiot.<br />

Doch nach nicht einmal zwei<br />

Stunden im Kurs spricht Anja, die<br />

zu Beginn kaum ein Wort herausbekam,<br />

flüssig. Auch ich spreche Sätze,<br />

die sonst unter meiner Zunge in<br />

Stücke brechen.<br />

Wie vor 16 Jahren verspricht der<br />

Dozent: Wenn ihr die Methode konsequent<br />

anwendet, hat sich die<br />

Bewegung des Zwerchfells nach<br />

einigen Monaten automatisiert.<br />

Dann, sagt er, habt ihr das Stottern<br />

besiegt.<br />

KEINE TELEFONATE, kein<br />

Alkohol während der zehn Tage, das<br />

sind die Regeln. Im Kursraum ist es<br />

verboten, die Heizung aufzudrehen,<br />

weil zu viel Wärme die Konzentration<br />

stört. Und, das Wichtigste:<br />

nicht ein Wort sprechen, ohne die<br />

Del-Ferro-Methode anzuwenden.<br />

Jeden Nachmittag gehen wir,<br />

Anja, drei weitere Teilnehmer und<br />

ich, auf die Strasse, ins Alltagsleben.<br />

Dort sprechen wir bis spät in den<br />

Abend fremde Menschen auf Englisch<br />

an, so viele wie möglich.<br />

Wir sollen in ganz unterschiedlichen<br />

Situationen üben, um sicher zu<br />

sein, dass die Flüssigkeit der Sprache<br />

nicht von der Tagesform abhängt. Es<br />

gibt Stotternde, die artikulieren im<br />

Kursraum fliessend, im Alltag aber<br />

nicht. Andere halten in der Schule<br />

problemlos Referate, doch schaffen<br />

es nicht, einen Kaffee zu bestellen.<br />

Ich konnte meiner Chefin stotterfrei<br />

von meinem Dattel-Erlebnis erzählen,<br />

einer Freundin beim Mittagessen<br />

aber nicht.<br />

Wäre das Stottern ein Tier, es<br />

wäre ein Chamäleon.<br />

WIR ÜBEN HART. Wir quälen<br />

uns. Blicken ins Leere, sprechen<br />

monoton und unerträglich langsam.<br />

Fragen Menschen am Bahnhof nach<br />

dem Weg, wenn sie in Eile sind.<br />

Bestellen unser Abendessen, alle<br />

fünf, hintereinander, in Restaurants<br />

mit Hochbetrieb. Jeder Satz eine halbe<br />

Minute.<br />

«Ich bin so glücklich, wieder<br />

sprechen zu können», sagt Anja.<br />

«Was die Kellnerin wohl von uns<br />

denkt», sage ich.<br />

Eine Frau im Optikgeschäft<br />

droht, die Polizei zu rufen, weil sie<br />

sich von unserer Art zu sprechen<br />

bedroht fühlt. Ein Passant fragt<br />

mich, ob ich medizinische Hilfe<br />

benötige. Eine Gruppe Jugendlicher<br />

lacht uns aus; dabei schaue ich zu<br />

Boden und gebe vor, nur zufällig mit<br />

der Gruppe unterwegs zu sein.<br />

Am sechsten Tag verstecke ich<br />

mich hinter einem Stapel Obstkisten<br />

im Supermarkt und rufe einen<br />

Freund an. «Ich will nicht mehr»,<br />

flüstere ich.<br />

«Was willst du nicht mehr?»<br />

«Ich will mit dieser Sprachtherapie<br />

nichts mehr zu tun haben.»<br />

Weshalb waren meine 429 Striche<br />

kein Anreiz mehr für mich, in Amsterdam<br />

konsequent mit der Del-<br />

Ferro-Methode zu sprechen? Warum<br />

telefonierte ich trotz Verbots,<br />

setzte mich von der Gruppe ab, vermied<br />

Kontakt, statt ihn zu suchen?<br />

Ich habe ein paar Tage gebraucht,<br />

um zwei Gründe zu erkennen.<br />

Vor 16 Jahren hatte ich keine<br />

Wahl.<br />

Ich stotterte oft so stark, dass die<br />

als die Scham, die Del-Ferro-Methode<br />

anzuwenden.<br />

Doch jetzt hatte ich eine Alternative.<br />

Meine Vermeidungsstrategien<br />

funktionieren gut. Meist finde ich<br />

einen Ausweg aus dem Stottern. Ich<br />

habe viele Jahre daran gearbeitet,<br />

beim Sprechen nicht mehr aufzufallen.<br />

Kaum jemand bemerkt heute<br />

noch den Kampf, den ich dabei mit<br />

den Wörtern ausfechte.<br />

In Amsterdam aber fiel ich wieder<br />

auf. Die Leute starrten mich an,<br />

wenn ich sprach – nicht weil ich stotterte,<br />

sondern weil ich die Del-Ferro-Methode<br />

benutzte. Weil ich klang<br />

wie ein Roboter.<br />

Als ich vor dem Kurs die Zahl 429<br />

in meinem Notizbuch gesehen hatte,<br />

war sie mir als Makel erschienen, ich<br />

wollte ihn beseitigen. Jetzt schien sie<br />

mir ein Erfolg zu sein. 429 Striche,<br />

das heisst für mich: 429 Mal keine<br />

Scham gefühlt.<br />

Der zweite Grund für mein Verhalten<br />

in Amsterdam wurde mir am<br />

vierten Tag bewusst. Ich hatte ihn<br />

ignoriert, vielleicht aus Angst, ihn<br />

mir einzugestehen. Doch dann sass<br />

ich mit Anja in der Lobby unseres<br />

Hotels, wir tranken Tee, und sie sagte:<br />

«Ich wiederhole diesen Kurs nicht<br />

zum ersten Mal. Ich bin mindestens<br />

das siebte Mal hier.»<br />

«STOTTERN IST im Erwachsenenalter<br />

bislang selten heilbar», sagt<br />

Katrin Neumann. Zumindest dürfe<br />

kein Therapeut eine Heilung versprechen.<br />

Die Professorin leitet die<br />

Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie<br />

am Universitätsklinikum<br />

Bochum. Seit 18 Jahren erforscht sie<br />

das Stottern; unter ihrem Vorsitz<br />

wurden 2016 Leitlinien für die Diagnose<br />

und Behandlung der Sprechstörung<br />

entwickelt.<br />

Stotterbehandlungen, die auf eine<br />

Regulation der Atmung setzen (wie<br />

es die Del-Ferro-Methode macht),<br />

werden in diesen Leitlinien als<br />

«unzureichend wirksam» bezeichnet.<br />

Und das, obwohl die Grundidee<br />

des Del-Ferro-Ansatzes plausibel ist.<br />

Scham beim Sprechen grösser war Doch beruhen die Erfolge >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>65


Erziehung & Schule<br />

Es stottert nicht, wer singt oder<br />

flüstert. Doch kein Stotterer<br />

schafft es, sein ganzes Leben<br />

lang zu singen oder zu flüstern.<br />

Vivian Pasquet<br />

>>> vermutlich nicht auf der Kontrolle<br />

des Zwerchfells.<br />

Wissenschaftler wie Katrin Neumann<br />

gehen stattdessen davon aus,<br />

dass veränderte Sprechweisen als<br />

«externer Schrittmacher» auf den<br />

gestörten Sprechablauf wirken.<br />

Denn bei Stotternden scheint die<br />

Feinabstimmung von Hören und<br />

Sprechen nicht zu gelingen. Zwar<br />

hören sie ihre Worte, doch kann ihr<br />

Gehirn das Gesagte während des<br />

Sprechens nicht richtig verarbeiten.<br />

Das bringt die Sprachplanung<br />

durcheinander.<br />

Wie wichtig es für das Sprechen<br />

ist, die eigenen Wörter fehlerfrei<br />

wahrzunehmen, zeigt der «Lee-<br />

Effekt»: Hören Flüssigsprechende<br />

über einen Kopfhörer ihre Stimme<br />

wenige Zehntelsekunden verzögert,<br />

können auch sie nicht mehr fliessend<br />

sprechen. Gibt man hingegen<br />

veröffentlichte als freie Journalistin unter anderem Artikel im<br />

SPIEGEL, in der ZEIT, im STERN und in GEO. Seit September 2016<br />

ist sie festangestellte Redaktorin bei GEO.<br />

Stotternden ihre Stimme verzögert<br />

wieder oder spielt ihnen während<br />

des Sprechens laute Geräusche oder<br />

Musik vor, hören sie mit dem Stottern<br />

auf.<br />

Auch stottert nicht, wer singt,<br />

flüstert, schreit oder im Gleichtakt<br />

mit einem Metronom spricht. Sprechen<br />

im Chor kann ebenfalls helfen:<br />

Als meine Englischlehrerin in der<br />

sechsten Klasse den Schulbuchtext<br />

gemeinsam mit mir laut vorlas,<br />

schaffte auch ich es stotterfrei. Veränderte<br />

Sprechweisen scheinen also<br />

als eine Art Taktgeber, als Schrittmacher<br />

zu wirken und das Gehirn<br />

zu überlisten.<br />

Doch kein Stotternder schafft es,<br />

sein ganzes Leben lang zu singen, zu<br />

flüstern oder mit der Del-Ferro-<br />

Methode zu sprechen. Zudem<br />

scheint das Gehirn den Bluff früher<br />

oder später zu bemerken. Das<br />

erklärt, weshalb sich die Sprechflüssigkeit<br />

bei manchen Stottertherapien<br />

erst stark verbessert – und dann<br />

wieder verschlechtert. Es erklärt,<br />

weshalb Anja immer wieder nach<br />

Amsterdam reist. Und warum mein<br />

Stottern zurückkehrte.<br />

Ich habe sieben der zwölf Teilnehmer<br />

meines damaligen Kurses<br />

nach 16 Jahren gefragt, wie es heute<br />

mit dem Sprechen klappt. Keiner<br />

von ihnen bezeichnet sich als komplett<br />

stotterfrei, doch alle sagen, die<br />

Del-Ferro-Methode habe ihnen sehr<br />

geholfen.<br />

Für diesen Artikel hat GEO stotternde<br />

Menschen gebeten, sich im<br />

Moment des Stotterns fotografieren<br />

zu lassen (siehe Box unten: Zu den<br />

Bildern). Nicht jeder empfand dabei<br />

Scham, so wie ich. Die meisten<br />

gehen viel selbstverständlicher und<br />

aufrechter mit ihrer Sprechstörung<br />

um, als ich es je konnte – auch wenn<br />

ihr Stottern hörbarer ist.<br />

Einige haben eine viel besser<br />

erforschte Therapie als die Del-Ferro-Methode<br />

absolviert; stotterfrei<br />

sind auch sie nicht. Doch alle haben<br />

Strategien für das Sprechen entwickelt.<br />

Solange eine komplette Heilung im<br />

Erwachsenenalter noch selten ist,<br />

sagen Forscher wie Katrin Neumann,<br />

müsse jeder seinen eigenen Weg,<br />

seine eigene Sprechkrücke für das<br />

Leben mit dem Stottern finden.<br />

Als ich Anja drei Monate nach<br />

dem Kurs wiedertreffe, spricht sie<br />

mit einer vereinfachten Form der<br />

Del-Ferro-Methode fliessend. Sollte<br />

das Stottern zurückkommen, sagt<br />

sie, fahre sie wieder nach Amsterdam.<br />

AN EINEM MORGEN im Winter,<br />

der Kurs liegt fast ein halbes Jahr<br />

zurück, sitze ich mit Freunden auf<br />

dem Balkon einer Hütte in den<br />

Schweizer Bergen. Wir spielen ein<br />

Gesellschaftsspiel, reihum soll jeder<br />

eine Spielkarte laut vorlesen. Die<br />

Karten sind eng mit Text bedruckt.<br />

Ich zögere, dann gebe ich meine<br />

Karte einer Freundin.<br />

Während sie zu lesen beginnt,<br />

blicke ich auf die Berge; lausche dem<br />

fliessenden Rhythmus der Sätze,<br />

dem stetigen Auf und Ab der Wörter<br />

mit all ihren D und J und B und G.<br />

Ich spüre kein Bedauern und kein<br />

Versagen mehr. Die Sonne scheint.<br />

Auf den Gipfeln liegt Schnee.<br />

Man muss sich seines Selbstwerts<br />

als Mensch bewusst sein, dann spürt<br />

man beim Stottern keine Scham<br />

mehr. Wenn ich selbstbewusst stottere,<br />

fällt es auch meinen Zuhörern<br />

leichter. Manchmal beenden sie<br />

trotzdem einen Satz für mich. Ich<br />

verstehe das; aber auch wenn ich<br />

sehr stottere, spreche ich jeden Satz<br />

zu Ende. Das bedeutet für mich<br />

Selbständigkeit.<br />

>>><br />

Dieser Text ist in GEO erschienen.<br />

Ab druck mit freundlicher Genehmigung.<br />

Zu den Bildern<br />

Der Fotograf Olaf Blecker hat<br />

stotternde Menschen im<br />

verletzlichsten Augenblick ihres<br />

Sprechens fotografiert. Wie die<br />

Autorin Vivian Pasquet.<br />

66 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Kolumne<br />

«Was soll ich machen,<br />

wenn ich traurig bin?»<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

Mikael Krogerus<br />

ist Autor und Journalist.<br />

Der Finne ist Vater einer Tochter<br />

und eines Sohnes, lebt in Biel<br />

und schreibt regelmässig für<br />

das Schweizer ElternMagazin<br />

Fritz+Fränzi und andere<br />

Schweizer Medien.<br />

Was soll ich machen, wenn ich traurig bin?» Die Frage kam<br />

etwas unvermittelt, aber meine Tochter hatte sie gestellt,<br />

und nun schaute sie mich fragend an. In ihrem Gesicht<br />

konnte ich nicht eindeutig erkennen, ob es sich um eine<br />

klinische Depression handelte, einen frühen Liebeskummer<br />

oder einfach um jene bodenlose Traurigkeit, die uns Menschen in den<br />

merkwürdigsten Momenten anfällt wie ein böser Hund. Ich schluckte. Zu dem<br />

Schock, dass es meinem Kind schlecht gehen könnte, gesellte sich schleichend<br />

die ungute Einsicht, dass ich, im fortgeschrittenen Alter von 40 Jahren, noch<br />

immer nicht weiss, was Traurigkeit lindert.<br />

Vor vielen Jahren hatte ich der österreichischen Schriftstellerin Friederike<br />

Mayröcker die gleiche Frage gestellt. Sie war damals tief in der Trauerarbeit<br />

um ihren verstorbenen Lebenspartner Paul Jandl versunken und hatte mit<br />

«Und ich schüttelte einen Liebling» so etwas wie eine persönliche Erinnerung,<br />

einen Nachruf auf Jandl verfasst. Das Buch war ihr Versuch, das Unsagbare<br />

in Worte zu kleiden und ihm so den Schrecken zu nehmen. Ich sass damals in<br />

einem Wiener Kaffeehaus der alten, gebückten Dame gegenüber und fragte sie:<br />

«Was lindert die Trauer?»<br />

Sie überlegte lange, und dann sagte sie: «Gehen. Sehr rasch und viel gehen.<br />

Das ist gut, wenn man einen grossen Schmerz hat. So kann man den überbrücken.»<br />

Ich verstand auf Anhieb. Auch mir hat Gehen in so manch dunkler Stunde<br />

geholfen. Paradoxerweise endet beim Gehen das Grübeln und beginnt das<br />

Denken. Und wer richtig weit läuft, bei dem hört beides auf. Besonders<br />

gut geht es sich übrigens in Grossstädten, denn wie viel Kümmernisse du<br />

auch mit dir herumträgst, so genügen doch oft nur wenige Schritte, um auf<br />

jemanden zu stossen, der im Spiel des Lebens noch schlechtere Karten gezogen<br />

hat als du.<br />

Gleichzeitig ist das kein Ratschlag für eine Zehnjährige. Also fragte ich sie:<br />

«Was machst du, wenn du traurig bist?»<br />

Sie dachte kurz nach, dann sagte sie: «Ich weine. Dann gehe ich zu dir oder<br />

zu Mamma. Und dann mache ich etwas, was mir Spass macht.»<br />

Sie schaute mich an und schaute dann auf ihre Uhr: Es war 14 Uhr, sie<br />

musste zum Zirkus. Also sprang sie auf, küsste mich und rannte zur Tür<br />

hinaus.<br />

Ich schaute ihr aus dem Fenster hinterher und hatte ihre Worte im Kopf:<br />

Gefühle zulassen; Leute suchen, bei denen du dich aufgehoben fühlst; Dinge<br />

tun, die dir etwas bedeuten. Das waren ziemlich gute Ratschläge. Plötzlich<br />

drehte sie sich um und winkte mir. Ich winkte zurück und dachte bei mir, dass<br />

sie für eines der grossen Rätsel des Lebens deutlich weniger Zeit gebraucht<br />

hatte als ich.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>67


Mama, die Buchstaben<br />

Wenn Kinder häufig über Kopfschmerzen klagen, schlecht lesen und krakelig schreiben,<br />

unkonzentriert und motorisch unsicher sind, wird dies nicht selten auf eine Lese-Rechtschreib-<br />

Schwäche oder gar ADHS zurückgeführt. Die Ursache könnte aber auch in einem latenten<br />

Schielen, umgangssprachlich einer Winkelfehlsichtigkeit, liegen. Text: Anja Lang<br />

Bild: iStockphoto<br />

68 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Luca findet Lesen doof.<br />

Wann immer es geht,<br />

drückt er sich davor.<br />

Auch das Schreiben fällt<br />

ihm schwer. Er verrutscht<br />

in den Zeilen, verdreht die Buchstaben<br />

und macht viele Rechtschreibfehler.<br />

Oft hat er Kopfschmerzen<br />

und ist müde. «Musst halt fleissiger<br />

üben», kriegt er oft zu hören. Doch<br />

so sehr er sich auch anstrengt, die<br />

Buchstaben «hüpfen» ihm einfach<br />

vor den Augen davon. Hilfe be ­<br />

kommt Luca erst, als bei ihm eine<br />

Winkelfehlsichtigkeit als Ursache<br />

seiner Probleme entdeckt wird.<br />

Winkelfehlsichtigkeit ist keine<br />

Fehlsichtigkeit oder Krankheit im<br />

eigentlichen Sinne. «Es handelt sich<br />

vielmehr um eine latente Abweichung<br />

der Augen im Ruhezustand<br />

aus der optimalen Position», erklärt<br />

Daniel Bruun, Augenarzt und<br />

Augenchirurg aus Kreuzlingen TG.<br />

«Diese Abweichung kann aber Auswirkungen<br />

auf das simultane beidseitige<br />

Sehen haben.»<br />

stellung von Natur aus kleine Abweichungen<br />

nach innen oder aussen,<br />

seltener auch nach oben oder unten.»<br />

Diese Abweichung vom Idealzustand<br />

nennt man Winkelfehlsichtigkeit.<br />

In der Augenmedizin spricht<br />

man auch von Heterophorie oder<br />

verstecktem Schielen. «Versteckt<br />

deshalb, weil die leichte Fehlstellung<br />

nur dann sichtbar wird, wenn sich<br />

das Auge im Ruhezustand befindet<br />

– beispielsweise bei Müdigkeit oder<br />

beim abgedeckten Auge», erklärt der<br />

Schielexperte. «Sobald die Augen ein<br />

Objekt fokussieren, justiert das<br />

Gehirn die Abweichung in Sekundenbruchteilen<br />

nach, sodass die<br />

Augen wieder synchron gestellt werden.»<br />

Anders als ein echtes Schielen<br />

fällt das latente Schielen im Alltag<br />

deshalb auch nicht auf.<br />

Rund 80 Prozent aller Sehenden<br />

haben eine Winkelfehlsichtigkeit.<br />

Die meisten Menschen verkraften<br />

die ständige Zusatzarbeit, die Gehirn<br />

und Augenmuskulatur für die optimale<br />

Fusion leisten müssen, ohne<br />

grössere Probleme. «Ein gewisser<br />

Prozentsatz aber entwickelt Anstrengungsbeschwerden,<br />

die mitunter<br />

massive Auswirkungen auf die<br />

Lebensqualität haben können»,<br />

weiss Bruun.<br />

Winkelfehlsichtigkeit kann krank<br />

machen<br />

«Ein deutliches Zeichen für mögliche<br />

Probleme mit dem versteckten<br />

Schielen ist, wenn Patienten immer<br />

wieder Doppelbilder sehen», sagt<br />

Augenexperte Daniel Bruun. «Auch<br />

Latentes Schielen<br />

Damit ein dreidimensionales Bild<br />

entsteht, müssen die zwei Einzelbilder,<br />

die auf den Netzhäuten der beiden<br />

Augen entstehen, vom Gehirn<br />

zu einem einzigen räumlichen Bild<br />

verschmolzen werden. Diesen Vorgang<br />

nennt man in der Fachsprache<br />

Fusion. «Für eine optimale Fusion<br />

sollten die beiden Augen stets gleich<br />

ausgerichtet sein», weiss Bruun. «Bei<br />

der überwiegenden Mehrheit finden<br />

häufige Kopfschmerzen, die vor<br />

allem abends auftreten, können ein<br />

Hinweis darauf sein.» Bei Kindern<br />

zeigen sich zudem Symptome wie<br />

häufiges Stolpern, schlechte Orientierung<br />

im Raum, Probleme beim<br />

Verfolgen von bewegten Objekten<br />

wie Bällen. Aufgaben, die konzentrierte<br />

Augenarbeit erfordern wie<br />

Basteln, Ausmalen oder Ausschneiden,<br />

werden konsequent gemieden.<br />

Betroffene Schulkinder leiden oft an<br />

sich aber in der entspannten Augen­ Konzentrationsschwierigkei­ >>><br />

80 Prozent aller Menschen<br />

haben ein sogenanntes<br />

verstecktes Schielen, auch<br />

Winkelfehlsichtigkeit genannt.<br />

Symptome durch<br />

Winkelfehlsichtigkeit<br />

• Zeitweiliges Doppelbildsehen<br />

• Kopfschmerzen vor allem<br />

abends<br />

• Konzentrationsschwierigkeiten<br />

• Bei kleinen Kindern auch<br />

Bauchschmerzen<br />

• Stolpern, gegen Hindernisse<br />

laufen, Probleme beim<br />

Ballfangen<br />

• Vermeidung von Basteln,<br />

Ausmalen, Ausschneiden<br />

• Probleme beim Lesen:<br />

Zeilenspringen, stockendes<br />

Lesen, schnelle Ermüdung<br />

• Probleme beim Schreiben:<br />

krakelige Schrift, Zeilen<br />

werden nicht gehalten,<br />

Buchstaben werden verdreht<br />

Was ist eine Prismenbrille?<br />

Die Gläser einer Prismenbrille<br />

sind prismatisch. Damit<br />

sehen sie aus wie zwei rund<br />

geschliffene Keile. In der<br />

Augenheilkunde werden<br />

Prismengläser bei bestimmten<br />

Schielerkrankungen eingesetzt,<br />

um Doppelbilder<br />

zusammenzuführen. Bei einer<br />

Winkelfehlsichtigkeit sollen sie<br />

die gemessene Abweichung<br />

des Auges im Ruhezustand<br />

ausgleichen. Durch den Mehraufwand<br />

sind Prismenbrillen<br />

teurer als normale Brillen, und<br />

die Gläser sind schwerer.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>69


Informationsangebote<br />

für Betroffene von<br />

Winkelfehlsichtigkeit<br />

Die Schweizer Selbsthilfegruppe<br />

Winkelfehlsichtigkeit<br />

trifft sich nicht mehr aktiv,<br />

betreibt aber unter www.winkelfehlsichtigkeit.org<br />

eine eigene<br />

Webseite.<br />

Die Deutsche Selbsthilfegruppe<br />

Winkelfehlsichtigkeit<br />

ist noch aktiv und bietet unter<br />

www.shgwf.de/cms/ Infos<br />

und Adressen von Ansprechpartnern<br />

in Deutschland, Österreich<br />

und der Schweiz.<br />

Forum: Erfahrungsaustausch<br />

Binokularsehen<br />

Unter www.optometrieonline.<br />

de/forum/5 können sich<br />

Betroffene austauschen.<br />

IVBS – Internationale<br />

Vereinigung für binokulares<br />

Sehen<br />

Eine Vereinigung von Augenoptikern<br />

und Augenärzten, die<br />

sich auf Winkelfehlsichtigkeit<br />

spezialisiert haben.<br />

www.ivbs.org<br />

Bewegung unterstützt das<br />

Gehirn dabei, Informationen<br />

im Kopf zu behalten.<br />

>>> ten und zeigen starke Auffälligkeiten<br />

beim Lesen und Schreiben.<br />

«Typisch ist, dass die Kinder das<br />

Lesen am liebsten vermeiden, bei<br />

Aufforderung mit der Nase fast am<br />

Papier kleben, nur stockend vorwärtskommen<br />

und häufig in der<br />

Zeile verrutschen», so Daniel Bruun.<br />

«Beim Schreiben können die Linien<br />

nicht gehalten werden und die Wörter<br />

sind unleserlich und oft unvollständig.»<br />

Aufwendige Diagnose<br />

Behandelt werden muss eine Winkelfehlsichtigkeit<br />

nur, wenn sie Probleme<br />

macht. «Ich vergleiche das<br />

immer mit leichten X- oder O-Beinen,<br />

die ja an sich auch keine Krankheit<br />

sind», betont der Schielexperte.<br />

«Erst wenn dadurch Beschwerden<br />

wie Schmerzen wegen Fehlbelastungen<br />

auftreten, muss etwas unternommen<br />

werden.» Um festzustellen, ob<br />

die beschriebenen Symptome von<br />

einer Überlastung der Augen durch<br />

Winkelfehlsichtigkeit herrühren<br />

oder eine andere Ursache haben, ist<br />

eine sehr ausführliche Anamnese<br />

nötig. «Hier braucht man viel Erfahrung<br />

und Fingerspitzengefühl, gerade<br />

bei Kindern», so Daniel Bruun.<br />

Ausserdem müssen andere mögliche<br />

Ursachen wie etwa bestehende echte<br />

Fehlsichtigkeiten ausgeschlossen<br />

beziehungsweise fachgerecht behandelt<br />

werden. «Leider wird diese<br />

umfassende und zeitraubende<br />

Untersuchung von den Krankenkassen<br />

nicht besonders hoch entlohnt»,<br />

weiss Bruun. «Damit ist sie für viele<br />

Augenärzte wirtschaftlich gesehen<br />

nicht lukrativ und wird entsprechend<br />

vernachlässigt.» Aktuell gibt es in der<br />

Schweiz und den Nachbarländern<br />

nur eine verschwindend geringe<br />

Anzahl an Augenärzten, die sich mit<br />

dem Thema Winkelfehlsichtigkeit<br />

intensiver beschäftigt. Leidtragende<br />

dieser Entwicklung sind betroffene<br />

Kinder und Erwachsene, deren Winkelfehlsichtigkeit<br />

oft jahrelang unerkannt<br />

und unbehandelt bleibt, weil<br />

gängige Untersuchungen keinerlei<br />

Auffälligkeiten zeigen. Ruth Schmid,<br />

Mutter von drei Kindern mit Winkelfehlsichtigkeit<br />

und Gründerin<br />

einer Schweizer Selbsthilfegruppe in<br />

Winterthur, hat selbst derartige<br />

Erfahrungen gemacht und kennt<br />

viele Familien, denen erst nach<br />

einem langen Leidensweg mit einer<br />

Prismenbrille (siehe Box Seite 69)<br />

oder einer Schieloperation geholfen<br />

werden konnte. Sie sagt: «Hilfe finden<br />

Eltern von betroffenen Kindern<br />

oft eher beim Augenoptiker als beim<br />

Augenarzt.»<br />

Mess- und Korrektionsmethodik<br />

nach Haase<br />

In den 1950ern entwickelte der<br />

Augenoptikermeister Hans-Joachim<br />

Haase eine spezielle Messmethode,<br />

bekannt als Mess- und Korrektionsmethodik<br />

nach H.-J. Haase – kurz<br />

MKH. Früher bekannt unter dem<br />

Namen Polatest, wird die MKH heute<br />

vor allem von Augenoptikern und<br />

einigen wenigen überzeugten<br />

Augen ärzten angewendet, die sich<br />

in der Internationalen Vereinigung<br />

für Binokulares Sehen (IVBS) zusammengeschlossen<br />

haben. «Bei der<br />

MKH wird die Augenstellung mithilfe<br />

von Polarisationsfiltern ge -<br />

trennt, aber unter erhaltener Fusion<br />

wie beim natürlichen Sehen vermessen»,<br />

erklärt Fritz Gorzny, Vizepräsident<br />

der IVBS und Augenarzt aus<br />

Deutschland. Anders als bei gängigen<br />

Sehtests sind bei der MKH-Messung<br />

dazu beide Augen am Sehvorgang<br />

beteiligt. Polarisationsfilter in<br />

der Messbrille sorgen dafür, dass<br />

trotzdem jedes Auge einzeln gemessen<br />

werden kann.<br />

«Bei der Messung selbst muss der<br />

Patient dann polarisierte Testbilder<br />

70 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

analysieren, denen so lange unterschiedliche<br />

Prismengläser vorgeschaltet<br />

werden, bis die Bilder beider<br />

Augen subjektiv jeweils auf den<br />

schärfsten Punkt beider Netzhäute<br />

treffen und das Testbild korrekt<br />

anzeigen.»<br />

Ziel der Messung ist, die genaue<br />

Abweichung der Augen in sogenannten<br />

Prismendioptrien zu ermitteln.<br />

Mit diesen Werten kann dann<br />

eine Prismenbrille gefertigt werden,<br />

die die gemessene Abweichung ausgleichen<br />

und die Augen bei der täglichen<br />

Seharbeit entlasten soll. «Da<br />

sich die Augenmuskeln durch die<br />

jahrelange Anstrengung teilweise<br />

regelrecht verkrampfen, muss die<br />

Stärke der Prismen später gegebenenfalls<br />

erhöht werden», betont<br />

Fritz Gorzny. «In weniger als zwei<br />

Prozent der Fälle kann dann die<br />

endgültige Prismenzahl so hoch<br />

sein, dass eine Schieloperation sinnvoll<br />

wird.»<br />

In der Schulmedizin hat sich die<br />

MKH nie wirklich durchgesetzt.<br />

Trotz unzähliger positiver Erfahrungsberichte<br />

fehlen bis heute wissenschaftlich<br />

haltbare Studien zur<br />

Messgenauigkeit der Methode und<br />

auch zum Erfolg der Behandlung<br />

mit Prismenbrillen.<br />

Eine Kritikerin der MKH ist beispielsweise<br />

Gabriela Wirth Barben,<br />

Augenärztin für Schielen und Kinderaugenheilkunde<br />

in St. Gallen. Sie<br />

bezeichnet Winkelfehlsichtigkeit als<br />

Kunstprodukt: «Die Messmethode<br />

nach Haase misst Werte in einem<br />

durch Polarisationsfilter künstlich<br />

erzeugten Zustand, der mit natürlichem<br />

Sehen nichts zu tun hat.»<br />

Ausserdem kritisiert Wirth Barben,<br />

dass die nachträgliche Erhöhung der<br />

Prismen den Schielwinkel künstlich<br />

in die Höhe treibe. «Am Ende steht<br />

dann eine Schieloperation, die ohne<br />

Prismenbrille überhaupt nicht nötig<br />

gewesen wäre.»<br />

Ähnlich kritisch äussert sich<br />

Véronique Glauser, Präsidentin von<br />

Swiss Orthoptics und Dozentin am<br />

Zentrum für Ausbildung im Ge ­<br />

sundheitswesen in Winterthur. Sie<br />

hält die Messmethode nach Haase<br />

für zu kurz gegriffen und rät zu<br />

zu sätzlichen Tests. «Orthoptisten<br />

untersuchen als Spezialisten für<br />

beidseitiges Sehen das Zusammenspiel<br />

beider Augen unter natürlichen<br />

Bedingungen und führen dazu nicht<br />

nur einen, sondern unterschiedliche<br />

Tests durch», erklärt Véronique<br />

Glauser.<br />

Was sollen Eltern mit betroffenen<br />

Kindern jetzt tun?<br />

Einig sind sich Befürworter und Kritiker,<br />

dass vor der Behandlung einer<br />

Winkelfehlsichtigkeit immer erst alle<br />

anderen möglichen Ursachen für die<br />

Beschwerden fachkundig ausgeschlossen<br />

werden müssen. Véronique<br />

Glauser rät, dabei auch das<br />

soziale Umfeld des Kindes zu beachten.<br />

«Eine Scheidungssituation, Er ­<br />

wartungsdruck der Eltern oder Mobbing<br />

in der Schule können ebenfalls<br />

zu Kopfschmerzen und Schulversagen<br />

führen.» Erst dann empfiehlt<br />

Wirth Barben, sich zur weiteren<br />

Abklärung an eine Klinik mit<br />

orthoptischer Abteilung oder einen<br />

mit Kindern erfahrenen Augenarzt<br />

zu wenden, der mit einem Orthoptisten<br />

zusammenarbeitet.<br />

Fritz Gorzny hält Augenoptiker,<br />

die nachweislich Erfahrung auf dem<br />

Gebiet der Winkelfehlsichtigkeit<br />

haben und mit Prismenbrillen<br />

arbeiten, für die geeigneten An ­<br />

sprechpartner. Bruun bietet seinen<br />

Patienten nach der Messung versuchsweise<br />

eine Prismenleihbrille an.<br />

Bessern sich die Beschwerden damit<br />

nicht, liegt die Ursache woanders und<br />

der Patient kann die Brille einfach<br />

wieder zurückgeben.<br />

Bei der Abklärung sollte auch<br />

das soziale Umfeld des<br />

Kindes einbezogen werden.<br />

>>><br />

Anja Lang<br />

ist langjährige Medizinjournalistin. Sie<br />

ist Mutter von drei Kindern und lebt mit<br />

ihrer Familie in der Nähe von München.<br />

Das Thema Winkelfehlsichtigkeit ist ihr<br />

besonders wichtig, da auch ihre älteste<br />

Tochter davon betroffen ist.<br />

HELFEN IST EIN<br />

KINDERSPIEL:<br />

Mit dem SWISSAID-Abzeichenverkauf<br />

setzen sich<br />

Schulkinder auf spielerische<br />

Art für eine gerechtere Welt<br />

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früh wichtige personale,<br />

soziale und methodische<br />

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>


Digital & Medial<br />

Ist Kontrolle besser<br />

als Vertrauen?<br />

Was sieht mein Kind im Internet? Wie habe ich Kontrolle über mein Kind<br />

an der Spielkonsole? Es gibt zahlreiche technische Möglichkeiten, den<br />

Medienkonsum des Kindes im Blick zu behalten oder einzuschränken.<br />

Viele Eltern nutzen sie allerdings nicht. Text: Stephan Petersen<br />

Vertrauen ist gut, Kontrolle<br />

ist besser.» Das<br />

Lenin zugeschriebene<br />

Zitat dürfte vielen<br />

bekannt sein. Allerdings<br />

haben gerade Lenins Sowjetunion<br />

oder die DDR genau das<br />

Gegenteil bewiesen: Kontrolle<br />

untergräbt Handlungsfreiheit und<br />

Kreativität. Vertrauen ist hingegen<br />

eine Voraussetzung für menschliche<br />

Beziehungen: Nachbarn, die sich<br />

gegenseitig helfen. Eltern, die ihrem<br />

Kind mehr geben als blosse ökonomische<br />

Sicherheit. Freunde, die in<br />

Notzeiten füreinander da sind. Vertrauen<br />

ist der Klebstoff menschlicher<br />

Beziehungen, jenseits von<br />

Zwang und Regeln.<br />

Sollten Eltern also ihren Kindern<br />

einfach voll vertrauen? Wenn ich<br />

einem Menschen vertraue, hat dieser<br />

mehr Freiheit. Allerdings weiss<br />

nicht jeder mit dieser Freiheit<br />

umzugehen. Insbesondere Kinder<br />

müssen diese Fähigkeit erst noch<br />

entwickeln. Ausserdem haben Eltern<br />

die Sorge- und Aufsichtspflicht für<br />

ihre Kinder. Das gilt auch für deren<br />

Kinder anfangs im Internet<br />

zu kontrollieren, kann<br />

auch helfen, auf Dauer<br />

Vertrauen aufzubauen!<br />

Umgang mit den neuen Medien, für<br />

ihre ersten Erfahrungen mit Internet,<br />

Konsole und Handy. Doch ausgerechnet<br />

hier bewegen sich selbst<br />

medienerfahrene Eltern nicht im -<br />

mer sicher. Das digitale Angebot ist<br />

riesig, ständig gibt es neue Trends<br />

und Entwicklungen.<br />

Ein Grund zur Resignation?<br />

Ganz und gar nicht: Eltern sollten<br />

nicht vergessen, dass es zum Heranwachsen<br />

gehört, Fehler zu machen<br />

und daraus zu lernen. Wer im Hinblick<br />

auf neue Medien nur Verbote<br />

ausspricht, der handelt kontraproduktiv<br />

– in Bezug auf die kindliche<br />

Entwicklung und auf die Beziehung<br />

untereinander. Anfängliche Kontrolle<br />

ist besser als Verbote. Denn sie<br />

kann auch dabei helfen, nach und<br />

nach Vertrauen aufzubauen. Es gibt<br />

zahlreiche technische Mittel, mit<br />

Hilfe derer Eltern zum Beispiel Einfluss<br />

darauf nehmen können, was<br />

ihre Kinder im Internet sehen.<br />

Doch oftmals machen sie keinen<br />

Gebrauch davon: «Es ist bekannt,<br />

dass Eltern relativ selten technische<br />

Möglichkeiten nutzen, um die Internetnutzung<br />

ihres Kindes zu reglementieren»,<br />

sagt Martina Zemp,<br />

Psychologin mit Schwerpunkt Kinder-<br />

und Jugendpsychologie. Und<br />

sie fügt an: «Auf der Grundlage des<br />

aktuellen Forschungsstands muss es<br />

insgesamt als problematisch angesehen<br />

werden, wenn Kinder in der<br />

Sozialisierung mit neuen Medien<br />

allein gelassen werden.» Denn<br />

damit steigt die Gefahr, dass sie zu<br />

viel oder auf gefährlichen Webseiten<br />

surfen.<br />

Wie können Eltern die Mediennutzung<br />

ihrer Kinder kontrollieren<br />

oder einschränken?<br />

• Internet nachts abschalten: Viele<br />

WLAN-Router (Netzwerkgerät<br />

des Telefon-/Internetanbieters)<br />

kann man mit einer Zeitschaltung<br />

versehen. Auf diese Weise lässt<br />

sich das WLAN zu bestimmten<br />

Zeiten, etwa nachts, automatisch<br />

abschalten, sodass niemand<br />

heimlich zu später Stunde im<br />

Netz surfen kann.<br />

• Webfilter: Im Internet gibt es viele<br />

spannende Themen, aber auch<br />

bedenkliche, zum Beispiel gewaltverherrlichende<br />

oder pornografische<br />

Inhalte. Damit Kinder sicher<br />

durch das Netz surfen, sind Webfilter<br />

empfehlenswert. Diese<br />

arbeiten mit White- und Blacklists.<br />

Whitelists eignen sich für<br />

jüngere Kinder. Dabei ist nur der<br />

Aufruf von Webseiten erlaubt, die<br />

vorher auf einer Liste gespeichert<br />

wurden. Blacklists hingegen sind<br />

für ältere Kinder gut. Hier sind<br />

alle Seiten erreichbar ausser<br />

denen auf der schwarzen Liste.<br />

• Passwörter: Einkäufe von digitalen<br />

Inhalten sollten immer mit<br />

einem Passwort gesichert sein,<br />

das nur die Eltern kennen. So<br />

Bild: iStockphoto<br />

72 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


ehalten sie den Überblick darüber,<br />

was ihre Kinder auf der Konsole<br />

oder dem Handy spielen, und<br />

es werden keine versehentlichen<br />

Einkäufe innerhalb eines Spiels<br />

getätigt.<br />

• Jugendschutzeinstellungen bei<br />

Spielkonsolen: Alle modernen<br />

Spielkonsolen verfügen über<br />

Jugendschutzeinstellungen. Diese<br />

sind je nach Konsole in einem<br />

Untermenü der «Einstellungen»<br />

zu finden. Dort kann etwa die<br />

Spielzeit festgelegt werden. Eine<br />

weitere Möglichkeit: Eltern können<br />

anhand der Altersfreigaben<br />

(USK/PEGI) den Zugang zu Spielen<br />

festlegen. So lässt sich beispielsweise<br />

einstellen, dass nur<br />

Spiele mit USK 12 oder niedriger<br />

auf der Konsole spielbar sind. Am<br />

PC laufen viele Spiele über die<br />

Vertriebsplattform Steam. Auch<br />

dort sind Jugendschutzeinstellungen<br />

vorhanden.<br />

• Google Alert: Was veröffentlicht<br />

mein Kind im Internet? Was veröffentlichen<br />

andere dort über<br />

mein Kind? Dank Google >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Alert (einfach im Web-Browser<br />

eingeben) kann man eine Suchanfrage<br />

zu einem bestimmten<br />

Thema starten. «Vorname Nachname»<br />

des Kindes eingeben,<br />

Suchabfrage starten und sich<br />

benachrichtigen lassen, wenn es<br />

neue Inhalte hierzu gibt.<br />

• Familonet: Mit Hilfe der App<br />

Familonet können Familien ihre<br />

Standorte untereinander kommunizieren.<br />

So bekommen Eltern<br />

etwa eine Nachricht, wenn das<br />

August <strong>2017</strong><br />

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Denn sie ist in einer<br />

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Spielkonsolen lassen sich so<br />

einstellen, dass keine Games<br />

darauf laufen, für die das<br />

Kind noch zu jung ist.<br />

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Digital & Medial<br />

Je mehr Kinder Medienregeln<br />

mitgestalten können, umso<br />

besser funktionieren diese.<br />

>>> Kind die Schule verlässt und<br />

wenn es zu Hause angekommen<br />

ist. Eine Echtzeit-Ortung gibt es<br />

aus datenschutzrechtlichen Gründen<br />

nicht. Dafür können Kinder<br />

durch den integrierten Alarm-Ruf<br />

jederzeit ihren Standort mitteilen.<br />

Ein weiteres Feature: Verlorene<br />

oder gestohlene Handys lassen<br />

sich mit Familonet orten. Die App<br />

existiert für iOS- und Android-<br />

Telefone und -Tablets.<br />

• Fröschli-Telefon: Das «Fröschli»<br />

ist ein kleines, robustes und mit<br />

vier Nummern vorprogrammiertes<br />

Telefon für jüngere Kinder. Die<br />

Nummern sind frei programmierbar<br />

(zum Beispiel Mutter, Vater,<br />

Grosseltern, Nachbarn). So kann<br />

das Kind mit einem einzigen Tastendruck<br />

einen Anruf tätigen.<br />

Zudem gibt es eine SOS-Taste, die<br />

mit einer Notruf-Nummer programmiert<br />

werden kann. Eine<br />

weitere Funktion ist das sogenannte<br />

Geofencing: Verlässt das<br />

Kind einen zuvor festgelegten geografischen<br />

Bereich, gibt es einen<br />

Alarm per Mail oder SMS.<br />

• Eingeschränkter Modus bei Youtube:<br />

Youtube erfreut sich bei<br />

Kindern und Jugendlichen grösster<br />

Beliebtheit. Fast zwangsläufig<br />

kommen sie hier mit bedenklichen<br />

Inhalten in Berührung. Hier<br />

hilft der «eingeschränkte Modus»,<br />

der sich am Ende der Youtube-<br />

Seite (ganz nach unten scrollen)<br />

einstellen lässt und einen Zugriff<br />

auf potenziell nicht jugendfreie<br />

Inhalte verhindert. Zuvor muss<br />

man ein kostenloses Konto bei<br />

Youtube einrichten. Nicht vergessen:<br />

nach der Aktivierung des Filters<br />

ausloggen, damit die Einstellungen<br />

nicht einfach geändert<br />

werden können.<br />

>>><br />

Stephan Petersen<br />

ist studierter Historiker und freier Journalist.<br />

Zu seinen Themen gehören unter anderem<br />

Videospiele und Familie. Er ist Vater zweier<br />

Kinder im Alter von sieben und elf Jahren.<br />

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Zürich direkt beim Bahnhof Enge gelegen und bietet eine<br />

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Teilnahme per SMS: Stichwort FF FIFA an 959 senden (30 Rp./SMS)


Mediennutzung zwischen<br />

Kontrolle und Vertrauen<br />

Wann sollten Eltern Kinder kontrollieren<br />

und wie sollte man das angehen? Tipps<br />

von Martina Zemp, Psychologin mit<br />

Schwerpunkt Kinder- und<br />

Jugendpsychologie.<br />

• Begleiten Sie Ihre Kinder! Geringes<br />

elterliches Monitoring der medialen<br />

Tätigkeiten, also kaum Kontrolle und<br />

keine Ahnung, was die Kinder da tun,<br />

gehört zu den grössten Risikofaktoren<br />

für eine falsche oder übermässige<br />

Nutzung von neuen Medien durch Kinder<br />

und Jugendliche.<br />

• Reglementieren und reflektieren Sie die<br />

Mediennutzung Ihres Kindes. Die völlige<br />

Abschottung von den digitalen<br />

Verlockungen ist realitätsfern. Legen Sie<br />

Inhalt und Dauer sowie verständliche<br />

und konsequente Regeln fest und passen<br />

Sie diese der Entwicklungsstufe des<br />

Kindes immer wieder an. Grundsätzlich<br />

sollten keine Konsolen und Co. im<br />

Schlafzimmer der Kinder stehen.<br />

• Aktive Massnahmen wirken vor allem bei<br />

älteren Kindern nachhaltiger. Aktiv<br />

heisst, gemeinsam mit dem Kind Absprachen<br />

zu treffen. Medienerzieherische<br />

Bemühungen zielen vornehmlich darauf<br />

ab, Kindern und Jugendlichen einen<br />

selbstbestimmten Umgang mit neuen<br />

Medien zu vermitteln. Die kritische<br />

Auseinandersetzung zwischen Eltern<br />

und Kindern über Medieninhalte ist die<br />

erfolgreichste Erziehungs strategie. Die<br />

konstruktive Aus einandersetzung und<br />

die interessierte Begleitung der<br />

kindlichen Mediennutzung durch die<br />

Eltern können die potenziell negativen<br />

Konsequenzen der Medien auf Kinder<br />

ausgleichen.<br />

• Bekunden Sie Interesse und bleiben Sie<br />

im Gespräch mit Ihrem Kind! Informieren<br />

Sie sich, legen Sie die eigene Haltung zu<br />

Medien klar dar und seien Sie ein angemessenes<br />

Vorbild.<br />

• Reservieren Sie Zeit für Offline-<br />

Aktivitäten mit dem Kind. Engagierten<br />

Eltern, die viel Zeit mit ihren Kindern<br />

verbringen, gelingt häufig intuitiv eine<br />

angemessenere Erziehung zur<br />

Medienkompetenz.<br />

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Digital & Medial<br />

Kind, ärgere<br />

dich nicht!<br />

Gamen macht Spass – vor allem, wenn<br />

man gewinnt! Doch bei jedem Spiel gibt es<br />

auch Verlierer. Und Verlieren will gelernt<br />

sein. Text: Michael In Albon<br />

Es ist eigentlich ganz einfach:<br />

Mal gewinnt man,<br />

mal verliert man. So<br />

funktionieren Spiele.<br />

Allein, so einfach ist es<br />

eben nicht. Sicherlich haben Sie als<br />

Eltern auch schon erlebt, dass beim<br />

geselligen Spiel plötzlich die Stimmung<br />

kippt und Ihr fröhliches Kind<br />

zum Rumpelstilzchen wird, das<br />

wütend die Karten vom Tisch wischt<br />

und sich weigert, weiter mitzuspielen.<br />

Schuld für das Verhalten ist<br />

nicht das Spiel, sondern was im<br />

Kind schlummert. Bei jüngeren<br />

Kindern ist es oft die Vorstellung,<br />

dass sie über alles bestimmen können.<br />

In dieser Vorstellung kommt<br />

Verlieren nicht vor, deshalb kollidieren<br />

Fantasie und Wirklichkeit. Der<br />

Grund für das Nicht-verlieren-Können<br />

liegt aber vielleicht auch im<br />

Selbstwertgefühl des Kindes oder<br />

Jugendlichen – einem zu hohen oder<br />

einem zu niedrigen. Ist Ihr Kind<br />

daran gewöhnt, dass es nicht immer<br />

alle Wünsche erfüllt bekommt? Hat<br />

Ihr Kind das Gefühl, es komme<br />

immer zu kurz, habe immer Pech?<br />

Und gehen Sie als Vorbild mit gutem<br />

Beispiel voran und lassen sich bei<br />

Niederlagen nicht so schnell unterkriegen?<br />

Ausdauer ist gefragt<br />

Es geht nicht darum, dass Ihr Kind<br />

lernt, bedingungslos zu verlieren. Es<br />

geht darum, sich zu motivieren,<br />

nicht aufzugeben. Das lässt sich mit<br />

Games vortrefflich trainieren – real<br />

und digital. Vor dem Spiel steht<br />

jedoch die wichtigste Grundregel:<br />

Lassen Sie Ihr Kind in gegenseitiger<br />

Wertschätzung aufwachsen. Damit<br />

es spürt, dass es als Person im Vordergrund<br />

steht, nicht das Erbringen<br />

einer Leistung. Hinzu kommt beim<br />

Spiel: Lassen Sie Ihr Kind nicht dem<br />

Frieden zuliebe gewinnen. Niederlagen<br />

und Frustration gehören zum<br />

Leben, der Umgang damit sollte trainiert<br />

werden. Und lassen Sie sich von<br />

Wutausbrüchen nicht beeindrucken,<br />

halten Sie diese aus. Schimpfen Sie<br />

nicht, spiegeln Sie vielmehr das Verhalten<br />

und fragen Sie nach den aufsteigenden<br />

Emotionen. So lernt Ihr<br />

Kind, seine Gefühle anzunehmen<br />

und damit umzugehen.<br />

Gamen Sie mit<br />

In der Pubertät gehören Konflikte<br />

mit sich selbst und mit anderen zur<br />

Tagesordnung. Gerade jetzt kann<br />

gemeinsames Gamen dazu beitragen,<br />

die verkrampfte Familiensituation<br />

zu lockern: Lachen Sie zusammen,<br />

erreichen Sie gemeinsam ein<br />

Ziel, wetteifern Sie – das ist oft ein<br />

Weg, miteinander ins Gespräch zu<br />

kommen. Zudem können Games<br />

dabei helfen, Dampf abzulassen, zu<br />

entspannen, Kräfte zu tanken und<br />

Bestätigung zu finden. Dazu eignen<br />

sich unterschiedliche Game-Genres:<br />

Bild: ponomareva<br />

Action-Games, Abenteuer-Games,<br />

Sport-Games, Simulations-Games.<br />

Sie finden dazu online zahlreiche<br />

Ideen. Und wenn nicht? Fragen Sie<br />

Ihr Kind.<br />

Beliebt sind bei Jugendlichen<br />

auch sogenannte Multiplayer-<br />

Games. Bei diesen kooperativen<br />

Spielen steht die Gemeinsamkeit im<br />

Vordergrund. Gemeinsam mit<br />

anderen soll eine Strategie entwickelt<br />

oder ein gemeinsam definiertes<br />

Ziel erreicht werden. Nicht der<br />

Wettkampf, sondern die Teamarbeit<br />

ist wichtig. Alle gewinnen oder verlieren<br />

zusammen. Dabei erfährt Ihr<br />

Kind zudem, dass es in der Lage ist,<br />

etwas für die Gemeinschaft zu tun.<br />

Das fördert das Selbstwertgefühl.<br />

Michael In Albon<br />

ist Beauftragter Jugendmedienschutz<br />

und Experte Medienkompetenz von<br />

Swisscom.<br />

Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive<br />

Lernmodule für den kompetenten Umgang mit<br />

digitalen Medien im Familienalltag.<br />

swisscom.ch/medienstark<br />

76 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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aus einer Vielzahl von Farben und können sogar einen Namen auf die Schürze sticken lassen.<br />

WWW.DIVERSIS.CH


Unser Wochenende …<br />

im «Heidiland»<br />

St. Gallen / Zürich<br />

A3<br />

Lago Mio<br />

Ziegelbrücke<br />

Weesen<br />

Betlis<br />

Ferienregion<br />

Heidiland<br />

Erleben …<br />

Quinten<br />

Walensee<br />

Unterterzen<br />

Flumserberg<br />

Mulchenhütte<br />

Flums<br />

Wildmannlihütte<br />

Walenstadt<br />

Sargans<br />

… Ein abwechslungsreiches Klettererlebnis ist Ihnen auf dem<br />

Kletterturm CLiiMBER auf Prodalp in Flumserberg gewiss.<br />

Über 100 Kletterstationen sind in den dreistöckigen, kristallförmigen<br />

Turm eingebettet. Und jede Etage bietet<br />

30 verschiedene, originell ausgearbeitete Kletterstationen mit<br />

unterschiedlichem Design und Schwierigkeitsgrad. Die<br />

Parcoursreihenfolge ist flexibel, und so entscheiden Sie mit<br />

Ihren Kindern selber, welche Route Sie nehmen. Ihren<br />

Schwierigkeitsgrad hinauf zur 3. Etage auf luftige 15 Meter<br />

erhöhen Sie nach eigenem Ermessen. Kinder ab 4 Jahren<br />

können sich an der CLiiMBERwall versuchen und bis zu einer<br />

Grösse von 1,40 m Kraxeltouren am MiniCLiiMBER unternehmen.<br />

Das Selbstsicherungssystem sorgt dafür, dass alle<br />

wieder sicher auf den Boden kommen.<br />

CLiiMBER, bis 22. Oktober <strong>2017</strong>, von 10 bis 16.45 Uhr. Gondelbahn<br />

Prodalp-Express bis 22. Oktober, Mo bis Fr von 8 bis 12<br />

und 13.15 bis 16.45 Uhr; Sa/So und 8. Juli bis 13. August bzw.<br />

30. September bis 22. Oktober 8 bis 16.45 Uhr. Kinder/<br />

Jugendliche zwischen 1,30 m und 1,40 m werden nur in<br />

Be gleitung Erwachsener zugelassen. Preisbeispiel für einen<br />

13-Jährigen: 3 Stunden Klettern Fr. 19.–, inkl. Seilbahn hin und<br />

zurück Fr. 27.–. Weitere Infos: www.flumserberg.ch > Sommer ><br />

Klettern > Öffnungszeiten und Tarife<br />

… Zu einem rauschenden Vergnügen am Flumserberg<br />

kommen Sie auf der Rodelbahn Floomzer. Durch Tunnel,<br />

über Brücken, Kurven, Wellen und Kreisel flitzen Sie in<br />

modernen und kindersicheren Coastern mit bis zu 40 km/h<br />

von der Bergstation Chrüz auf 1600 m ü. M. auf der zwei<br />

Kilometer langen Bahn hinunter zum 250 Meter tiefer<br />

gelegenen Tannenboden. Die Bahn ist bei jedem Wetter offen.<br />

Und täglich sind die Fahrten von 10 bis 12 Uhr unlimitiert.<br />

Start: Bergstation Chrüz, Ziel: Talstation Kabinenbahn. Offen:<br />

Rodelbahn Floomzer und Sesselbahn Chrüz bis 22. Oktober<br />

<strong>2017</strong> von 10 bis 17 Uhr. Details zu den Preisen auf www.<br />

flumserberg.ch > Sommer > Rodeln > Tarife. www.floomzer.ch<br />

Geniessen …<br />

… Am Fuss der steilen Churfirsten liegt auf einem kleinen<br />

Landvorsprung im Walensee Quinten. Der mächtige<br />

Gebirgszug schützt diesen Ort mit seinen gut 50 Einwohnern<br />

vor den kalten Nordwinden. In diesem fast schon mediterranen<br />

Klima wachsen Trauben, aber auch Feigen, Kiwis und<br />

weitere Südfrüchte. Das autofreie Dorf auf 434 m ü. M. ist nur<br />

zu Fuss oder mit dem Schiff zu erreichen. Beliebt und fast das<br />

ganze Jahr begehbar ist jener Wanderweg, der in Weesen<br />

beginnt und vorerst knapp über dem Wasserspiegel die<br />

Riviera Walensee durchquert. Teils ist er in den Fels gehauen,<br />

teils führt er durch Tunnels. Später gehts dann recht aufwärts,<br />

und im Abstieg ist Ihre Trittsicherheit gefragt. Nach etwa<br />

dreieinhalb Stunden erreichen Sie Quinten mit den beiden<br />

Restaurants Seehus und Schifflände.<br />

Wanderung Weesen–Quinten: Länge 10,5 km, Aufstieg/Abstieg<br />

je 487 m. www.seehusquinten.ch; www.schifflaende.eu;<br />

www.walenseeschiff.ch<br />

… Der Walensee gehört nicht zu den wärmsten Seen, aber<br />

zum Verweilen am Wasser lädt auch er. Etwa beim Badeplatz<br />

Lago Mio etwas ausserhalb von Weesen am Weg nach<br />

Quinten, mit Liegewiesen, WC, Freiluftdusche, Restaurant mit<br />

Sonnenterrasse, Feuerstellen zum Grillieren direkt am Seeufer,<br />

Beachvolleyballfeld, Bootsvermietung. Der Zugang zum See<br />

führt über Steinstufen. Oder bei Betlis, einer Anlage mit<br />

Liegewiesen, schattenspendenden Bäumen, Sitzbänken, WC,<br />

Grillstellen direkt am Seeufer, Zugang zum See über Steinstufen.<br />

Und in Weesen selbst gibt es den Naturbadestrand<br />

Flihorn. Er liegt auf dem Delta des Flybachs, hat Kiesstrände<br />

78 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Service<br />

Der Kletterturm in<br />

Flumserberg,<br />

unterwegs an die<br />

Riviera Walensee,<br />

die «Schifflände»<br />

in Quinten.<br />

Bilder: Heidiland Tourismus<br />

und eine kleine Insel, Liegewiesen, Floss mit Rutschbahn,<br />

Garderoben und WC, Grillstelle direkt am Seeufer.<br />

Diese drei Badeplätze sind öffentlich und jederzeit gratis<br />

zugänglich. Lago Mio: Das Restaurant ist von Mitte März bis<br />

gegen Ende Oktober geöffnet. lago-mio.ch. Betlis: Die Strasse<br />

nach Betlis ist nur einspurig und zu bestimmten Fahrzeiten<br />

befahrbar.<br />

Übernachten …<br />

… Von Flums aus geht es hinein ins Schilstal auf die Alp<br />

Lauiboden mit der Mulchenhütte, einer einfachen Unterkunft<br />

für bis zu sechs Personen. Sie schlafen mit Wolldecken im<br />

Stroh, Wasser gibts, ausser im WC, nur draussen am Brunnen,<br />

Petrollampen spenden Licht, und gekocht wird auf einem<br />

nostalgischen Herd. Käse, Butter und Milch können Sie bei<br />

den Alpsennen beziehen.<br />

Preise: Pauschale exkl. Kurtaxen Fr. 70.–/Nacht, ab 3 Nächten<br />

Fr. 60.–/Nacht. Offen bis Mitte September. Anreise mit dem<br />

Auto (nur mit Bewilligung) oder zu Fuss ab Bergstation<br />

Maschgenkamm. www.flumserberg.ch > Unterkunft > Ferien<br />

auf dem Bauernhof<br />

… Eine ähnlich einfache Alternative ist die Wildmannlihütte<br />

auf der Alp Wildenberg am Kleinberg, die Sie ebenfalls von<br />

Flums aus erreichen. Sie schlafen im selbst mitgebrachten<br />

Schlafsack in einem einfachen Matratzenlager für bis zu neun<br />

Personen. Es gibt nur kaltes Wasser und einen Holzkochherd.<br />

Frische Alpprodukte können Sie direkt beim Senn beziehen.<br />

Preis: Pauschale exkl. Kurtaxen Fr. 70.–/Nacht, ab 3 Nächten<br />

Fr. 60.00/Nacht. Die Miete ist jeweils gültig von und bis 11 Uhr<br />

morgens. Offen: bis Mitte September. Anreise ist mit dem Auto<br />

sowie mit einer schönen Wanderung möglich.<br />

www.flumserberg.ch > Unterkunft > Ferien auf dem Bauernhof<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>79


Service<br />

Vielen Dank<br />

an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />

Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsor<br />

Dr. iur. Ellen Ringier<br />

Walter Haefner Stiftung<br />

Credit Suisse AG<br />

Rozalia Stiftung<br />

UBS AG<br />

Jacobs Foundation<br />

Impressum<br />

17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />

Herausgeber<br />

Stiftung Elternsein,<br />

Seehofstrasse 6, 80<strong>08</strong> Zürich<br />

www.elternsein.ch<br />

Präsidentin des Stiftungsrates:<br />

Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />

Tel. 044 400 33 11<br />

(Stiftung Elternsein)<br />

Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />

ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 01 01<br />

Redaktion<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />

Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />

n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />

Verlag<br />

Fritz+Fränzi,<br />

Dufourstrasse 97, 80<strong>08</strong> Zürich,<br />

Tel. 044 277 72 62,<br />

info@fritzundfraenzi.ch,<br />

verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />

www.fritzundfraenzi.ch<br />

Business Development & Marketing<br />

Leiter: Tobias Winterberg,<br />

t.winterberg@fritzundfraenzi.ch<br />

Anzeigen<br />

Administration: Dominique Binder,<br />

d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />

Tel. 044 277 72 62<br />

Art Direction/Produktion<br />

Partner & Partner, Winterthur<br />

Bildredaktion<br />

13 Photo AG, Zürich<br />

Korrektorat<br />

Brunner Medien AG, Kriens<br />

Auflage<br />

(WEMF/SW-beglaubigt 2016)<br />

total verbreitet 101 725<br />

davon verkauft 18 572<br />

Preis<br />

Jahresabonnement Fr. 68.–<br />

Einzelausgabe Fr. 7.50<br />

iPad pro Ausgabe Fr. 3.–<br />

Abo-Service<br />

Galledia Verlag AG Berneck<br />

Tel. <strong>08</strong>00 814 813, Fax 058 344 92 54<br />

abo.fritzundfraenzi@galledia.ch<br />

Für Spenden<br />

Stiftung Elternsein, 80<strong>08</strong> Zürich<br />

Postkonto 87-447004-3<br />

IBAN: CH40 0900 0000 8744 7004 3<br />

Inhaltspartner<br />

Institut für Familienforschung und -beratung<br />

der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen<br />

und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und<br />

Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation /<br />

Elternnotruf / Pro Juventute / Interkantonale<br />

Hochschule für Heilpädagogik Zürich /<br />

Schweizerisches Institut für Kinder- und<br />

Jugendmedien<br />

Stiftungspartner<br />

Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule<br />

Zürich / Elternbildung CH / Marie-Meierhofer-<br />

Institut für das Kind / Schule und Elternhaus<br />

Schweiz / Schweizerischer Verband<br />

alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV /<br />

Kinderlobby Schweiz / kibesuisse Verband<br />

Kinderbetreuung Schweiz<br />

Publireportage<br />

FÜRSTLICHE ERLEBNISSE<br />

FÜR KLEIN UND GROSS<br />

Das Liechtensteiner Bergdorf Malbun liegt auf 1600 m ü. M. und<br />

ist von einer traumhaften, intakten Alpenlandschaft umgeben.<br />

Malbun ist die perfekte Familiendestination. So sieht das auch der<br />

Schweizer Tourismusverband, der die Ausrichtung der Angebote<br />

auf die Bedürfnisse von Kindern, Eltern und Grosseltern mit dem<br />

Gütesiegel «Family Destination» auszeichnete.<br />

Fürstliche Herbstferien<br />

Z. B. 2 Übernachtungen inkl. Halbpension bereits ab CHF 114.–<br />

pro Erwachsenem oder 7 Übernachtungen zum Preis von 5<br />

inkl. Halbpension, Museums- und Erlebnispass, geführten<br />

Wanderungen und vielem mehr ab CHF 625.– pro Erwachsenem.<br />

Alle Angebote finden Sie auf www.tourismus.li/familien<br />

Informationen und Buchung<br />

Liechtenstein Marketing, Äulestrasse 30, 9490 Vaduz,<br />

Tel. +423 239 63 63, info@liechtenstein.li, www.tourismus.li<br />

Entdecken und entspannen<br />

Damit die Ferien nicht nur für die<br />

Kinder zum Highlight werden, sind<br />

familienorientierte Aktivitäten in<br />

Malbun selbstverständlich. Das<br />

Kinderprogramm lässt auch die<br />

Eltern entspannen. Für gemeinsame<br />

Unternehmungen, die der ganzen<br />

Familie Spass machen, bietet der<br />

Museums- und Erlebnispass viele<br />

familienfreundliche Vergünstigungen<br />

an: Die Greifvögel der Falknerei Galina<br />

aus nächster Nähe bewundern,<br />

mit dem City Train den Hauptort<br />

Vaduz erkunden, die Freizeitanlage<br />

«Grossabünt» mit dem Piratenspielplatz<br />

erobern, Busse und Bergbahnen<br />

benutzen – dies sind nur einige<br />

der vielen Attraktionen.<br />

Auch die zahlreichen Themenwege<br />

lassen Kinderherzen höher schlagen.<br />

Ausgestattet mit dem Forscherrucksack,<br />

Lupe und viel Spass meistern<br />

die Kleinen auf dem Forscherweg<br />

Suchspiele, Steintisch-Memory und<br />

musikalische Aufgaben.


Buchtipps<br />

Hannas Väter<br />

versorgen<br />

das erkältete<br />

Zebra mit<br />

Hustensaft.<br />

Wie heiraten<br />

eigentlich<br />

Trockennasenaffen?<br />

Mama hat immer<br />

zu tun. Mutz hingegen<br />

lässt sich<br />

nicht beunruhigen. Gut, dass Matti<br />

sie beide hat. Ina Voigt und Jacky<br />

Gleich erzählen in Text und Bild konsequent<br />

aus der Perspektive des<br />

Kindergärtlers Matti.<br />

kwasi, 2015, Fr. 21.00, ab 5 Jahren<br />

Bilder: Moritz Verlag, ZVG<br />

Gleichgeschlechtliche Elternpaare kommen<br />

in immer mehr Kinder- und<br />

Jugendbüchern vor – und der Umgang<br />

damit ist oft dann besonders gelungen,<br />

wenn dies nicht zum grossen Thema wird.<br />

Homosensationelle Väter und Mütter<br />

Da steht eines Morgens<br />

doch einfach ein<br />

Zebra in Hannas<br />

Zimmer! Der unerwartete<br />

Gast heisst<br />

Bräuniger und isst nicht nur mit<br />

Vorliebe Nutellabrote, sondern kann<br />

auch sprechen, lesen und schreiben.<br />

Hanna nimmt ihn erst einmal mit in<br />

die Schule. Als der Direktor jedoch<br />

kurzerhand die Zoowärter bestellt,<br />

damit sie Bräuniger abholen, wird es<br />

brenzlig: Schaffen es Hanna und ihre<br />

Klassenkameraden, ihren gestreiften<br />

neuen Freund zu retten?<br />

Die Vor- und Selbstlesegeschichte<br />

von Markus Orths thematisiert<br />

das Anderssein am Beispiel des witzigen<br />

sprechenden Zebras, das definitiv<br />

nicht «normal» ist, wie der<br />

Schuldirektor immer wieder betont.<br />

Und: Das Buch flicht ganz nebenbei<br />

ein Motiv ein, das genau dies wieder<br />

aufnimmt. Denn Hanna hat zwei<br />

Väter, mit denen sie eben neu zugezogen<br />

ist. Doch die gleichgeschlechtliche<br />

Elternschaft ist nicht das be -<br />

herrschende Thema des Buches. Nur<br />

nebenbei erwähnt Hanna diese Tatsache<br />

im Gespräch mit Bräuniger:<br />

«Meine Papas sagen, nur bei frischer<br />

Luft kann man gut schlafen.» –<br />

«Deine Papas?» – «Ich hab zwei<br />

davon.» – «Was für’n Glück!» – «Ja.<br />

Find ich auch.» Um kurz darauf<br />

noch einmal darauf zurückzukommen:<br />

«Das heisst homosensationell.<br />

Also, wenn zwei Männer sich lieben.<br />

Oder zwei Frauen.» – «Und? Lieben<br />

sie sich?» – «Und wie!» – «Und<br />

dich?» – «Aber klar! […]» – «Dann<br />

bist du ganz schön verwöhnt, was?»<br />

Ganz ohne Fingerzeig und pädagogischen<br />

Übereifer zeigt «Das<br />

Zebra unterm Bett», dass es bei<br />

Freundschaft und Liebe nur auf das<br />

wirklich Wesentliche ankommt.<br />

Markus Orths:<br />

Das Zebra<br />

unterm Bett.<br />

Moritz, 2016,<br />

Fr. 14.90,<br />

ab 6 Jahren<br />

Väterland<br />

Christophe Léon<br />

malt ein düsteres<br />

Zukunftsszenario<br />

für ein rechtskonservatives<br />

Frankreich:<br />

Gabrielles<br />

Väter müssen eine rosa Raute tragen<br />

und dürfen sich in der Innenstadt<br />

nicht mehr blicken lassen. Ein Buch<br />

als Grundlage für Gespräche, nicht<br />

nur in der Schule.<br />

Mixtvision, <strong>2017</strong>, Fr. 14.90,<br />

ab 12 Jahren<br />

Dass ich ich bin,<br />

ist genauso<br />

verrückt wie die<br />

Tatsache, dass du<br />

du bist<br />

In der Küche er ­<br />

fährt Darren von<br />

seinem Vater, dass dieser schwul sei.<br />

Damit kann Darren gar nicht<br />

umgehen. Die Listenform dieses<br />

mitreissenden Jugendromans macht<br />

Darrens Versuch, seine Welt wieder<br />

zu ordnen, greifbar.<br />

Beltz & Gelberg, 2016, Fr. 27.90,<br />

ab 14 Jahren<br />

Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />

Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />

Instituts für Kinder- und<br />

Jugendmedien SIKJM.<br />

Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind<br />

weitere B uch empfehlungen zu finden.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

August <strong>2017</strong>81


Eine Frage – drei Meinungen<br />

Dass Geschwister auch mal streiten, ist normal. Unsere beiden Töchter,<br />

12 und 9, liegen sich aber ständig in den Haaren. Da wir in einer<br />

3-Zimmer-Wohnung leben, müssen sie sich ein Zimmer teilen, was<br />

insbesondere der Grossen überhaupt nicht passt. Was können wir tun?<br />

Reto, 41, und Katja, 38, Zürich<br />

Nicole Althaus<br />

Zoff im Kinderzimmer nervt,<br />

aber er ist gut für die Persönlichkeitsentwicklung.<br />

Kinder<br />

lernen im Streit, wie man<br />

Konflikte löst und Kompromisse<br />

findet. Auch die Tatsache,<br />

dass die beiden Streithähne<br />

sich ein Zimmer teilen,<br />

muss Sie nicht sorgen. Das<br />

haben Generationen von Kindern vor Ihnen auch überlebt.<br />

Das Bedürfnis nach Privatsphäre verstärkt sich<br />

allerdings in der Pubertät. Um das zu befriedigen,<br />

genügt schon eine kleine Ecke, die Sie Ihrer älteren<br />

Tochter etwa im Elternschlafzimmer einrichten. Der<br />

Streit wird nicht verschwinden, aber weniger werden.<br />

Tonia von Gunten<br />

Streit gehört bei den meisten<br />

Geschwistern dazu. Die Kinder<br />

haben sich schliesslich<br />

nicht ausgesucht. Entweder<br />

richten Sie Ihren Fokus auf<br />

die schöneren Momente in<br />

der Familie. Oder Sie bitten<br />

Ihre Kinder um Unterstützung:<br />

«Ihr müsst euch ein<br />

Zimmer teilen, das lässt sich leider nicht ändern. Ihr<br />

streitet so oft, und wir wissen echt nicht mehr weiter!<br />

Gerne hätten wir es bei uns wieder lustiger. Bitte helft<br />

uns: Was können wir tun?» Vielleicht kommen dabei<br />

umsetzbare Vorschläge zusammen, die zu einem besseren<br />

Klima in Ihrer Familie führen.<br />

Peter Schneider<br />

In eine grössere Wohnung<br />

ziehen? Ich fürchte allerdings,<br />

dass Sie auch schon auf diesen<br />

Gedanken gekommen<br />

sind und derselbe aus finanziellen<br />

oder sonstigen Gründen<br />

nicht ohne Weiteres<br />

durchführbar ist. Was wiederum<br />

bedeutet, dass Sie beiden<br />

Töchtern (insbesondere der grossen) ehrlich erklären,<br />

dass Sie die Wohnsituation auch schwierig finden, aber<br />

leider (im Moment) nichts daran ändern können. Und<br />

Sie nur dringend darum bitten können, sich einfach<br />

mal zusammenzureissen. Und dass dies nicht nur eine<br />

Bitte, sondern fast schon ein Befehl sei. Und wahrscheinlich<br />

werden Sie das mehr als nur einmal in der<br />

Woche sagen müssen.<br />

Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin<br />

und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am<br />

Sonntag». Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir<br />

eltern» und hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.<br />

ch» initiiert und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter<br />

von zwei Kindern, 16 und 12.<br />

Tonia von Gunten, 44, ist Elterncoach, Pädagogin<br />

und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />

Programm, das frische Energie in die Familien<br />

bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />

stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />

und Mutter von zwei Kindern, 11 und 8.<br />

Peter Schneider, 59, ist praktizierender<br />

Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />

andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />

für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />

ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />

der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />

erwachsenen Sohnes.<br />

Haben Sie auch eine Frage?<br />

Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />

Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO<br />

82 August <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Pausen-Hit!


Bett<br />

Karo Fichte massiv,<br />

natur, gewachst<br />

Liegefläche 160 x 200 cm 699.-<br />

Liegefläche 180 x 200 cm 749.-<br />

Tisch<br />

Otto Eiche massiv,<br />

geölt<br />

180 x 90 cm 398.-<br />

220 x 100 cm 499.-<br />

398.-<br />

699.-<br />

89.-<br />

Nachttisch<br />

Karo 45 x 40 x 35 cm<br />

MASSIVHOLZ<br />

BOIS MASSIF<br />

Auch online<br />

erhältlich.<br />

ottos.ch<br />

Auch online<br />

erhältlich.<br />

ottos.ch<br />

Stuhl<br />

Lugano Eiche massiv,<br />

geölt, Kunstleder schwarz<br />

MASSIVHOLZ<br />

BOIS MASSIF<br />

99.-<br />

Neuheit<br />

mit<br />

fonction Relaxfunktion<br />

relax<br />

Salontisch<br />

Eiche massiv, geölt<br />

Tokai II<br />

Höhe 42 cm,<br />

Ø 60 cm<br />

Polstergarnitur<br />

Nürnberg Stoff, Fuss Holz Buche massiv,<br />

275/226 x 74-92 x 98 cm<br />

Wohnraummöbel<br />

Country Dekor Balkeneiche, ohne Beleuchtung<br />

1998.-<br />

GROSSE TYPENAUSWAHL<br />

Grosse<br />

Farbauswahl<br />

TV-Möbel<br />

Vaste<br />

2-türig, Belastbarkeit bis 30 kg,<br />

de coloris<br />

choix<br />

139 x 57 x 50 cm<br />

Auch online<br />

erhältlich.<br />

Grosse<br />

Farbauswahl<br />

ottos.ch<br />

Vasta scelta<br />

di colori<br />

79.-<br />

99.-<br />

MASSIVHOLZ<br />

BOIS MASSIF<br />

Auch online<br />

erhältlich.<br />

Tokai ottos.ch I<br />

Höhe 35 cm, Ø 50 cm<br />

Stauraumelement<br />

2-türig,<br />

74 x 141 x 42 cm<br />

Auch online<br />

erhältlich.<br />

ottos.ch<br />

239.-<br />

239.-<br />

369.-<br />

Stauraumelement<br />

1-türig, 2 Schubladen, 107 x 141 x 42 cm<br />

Salontisch<br />

110 x 38 x 70 cm<br />

159.-<br />

Auch online<br />

erhältlich.<br />

ottos.ch<br />

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Riesenauswahl. Immer. Günstig.<br />

ottos.ch

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