Wachter, Mädchen mit der Puppe - Leseprobe
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Dietmar <strong>Wachter</strong><br />
Das Mädchen<br />
<strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Puppe</strong><br />
Inspektor Matteo er<strong>mit</strong>telt<br />
Sein dritter Fall<br />
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Alle Rechte vorbehalten<br />
1. Auflage © 2012 Berenkamp<br />
2. Auflage © 2016 Berenkamp<br />
www.berenkamp-verlag.at<br />
ISBN 978-3-85093-301-8<br />
Bibliographische Information <strong>der</strong> Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />
<strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />
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Was ist <strong>der</strong> Mensch für eine elende Kreatur,<br />
wenn er alle Eitelkeit abgelegt hat!<br />
Johann Wolfgang von Goethe<br />
März 2011<br />
Kriminalinspektor Matteo Steininger ruhte in seiner<br />
Kanzlei auf dem eleganten, le<strong>der</strong>bezogenen Shiatsu-<br />
Massagestuhl, schnitt und polierte sich die Fingernägel,<br />
schaltete die elektrische Vibrationsmassage ein, blätterte<br />
gelangweilt ein paar alte Zeitschriften durch und genoss<br />
die spätwinterliche Stille, die über Landstein lag.<br />
Es war nur wenig los, und die Polizeiarbeit lag in tiefer<br />
Agonie. Nur selten wurde irgendwo eingebrochen und<br />
Wertvolles gestohlen, allfällige Raufereien wurden gütlich<br />
bereinigt, und die amtsbekannten Brandstifter, Graffitikünstler<br />
und Pädophilen hatten schon etliche Jahre<br />
nichts mehr von sich hören lassen.<br />
In aller Herrgottsfrüh hatte Matteo seine ganze Energie<br />
gebündelt, beim Greißler ein paar leere Kartons besorgt<br />
und darin alle Akten verpackt, die <strong>mit</strong> dem wohl schwierigsten<br />
Fall seiner langen Karriere zu tun hatten: die<br />
Utensilien und Beweis<strong>mit</strong>tel des verrückten Psychopathen<br />
„Professor Mord“, <strong>der</strong> im letzten Sommer vier rothaarige<br />
Landsteiner Damen ermordet und da<strong>mit</strong> Matteo<br />
und seiner kleinen Truppe ein recht aufregendes und bewegtes<br />
Jahr beschert hatte.<br />
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Er trug die Schachteln hinunter ins Kellerarchiv, nahm<br />
ein letztes Mal das Zingulum heraus und dachte zurück<br />
an die krankhaften und abartigen Tötungsmethoden, <strong>der</strong>er<br />
sich <strong>der</strong> Irre bedient hatte.<br />
Matteo kam die alte Frau Bruckner in den Sinn, die sich in<br />
ihrem Palais in seiner Gegenwart ins Jenseits verabschiedet<br />
hatte; und es kam ihm vor, als wären die Begebenheiten<br />
nicht erst letztes Jahr, son<strong>der</strong>n schon vor langer, langer<br />
Zeit geschehen.<br />
Er genoss die Ruhe, nahm sich ein paar staubige Ordner<br />
vom Holzregal herunter und blätterte in alten Fällen herum,<br />
die bis heute nicht geklärt werden konnten.<br />
Matteo las die Geschichte jenes blutjungen Selbstmör<strong>der</strong>s,<br />
<strong>der</strong> vor fast zwei Jahrzehnten in eine Landsteiner<br />
Schlucht gesprungen und trotz deutlicher Körpermerkmale<br />
– ihm fehlte das rechte Auge – bis heute nicht identifiziert<br />
wurde. O<strong>der</strong> die tragische Episode von Steiningers<br />
Schulfreund Markus Einzinger, <strong>der</strong> im Juni 1992<br />
von Zürich nach Kapstadt geflogen war, wo sich seine<br />
Spur wohl auf ewig verlor.<br />
Stapelweiße Papier über das Schicksal jener kanadischen<br />
Staatsbürgerin, die seinerzeit in Innsbruck in den Zug gestiegen<br />
war und in Landstein in einer kleinen Fremdenpension<br />
Quartier bezogen hatte. Am nächsten Tag hatte<br />
sie <strong>mit</strong> einem bis heute unbekannten Mann eine Bergwan<strong>der</strong>ung<br />
unternommen, von <strong>der</strong> sie nicht zurückgekehrt<br />
war. „Ihre Habseligkeiten liegen schon fast drei<br />
Jahrzehnte in unserem Archiv“, wun<strong>der</strong>te sich Matteo<br />
und schnappte sich den nächsten Ordner vom Regal.<br />
Er blätterte im vergilbten Akt des Landsteiner Berufsfotografen<br />
Meinhard Graber, <strong>der</strong> sich vor über fünfundzwanzig<br />
Jahren eine Urlaubsreise nach Kuba gegönnt,<br />
dort in mehreren noblen Hotels logiert hatte und unter<br />
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Zurücklassung seines gesamten Hab und Guts plötzlich<br />
verschwunden war. Nach ihm hatte man ebenfalls vergeblich<br />
gesucht, wenngleich Urlauber noch Jahre später<br />
immer wie<strong>der</strong> berichtet hatten, den Berufsfotografen in<br />
verschiedenen Touristenstädten in Thailand, Madagaskar<br />
und Ägypten gesehen zu haben. Mysteriös gestaltete<br />
sich allerdings Meinhards Tod, dessen Rätsel nie gelöst<br />
werden konnte. Meinhard war eines Tages stark verwest<br />
aus dem Meer bei Venedig gefischt worden, und es blieb<br />
bis heute unklar, wie er ums Leben gekommen war. Aber<br />
das liegt schon viele, viele Jahre zurück. Seine Eltern waren<br />
längst verstorben, die Jugendfreunde in alle Welt verstreut,<br />
und kaum ein Landsteiner konnte sich noch an<br />
den Weltenbummler erinnern.<br />
Gleichermaßen nur schwach konnte sich Steininger Professor<br />
Wendelin Kratzers entsinnen, den er seinerzeit im<br />
Gymnasium als Aushilfslehrer genossen hatte. Der war<br />
Mitte <strong>der</strong> Achtzigerjahre zusammen <strong>mit</strong> seiner Verlobten<br />
in die Türkei gereist, hatte sich in einem Hotel in <strong>der</strong><br />
Nähe von Ankara eingemietet und bei <strong>der</strong> Rezeption eine<br />
regionale Landkarte gekauft. Kratzers Ziel dürfte eine<br />
steppenartige Region gewesen sein, in <strong>der</strong> er äußerst seltene<br />
Schmetterlingsarten vermutete. Zeugen hatten den<br />
seltsamen Mann noch <strong>mit</strong> seinem Netz zwischen dem<br />
nie<strong>der</strong>en Gebüsch herumspringen sehen – was das letzte<br />
Lebenszeichen des Hobby-Lepidopterologen gewesen<br />
war.<br />
„Immer wie<strong>der</strong> verschwinden Menschen plötzlich und<br />
spurlos – aus welchen Gründen immer. Menschen, die<br />
scheinbar nirgends fehlen, niemandem abgehen“, dachte<br />
Steininger und klappte den Ordner zu.<br />
Aber die einsame Stille in den Kellerräumen war trügerisch,<br />
und Steininger hätte wohl ein leichtes Grübeln in<br />
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<strong>der</strong> Magengegend verspürt, wenn er die Geschehnisse<br />
<strong>der</strong> nächsten Frühlingswochen erahnt hätte.<br />
Matteo fuhr die automatische Rückenlehne zwei Stufen<br />
zurück, schaltete die Heizfunktion auf Stufe drei und döste<br />
vor sich hin, bis er endgültig einnickte und in einen<br />
tiefen Schlaf versank. Er träumte von längst vergangenen<br />
Zeiten und landete in einer grässlichen Epoche, in<br />
<strong>der</strong> es in Landstein und in den umliegenden Dörfern<br />
ganz und gar nicht friedlich zuging.<br />
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Juni 1703<br />
Die Karawane <strong>der</strong> Tiroler Wan<strong>der</strong>händler und Bauhandwerker<br />
war wohl sehr überrascht, als sich Mitte Juni des<br />
Jahres 1703 bei ihrer langersehnten Rückkehr in die Heimat<br />
in den Ebenen rund um Rosenheim ein riesiges Heer<br />
von bayrischen und französischen Soldaten formierte.<br />
Die Buckelkrämer in ihren unverkennbaren Tiroler Kostümen<br />
und Trachten wussten noch sehr wenig von den<br />
kriegerischen Ereignissen in ihrem Land und bekamen<br />
es <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Angst zu tun, als sie die kampfbereiten feindlichen<br />
Regimenter vor den Toren Tirols aufmarschieren<br />
sahen.<br />
Da war ein Paznauner Handwerksbursche, <strong>der</strong> aus Luxemburg<br />
heimkehrte und seine Werkzeuge auf einem Maultierkarren<br />
zog. Mit ihm ein Pfeifendreher aus dem Außerfern<br />
und ein Zillertaler Ölträger, <strong>der</strong> auf den Pfälzer<br />
Märkten wohlriechende ätherische Öle, Salben und Tinkturen<br />
verkauft hatte.<br />
Mitten unter den heimkehrenden Tiroler Kraxenträgern<br />
war ein Absamer, <strong>der</strong> <strong>der</strong> vornehmen Kundschaft an den<br />
deutschen Fürstenhöfen Seifen, Heilkräuter, Parfüms und<br />
eine Warzensalbe feilgeboten und seine Verkaufsgespräche<br />
erfolgreich abgeschlossen hatte, indem er älplerische<br />
Jodler und Lie<strong>der</strong> gesungen hatte.<br />
Dann ein Oberinntaler Wan<strong>der</strong>krämer, <strong>der</strong> religiöse Traktate<br />
und Devotionalien angeboten hatte, und nicht zu vergessen<br />
das dralle Höttinger Weib <strong>mit</strong> dem losen Mundwerk,<br />
das in Sachen Filzhüte, Zinnlöffel und Nähnadeln<br />
durch die Län<strong>der</strong> gereist war und von manch erotischem<br />
Abenteuer zu erzählen wusste. In ihrer Kraxe trug sie einige<br />
Lot Tabak, Kaffee und Zucker nach Hause. Kurz vor<br />
Rosenheim war sie sich <strong>mit</strong> einer stämmigen bayrischen<br />
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Marketen<strong>der</strong>in in die Haare geraten, als sie sich beide in<br />
einer Gastwirtschaft <strong>mit</strong> einem sturzbetrunkenen Freier<br />
beschäftigt und ihm die silberne Taschenuhr von seinem<br />
Rock hatten nehmen wollen. Dabei waren sie in einen<br />
handfesten Streit um das begehrte Stück geraten. Die<br />
grobe Maid aus Hötting hatte <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>borstigen Marketen<strong>der</strong>in<br />
einen Stuhl über den Schädel gezogen, weshalb<br />
für die stattliche Bayerin <strong>der</strong> Feldzug nach Süden<br />
begreiflicherweise schon vor den Toren Tirols zu Ende<br />
gewesen war.<br />
Mit dabei auch ein Stanzertaler, <strong>der</strong> seine Schellen und<br />
Glocken im Schwäbischen veräußert hatte, und ein kleinwüchsiger<br />
Grödner, <strong>der</strong> fern <strong>der</strong> Heimat Kruzifixe, Spielzeug<br />
und Holzbestecke verscherbelt hatte.<br />
Dann <strong>der</strong> Stubaier Eisenwarenhändler, <strong>der</strong> den Lothringer<br />
Gutsherren Messer, Hufnägel, Sensen und Wetzsteine<br />
verkauft hatte, und <strong>der</strong> Krämer aus Hall, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> seiner<br />
Frau und den drei Kleinkin<strong>der</strong>n durch die Lande gezogen<br />
war und auf deutschen Jahrmärkten und Kirchweihfesten<br />
Rosenkränze, Heiligenbil<strong>der</strong>, Kupferstiche, Reisigbesen,<br />
Gänse und Tauben feilgeboten hatte. Er hatte sich<br />
<strong>mit</strong> den kargen Erlösen im Fränkischen einen kleinen<br />
Karren gekauft, <strong>der</strong> von seinem Hund gezogen wurde.<br />
Die Kolonne <strong>der</strong> Tiroler Wan<strong>der</strong>händler schloss <strong>der</strong> Imster<br />
Vogelhändler Jakob Lechleithner, <strong>der</strong> nach einer langen<br />
und mühevollen Handelsreise <strong>mit</strong> einem prallgefüllten<br />
Geldsack in seine Heimat zurückkehrte. Der feine<br />
Herr <strong>mit</strong> langem, grauem Lodenmantel, le<strong>der</strong>ner<br />
Kniehose, blauen Socken und schwarzem Hut hatte Kanarienvögel<br />
aus eigener Zucht feilgeboten, die vor dem<br />
hocherfreuten Publikum ihre Melodien artig nachzuzwitschern<br />
wussten. Mit dieser Kunst und dem regen<br />
Verkauf hatte er ein Vermögen verdient, und <strong>der</strong> ängst-<br />
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liche Kerl versteckte seine Gulden in einem Leinensäcklein<br />
eng an seinem Körper. Sein Tragknecht war ihm auf<br />
<strong>der</strong> Heimreise abhandengekommen. Der Ötztaler Kraftlackel<br />
hatte sich in Sachsen in ein junges Bauernmädchen<br />
verliebt und sich dort sesshaft gemacht. So war Jakob gezwungen<br />
gewesen, sein hölzernes Tragegerüst <strong>mit</strong> den<br />
leeren Vogelkäfigen selbst nach Hause zu tragen.<br />
Den turbulenten Ereignissen kurz vorausgeschaut: Die<br />
landfahrenden Tiroler Krämer schlichen sich im Schutz<br />
<strong>der</strong> Wäl<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Talseite geschickt an den<br />
feindlichen Bataillonen vorbei und erreichten allesamt<br />
wohlbehalten ihre Heimatdörfer.<br />
Dort taten sie kund, was sich vor den Toren Tirols zusammenbrodelte.<br />
•<br />
Und in Tirol ging dann tatsächlich die Angst um, als die<br />
streitbaren Bayern und Franzosen <strong>mit</strong> tausenden Soldaten<br />
in Kufstein einfielen, innaufwärts Stück für Stück Tiroler<br />
Boden eroberten, Städte und Dörfer anzündeten,<br />
Ställe abfackelten, Kin<strong>der</strong> und Frauen nie<strong>der</strong>metzelten,<br />
Opferstöcke leerten, Pfaffen sekkierten und Kirchen plün<strong>der</strong>ten.<br />
Im Sog <strong>der</strong> kriegerischen Gemetzel war von fern<br />
eine Musikbande zu hören, die <strong>mit</strong> Pfeifen, Signaltrompeten<br />
und Schwegeln Landsknechtmärsche spielte und<br />
den Truppen <strong>mit</strong> zackigen Trommelschlägen den Schritt<br />
vorgab.<br />
Trum, trum, terum, tumtum, die Landsknecht’ zieh‘n<br />
im Land herum,<br />
trum, trum, terum, tumtum, <strong>mit</strong> Trommeldröhnen und<br />
Gebrumm,<br />
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es schrillen die Flöten, das Kriegsvolk, es singt,<br />
es flattern die Fahnen, es jauchzet und klingt.<br />
Trum, trum, terum, trumtrum, terum … hörte man die<br />
Wirbel <strong>der</strong> bunt geschmückten Trommeln bald weit ins<br />
Inntal hinauf.<br />
Die dreizehn Musikanten des bayrischen Musikkorps<br />
waren in seltsame Uniformen gekleidet, und es schien<br />
fast, als hätten sie vor dem Abmarsch in den Krieg noch<br />
schnell den Fundus eines bie<strong>der</strong>en Provinztheaters geräumt,<br />
so bunt wirkte die Musikbande in<strong>mit</strong>ten <strong>der</strong> unüberschaubaren<br />
Soldatenschar, die nach Tirol vorrückte.<br />
Beim Anblick <strong>der</strong> farbenfrohen Musikanten dachte man<br />
unwillkürlich an das Ensemble einer Commedia dell‘arte,<br />
die eine italienische Volkskomödie von Carlo Goldoni<br />
darbot. So erinnerte <strong>der</strong> Schwegler <strong>mit</strong> listigen Wesenszügen,<br />
<strong>der</strong> von Natur aus klein an Wuchs war, an die<br />
Figur des Brighella, während <strong>der</strong> Trommler einen sofort<br />
an den Dottore denken ließ. Vor allem dessen fließenden<br />
und geschmeidigen Bewegungen, die Knollennase, roten<br />
Wangen und die weiße Halskrause erweckten den Eindruck,<br />
als wäre <strong>der</strong> Landsknechtstrommler direkt von <strong>der</strong><br />
Komödienbühne gesprungen, um die Heere nach Süden<br />
zu begleiten. Der Rest <strong>der</strong> zusammengewürfelten Musikanten<br />
trugen knielange Hosen, helle Stutzen, Stulpenstiefel<br />
aus Le<strong>der</strong>, bunte Röcke <strong>mit</strong> weißen Leibriemen,<br />
Kordeln und Knöpfen und auf dem Kopf schwedische<br />
Schlapphüte o<strong>der</strong> fränkische Pelzmützen. Solcherart unterschieden<br />
sich die friedvollen Spielleute in ihren fantasievollen<br />
und farbenreichen Kostümen deutlich von den<br />
Soldaten <strong>der</strong> kämpfenden Einheiten.<br />
Die kleine Feldmusikbande begleitete die bayrisch-französischen<br />
Heere <strong>mit</strong> klingendem Spiel in die Schlacht ge-<br />
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gen Tirol, die Trommler und Pfeifer gaben den Marschrhythmus<br />
vor, flankiert von einem Fahnenschwinger und<br />
einer Marketen<strong>der</strong>in, die nicht nur für das Wohl <strong>der</strong> musizierenden<br />
Truppe verantwortlich war, son<strong>der</strong>n auch<br />
die Soldaten in den Feldlagern betreute.<br />
Der gestrenge bayrische Kurfürst wünschte nicht nur bei<br />
<strong>der</strong> Bewaffnung seiner Armeen, son<strong>der</strong>n auch von <strong>der</strong><br />
Feldmusik höchste Qualität. Die Musiker sollten die Regimenter<br />
nicht nur in die Schlacht begleiten, son<strong>der</strong>n auch<br />
für Abwechslung sorgen und die Truppen bei guter Laune<br />
halten. So gab es abends Konzerte für das Offizierskorps,<br />
Schwegler spielten in den Feldlagern einfache Tänze<br />
o<strong>der</strong> sangen zur Erheiterung <strong>der</strong> Garden alte Soldatenlie<strong>der</strong>.<br />
Aber auch stimmungsvolle Choräle erklangen,<br />
wenn <strong>der</strong> Feldkaplan zum Morgen- o<strong>der</strong> Abendgebet rief.<br />
Der zusammengewürfelte Musikantenhaufen konnte sich<br />
durchaus hören lassen. So entstammte <strong>der</strong> Feldtrompeter<br />
in direkter Linie jenen legendären Türmern, die im<br />
tiefen Mittelalter in den deutschen Städten zur Feuerwache<br />
bliesen und bei den hohen städtischen Festlichkeiten<br />
ihre Fanfaren schmetterten. Seine Familiendynastie durfte<br />
damals den höchsten Turm <strong>der</strong> Stadt bewohnen, von<br />
dem man bis zu den Stadtmauern hinaus wachen konnte.<br />
Bei Tagesanbruch musste er alle halbe Stunden die<br />
Zeit anblasen; für jede nur erdenkbare Gefahr hatte <strong>der</strong><br />
Stadtbläser eigene Signale parat, um die Bevölkerung<br />
rechtzeitig zu warnen. Als die Kirchtürme gut gehende<br />
Uhrwerke bekamen, ging die Blütezeit <strong>der</strong> Türmer zu Ende<br />
und die Vorfahren wechselten vom Stadtturm direkt<br />
ins Kirchenschiff, wurden eifrige Chorsänger, Bläser und<br />
Kirchenmusikanten. An<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um verarmten o<strong>der</strong><br />
schlossen sich den Musikbanden <strong>der</strong> bayrischen Regimenter<br />
an, <strong>der</strong>en Sold ihnen sicher war.<br />
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Der zweite Fanfarenbläser bezeichnete sich gar als königlicher<br />
Musikus aus dem fernen Preußen, <strong>der</strong> am Dreispitz,<br />
dem gepu<strong>der</strong>ten Antlitz, <strong>der</strong> barocken Zopfperücke,<br />
den eleganten Klei<strong>der</strong>n und dem Galanteriedegen<br />
leicht zu erkennen war. Er ging <strong>der</strong> Bande <strong>mit</strong> stolzem<br />
Schritt voran, trat auf wie ein arroganter Gockel und<br />
schmetterte <strong>mit</strong> seiner Trompete, die <strong>mit</strong> dem Wappen<br />
des Kaisers verziert war, die Signale in die Feldlager hinaus<br />
– begleitet vom zackigen Rhythmus des Trommlers,<br />
<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Gestalt her ein wahrer Hüne war und <strong>mit</strong><br />
dem dichten Haar und Vollbart an einen Braunbären erinnerte.<br />
Die Marketen<strong>der</strong>in Magdalena En<strong>der</strong>le hegte größte Bewun<strong>der</strong>ung<br />
für den preußischen Trompeter und begleitete<br />
daher meist die Musikbande. Und sie hatte als Tochter<br />
eines Passauer Müllermeisters, <strong>der</strong> es <strong>mit</strong> Maßen und<br />
Gewichten nie beson<strong>der</strong>s genau genommen und seine<br />
Kunden gern über den Tisch gezogen hatte, ein beson<strong>der</strong>es<br />
Talent für die wun<strong>der</strong>same Vermehrung in ihren<br />
Geldbeuteln. Schon bei <strong>der</strong> Mobilmachung <strong>der</strong> bayrischen<br />
Truppen bei Rosenheim hatte sie noch schnell einen<br />
Schnei<strong>der</strong>gesellen aufgesucht, <strong>der</strong> zusätzliche Innentaschen<br />
in ihre Klei<strong>der</strong> nähte. Und bei den vielen Röcken<br />
und Unterröcken waren es gar viele Säcke, die während<br />
<strong>der</strong> räuberischen Feldzüge gefüllt werden sollten.<br />
Wenn Magdalena nach den Kämpfen über die Schlachtfel<strong>der</strong><br />
stapfte und von den Gefallenen alles klaute, was<br />
irgendwie wertvoll schien o<strong>der</strong> sich zu Geld machen<br />
ließ, waren ihr Regiment und die Musikbande oft schon<br />
längst in das nächste Dorf weitermarschiert. Magdalenas<br />
Geldbeutel ließen sich auch nachts gut befüllen. In<br />
den Gasthäusern <strong>der</strong> eroberten Ortschaften bekam sie<br />
stets ihr eigenes Zimmer, und während das Fußvolk in<br />
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den Gaststuben zechte und die Räucherkammern leerfraß,<br />
beglückte sie jene Soldaten, die nach den bewegten<br />
Kämpfen Entspannung suchten. Magdalena hängte als<br />
stilles Zeichen ein gelbes Tüchlein an die Türklinke und<br />
blieb dadurch <strong>mit</strong> ihren Freiern ungestört.<br />
Die Soldaten und die Kavallerie, ich liebe sie alle, die<br />
Braven,<br />
auch hab‘ ich bei <strong>der</strong> Artillerie so manche Nacht geschlafen<br />
…<br />
summte sie freudig vor sich hin, als ein Stabsoffizier ihr<br />
Zimmer verließ und sie ihren verdienten Gulden in den<br />
Wäschebeutel warf.<br />
Ansonsten versorgten die Marketen<strong>der</strong>innen die Soldaten<br />
<strong>mit</strong> Lebens<strong>mit</strong>teln und Tabak und mussten allesamt<br />
auch ein feines Näschen und herbes Gemüt haben, wenn<br />
Häuser und Höfe geplün<strong>der</strong>t wurden und zwischen gemeuchelten<br />
Opfern nach verwertbarem Proviant o<strong>der</strong><br />
wertvollen Dingen gestöbert wurde. Sie betreuten die<br />
Soldaten in den Feldlagern und Unterkünften, kochten<br />
für sie, flickten Uniformen und kümmerten sich um Dinge<br />
des alltäglichen Lebens. Sie nahmen sich <strong>der</strong> Kranken<br />
und Verwundeten an, und mancher Soldat verdankte<br />
sein Leben nicht zuletzt ihrer heilkundigen Pflege.<br />
Nach wenigen Tagen rückten die feindlichen Truppen<br />
bis Innsbruck vor und machten dort Station. Und da man<br />
im <strong>mit</strong>tleren Inntal keine ernst zu nehmende militärische<br />
Gegenwehr verspürte, zog ein Bataillon weiter in das Tiroler<br />
Oberland.<br />
•<br />
15
Müde und erschöpft erreichte das Bataillon am Abend<br />
des 28. Juni 1703 die staubigen Gassen von Landstein.<br />
Französische Dragoner und bayrische Grenadiere lagerten<br />
<strong>mit</strong> ihren Gäulen in den Wiesen, soffen Wein und ließen<br />
sich alles schmecken, was in den Ställen, Gutshöfen<br />
und Wirtshäusern zu erbeuten war.<br />
Während die hohen Offiziere abends in <strong>der</strong> Stube des<br />
Dorfgasthofs den Vormarsch nach Italien berieten, gönnte<br />
sich das Musikkorps im Schatten einer mächtigen Ulme<br />
eine gehörige Labung Bier <strong>mit</strong> Brot und Schweinswürsten.<br />
Weil sich <strong>der</strong> trotzige Wirt geweigert hatte, die feindlichen<br />
Bayern zu verköstigen, packte ihn <strong>der</strong> hünenhafte<br />
Trommler beim Kragen, zerrte ihn hinaus auf den Marktplatz<br />
und sperrte ihn in das Narrenkötterle, einen kleinen,<br />
<strong>mit</strong>telalterlichen Käfig neben dem Dorfbrunnen, in<br />
dem <strong>der</strong> Wirt nun eingepfercht saß und dem Gespött <strong>der</strong><br />
nachrückenden Soldaten ausgesetzt war.<br />
Den Ausschank hatten die Musiker nun selbst übernommen,<br />
soffen, dass sich die Balken bogen, und räumten die<br />
Selchkammern bis auf die letzte Speckseite leer. Der<br />
Schwegler, <strong>der</strong> das musikalische Handwerk im bayrischen<br />
Landregiment erlernt hatte, saß abseits auf einer<br />
Holzbank, zog genüsslich an <strong>der</strong> Tabakspfeife, hatte ein<br />
paar Bögen Papier vor sich ausgebreitet und komponierte<br />
neue Reitermärsche und Militärsignale, die morgen<br />
früh noch vor Aufbruch <strong>der</strong> Truppen geprobt werden<br />
mussten.<br />
Er duldete in seinen Reihen lei<strong>der</strong> auch einige Dilettanten,<br />
die dem Branntwein ergeben waren, oft kläglich musizierten<br />
o<strong>der</strong> gar aus dem Takt waren und die hohen<br />
Fanfarentöne nie und nimmer richtig bliesen. Darun-<br />
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ter ein schlecht bezahlter Dorflehrer, <strong>der</strong> sich aus reiner<br />
Abenteuerlust <strong>der</strong> Feldmusik angeschlossen hatte.<br />
So gemütlich wie an diesem Abend ging es für die Musikanten<br />
bei Gott nicht weiter, und anstatt eines ungefährdeten<br />
Durchmarsches ihrer Truppen nach Italien kam<br />
es zu einem grausamen kriegerischen Gemetzel, dessen<br />
Ende sich die Franzosen und Bayern ein wenig an<strong>der</strong>s<br />
vorgestellt hätten: Ganz heimlich trafen sich in einem<br />
Nebenzimmer desselben Gasthofs <strong>der</strong> Oberlän<strong>der</strong> Landsturmkommandant<br />
<strong>mit</strong> dem Kuraten, dem Gerichtsschreiber<br />
und einigen Getreuen, die gemeinsam einen<br />
äußerst klugen Angriff auf den Feind vorbereiteten.<br />
Es kam, wie es kommen musste.<br />
Der Oberlän<strong>der</strong> Landsturm empfing am ersten Julitag<br />
das Bataillon in einer steilen Schlucht Nähe Landstein<br />
<strong>mit</strong> einem heftigen Scharfschützenfeuer und segnete die<br />
Episode <strong>mit</strong> todbringenden Steinlawinen ab, die aus dem<br />
schroffen Felsgelände auf die feindlichen Soldaten nie<strong>der</strong>prasselten.<br />
Die Eindringlinge flehten um Erbarmen,<br />
manche stürzten samt ihrem Ross in den Inn o<strong>der</strong> sprangen<br />
in ihrer aussichtlosen Lage verzweifelt in die Fluten.<br />
Die bayrische Abordnung wurde vollständig aufgerieben;<br />
kein einziger Soldat blieb am Leben, um dem Kurfürsten<br />
später über die bittere und schmachvolle Nie<strong>der</strong>lage<br />
in <strong>der</strong> Talenge bei Landstein berichten zu können.<br />
Aber auch <strong>der</strong> wackeren Abordnung <strong>der</strong> bayrisch-preußischen<br />
Feldmusikanten bekam die pulverhaltige Luft<br />
des Tiroler Oberlands nicht beson<strong>der</strong>s. Im nächtlichen<br />
Saufgelage hatte einer <strong>der</strong> Musikanten, <strong>der</strong> bisher nur<br />
auf Jahrmärkten und in bayrischen Gastwirtschaften aufgespielt<br />
hatte, bis lange nach Mitternacht auf seiner<br />
Bockspfeife gedudelt. Gerade dieses Instrument, dessen<br />
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Blasebalg aus dem Fell eines Ziegenbocks gefertigt und<br />
<strong>mit</strong> einem holzgeschnitzten Ziegenkopf samt Hörnern<br />
verziert war, hatte unter den bäuerlichen Zuhörern beson<strong>der</strong>e<br />
Neugier geweckt. Sie lauschten gespannt den<br />
tiefen Brummtönen und diabolischen Melodien aus dem<br />
Maul des Bocks, und manche Magd sah sich ängstlich<br />
um, ob nicht doch irgendwo in <strong>der</strong> Gaststube ein brüllendes<br />
Tier stand.<br />
Es wurde feurig getanzt, die Feldmusiker verbrü<strong>der</strong>ten<br />
sich <strong>mit</strong> den heimischen Zechern und Dirnen und begaben<br />
sich erst lange nach Mitternacht zur nächtlichen<br />
Ruhe unter freiem Himmel. Aufgereiht wie Ölsardinen<br />
lagen sie unter <strong>der</strong> Ulme und träumten in <strong>der</strong> lauen<br />
Sommernacht vom glorreichen Einmarsch ihrer Regimenter<br />
in Italien.<br />
So konnte geschehen, dass die Herren Musikanten am<br />
nächsten Morgen den frühen Abmarsch ihrer Truppen<br />
ganz einfach verschliefen. Und als sie Stunden später<br />
von <strong>der</strong> bitteren Schlappe ihres Bataillons erfuhren, standen<br />
sie plötzlich ohne Schutz <strong>mit</strong>ten im Feindesland. In<br />
Panik ließen sie ihre Instrumente zurück und suchten<br />
schleunigst das Weite, irrten im Schutz <strong>der</strong> Auwäl<strong>der</strong><br />
flussabwärts und sahen ihre toten Kameraden in den<br />
roten und blauen Uniformen in den Gewässern des Inn<br />
treiben.<br />
Vor einer Holzbrücke trafen die Flüchtenden auf kampfbereite<br />
Oberlän<strong>der</strong> Schützen; und die vermuteten in den<br />
harmlosen, aber doch uniformierten Spielleuten streunende<br />
Bayern o<strong>der</strong> Franzosen. Als dann noch <strong>der</strong> kaiserliche<br />
Trompeter aus dem fernen Preußen heldenhaft seinen<br />
Degen erhob und <strong>der</strong> hünenhafte Trommler und die<br />
kräftige Marketen<strong>der</strong>in Magadalena En<strong>der</strong>le <strong>mit</strong> Holzprügeln<br />
auf die Brückenwache losstürmten, machten die<br />
18
Schützen kurzen Prozess und metzelten die Horde <strong>mit</strong><br />
Gewehren und Hacken nie<strong>der</strong>.<br />
•<br />
Natürlich ging es dieser Tage in Landstein ziemlich drunter<br />
und drüber, und es darf nicht verwun<strong>der</strong>n, dass die<br />
toten Musikanten noch einige Zeit in <strong>der</strong> prallen Sonne<br />
lagen. Für das feindliche Pack zeigte sich niemand zuständig,<br />
und Ortskaplan Valentin Aichner verweigerte<br />
gar die Bestattung in Heiliger Erde. Erst als <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>wärtige<br />
Gestank nicht mehr auszuhalten war, warfen<br />
<strong>der</strong> „Boandlklauber“ und dessen Gehilfe auf Geheiß<br />
des Geistlichen Leiche für Leiche auf ihren Leiterwagen<br />
und karrten sie über einen holprigen Karrenweg hinaus<br />
in die schwarze Au. Dort nahmen die beiden rauen Gesellen<br />
alles Kostbare wie Kreuzanhänger, Münzen, Rosenkränze,<br />
Schuhe, Gürtel und Wallfahrtsmedaillen an<br />
sich, betrachteten die persönlichen Utensilien als Lohn<br />
für ihre abscheuliche Arbeit, fassten die stinkenden und<br />
aufgeblähten Leichname an Händen und Füßen, warfen<br />
sie bäuchlings in eine Grube und schütteten diese zu.<br />
Verscharrt in Tiroler Erde. Kein Kreuz zierte die Gräber,<br />
keine einzige Blume lag auf <strong>der</strong> Erde.<br />
Und so stand nach hektischen Wochen <strong>mit</strong> argen Scharmützeln<br />
und vielen unschuldigen Opfern am Tag <strong>der</strong> heiligen<br />
Anna kein einziger Bayer o<strong>der</strong> Franzose mehr auf<br />
Tiroler Boden. In <strong>der</strong> gottverlassenen Landsteiner Au<br />
aber wuchsen erste Gräser über die namenlosen Gräber<br />
jener fünfzehn bayerischen Feldmusikanten, die nie<br />
mehr in ihre Heimat zurückkehren würden.<br />
•<br />
19
Was hätte sich wohl die mächtige Ulme gedacht, unter<br />
<strong>der</strong>en weiten Krone sich die Feldmusikanten aus dem fernen<br />
Bayern zur nächtlichen Ruhe gelegt hatten?<br />
Recht so, kriegerisches Gesindel. Ihr habt den Soldaten <strong>mit</strong><br />
euren Trommeln und Signaltrompeten den Schritt vorgegeben,<br />
sie <strong>mit</strong> euren Landsknechtsmärschen und Fanfaren<br />
nach Tirol begleitet, wo sie grausam mordeten und<br />
plün<strong>der</strong>ten. Und nun habt ihr in eurem Rausch unter<br />
meinen schützenden Ästen den Tagesanbruch und Abmarsch<br />
eurer Truppe verschlafen. Habt eure schützenden<br />
Kameraden verloren und seid dem Feind direkt in<br />
die Hände gelaufen, <strong>der</strong> euch kurzerhand beseitigte und<br />
<strong>mit</strong> Abscheu in eine Grube fern <strong>der</strong> Kirche warf. Werte<br />
Bayern und Franzosen: Unser Tiroler Boden, <strong>der</strong> mich<br />
schon immer nährte, war wohl nichts für euch.<br />
20
Sommer 1962<br />
Er ist zweifellos ein hübscher junger Mann, und einige<br />
Landsteiner meinen, er ru<strong>der</strong>e <strong>mit</strong> seinem femininen Gehabe<br />
am an<strong>der</strong>en Ufer. Seine offen zur Schau getragene<br />
Freude am eigenen Körper, seine elitäre Kleidung, seine<br />
allerfeinsten Manieren und seine fingerbetonte Körpersprache<br />
wirken zutiefst narzisstisch. Es hätte wohl manchen<br />
Landsteiner kaum gewun<strong>der</strong>t, wenn <strong>der</strong> junge Herr<br />
<strong>mit</strong> einem barocken Handspiegel durch die Gassen spaziert<br />
wäre. Meistens trägt er Anzug <strong>mit</strong> Krawatte und, in<br />
Erinnerung an seinen sächsischen Großvater, <strong>der</strong> einst ins<br />
rumänische Siebenbürgen ausgewan<strong>der</strong>t war, eine goldene<br />
Taschenuhr im Jackett. Der spindeldürre Student<br />
<strong>der</strong> Kunstgeschichte passt nicht hinein in die ländliche<br />
Dorfjugend, ihm ist <strong>der</strong> Besuch einer Kunstausstellung<br />
o<strong>der</strong> ein Abend in <strong>der</strong> Oper weit lieber als ein Tänzchen<br />
am Landsteiner Bauernball.<br />
Der blonde Jüngling kennt den begüterten Jakob Sassen,<br />
<strong>der</strong> seit Jahren allein in seiner luxuriösen Villa auf einem<br />
bewaldeten Hügel am Rand von Landstein wohnt. Und<br />
er weiß aus seinen Kin<strong>der</strong>tagen, als er <strong>mit</strong> Schulfreunden<br />
die Gärten, Keller und Dachböden ihres Viertels unsicher<br />
machte, dass <strong>der</strong> demente alte Herr neben bie<strong>der</strong>en<br />
Kunstdrucken auch ein kostbares Ölbild in seinem<br />
Dachboden verwahrt, das gewiss ein Vermögen wert<br />
sein muss. Ein Ölgemälde, dessen Ursprung ihm ohnehin<br />
schleierhaft ist. Möglicherweise aus nebulöser Quelle,<br />
herausgekauft aus einer Insolvenz o<strong>der</strong> über dubiose<br />
Mittelsmänner nach dem Krieg womöglich aus ehemaligem<br />
jüdischem Besitz erworben? O<strong>der</strong> aus einer wi<strong>der</strong>rechtlichen<br />
Versteigerung, vorbei an Konkursrichter und<br />
Fiskus? Warum sonst hält <strong>der</strong> alte Herr diese Kostbarkeit<br />
21
estimmt schon eine kleine Ewigkeit im Dachboden versteckt?<br />
Oft hält er sich nachts im Villenpark auf und beobachtet<br />
die Gewohnheiten des alten Mannes, <strong>der</strong> auf einem<br />
Stock durch die Räume humpelt und nur selten durch<br />
einen kleinen Spalt in den immerzu geschlossenen Vorhängen<br />
ins Dunkel hinausspäht.<br />
Ein scheues Reh, das seine Jäger fürchtet?<br />
Eines Abends erschrickt er, als er an <strong>der</strong> Promenade zwei<br />
Lichtkegel auf die Villa zukommen sieht. Der Gemeindearzt<br />
braust <strong>mit</strong> seinem hellblauen DKW F 5, Baujahr<br />
1938, über die Auffahrt zum prächtigen Stiegenaufgang,<br />
wo er energisch gegen die schwere Holztür tritt, bis diese<br />
nachgibt. Er verschwindet <strong>mit</strong> dem Arztkoffer in <strong>der</strong><br />
Villa, und wenige Minuten später geleitet er den alten<br />
Herrn am Arm zu seinem Wagen. Er setzt den Patienten<br />
auf den Beifahrersitz, verabreicht ihm zwei Löffel Medizin<br />
und fährt <strong>mit</strong> ihm eilig davon.<br />
Der Weg ist frei. Er freut sich.<br />
•<br />
Gott hatte es nicht gut gemeint <strong>mit</strong> <strong>der</strong> kleinen Sigrun.<br />
Sie verbrachte die frühe Kindheit in einem elenden, trostlosen<br />
Heim, das von Nonnen geführt wurde. Irgendwann<br />
im Sommer des Jahres 1962 kam ein Mann aus <strong>der</strong><br />
Schreibstube <strong>der</strong> Schwester Oberin, drückte <strong>der</strong> Ordensfrau<br />
ein Kuvert in die Hand, das rasch in <strong>der</strong>en Tunika<br />
verschwand, und trug Sigruns Habseligkeiten in einem<br />
geschnürten Karton wortlos zum Bahnhof.<br />
Mit dem Regionalzug fuhren sie an vielen kleinen Ortschaften<br />
vorbei und erreichten abends eine kleine Stadt.<br />
Und hätte sie auf einem kleinen Schild vor dem Gemein-<br />
22
deamt nicht den Ortsnamen „Landstein“ erkannt, hätte<br />
sie wohl nicht so schnell erfahren, wo ihre Reise endete.<br />
Der düster dreinblickende Mann <strong>mit</strong> dem ekligen Vollbart<br />
und dem schmutzigen Trachtenanzug redete nämlich<br />
rein gar nichts, schien stumm zu sein und hatte während<br />
<strong>der</strong> Zugfahrt ein Speckbrot und einen Apfel verdrückt,<br />
ohne sie auch nur einmal anzusehen o<strong>der</strong> ihr gar<br />
einen Bissen anzubieten – und das, obwohl ihr kräftig<br />
<strong>der</strong> Magen knurrte.<br />
Die Knechte und Mägde am Bauernhof empfingen sie<br />
scheu, behandelten sie von Anfang an wie eine Aussätzige<br />
und überließen ihr jene Arbeiten, die niemand gern<br />
machte. Sie trug die stinkenden Abfälle in den Schweinestall<br />
und die Nachttöpfe <strong>der</strong> Alten zum Plumpsklo ins<br />
Freie, schrubbte tagtäglich auf den Knien den Stubenboden<br />
und schlief in einer Kammer, die <strong>mit</strong> Mäusedreck<br />
und Spinnennetzen verschmutzt war. Eine alte Matratze<br />
und eine übel riechende Wolldecke mussten für sie genügen.<br />
Sie war ja zum Arbeiten aus dem Heim geholt<br />
worden, als Beistand für die Bäuerin, die an <strong>der</strong> Lunge<br />
schwer erkrankt war.<br />
Vom ersten Tag an gab ihr die bleiche, vom Tod gezeichnete<br />
Bäuerin das Gefühl, in ihrer näheren Umgebung<br />
nur geduldet zu sein. Sie war das einzige Kind am Hof,<br />
<strong>mit</strong>ten unter schweigsamen Knechten und zittrigen Alten,<br />
die für die Arbeit längst nicht mehr zu gebrauchen<br />
waren. Nur <strong>der</strong>en Schuhe <strong>mit</strong> den notdürftig geknoteten<br />
Schnürsenkeln musste sie auftragen, die rundum Löcher<br />
hatten und viel zu groß waren für eine Zehnjährige.<br />
Spielzeug gab es keines, und das nächste Gehöft war ein<br />
ordentliches Stück entfernt. So spielte sie heimlich <strong>mit</strong><br />
Steinen, Tannenzapfen, Wasser und alten Melkeimern,<br />
die im Stall und in <strong>der</strong> Scheune herumstanden.<br />
23
Wenn <strong>der</strong> Mann <strong>mit</strong> dem grauen Vollbart Sigrun beim<br />
Nichtstun erwischte, legte er sie übers Knie und schlug<br />
sie <strong>mit</strong> seinem le<strong>der</strong>nen Hosenriemen so lange, bis sie vor<br />
Schmerzen nur mehr wimmerte. Seinen Namen wusste<br />
sie noch immer nicht.<br />
Rau ging es zu am Hof <strong>der</strong> Greineggers.<br />
Vergrämt bestellte <strong>der</strong> Bauer seine Äcker und Fel<strong>der</strong>, er<br />
wusste um die schwere Krankheit seiner Frau und war<br />
sich im Klaren, dass er wohl <strong>der</strong> Letzte seiner Sippe sein<br />
würde, <strong>der</strong> für das karge Einkommen Jahr für Jahr rackerte<br />
wie ein Lastenesel. Nie kam Besuch, und bald<br />
hatte Sigrun den Eindruck, die wortkarge Familie lebe<br />
außerhalb je<strong>der</strong> Gesellschaft für sich dahin.<br />
Einmal schlich Sigrun hinauf in den Speicher und entdeckte<br />
in einem Zinkbottich einen Strampelsack, Fäustlinge,<br />
Baumwollwindeln, einen Schnuller, eine Rassel,<br />
eine Haarbürste, ein Wollhäubchen und ein Fläschchen<br />
<strong>mit</strong> einem liebevoll gestrickten Wärmer. In einem Pappkarton<br />
lag ein blütenweißes Taufkleid <strong>mit</strong> wun<strong>der</strong>schönen<br />
Spitzen und farbigen Stoffbän<strong>der</strong>n.<br />
Daneben in einer Holzkiste fand sie eine kleine <strong>Puppe</strong>,<br />
ein Rechenspiel <strong>mit</strong> bunten Kugeln, eine Schiefertafel<br />
<strong>mit</strong> Putzlappen und einen Griffel. In einer Ecke eine farbenreich<br />
bemalte <strong>Puppe</strong>nküche <strong>mit</strong> winzigen Tischchen<br />
und drei gepolsterten Stühlen, kleinen Miniaturfiguren,<br />
zierlichen Schüsseln, Geschirr und Pfannen.<br />
In einem Leinensack waren ein Tiroler Hut, eine Kommunionkerze<br />
und ein paar Bil<strong>der</strong>bücher <strong>mit</strong> lustigen<br />
Kin<strong>der</strong>geschichten. Dazwischen ein Poesiealbum <strong>mit</strong><br />
einer einzigen Zeichnung und dem handschriftlichen<br />
Vermerk „Zur Erinnerung an Christl, 17.XI.1953“.<br />
Wem gehörten all die Sachen? Wo war das Kind, das da<strong>mit</strong><br />
gespielt hatte?<br />
24
Sigrun nahm sich heimlich die <strong>Puppe</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> hübschen<br />
weißen Bluse, den weißen Söckchen und dem braunen<br />
Kostüm, den Schlafaugen und blonden Zöpfen und versteckte<br />
sie in ihrer Kammer unter <strong>der</strong> Matratze.<br />
Sigrun fühlte sich von Anfang an ungeliebt. Geduldet als<br />
unnütze Kostgängerin, die aus welchen Gründen immer<br />
von den Eltern weggegeben worden und als Kind in<br />
einem Heim gelandet war.<br />
Daran konnte sich Sigrun aber längst nicht mehr entsinnen.<br />
Als erste Kindheitserinnerung blieben ihr die ewig<br />
langen Stunden in nassen Windeln in einem rostigen Gitterbett<br />
und <strong>der</strong> Blick in das Gesicht einer runzeligen<br />
Nonne, verhüllt von einem weißen Schultertuch <strong>mit</strong><br />
schwarzem Schleier.<br />
•<br />
Ihm bleibt keine an<strong>der</strong>e Wahl. Seine Leidenschaft für<br />
ausrangierte Militärfahrzeuge, hübsche Frauen und das<br />
Glücksspiel hatten ein tiefes Loch in seine an und für<br />
sich pralle Studentenkasse gerissen. Er weiß, dass Vaters<br />
Geduld für den einzigen Sohn bald endgültig erschöpft<br />
sein würde.<br />
Er darf ihn nicht schon wie<strong>der</strong> um Geld bitten; er befürchtet,<br />
dass ihn <strong>der</strong> Alte sonst wohl endgültig vor die<br />
Tür setzen würde.<br />
Er nimmt Vaters Schlapphut, zieht sich dünne Wollhandschuhe<br />
an und wirft sich eine grüne Jagdpelerine um,<br />
bevor er sich <strong>der</strong> Villa des alten Herrn Sassen nähert.<br />
Lange steht er regungslos hinter einem Holun<strong>der</strong>busch<br />
und wartet geduldig, bis die Luft rein ist. Er schleicht<br />
zum Villeneingang und weiß, dass die massive Holztür<br />
nach dem gestrigen Besuch des Gemeindearztes kaum<br />
25
Wi<strong>der</strong>stand leisten würde. Er drückt sie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Schulter<br />
auf und eilt hastig in die Eingangshalle.<br />
Durch die stilvollen Deckenbögen hetzt er über die Marmorstiege<br />
hinauf in den düsteren, verstaubten Dachboden.<br />
Dort tastet er sich über den knarrenden Holzboden<br />
hinüber zu einer antiken Kommode, die er von Spinnennetzen<br />
befreit, dann eine Lade öffnet und ein verschnürtes<br />
Paket herausnimmt. Eilig reißt er die Packschnur<br />
herunter, zerfetzt das Papier und hält das gerahmte<br />
Bild in seinen Händen. Der Kunststudent erkennt das<br />
„Ölgemälde 1908“ sofort als bisher unbekanntes Werk<br />
von Gustav Klimt, das einen spielenden Knaben darstellt,<br />
<strong>der</strong> einen Zinnsoldaten in Händen hält.<br />
Er zittert, hat Tränen <strong>der</strong> Freude in den Augen. Hals über<br />
Kopf verlässt er die Villa und rennt <strong>mit</strong> dem Bild unter<br />
dem Arm durch den Park. Es dämmert.<br />
Als er auf <strong>der</strong> Flucht eine Mauer überspringen will, stolpert<br />
er plötzlich über ein zartes Mädchen, das hinter einem<br />
Gebüsch kniet und <strong>mit</strong> einem Kätzchen spielt. Das<br />
kleine Fräulein pflückt Beeren und Blumen. Sie lächelt<br />
ihn an und fragt: „Wer ist <strong>der</strong> kleine Bub auf dem Bild,<br />
<strong>der</strong> <strong>mit</strong> dem hübschen Zinnsoldaten spielt?“<br />
Er lächelt verlegen, springt wortlos über das Mauerwerk<br />
und verschwindet zwischen den dichten Sträuchern und<br />
Bäumen des Villenparks.<br />
•<br />
Er ist in Sorge. Mit einer Zeugin hat er in dieser abgelegenen<br />
Gegend wahrlich nicht gerechnet; und das Mädchen<br />
hat er zuvor bei all seinen Erkundungen noch nie<br />
gesehen. Wer ist das aufgeweckte und zweifellos intelligente<br />
Mädchen, das <strong>mit</strong> einem einzigen Blick auf das<br />
26
Ölgemälde erkannte, dass ein Knabe abgebildet war, <strong>der</strong><br />
<strong>mit</strong> einem Miniatursoldaten spielte?<br />
Seine Unruhe steigt.<br />
In den nächsten Tagen beobachtet er, wie das Mädchen<br />
fast jeden Abend <strong>mit</strong> ihrem Tigerkätzchen in den Villenpark<br />
spaziert, wo es Blumen, Wachol<strong>der</strong>beeren und<br />
Himbeeren pflückt und in einen Korb legt. Es ist einfach<br />
gekleidet und macht einen ärmlichen Eindruck auf ihn.<br />
Gehört das Mädchen etwa zur Sippe <strong>der</strong> Greineggers?<br />
Aber <strong>der</strong>en einzige Tochter ist doch schon vor Jahren verstorben?<br />
Er darf kein Risiko eingehen. Zu Hause füllt er frische<br />
Milch in eine Kanne und rührt Vaters Schlafpulver unter.<br />
Dann geht er hinaus zur Villa, versteckt sich im Park<br />
und wartet. Endlich sieht er das unbekannte Mädchen<br />
in seinem Leinenkleid zwischen den Büschen herumspazieren.<br />
Die langen, blonden Zöpfe leuchten im diffusen<br />
Licht, das durch die dichten Laubbäume scheint.<br />
Er darf das Mädchen nicht erschrecken, muss rasch sein<br />
Vertrauen gewinnen und lächelt ihm zu, als es ihn leger<br />
auf <strong>der</strong> Marmorstiege vor <strong>der</strong> Villa sitzen sieht. Es lächelt<br />
zurück und schenkt ihm eine Hand voll frisch gepflückter<br />
Himbeeren, die er gleichgültig fallen lässt. Dann<br />
schüttet er dem Kätzchen ein bisschen Milch in eine Steinwanne,<br />
auch das Mädchen soll nicht dürsten. Sigrun<br />
trinkt ein paar große Schluck Milch aus <strong>der</strong> Kanne.<br />
Das Werk ist vollbracht. Rasch und schmerzlos, wie er es<br />
geplant hat. Das Mädchen sollte nicht leiden, er wollte<br />
ihm bei Gott nicht wehtun. Es sollte einfach nur sterben<br />
und als unerwünschte Zeugin von <strong>der</strong> Bildfläche verschwinden.<br />
Für immer.<br />
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