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Wachter, Zingulum - Leseprobe

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Dietmar <strong>Wachter</strong><br />

Das <strong>Zingulum</strong><br />

Inspektor Matteo<br />

ermittelt<br />

Sein zweiter Fall<br />

Kriminalroman<br />

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Alle Rechte vorbehalten<br />

Copyright 1. Auflage © 2011 Berenkamp<br />

Copyright 2. Auflage © 2016 Berenkamp<br />

Wattens–Wien<br />

www.berenkamp-verlag.at<br />

ISBN 978-3-85093-278-3<br />

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />

der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar<br />

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Es gibt vielerlei Lärm,<br />

aber nur eine Stille.<br />

Kurt Tucholsky<br />

Prolog<br />

Am Tag seiner Pensionierung wird Kriminalinspektor<br />

Matteo Steininger rückblickend mit Fug und<br />

Recht behaupten dürfen, dass das Jahr 2009 zweifellos<br />

zum Aufsehen erregendsten und schwierigsten<br />

seiner Kriminalistenkarriere zählte. In seinem<br />

ansonsten eher ruhigen beruflichen Dasein wurden<br />

in nur sechs Monaten gleich vier Damen vermisst,<br />

die sich vor ihrem spurlosen Verschwinden allesamt<br />

große Verdienste um das Wohlergehen der Landsteiner<br />

Männerwelt erworben hatten.<br />

Aber das ganze Schlamassel begann eigentlich<br />

schon im Jahr davor.<br />

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Dezember 2008<br />

Fürwahr eine seltsame Gestalt, die an dem klirrend<br />

kalten Winterabend am Landsteiner Bahnhof<br />

aus dem Intercity 419 stieg: fast zwei Meter groß, hager,<br />

das lange, graue Haar zu einem Zopf gebunden<br />

– und Tätowierungen, die ihn zweifellos als Knastbruder<br />

stigmatisierten. Drei Steherpunkte zwischen<br />

Daumen und Zeigefinger, ein Schlangenkopf am<br />

Nacken und Knasttränen unter dem rechten Auge<br />

zeugten von einer langen Haft – die er bis zum letzten<br />

Tag abgesessen hatte.<br />

Johannes Eder ging ins Bahnhofsrestaurant, bestellte<br />

ein Bier, stand dann an der Theke, schwieg<br />

und beobachtete die auf den nächsten Zug wartenden<br />

Fahrgäste und die Landsteiner Trunkenbolde,<br />

die, wie früher, Tag für Tag wie angewurzelt an derselben<br />

Stelle am Buffet lungerten. Einige erkannte er<br />

wieder; dieselben versoffenen Gesichter wie damals<br />

– als er seine Heimatstadt verlassen hatte –, nur ein<br />

wenig älter und viel verlebter. Sie schienen ihn nach<br />

all den Jahren wiederzuerkennen, wandten sich aber<br />

ab, sprachen kein Wort mit ihm und wichen seinen<br />

Blicken aus.<br />

Er war zurückgekehrt.<br />

Johannes, der Sonderling, mit dem schon damals<br />

niemand etwas tun haben wollte. Nicht das Geringste.<br />

Nach einer abgebrochenen Schlosserlehre hatte es<br />

ihn nach München gezogen, wo er auf Großbaustellen<br />

gearbeitet, natürlich ausgesprochen gut verdient<br />

und sich ein flottes, ausschweifendes Leben geleistet<br />

hatte. Einen Opel Manta hatte er sich gegönnt, in sei-<br />

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ner Heimatstadt Landstein deswegen aber blanken<br />

Neid von allen Seiten geerntet. Alkoholexzesse und<br />

Bordellbesuche waren ihm zum Verhängnis geworden.<br />

Im Rausch hatte er einen Türsteher erstochen,<br />

war gefasst und zu fast zwei Jahrzehnten in der Justizvollzugsanstalt<br />

Straubing verurteilt worden. Besuch<br />

hatte er dort nie bekommen. In den ersten Haftjahren<br />

waren ab und zu Briefe und zu Weihnachten<br />

kleine Pakete seiner Mutter eingelangt, dann noch<br />

die Nachricht des Landsteiner Notars, dass sie verstorben<br />

war. Das war’s dann gewesen. Als einziger<br />

Nachkomme hatte er die kleine Eigentumswohnung<br />

geerbt.<br />

Erst als es langsam dunkel wurde, schlich er die<br />

Straßen und Häuser entlang zu seiner Wohnung in<br />

der Lahnbachgasse 17. Er registrierte die Veränderungen<br />

in der Stadt, alte Häuser waren abgerissen,<br />

neue Wohnblöcke erbaut worden. Die vertrauten<br />

Greißlerläden und Handwerksbetriebe aus seiner<br />

Kindheit waren verschwunden, an den Ecken hatten<br />

sich Kebabstände, Pizzaläden und Fastfoodlokale<br />

eingenistet.<br />

Johannes sperrte die Wohnung auf, warf den Seesack<br />

mit den wenigen Habseligkeiten auf die Couch<br />

und begann zu weinen. Er sehnte sich nach jener<br />

Ruhe, die über Jahre hinweg seinen Gefängnisalltag<br />

bestimmt hatte.<br />

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Sommer 1972<br />

Im Garten des gepflegten Einfamilienhauses steht<br />

eine Torte mit 14 Kerzen auf dem Holztisch; zwischen<br />

den Bäumen und Sträuchern hängen bunte<br />

Lampions, Stoffbänder und Luftballons. Der Bub hat<br />

heute Geburtstag; seit Tagen freut er sich darauf. Wie<br />

immer an festlichen Tagen hat er heute den Anzug<br />

anziehen müssen; dazu ein kariertes Flanellhemd,<br />

Krawatte, Pullover und die polierten Lackschuhe.<br />

Die Mutter kämmt ihn, drückt die borstigen Haare<br />

seines markanten Wirbels mit Speichel nieder, beträufelt<br />

ihren Buben zur Feier des Tages mit ein paar<br />

Tropfen von Vaters Rasierwasser und setzt ihn sauber<br />

und geschniegelt auf einen Gartenstuhl.<br />

Im Radio läuft das Wunschkonzert – Lieder von<br />

Heintje und Peter Alexander, dazwischen ab und zu<br />

ein flotter Marsch mit Glückwünschen an die lieben<br />

Verwandten. In der brütenden Sommerhitze wartet<br />

er geduldig auf die Freunde und Mitschüler, die er<br />

zu seinem Fest eingeladen hat.<br />

Mit Schaudern denkt er an seinen letzten Geburtstag,<br />

als ihn seine Schulfreunde nach der Feier auf<br />

die Nockerwiese lockten und an einem Kälberstrick<br />

kopfüber auf den Birnenbaum hängten, dass er gerade<br />

noch eine Armlänge über den Wiesenblumen<br />

baumelte. Dann bewarfen sie ihn mit grünen Äpfeln<br />

und mit Steinen, spannten die selbstgebastelten Haselbögen<br />

und zielten mit Holzpfeilen auf ihn, deren<br />

Spitzen sie mit Rattenblut und giftigen Beeren präpariert<br />

hatten – eben so, wie es in den abenteuerlichen<br />

Cowboyfilmen im Fernsehen immer gezeigt wird.<br />

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Sie scherten ihm dicke Büschel aus seiner langen,<br />

blonden Haarpracht, lachten ihn aus und zogen nach<br />

der schmerzhaften Tortur mit lautem Indianergeheul<br />

ab. Ließen ihn einfach am Ast hängen, bis ihn der<br />

zufällig vorbeikommende taubstumme Knecht des<br />

Nockerbauern mit seinem Sackmesser vom Baum<br />

schnitt.<br />

Mutti zeigt sich zu seinem heutigen Ehrentag besonders<br />

großzügig und schenkt ihm gleich vier neue<br />

Langspielplatten: Beethovens „Eroica“, Tschaikowskys<br />

„Ouvertüre 1812“, Franz Schuberts „Messe Nr. 4<br />

in C-Dur“ und Auszüge aus Richard Wagners komischer<br />

Oper „Das Liebesverbot“. Von klein auf hört<br />

er zu Hause klassische Musik, begleitet seine Eltern<br />

zu Konzerten und Theateraufführungen; es vergeht<br />

kaum ein Tag, an dem Vati nicht in irgendeinem Zusammenhang<br />

das Zauberwort Bildung anspricht.<br />

Tante Eleonore, seine Taufpatin, trifft, geschminkt<br />

wie ein Papagei, ein, lässt sich vom Buben artig die<br />

Hand reichen und auf die Wangen küssen. Der widerliche<br />

Kölnischwasser-Altweibergeruch steigt ihm<br />

in die Nase. Sie lobt Mama für die gelungene Kuchenglasur,<br />

tratscht mit ihr ausführlich über Kochrezepte<br />

und Frauenleiden, amerikanische Schauspieler, neue<br />

Hollywoodfilme und Skandale in Königshäusern.<br />

Über alles eben, was einen Vierzehnjährigen am eigenen<br />

Geburtstag rasend interessiert.<br />

Tante Eleonore schiebt ihm ein winzig kleines Geschenk<br />

über die gehäkelte Tischdecke. Gedanklich<br />

und mit dem Mundwerk ist sie längst beim nächsten<br />

Hollywoodstar angelangt, als er die goldenen Man-<br />

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schettenknöpfe, graviert mit seinen Initialen, aus der<br />

Verpackung nimmt.<br />

Opa und Oma spazieren über die Hofeinfahrt dem<br />

Haus zu. Opa mit dem gedrehten Spazierstock aus<br />

Kastanienholz, von oben bis unten mit Plaketten verziert,<br />

die er auf seinen unzähligen Wanderungen in<br />

Souvenirgeschäften gekauft hat. Beide sind von der<br />

Hitze geschafft und suchen Abkühlung im Schatten<br />

des Vordachs. Mutter schenkt Opa ein Glas Rotwein<br />

ein und serviert Oma eine Tasse Tee – und ein Stück<br />

Torte.<br />

Feierlich wie in einer Zeremonie übergeben sie ihrem<br />

einzigen Enkelkind ein Geschenk, das der Form<br />

nach leicht als Buch zu erkennen ist. Der Bub packt<br />

es aus – und Tante Eleonore kreischt hysterisch, weil<br />

sie auf dem Einband eine junge Frau mit blanken<br />

Brüsten sieht. Die Großeltern meinen es wirklich gut<br />

mit ihm und schenken ihm zur Feier des Geburtstags<br />

und Erwachsenwerdens ein Fachbuch zur sexuellen<br />

Aufklärung junger Menschen. Bisher kennt er nur die<br />

bunten Billigheftchen des Schulmädchenreports, in<br />

denen nackte Mädchen abgebildet sind. Diese Hefte<br />

sind in der Schule im Tauschweg für Zigaretten oder<br />

Kaugummis relativ leicht und auch kostengünstig zu<br />

bekommen.<br />

In Gegenwart der staunenden Verwandten blättert<br />

er verlegen im Aufklärungsbuch und legt es bald<br />

zu den Manschettenknöpfen und Langspielplatten.<br />

Offensichtlich ist allen endlich klar, dass er langsam<br />

erwachsen wird, zumal der helle Flaum auf der<br />

Oberlippe kaum mehr zu übersehen ist.<br />

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Das Buch kommt spät genug.<br />

Der Kleine hat – allerdings ohne Wissen der erwachsenen<br />

Mitglieder der Familie – fast alle Folgen<br />

der schlüpfrigen Kinofilmserie „Der Schulmädchenreport“<br />

gesehen. Den alten Filmvorführer, der die<br />

meisten Vorstellungen mehr oder weniger verschlafen<br />

und – während der Streifen lief – mitunter derart<br />

tief gepennt hat, dass sein Schnarchen im ganzen<br />

Saal zu hören gewesen ist, hat sich mit einer Flasche<br />

Bier immer leicht bestechen lassen. In seinem Dauerrausch<br />

hat er die Altersbeschränkungen stets im<br />

Handumdrehen außer Kraft gesetzt und ihn meistens<br />

in die hinterste Sitzreihe beordert, wo er sich<br />

ungestört die eher langweiligen, aber nackten Tatsachen<br />

ansehen hat dürfen.<br />

Eine Episode hat allerdings das Interesse aller<br />

Mitschüler geweckt, spielte darin doch ein Mädchen<br />

aus dem Landsteiner Oberstufenrealgymnasium die<br />

Hauptrolle. Der Text war höchst bieder, die Handlung<br />

überaus einfach gestrickt und dürftig: Die lasterhafte<br />

Göre setzt sich beim Schulwandertag von<br />

der Klasse ab, verführt den Busfahrer und wird von<br />

der strengen Oberlehrerin beim sündigen Treiben ertappt.<br />

Alle Achtung! Mariella Oberhuber spielte diese<br />

Szene perfekt, kassierte dem Vernehmen nach für<br />

die Rolle eine nicht unerhebliche Gage und ist seither<br />

der absolute Star an der Schule. Sie steht pubertierenden<br />

Mitschülern nunmehr in allen Sexualfragen<br />

mit Rat und Tat zur Seite; gegen ein kleines Entgelt<br />

dürfen sie die Buben zum Anschauungsunterricht in<br />

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die Umkleideräume begleiten. Dort lüftet sie je nach<br />

Höhe der finanziellen Gabe vor den gierigen Augen<br />

des Kunden die Bluse und zeigt ihm Büstenhalter<br />

oder Brüste.<br />

* * *<br />

„Kommen wir zur Sache“, denkt er sich und fragt<br />

die Großeltern frei von der Leber weg: „Wo genau<br />

ist Vati gezeugt worden?“ Opa sprudelt der Rotwein<br />

aus den Mundwinkeln, energisch dreht und klopft<br />

er an seinem Hörgerät herum, glaubt, sich verhört zu<br />

haben, und bittet um Wiederholung der Frage. Oma<br />

bekommt augenblicklich einen knallroten Kopf und<br />

ist derart entrüstet, dass sie den Kuchen stückweise<br />

über den Tisch prustet.<br />

„Unerhört!“, schreit sie aufgebracht. „Müssen wir<br />

uns von diesem ungezogenen Lausbuben solche unsittlichen<br />

Fragen gefallen lassen?“<br />

Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Opa versetzt dem<br />

Enkel eine schallende Ohrfeige, und Oma beruhigt<br />

ihre angekratzten Nerven mit einem Stück Würfelzucker<br />

und ein paar Tropfen Klosterfrau Melissengeist,<br />

während Mutti den Streit zu schlichten versucht und<br />

Tante Eleonore spontan ein Kinderlied anstimmt. Er<br />

versucht mit tränenerstickter Stimme mitzusingen.<br />

Damit war die Sache vom Tisch.<br />

Leider. Denn gern hätte er auf seine Frage eine<br />

Antwort bekommen: „Wo ist Vati gezeugt worden?“<br />

In den letzten Wochen ist in der Schule in pubertären<br />

Gruppengesprächen nämlich das Thema über<br />

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den besten Ort der Zeugung näher erörtert worden.<br />

Und seit Karlheinz erzählt hat, sein Vater sei Bierführer<br />

und ziemlich sicher hinter einem Festzelt entstanden,<br />

wird dieser Frage beziehungsweise der Antwort<br />

darauf allerhöchste Bedeutung beigemessen – mit<br />

der Folge, dass jeder Schüler zu Hause nachforscht<br />

und die Eltern auszuquetschen sucht.<br />

Als Waltraud versichert, dass ihre Mutter in einer<br />

Waschküche gezeugt worden sei und ihr Leben lang<br />

als Putzfrau arbeite, kommt die Klasse einstimmig<br />

zum Schluss, dass der Ort der Zeugung und der spätere<br />

Beruf sehr eng miteinander verknüpft sind. Dass<br />

Oskars Vater, ein Bankangestellter, in einem Lohnverrechnungsbüro<br />

und Christines Vater, ein Fahrdienstleiter,<br />

angeblich auf der Holzbank eines Eisenbahnabteils<br />

dritter Klasse entstanden seien, stützt<br />

diese These und erhärtet die Erkenntnis.<br />

Oft sitzt er verträumt in der hintersten Reihe der<br />

Klasse, drückt sich mit den Fingernägeln Pickel im<br />

Gesicht aus und geht in Gedanken die Berufe der Väter<br />

und Mütter seiner Mitschüler durch. Dabei stellt<br />

er sich bildlich den jeweiligen Ort der biologischen<br />

Zeugung vor – Kino im Kopf!<br />

Elkes Vater ist Arzt, Reginas Daddy arbeitet bei<br />

der Müllabfuhr, Stefans Altvorderer ist Kirchenrestaurator<br />

und Ernas Mutter Richterin. Seine Tagträumereien<br />

bieten genügend Raum für hochinteressante,<br />

erotische Gedanken, die oft nur durch lästige Fragen<br />

der Fachlehrer unterbrochen werden.<br />

* * *<br />

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Vati kommt erst am späten Nachmittag müde<br />

von der Arbeit nach Hause und tut wie jedes Jahr, als<br />

wäre der heutige Tag kein besonderer. Er tut tatsächlich<br />

so, als hätte er den Geburtstag seines einzigen<br />

Kindes wieder einmal vergessen. Ein übles Spiel mit<br />

den kindlichen Gefühlen seines Nachwuchses – wie<br />

jedes Jahr, wie auch zu Ostern und zu Weihnachten.<br />

Früher kamen ihm manchmal die Tränen, wenn Vati<br />

nicht gleich ein Geschenk für ihn in der Hand hielt<br />

und ihn stundenlang warten ließ. Heute aber, auf<br />

dem Sprung in die rätselhafte Welt der angeblich<br />

Erwachsenen, da hat er Vatis seltsames Ritual längst<br />

durchschaut. Er beobachtet daher mit Spannung, ob<br />

sich wenigstens Vatis mäßiges schauspielerisches Talent<br />

inzwischen ein wenig verbessert hat.<br />

Vati stellt den Aktenkoffer in die Ecke, begrüßt<br />

alle freundlich, Tante Eleonore sogar mit Handkuss,<br />

setzt sich an den Tisch und verzehrt schweigend mit<br />

verdrehten Augen (was Genüsslichkeit signalisieren<br />

soll) ein Stück von der Geburtstagstorte.<br />

Mit einer ordentlichen Portion Schlagobers.<br />

Noch vor dem zweiten Bissen serviert ihm Omi<br />

die Taktlosigkeit seines ungezogenen Sohnes und<br />

die Ungeuerlichkeit dessen obszöner Frage nach<br />

dem Ort seiner Zeugung. Die pensionierte Leiterin<br />

des Jugendamtes fordert gleichzeitig nicht nur die<br />

reuevolle Beichte des ungezogenen Bengels am kommenden<br />

Sonntag, sondern zusätzlich eine ordentliche<br />

Bestrafung des Enkels durch dessen Vater, ihren<br />

Sohn. Schließlich soll und muss aus dem Flegel irgendwann<br />

einmal ein ordentlicher Mann werden.<br />

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Vati blickt den Täter sofort finster genug an, sodass<br />

dieser um die unabdingliche Folge weiß, dass<br />

nun dunkle Wolken auf ihn zukommen werden.<br />

Erst als Opa mit dem Gehstock unter dem Tisch<br />

gegen Vatis Bein klopft, schreitet dieser langsam zu<br />

seinem hellblauen Renault Alpine und holt ein Paket<br />

aus dem Wagen. Er nimmt die bekannte stramme,<br />

soldatische Haltung ein, drückt dem Sohn ohne große<br />

Geste das Geschenk in die Hand und zerkaut nuschelnd<br />

seinen Glückwunsch. „Sind deine Freunde<br />

schon nach Hause gegangen?“, fragt Vati anschließend.<br />

Bedrückt schaut er zu Boden und antwortet mit<br />

leiser Stimme: „Ist keiner gekommen – heuer!“ Dann<br />

aber – was schert ihn das Pack der Treulosen? – reißt<br />

er das Geschenkpapier in Fetzen und schreit auf, als<br />

er den Inhalt erkennt: ein Kassettenrekorder. Sein<br />

größter Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Sein Vati<br />

ist ein Traumtyp! Noch dazu ein Philips Taschenund<br />

Reisekassettenrekorder vom Typ N 2203, Made<br />

in Holland, ausgestattet mit je einem Schieberegler<br />

für Level und Volume. Made in Holland. Level und<br />

Volume!<br />

Allein diese modernen, englischen Fachausdrücke<br />

zergehen ihm wie Marzipan auf der Zunge; mehrmals<br />

versucht er, „Level“ und „Volume“ in formvollendeter<br />

Tonlage, Betonung und Phrasierung über<br />

die Lippen zu rollen: „Made in Holland“, Level und<br />

Volume! Me-id in Holland! Mee-id in Holland. Läwl<br />

und Woljum! Der absolute Hit, der ganz große Renner<br />

und überhaupt das neueste und aktuellste Mo-<br />

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dell, das Vati in den Elektroläden finden hat können.<br />

Mit permanentdynamischen Lautsprechern! Was immer<br />

das auch heißen mag.<br />

Mit einem technisch derart raffinierten Gerät hat<br />

er von allen Freunden und Klassenkameraden nun<br />

den besten Trumpf in der Hand. Das wird ein Aufsehen<br />

machen im Gymnasium; er wird endlich akzeptiert<br />

werden müssen! Wie werden erst die Mädchen<br />

reagieren, wenn er mit einem solchen Wunderwerk<br />

der Technik am Schulhof auftaucht und Songs von<br />

Janis Joplin oder Johnny Cash abspielt? Jene jungen<br />

Damen, die ihn bisher kaum beachtet und nur belächelt<br />

haben?<br />

Gewissenhaft studiert er die Gebrauchsanleitung,<br />

experimentiert herum, schiebt eine unbespielte Kompaktkassette<br />

ins Kassettenfach. Gleichzeitig drückt<br />

er die Tasten Play und Record, zählt laut von eins<br />

bis zehn, spricht einige kurze Sätze und hört sich<br />

fasziniert das Ergebnis an – noch einmal und immer<br />

wieder. Erstmals hört er die eigene Stimme, die ihm<br />

fremd und seltsam vorkommt.<br />

Abends in seinem Zimmer kramt er noch einige<br />

technische Zubehörteile aus der Verpackung, darunter<br />

ein Mikrofon mit Kabel und Tischstativ, wie es<br />

sonst nur im Fernsehen zu sehen ist. Wie im Österreichischen<br />

Rundfunk baut er in seinem Zimmer ein<br />

Studio auf, verliest frei erfundene Abendnachrichten,<br />

den Wetterbericht und die aktuellen Sportmeldungen.<br />

Bis weit nach Mitternacht probiert er herum<br />

und erzeugt Geräusche, indem er Farbstifte zu<br />

Boden fallen lässt, herumtrampelt oder mit Schmir-<br />

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gelpapier am Schreibtisch raspelt. Er nimmt seine<br />

Schritte in verschiedenen Intensitäten auf, er geht,<br />

hüpft und kriecht, zieht den alten Wecker auf, lässt<br />

ihn läuten, stellt ihn hinter den Vorhang, ins Waschbecken<br />

und legt ihn unter die Bettdecke.<br />

* * *<br />

Er macht sich auf seine erste Klangexpedition ins<br />

Freie. Er wandert zu Opas Bienenstock und nähert<br />

sich den Völkern so weit, dass er einige Stiche abkriegt<br />

und die Flucht ergreifen muss. In der Garage<br />

nimmt er die Motorengeräusche von Vatis Renault<br />

auf und vergleicht sie mit jenen einer Bohrmaschine<br />

oder des Staubsaugers. Er befasst sich mit Muttis<br />

alter Tretnähmaschine, deren Tritt, Schwungrad<br />

und Garnrolle interessante Geräusche von sich geben.<br />

Dann gießt er wässrige und ölige Flüssigkeiten<br />

in verschieden große Karaffen, Vasen, Schalen und<br />

Flaschen und vergleicht die Geräusche in den unterschiedlichen<br />

Tonlagen: hell, dunkel, rein, gläsern.<br />

Bald lernt er den Abstand des Mikrofons zu den<br />

Objekten zu dosieren, nähert sich den leisen Geräuschen<br />

und wählt die jeweils günstigste Entfernung<br />

für die lauten. So gelingt es, den Lärmpegel im grünen<br />

Bereich zu halten. Schritt für Schritt entwickelt<br />

er sich zu einem kleinen Tonmeister, wenngleich die<br />

ersten Versuche von starken Nebengeräuschen überlagert<br />

sind.<br />

Akribisch macht er sich Notizen zu allen neu entdeckten<br />

Geräuschen, katalogisiert sie, führt Buch<br />

17


und gewinnt Tag für Tag neue, bemerkenswerte Erkenntnisse.<br />

Ihm erschließt sich plötzlich eine neue Welt, der<br />

unendliche Kosmos der Töne. Er lernt, seine Umwelt<br />

akustisch wahrzunehmen und ihr intensiver, bewusster<br />

zuzuhören. Er wird sensibler und hört erstmals<br />

bewusst die Violine jenes armen Straßenmusikanten,<br />

der sonntags immer in der Wohnsiedlung auftaucht<br />

und auf seiner Geige Zigeunerweisen spielt, um sich<br />

ein paar Almosen zu erbetteln. Bisher hat er sich immer<br />

in seinem Zimmer verkrochen, während Vati<br />

dem Vagabunden ein Butterbrot gab und ein paar<br />

Münzen spendierte.<br />

Heute ist sein Interesse geweckt, die Antennen<br />

sind weit ausgefahren und auf Empfang geschaltet.<br />

Früh legt er sich auf die Lauer und wartet im Garten<br />

auf den Musikanten. Hinter einer Hecke versteckt,<br />

schiebt er das Mikrofon unauffällig durch die Sträucher,<br />

um das Geigenspiel des Landstreichers aufzunehmen.<br />

Er merkt, dass ihn die Melodien weit weniger<br />

interessieren als das Klimpern der Münzen, die<br />

Vati dem Vagabunden in den Instrumentenkasten<br />

wirft.<br />

In diesen Sommerferien des Jahres 1972 ist ihm<br />

nie langweilig, und bis zum Schulbeginn entdeckt er<br />

nach und nach alle technischen Raffinessen, die der<br />

neue Rekorder zu bieten hat. Bald beginnt er mit Tieren<br />

zu experimentieren. Er sammelt Frösche, gibt sie<br />

in ein Glas und nimmt ihr Quaken auf; ein anderes<br />

Mal fängt er Nachbars Katze, wirft sie in einen Rupfensack<br />

und nimmt im Luftschutzkeller das jämmer-<br />

18


liche Klagen der gefangenen Kreatur auf. Hin und<br />

wieder entwendet er zu Hause Zündhölzer und fackelt<br />

kleine, verfallene Stadel am Rand der Stadt ab.<br />

Mit Vatis Geburtstagsgeschenk nimmt er das Kratzen<br />

der Reibeflächen an den Zündholzschachteln auf,<br />

das Knistern von brennendem Papier, von Karton<br />

und Spreißelholz, das Explodieren von Spraydosen,<br />

die er ins Feuer wirft, und die Sirene der Feuerwehr,<br />

die gleichmäßig lauter wird, verhallt und neuerdings<br />

anschwillt. Crescendo!<br />

Dabei agiert er immer aus sicherer Distanz, plant<br />

Fluchtwege ein und legt sich passende Notlügen zurecht,<br />

sollte er von Schaulustigen oder gar Gendarmen<br />

angesprochen werden.<br />

* * *<br />

In diesen heißen Sommertagen verbringt er viele<br />

Stunden in der kühlen Kapuzinerkirche, wo er neue<br />

Geräusche sondiert. Er nimmt das Gebimmel der Altarschelle<br />

auf, das Knarren der Beichtstuhltür, das<br />

Fallen eines Gebetsbuchs und das Gemurmel der Betenden,<br />

die in der hintersten Bank einen Rosenkranz<br />

herunterleiern.<br />

Heute hat er rote Lackfarbe mitgebracht. Exakt jenen<br />

Farbton, den seine Religionslehrerin im letzten<br />

Schuljahr in ihren Locken hatte, als sie ihm mit voller<br />

Wucht ein Eisenlineal auf den Hinterkopf drosch, ihn<br />

vor der ganzen Klasse verspottete und bloßstellte,<br />

als Muttersöhnchen beschimpfte und alle Mitschüler<br />

darüber lachten. Ausgerechnet jene diplomierte<br />

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Pädagogin, die unbeleckt war und ist von jeglicher<br />

persönlicher Autorität, aber die Zehn Gebote lehrt<br />

und von Güte und Nächstenliebe, also von Dingen<br />

schwafelt, die sie nicht kennt, dieses scheinheilige<br />

Luder, das widerlich aus dem Mund riecht und ein<br />

außereheliches Verhältnis zum Bezirksschulinspektor<br />

pflegt.<br />

Heute hat er rote Farbe mitgebracht.<br />

Auf den wertvollen Barockgemälden neben dem<br />

Seitenaltar übermalt er damit die Haare der hl. Maria<br />

Muttergottes, der hl. Barbara und der hl. Rosalia<br />

mit rotem Lack. Auch deren Augen, die ihn immerzu<br />

lüstern anstarren, wenn er mit den Eltern sonntags in<br />

der Kirchenbank kniet.<br />

* * *<br />

Im Herbst präsentiert er den tragbaren Kassettenrekorder<br />

stolz seiner Klasse und versucht sich in<br />

den Unterrichtspausen als Reporter. Der Außenseiter<br />

geht in die Offensive. Mit dem Mikrofon in der Hand<br />

steht er im Schulhof plötzlich im Mittelpunkt des<br />

Geschehens, macht mit den Burschen Sportreportagen,<br />

bevorzugt aber Mädchen als Interviewpartner.<br />

Er stellt ihnen Fragen zur aktuellen Mode, zu Musiktrends,<br />

zu ihren Lebensgewohnheiten und zu Intimitäten.<br />

Einige Mädchen machen sich einen Spaß<br />

daraus, dem selbsternannten Chefreporter möglichst<br />

dumm und boshaft zu antworten, andere wiederum<br />

geben ihm einen Korb. Ein paar aber beschweren sich<br />

beim Schulleiter, der ihn in die Direktion bestellt und<br />

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das journalistische Treiben am Schulhof fortan untersagt.<br />

Enttäuscht verlegt er seine pubertäre Neugier<br />

an der Damenwelt vom Schulhof ins Mädchenklosett,<br />

schiebt das kleine Mikrofon auf dem Boden unter<br />

der Trennwand Richtung Klomuschel und nimmt<br />

all jene Geräusche auf, die junge Mädchen auf einem<br />

WC von sich geben.<br />

Am Ende des Schuljahrs hat er die Klosettgeräusche<br />

von nicht weniger als drei Dutzend Mädchen<br />

aufgenommen, jede einzelne Kassette mit Datum,<br />

Name und intimen Besonderheiten beschriftet und<br />

alphabetisch geordnet in einer Holzkiste seines Zimmers<br />

verwahrt. Einen besonderen Leckerbissen, nämlich<br />

die Kassette mit den intimen Geräuschen vom<br />

Schulmädchen-Report-Filmstar Mariella Oberhuber<br />

beschriftet er freilich mit einem ganz dicken Rotstift.<br />

Was er von ihr aufnehmen hat können, ist fast unglaublich<br />

und geradezu sensationell! War sie doch<br />

nicht allein im WC, sondern mit Joachim, einem<br />

Mitschüler aus seiner Klasse. Beide geben animalische<br />

Laute von sich, die er eindeutig zuordnen kann.<br />

Wenn er nachts nicht einschlafen kann, nimmt er eine<br />

Kassette aus der Geheimtruhe, legt sie ein, drückt auf<br />

Play und hört sich die Geräusche an.<br />

Immer wieder von vorn.<br />

Spult retour.<br />

Play.<br />

Er versucht, den Geräuschen das jeweilige Mädchengesicht<br />

und dessen sinnlichen Körper zuzuordnen.<br />

Wie es die Toilette betritt, von innen absperrt,<br />

den Rock hebt, den Slip hinunterstreift, ein Liedchen<br />

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summt, an den Fingernägeln knabbert oder heimlich<br />

raucht, in einem BRAVO-Heft blättert, das Klopapier<br />

abreißt, spült. Er verirrt sich in sexuelle Fantasien, bis<br />

das Gerät automatisch stoppt.<br />

Er spult retour.<br />

Play.<br />

Bis er selig einschlummert.<br />

* * *<br />

Etwa zu dieser Zeit drehte der zehnjährige Matteo<br />

Steininger in Lederhose, kariertem Hemd, Wollsocken<br />

und Plastiksandalen die ersten wackeligen Runden<br />

auf dem Waffenrad des Großvaters. Beim mäßig<br />

erfolgreichen Schüler überwog der Hausarrest; also<br />

blieb ihm meist nur wenig Zeit für die vergnüglichen<br />

Dinge des Lebens. Und die musste er sich von der<br />

regulären Schulzeit abzwacken; er schwänzte oft den<br />

Unterricht, kurvte mit dem Drahtesel ziellos durch<br />

die Gegend und rauchte gelegentlich eine Großglockner-Zigarre,<br />

die der Kaminkehrer beim Betreten der<br />

Wohnhäuser löschte und auf die Postkästen legte.<br />

Ansonsten tat sich in diesem Schuljahr wenig.<br />

Pink Floyd war in aller Munde, bei den Olympischen<br />

Sommerspielen in München ereignete sich ein grausamer<br />

Terroranschlag, und Wacker Innsbruck wurde<br />

erstmals österreichischer Fußballmeister. Damals<br />

war Matteo allerdings eine gut geölte Fahrradkette<br />

wichtiger.<br />

22


Herbst 1998<br />

Seine Tonsammlung nimmt erstaunliche Ausmaße<br />

an. Mutti stirbt im Frühjahr an Krebs, Vati verlässt<br />

in seiner Hilflosigkeit der letzte Lebensmut; er folgt<br />

ihr kurze Zeit später ins Grab.<br />

Er steigt nun endgültig von seiner Dachkammer<br />

herab und gestaltet das geräumige Elternhaus nach<br />

seinen Bedürfnissen um. In den Zimmern, Kabinetten<br />

und Kellerräumen lagern Koffer, Kisten und Taschen,<br />

vollgepfropft mit 4.892 Kassetten mit je 90 Minuten<br />

Aufnahmezeit. Macht insgesamt 7.338 Stunden<br />

oder 305 Tage und 18 Stunden reine Spielzeit. Er<br />

richtet Stellagen ein, kauft Stapelboxen und beschriftet<br />

diese mit Jahreszahlen, Geräuscharten, Namen,<br />

Orten und Besonderheiten. Unter den letztgenannten<br />

finden sich kuriose Tonaufnahmen vom Knattern<br />

des Landsteiner Sessellifts, vom Schnupftabakkonsum<br />

des Altbürgermeisters, vom Zurechtrücken der<br />

Holzstühle vor der Musikprobe und vom Schlusspfiff<br />

des Schiedsrichters nach einem legendären Fußballmatch<br />

in der Saison 1981/82, das die Landsteiner<br />

Kicker gleich 11:0 gewannen – und damit in die Landesliga<br />

aufstiegen.<br />

Er legt sich ein einfaches Farbsystem zurecht. Die<br />

grün markierten Kassetten stehen für Naturgeräusche,<br />

die blauen für Geräusche der Technik, die roten<br />

für jene aus der Welt der Erotik. In das geerbte Haus<br />

kehrt endlich Ordnung ein.<br />

Kaum jemand in Landstein hegt irgendwelche<br />

Sympathien für den leidenschaftlichen Klangjäger,<br />

der Tag für Tag ruhelos in der Gegend umherstreift.<br />

23


Man nimmt ihn nicht sonderlich ernst, und sein eigenartiges<br />

Gehabe ist für seine Mitbewohner längst<br />

alltäglich geworden. Er ist ein Außenseiter, ein Belächelter,<br />

ein Sonderling. Eher wäre vielen Landsteinern<br />

aufgefallen, wenn er einmal ohne sein Aufnahmegerät<br />

herumgestreunt wäre, ohne seinen alten, guten<br />

Philips, den er von Vati zum 14. Geburtstag geschenkt<br />

bekommen hat.<br />

* * *<br />

Bildung ist in seinem Elternhaus ein hohes Gut<br />

gewesen; das wohlbehütete Einzelkind schließt das<br />

Gymnasium mit ausgezeichneter Reifeprüfung ab. Er<br />

studiert Literaturwissenschaften und absolviert das<br />

Studium in Rekordzeit. Als Herr Magister schlägt er<br />

aber lieber den gemächlichen Berufsweg als Beamter<br />

ein und bekleidet bald eine äußerst ruhige und<br />

bequeme Anstellung im Finanzamt, die ihm dem<br />

Vernehmen nach der Vater über einen Vetter dritten<br />

Grades beschafft haben soll.<br />

Die Natur hat ihn mit bescheidener Schönheit ausgestattet.<br />

Übermäßige Körperpflege ist ihm suspekt,<br />

und mit Friseuren hatte er schon immer seine Probleme.<br />

Ihm ist mehr als unangenehm, wenn ihm<br />

jemand körperlich zu nah kommt oder ihm gar die<br />

Haare krault.<br />

Er erinnert sich an jenen heißen Sommertag, als er<br />

nach seinem wöchentlichen Hurenbesuch erstmals<br />

eine Partie Schach im Innsbrucker Hofgarten gespielt<br />

hat. Ihm gefallen die großen Holzfiguren, das be-<br />

24


gehbare Spielfeld, die Schaulustigen, die Radfahrer<br />

und besonders die jungen Studentinnen in den kurzen<br />

Miniröcken und die vielen alten Leute mit Gehstöcken<br />

und Hunden, die fast täglich kommen, stundenlang<br />

auf den Parkbänken sitzen und die Schachspieler<br />

beobachten.<br />

Das leise Murmeln aus immer denselben Gesichtern,<br />

die Kommentare der Besserwisser, die oft nur<br />

ein paar Spielzüge studieren und dann flotte Sprüche<br />

klopfen, ohne das Spiel als Ganzes zu betrachten.<br />

Die Taktik, die oft komplizierte Konstellation der Figuren<br />

oder das kampfbereite Gehabe der Spieler, die<br />

wie kriegserfahrene Feldherren die besiegten Figuren<br />

machtvoll umstoßen. Diese Arena der Eitelkeiten unter<br />

den ausladenden, harzig duftenden Bäumen des<br />

Hofgartens und das ganze Drumherum geben ihm<br />

ein Gefühl von innerer Ruhe und Geborgenheit. Vor<br />

allem ist er froh, nie viel sagen zu müssen, nur stumm<br />

dazusitzen und auf sein Spiel zu warten.<br />

Als kleiner Bub hat er das Schachspiel von seinem<br />

Vater erlernt und wohl schon hunderte Partien zu<br />

Hause am Computer simuliert. So ist er dem Klientel,<br />

das sich tagtäglich im Hofgarten duelliert, ziemlich<br />

ebenbürtig. Er sitzt oft stundenlang auf den Bänken,<br />

sieht den selbsternannten Innsbrucker Schachgrößen<br />

zu, hört spöttische Lehrsprüche, beobachtet gefinkelte<br />

Züge, analysiert Fehler und tritt meist gegen jenen<br />

Lokalmatador an, der zuvor alle besiegt hat und deshalb<br />

wohl als unschlagbar gilt.<br />

Dem erteilt er jedes Mal eine Lehrstunde, spielt mit<br />

ihm Katz und Maus, schenkt ihm manchmal gönner-<br />

25


haft eine Figur und schlägt im nächsten Augenblick<br />

mit einem raffinierten Zug gnadenlos zu.<br />

So ergibt sich eines Abends die einzigartige Chance<br />

und Ehre, eine Partie gegen den pensionierten Regierungsrat<br />

Eduard Haugendorfer zu spielen, der von<br />

sich behauptet, Großmeister zu sein und 1971 in Leningrad<br />

gegen Anatoli Karpow gespielt zu haben.<br />

Haugendorfer spielt an jenem Nachmittag in Hochform,<br />

hat schon etliche Gegner besiegt und ist merklich<br />

amüsiert, als ihn ausgerechnet jener Zuseher<br />

zum Spiel auffordert, der eine Hornbrille trägt, dick<br />

wie ein Aschenbecher. Schwungvoll stellt der Regierungsrat<br />

seine Figuren auf, zeigt ganz und gar keine<br />

Zeichen von geistiger Ermüdung, mobilisiert seine<br />

Kräfte mit einem Apfel und einem Schluck stillen<br />

Mineralwasser und beginnt mit Weiß.<br />

Karpow hin, Karpow her. An diesem Tag führt er<br />

den Großmeister Eduard Haugendorfer regelrecht<br />

vor und macht ihn Zug für Zug zum Gespött der<br />

Kiebitze, die sich nach und nach um die Spielfläche<br />

versammeln. Denn niemand im Publikum kann sich<br />

erinnern, den Herrn Regierungsrat jemals als Verlierer<br />

erlebt zu haben.<br />

Als dieser sichtlich nervös wird, extrem zu schwitzen<br />

beginnt, einen hochroten Schädel bekommt und<br />

sich mit dem unausweichlichen Schachmatt bereits<br />

abgefunden hat, zieht eine Gruppe lärmender Jugendlicher<br />

durch den Hofgarten. Gleich dahinter<br />

eine junge Mutter mit keifendem Schoßhündchen<br />

und Zwillingen, die im Kinderwagen um die Wette<br />

plärren. Als zu guter Letzt der Hofgärtner in einem<br />

26


Ruderleibchen mit dem Rasenmäher um den Pavillon<br />

kurvt, ist es endgültig vorbei mit seiner inneren<br />

Ruhe. Er wirft die Nerven weg, noch ehe die spannende<br />

Schachpartie zu Ende ist.<br />

Vier verpatzte Spielzüge – die Dame, zwei Türme<br />

und ein Springer sind dahin, und der Großmeister<br />

Haugendorfer siegt. Vor Freude fährt ihm der mit<br />

den Fingern durchs Haar. Einfach so, als Zeichen des<br />

unerwarteten Sieges, vielleicht auch als Geste der Unbesiegbarkeit.<br />

Er aber zuckt aus, randaliert, schlägt<br />

wild um sich, beschimpft und attackiert den Regierungsrat,<br />

spielt mit den Schachfiguren Fußball und<br />

macht sich schreiend davon.<br />

Er setzt sich auf die Stufen des Landestheaters,<br />

beruhigt sich allmählich und denkt über den Aussetzer<br />

nach, der ihm soeben passiert ist. Abermals eine<br />

völlig unkontrollierte Aufregung aus heiterem Himmel<br />

und aus nichtigem Grund, die sich in den letzten<br />

Monaten gehäuft haben. Und immer öfter wiederkehren,<br />

in ihm ausbrechen wie ein Vulkan.<br />

* * *<br />

Die rothaarige Hure hat ihn heute ausgelacht. Ihn,<br />

den großen, hageren Mann, der mit der dicken Brille<br />

und Vaters alten Klamotten aussieht wie ein Relikt<br />

aus den Sechzigerjahren. Ihn, der sie für ihre Liebesdienste<br />

über Jahre hinweg immer gut bezahlt und oft<br />

Blumen oder Kuchen mitgebracht hat.<br />

Er hat sich nach dem missglückten Geschlechtsakt<br />

angezogen, ihr das übliche Geldkuvert, beschriftet<br />

27


mit Betrag und Datum, diskret auf das Nachtkästchen<br />

gelegt und ist wortlos durch die kühlen Gänge des<br />

Wohnblocks davongegangen. Als die Haustür hinter<br />

ihm ins Schloss fällt, hat er ihre Adresse und Telefonnummer<br />

ein für alle Mal aus seinem Gedächtnis<br />

gestrichen.<br />

* * *<br />

Nie ist ihm in den Sinn gekommen, auch nur<br />

eine einzige Kassette zu verkaufen. Er hütet seine<br />

Geräuschsammlung wie den eigenen Augapfel, betrachtet<br />

die Schöpfungen als seine Kinder, die ihm<br />

jene Befriedigung geben, die ihm im Leben verwehrt<br />

bleibt. Natürlich hat sich sein sonderbares Hobby<br />

herumgesprochen, und es gibt durchaus interessante<br />

Anfragen und lukrative Angebote. Einmal hat ihn ein<br />

Tontechniker des Österreichischen Rundfunks besucht<br />

und eine beträchtliche Summe für die einzigartige<br />

Sammlung geboten. Er hat lange mit ihm verhandelt,<br />

ihm zugehört, das finanziell interessante<br />

Angebot letztlich aber dankend abgelehnt. Vor allem<br />

empört ihn das mäßige Talent dieses Herrn, sodass er<br />

den Dilettanten schließlich erbost aus dem Haus jagt.<br />

Er hat bemerkt, wie wenig die Profis dieser Branche<br />

von den Klängen der Welt verstehen, erkennt in sich<br />

selbst immer mehr den wahren Meister, den Allwissenden,<br />

den Unerreichbaren.<br />

In diesen Jahren nimmt seine innere Unruhe zu.<br />

Immer öfter verbringt er den ganzen Tag in seinem<br />

Bett und macht sich erst nach Einbruch der Dunkel-<br />

28


heit auf die Suche nach weiteren unbekannten Geräuschen.<br />

Oft steht er stundenlang hinter Gebüschen, beobachtet<br />

junge Frauen oder Ehepaare in ihren Schlafzimmern,<br />

notiert deren Gewohnheiten, nützt offene<br />

Terrassentüren und gekippte Fenster und feilt an der<br />

Aufnahmetechnik. Er bastelt Teleskopstangen, mit<br />

denen er Mikrofone und Kabel diskret in die Schlafzimmer<br />

platziert. Es gelingen ihm erregende Aufnahmen.<br />

Die Kassetten mit den erotischen Schlafzimmergeräuschen<br />

symbolisiert er zusätzlich mit zwei<br />

goldenen Eheringen.<br />

Bald kennt er Eigenarten und Gewohnheiten einiger<br />

Landsteiner Ehepaare, spioniert sie gezielt<br />

aus, notiert ihre familiären Verhältnisse, Verwandtschaften,<br />

Freunde und Berufe, Hobbies, Einkaufsgewohnheiten,<br />

Autokennzeichen – und weiß bald auch<br />

über deren Mitgliedschaften bei Vereinen bestens Bescheid.<br />

Er legt genaueste Diagramme an und verknüpft<br />

die gewonnenen Erkenntnisse. Daraus schließt er,<br />

welchen Weg die Nachbarn an einem ganz gewöhnlichen<br />

Freitagabend gehen, und seine Theorien finden<br />

fast immer Bestätigung.<br />

Sein Nachbar Richard Hausegger trinkt beispielsweise<br />

nach Feierabend ein kühles Bier im Schankgarten<br />

des Dorfwirts, besorgt sich Zigaretten vom Automaten,<br />

isst zu Abend, geht mit seiner Klarinette<br />

unter dem Arm zur Musikprobe, genehmigt sich anschließend<br />

noch ein paar Bier und ein Gulasch und<br />

trifft gegen zwei Uhr nachts zu Hause ein.<br />

29


Richards Gattin Karoline kocht am späten Nachmittag,<br />

wartet auf ihren Ehemann, isst mit der Familie,<br />

fährt mit dem Zweitwagen zu einer Ausschusssitzung<br />

des Gemeinderats und kehrt ebenfalls erst<br />

kurz nach Mitternacht in die Wohnung zurück.<br />

Vergleicht er die Diagramme des Ehepaars Richard<br />

und Karoline Hausegger, ergibt sich eine Differenz<br />

von etwa zwei Stunden. Und genau für diese Zeitspanne<br />

interessiert er sich besonders.<br />

Er entdeckt durch Zufall, dass die ehrenwerte Karoline<br />

genau diese Zeit für außereheliche Abenteuer<br />

nützt und sich mit fremden Männern trifft. Einmal<br />

auf Parkplätzen, ein anderes Mal auf menschenleeren<br />

Firmengeländen oder in Tiefgaragen.<br />

So geraten fünf Ehepaare in sein Visier. Es macht<br />

ihm Spaß, deren intimste Geheimnisse zu lüften und<br />

zu dokumentieren, die wohl niemand für möglich<br />

halten würde. Da verkehrt die Frau des Tischlermeisters<br />

ebenso mit lockeren Moralzügeln wie die Gattin<br />

des Schuldirektors, Bankangestellten oder Vermögensberaters.<br />

Seine schriftlichen Aufzeichnungen zu<br />

den absonderlichen Aktivitäten der fünf Paare füllen<br />

bald etliche Ordner, die er als Ergänzung der Tonkassetten<br />

sorgsam in seinem Refugium aufbewahrt.<br />

Natürlich gelingen ihm Tonaufnahmen an heimlichen<br />

Treffpunkten viel seltener als in den ehelichen<br />

Schlafzimmern. Niemand der notorischen Fremdgeher<br />

will entdeckt werden, die Treffen finden stets an<br />

geheimen Orten statt, aber gerade dieser Umstand ist<br />

für ihn die großartigste Herausforderung, ein Kick<br />

der Sonderklasse.<br />

30


Ein einziges Auto mitten im Gelände, darin ein<br />

Paar im heftigsten Treiben, das trotzdem oder gerade<br />

deshalb die Sensoren ausgestreckt hat und selbst in<br />

der heftigsten sexuellen Anstrengung wie ein scheues<br />

Reh jede Störung von außen sofort wahrnimmt<br />

und beim kleinsten Laut halb bekleidet in Panik davonfährt.<br />

Durch das Studium ihrer Gewohnheiten weiß er<br />

meist schon im Voraus, wer sich mit wem, wann, wo<br />

und vor allem wozu trifft. Sein Wissen bietet ihm einen<br />

deutlichen Vorsprung, und mitunter liegt er mit<br />

seinen technischen Geräten schon Stunden vorher<br />

auf der Lauer, um das erotische Treiben von Beginn<br />

an lückenlos auf Tonband festzuhalten.<br />

Natürlich ist immer höchste Vorsicht geboten; in<br />

der extremen Stille darf einfach kein Fehler passieren.<br />

Schon als Kind hat er gelernt, technische Probleme<br />

rasch, leise und perfekt zu meistern. In der emotionalen<br />

Einsamkeit seines Kinderzimmers, zwischen<br />

klassischen Langspielplatten mit Werken von Bruckner,<br />

Grieg oder Chopin zerlegt er alte Röhrenradios<br />

in ihre Einzelteile, baut sie dann zusammen, bis jedes<br />

Schräubchen wieder seinen Platz gefunden hat. Er<br />

hat Talent dazu, er lernt, geduldig zu werden, stoppt<br />

die Zeit, die er benötigt, wird immer schneller und<br />

stellt Rekordzeiten auf.<br />

Einmal schleicht er sich als Jugendlicher vor einer<br />

Filmpremiere allein in den Vorführraum des Stadtkinos,<br />

stolpert in der Dunkelheit über ein Kabel und<br />

reißt den Filmapparat zu Boden. Er baut nach einer<br />

Schrecksekunde alle Teile in kürzester Zeit wieder<br />

31


zusammen, und es hätte wohl nie jemand etwas bemerkt,<br />

hätte er nicht irrtümlich die beiden Filmrollen<br />

verkehrt eingelegt.<br />

* * *<br />

In diesem Jahr 1998 verbuchte Inspektor Matteo<br />

Steininger, der als Spätberufener neben blutjungen<br />

Maturanten in der Gendarmerieschule saß und seine<br />

ersten Lehrjahre auf einem kleinen, ländlichen Posten<br />

verbrachte, seinen ersten großen Erfolg. Ausgerechnet<br />

an jenem Sommerabend, an dem die französische<br />

Fußballnationalmannschaft mit ihrem überragenden<br />

Spielmacher Zinédine Zidane gegen Brasilien Weltmeister<br />

wurde, klingelte während des spannenden<br />

Endspiels der Notruf.<br />

Alfred Ortner war am Telefon und zeigte an, dass<br />

er in seiner Wohnung verdächtige Geräusche gehört<br />

hatte, vermutlich das Klirren einer Fensterscheibe.<br />

Da das Wohnhaus des pensionierten Schuldirektors<br />

nicht weit vom Gendarmerieposten entfernt war,<br />

liefen die Beamten hin und sahen beim Eintreffen,<br />

wie ein Einbrecher aus dem offenen Fenster stieg. Im<br />

selben Moment fiel Steininger die Taschenlampe aus<br />

der Hand, der Verdächtige erschrak und lief ihnen<br />

wie ein Wiesel auf und davon.<br />

Über Stock und Stein kam es zu einer wilden Verfolgungsjagd,<br />

und Steininger musste gleich zwei hohe<br />

Gartenzäune überwinden, um dem Täter auf den<br />

Fersen zu bleiben. Obwohl beim zweiten Gatter Matteos<br />

Hosennaht riss, kam er dem Verfolgten näher<br />

32


und gab auf einem Roggenfeld, völlig außer Atem<br />

und mit seiner Kondition am Ende, ein paar Schüsse<br />

ab. Der Einbrecher schoss zwar zurück, ließ sich<br />

aber sogleich zu Boden fallen und ergab sich. Neben<br />

ihm lagen eine Schreckschusspistole und eine Ledertasche,<br />

in der verschiedene Einbruchswerkzeuge für<br />

alle möglichen Varianten versteckt waren.<br />

Wie sich später herausstellte, war der Einbrecher<br />

aidskrank; in seiner Wohnung lagerte Diebesgut, das<br />

einen ganzen VW-Bus füllte. Zwischen Schulwegsicherungen,<br />

Verkehrsdiensten, Planquadraten und Radarkontrollen<br />

brachte Matteo seinen ersten wirklich<br />

großen Fall zu Papier, der einige Ordner füllte.<br />

33


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