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Numero Berlin, Volume 2

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ALLES WIRD GUT<br />

La Boum ist für Generationen von Teenagern<br />

zum Kultfilm geworden. Das liegt vor allem<br />

an der Sensibilität, mit der er seine Figuren<br />

zeichnet. Die Geschichte der ersten Liebe der<br />

13-jährigen Vic im Paris der 80er-Jahre erzählt<br />

von dem Glauben, dass Liebe etwas Gutes ist.<br />

Wenn auch nur für kurze Zeit.<br />

Text<br />

Filmstills<br />

Vic trifft Mathieu: Eine der schönsten Filmszenen, die je gedreht wurden.<br />

Hendrik Lakeberg<br />

Paramount Home Entertainment via Amazon<br />

Das erste, was einem auffällt, wenn<br />

man La Boum nach vielen Jahren noch<br />

einmal schaut: Wieviel sich geändert hat.<br />

In La Boum gibt es noch kein Instagram,<br />

kein Facebook, kein iPhone, keine SMS<br />

und kein Internet – ja, noch nicht mal<br />

einen Computer. La Boum heute zu sehen,<br />

das ist ein wenig, als folge man dem<br />

weißen Kaninchen in Alice im Wunderland.<br />

Sobald der Vorspann läuft und die Kamera<br />

über die Dächer von Paris schwenkt,<br />

landet man in einer unschuldigen Zeit,<br />

in der die Digitalisierung noch nicht<br />

den Alltag im Griff hatte, genau so<br />

wenig wie der Finanzkapitalismus die<br />

Pariser Wohnungspreise. Man taucht<br />

ein in eine Welt der Festnetztelefone,<br />

die stundenlang besetzt sind und in der<br />

man nicht ständig erreichbar war. Das<br />

hatte – so zeigt der Film – eine Menge<br />

praktischer Vorteile, denn für eine<br />

gewisse Zeit, ein Wochenende oder eben<br />

eine Party lang – herrschte Ruhe, wenn<br />

man wollte. Da war der Moment, in dem<br />

man tatsächlich alles vergessen konnte,<br />

was um einen herum passierte.<br />

So zum Beispiel auf der ersten<br />

großen Party, auf die Vic, gespielt von<br />

Sophie Marceau, geht. Die will erst noch<br />

nicht so richtig losgehen. Vic langweilt<br />

sich, ruft ihre Eltern an und bittet sie,<br />

sie viel früher als geplant abzuholen.<br />

Während ihre Eltern aber vor der Tür im<br />

Auto warten und verzweifelt versuchen,<br />

per Telefonzelle in der Wohnung<br />

anzurufen, in der die Party stattfindet,<br />

trifft Vic doch den Typen, auf den sie<br />

gehofft hat. Den gutaussehenden<br />

Mathieu.<br />

Kurz darauf passiert eine der<br />

schönsten Filmszenen, die jemals gedreht<br />

wurden. Nachdem sie sich vorher nur kurz<br />

und im Vorbeigehen flüchtig begegnet<br />

sind, tritt Mathieu von hinten an Vic heran<br />

und legt ihr die Kopfhörer eines Walkman<br />

über die Ohren, der Richard Sanderson<br />

„Reality“ spielt, das Titelstück des Films,<br />

einer der größten Hits der 80er und bis<br />

in alle Ewigkeit der Song für Träumer und<br />

Frischverliebte. Vic dreht sich um und<br />

tanz Klammerblues (nennt man das heute<br />

noch so?) mit Mathieu. Die Scheinwerfer<br />

flackern in Rot, Grün und Blau, die<br />

Tanzfläche tobt. Vic legt die Arme um<br />

Mathieu, und beide fallen für die Zeit des<br />

Songs aus der einen in eine andere, neue,<br />

intime Welt, die nur ihnen beiden gehört.<br />

Es ist das Tolle an La Boum, dass<br />

sich Regisseur Claude Pinoteau und<br />

Drehbuchautorin Danièle Thompson<br />

nie in der Tragik der modernen Welt<br />

suhlen, also sich zum Beispiel darin zu<br />

ergehen, zu erzählen, wie schwierig es<br />

für bürgerlich lebende Großstädter ist,<br />

langfristig verbindliche Beziehungen<br />

aufrechtzuerhalten. Quasi im Handstreich<br />

wischen sie das Gesamtwerk von<br />

Michelangelo Antonioni beiseite und<br />

wenden eben jene Lebensumstände<br />

mit leichtfüßiger Eleganz ins Positive.<br />

Die Eltern von Vics Klassenkameraden<br />

sind nahezu alle geschieden oder leben<br />

getrennt, was die Kids aber für absolut<br />

normal halten. Vics Eltern betrügen<br />

sich, aber finden wieder zusammen. Und<br />

dann ist da Vics engste Vertraute im<br />

Film, die freiheitsliebende, alleinlebende<br />

Urgroßmutter Poupette, eine Harfenistin,<br />

die am liebsten nackt schläft und mit 90<br />

flirtet, als wäre sie Anfang 20.<br />

Die Sensibilität, mit der diese<br />

Charaktere und ihr Verhältnis zueinander<br />

gezeichnet werden, ist nie kitschig. La<br />

Boum ist in dieser Hinsicht ein absolut<br />

unzynisches, optimistisches Denkmal<br />

für das liberale französische Bürgertum<br />

nach 1968 – das völlig ohne Hysterie,<br />

Sentimentalität und ideologische<br />

Engstirnigkeit auskommt. Die Werte,<br />

die der Film vermittelt – dass man sich<br />

verzeihen kann, dass man im Leben nicht<br />

immer das Richtige tut, aber dass das<br />

auch OK ist und Konflikte sich durch<br />

einen toleranten, verständnisvollen<br />

Umgang lösen lassen –, die sind noch<br />

470 Vol. B, Kultur<br />

Alles wird gut<br />

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genau so aktuell wie damals. Man<br />

kann sogar sagen, dass La Boum dazu<br />

beigetragen hat, sie durchzusetzen.<br />

Deshalb wirkt der Film auch heute<br />

noch wie ein modernes Märchen, das<br />

zeitlos geworden ist. Egal, ob man<br />

den Begriff Klammerblues noch kennt<br />

oder nicht. Gerade die Abwesenheit<br />

der technologischen Gadgets macht<br />

erst möglich, dass man sich auf das<br />

Wesentliche konzentriert: Was Liebe<br />

bedeutet.<br />

Das gilt natürlich vor allem für<br />

Vic, perfekt verkörpert durch die<br />

Schauspielerin Sophie Marceau. Für sie<br />

beginnt in La Boum das seltsame Spiel,<br />

das man Liebe nennt. Anhand ihrer<br />

Beziehung zu Mathieu durchlebt sie zum<br />

ersten Mal all die Phasen, die man auch<br />

als Erwachsener immer wieder erlebt.<br />

Nur eben intensiver als später im Leben<br />

– vielleicht aber auch nicht. Sie will ihn,<br />

dann zeigt er ihr die kalte Schulter und<br />

sie tut so, als ob sie ihn nicht mehr will.<br />

Dann macht sie ihn in der Rollschuhdisco<br />

mit ihrem eigenen Vater eifersüchtig und<br />

am Ende, nachdem viele Tränen geflossen<br />

sind und Mathieu ihren Vater verprügelt<br />

hat, wird alles gut. Irgendwie zumindest.<br />

Denn eigentlich ist Mathieu<br />

natürlich nur der Anfang. Das zeigt die<br />

zweitschönste Szene in diesem Film. Vic<br />

sieht – diesmal auf ihrer eigenen Party –<br />

einen Typen durch die Tür kommen. Die<br />

Blicke treffen sich. Ohne miteinander<br />

zu reden gehen sie aufeinander zu<br />

und tanzen. Mathieu hat sie gerade<br />

davonziehen lassen. Während sie also<br />

dem neuen, etwas älterem Typ in den<br />

Armen liegt, friert das Bild auf ihrem<br />

Gesicht ein. Das schaut sehnsuchtsvoll<br />

nach oben. Jetzt aber nicht mehr<br />

unbedarft und unschuldig, sondern<br />

ungeduldig und hungrig. Für Vic ist die<br />

Liebe, das Begehren, die Sexualität – wie<br />

auch immer man das nennen will – in ihr<br />

Leben getreten. In der Welt von La Boum<br />

bedeutet das vor allem etwas Gutes, weil<br />

in ihr niemand tief fällt und sich alles<br />

zum Guten wendet. Und warum sollte es<br />

nicht im echten Leben genau so sein?<br />

Realistisch betrachtet: Manchmal, nicht<br />

oft, aber doch immer wieder erleben wir<br />

Momente, in denen Träume Wirklichkeit<br />

werden. Wenn man glücklich verliebt ist<br />

zum Beispiel. Und dass es das geben<br />

kann, und Generationen von Teenagern<br />

aus diesem Film immer wieder aufs Neue<br />

lernen können, dass Liebe für einen<br />

kurzen Moment glücklich machen kann<br />

und dass man die Schmerzen überlebt,<br />

wenn sie zerbricht, das ist die kaum zu<br />

überschätzende Leistung dieses Films.<br />

Das Grundvertrauen zu vermitteln, dass<br />

alles gut werden kann, auch wenn man<br />

nicht mehr daran glauben wollte.<br />

So zum Beispiel auf der ersten großen Party, auf die Vic, gespielt von Sophie<br />

Marceau, geht. Die will erst noch nicht so richtig losgehen. Vic langweilt<br />

sich, ruft ihre Eltern an und bittet sie, sie viel früher als geplant abzuholen.<br />

Während ihre Eltern aber vor der Tür im Auto warten und verzweifelt<br />

versuchen, per Telefonzelle in der Wohnung anzurufen, in der die Party<br />

stattfindet, trifft Vic doch den Typen, auf den sie gehofft hat.<br />

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Alles wird gut<br />

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