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Sampler / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 68 (3/2017)

dérive 68 ist ein Sampler, hat also keinen Schwerpunkt, sondern bietet eine Reihe unterschiedlicher urbaner Themen. Diese reichen von der Wohnraumversorgung und der aktuellen Situation am Wohnungsmarkt in Wien (Autor: Justin Kadi) und in Berlin (Andrej Holm) über die antiurbanistische Main-Street-Nostalgie in den USA des Donald Trump (Frank Eckardt), den immer beliebteren, aber nichts desto trotz falschen Vergleich von Städten mit Computern (Shannon Mattern), Wagenplätzen und informellen Siedlungen in Berlin (Niko Rollmann) bis zu – es ist Sommer! – einer kleinen Geschichte des Badens in der Donau bei Wien (Rafael Kopper). Darüberhinaus gibt es ein Interview mit dem Architekturkollektiv Assemble, ein Kunstinsert von Aldo Giannotti und nach einem Jahr Pause wieder eine neue Folge der Geschichte der Urbanität von Manfred Russo. https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-68

dérive 68 ist ein Sampler, hat also keinen Schwerpunkt, sondern bietet eine Reihe unterschiedlicher urbaner Themen. Diese reichen von der Wohnraumversorgung und der aktuellen Situation am Wohnungsmarkt in Wien (Autor: Justin Kadi) und in Berlin (Andrej Holm) über die antiurbanistische Main-Street-Nostalgie in den USA des Donald Trump (Frank Eckardt), den immer beliebteren, aber nichts desto trotz falschen Vergleich von Städten mit Computern (Shannon Mattern), Wagenplätzen und informellen Siedlungen in Berlin (Niko Rollmann) bis zu – es ist Sommer! – einer kleinen Geschichte des Badens in der Donau bei Wien (Rafael Kopper). Darüberhinaus gibt es ein Interview mit dem Architekturkollektiv Assemble, ein Kunstinsert von Aldo Giannotti und nach einem Jahr Pause wieder eine neue Folge der Geschichte der Urbanität von Manfred Russo. https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-68

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Juli — Sept <strong>2017</strong><br />

N o <strong>68</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtforschung</strong><br />

<strong>dérive</strong><br />

<strong>dérive</strong><br />

ISSN 1608-8131<br />

8 euro<br />

<strong>Sampler</strong><br />

MARSEILLE<br />

<strong>Sampler</strong><br />

Guy Debord<br />

Wohnen Berlin/Wien, Interview Assemble,<br />

Kunsthaus Graz<br />

Kleinstadtnostalgie/USA, Wagenplätze/Favelas,<br />

STREETART<br />

Stadt/Computer, Baden/Donau,<br />

CIT Collective & Gaswerk Leopoldau<br />

Produktion/Raum<br />

Krems/Lerchenfeld<br />

SECRETS & CRISES<br />

Marlene Hausegger<br />

Foucault/HETEROTOPIE<br />

<strong>dérive</strong>


Editorial<br />

In unserer 17-jährigen Tätigkeit sind wir – höchst unverdienterweise<br />

– nicht gerade mit Preisen überhäuft worden,<br />

was möglicherweise auch daran liegt, dass wir uns nie um Auszeichnungen<br />

beworben haben. Heute dürfen wir uns aber<br />

endlich selbst gratulieren: Wir haben nämlich einen Preis<br />

gewonnen und zwar <strong>für</strong> das urbanize!-Festival. Für diesen<br />

haben wir uns freilich auch nicht beworben, ihn aber trotzdem<br />

bekommen – nämlich den Kleinen Staatspreis <strong>für</strong> … nein<br />

falsch: den Förderungspreis der Stadt Wien <strong>für</strong> Architektur. Dieser<br />

Architekturpreis ging bisher ausschließlich an echte<br />

ArchitektInnen, aber wir fragen lieber nicht nach, sondern freuen<br />

uns über den Einzug eines erweiterten Architekturbegriffs,<br />

stellen schon mal den Champagner kalt und fühlen uns ein klein<br />

wenig wie das Architekturkollektiv Assemble, das 2015 den<br />

wichtigsten britischen Kunstpreis – den Turner-Preis – gewonnen<br />

hat und deren Werk gerade in einer Ausstellung im<br />

Architekturzentrum Wien zu sehen ist. Wir haben die Gelegenheit<br />

genutzt und mit Maria Lisogorskaya und Lewis Jones von<br />

Assemble ein Gespräch über ihre Arbeiten, Herangehensweisen<br />

und Ideen geführt, das ab S. 18 dieser Ausgabe zu lesen ist.<br />

Damit wären wir nach dieser höchst eleganten Überleitung<br />

bei der vorliegenden Ausgabe gelandet: Sie ist ein<br />

<strong>Sampler</strong>, hat also keinen Schwerpunkt, sondern bietet eine<br />

Reihe unterschiedlicher urbaner Themen. Diese reichen –<br />

abgesehen vom Assemble-Interview – von der Wohnraumversorgung<br />

und der aktuellen Situation am Wohnungsmarkt<br />

in Wien und in Berlin über die antiurbanistische Main-Street-<br />

Nostalgie in den USA des Donald Trump, den immer<br />

beliebteren, aber nichts desto trotz falschen Vergleich von<br />

Städten mit Computern, Wagenplätze und informelle Siedlungen<br />

in Berlin bis zu – es ist Sommer! – einer kleinen<br />

Geschichte des Badens in der Donau bei Wien.<br />

Sowohl die Wiener als auch die Berliner Bevölkerung<br />

ist in den letzten Jahren massiv gewachsen, die Nachfrage nach<br />

Wohnraum parallel dazu stark gestiegen. Andrej Holm <strong>für</strong><br />

Berlin und Justin Kadi <strong>für</strong> Wien kommentieren die aktuelle<br />

Lage in den boomenden Hauptstädten. Holm sieht in Berlin<br />

einen »Mix aus demographischen Veränderungen, veränderten<br />

Investitionsstrategien und einem Kahlschlag der sozialen<br />

Wohnungspolitik« da<strong>für</strong> verantwortlich, dass es »nicht nur<br />

zu drastischen Mietsteigerungen« gekommen ist, »sondern<br />

zu einer tatsächlichen Wohnungsnotlage mit einem Mangel an<br />

allem, was die Wohnungsversorgung einer Stadt braucht.«<br />

Für Wien diagnostiziert Justin Kadi eine steigende Wohnkostenbelastung<br />

und eine zunehmende Verdrängung in<br />

periphere Lagen. Eine der Ursachen sieht er in der Deregulierung<br />

des Mietrechts im Jahr 1994, die sich aktuell besonders<br />

stark auswirkt.<br />

Eine der Folgen der Wohnungsnot sind informelle<br />

Siedlungen. Niko Rollmann portraitiert die diesbezügliche<br />

Situation in Berlin. Diese ist einerseits von etablierten<br />

Orten – überwiegend Wagenplätzen – gekennzeichnet, die<br />

von den Behörden meist geduldet werden, und andererseits von<br />

wilden Lagern bzw. so genannten Spots, bei denen kein<br />

alternativer Lebensentwurf, sondern die nackte Not Grund <strong>für</strong><br />

die informellen Wohnverhältnisse sind.<br />

Frank Eckardt hat sich den US-amerikanischen Mythos<br />

der Main Street speziell unter den neuen politischen Verhältnissen<br />

angesehen. Trumps WählerInnen sind überproportional<br />

oft außerhalb der Großstädte zu finden und lassen sich von<br />

ihrem Hero gerne erzählen, wie schrecklich kriminell und chaotisch<br />

es in den Inner Cities zugeht. Mit verklärtem Blick<br />

sehnen sie sich ins Zeitalter der kleinstädtischen Main Street<br />

zurück, in dem angeblich noch alles gut war. Währenddessen<br />

blicken Konzerne wie Alphabet (formerly known as Google)<br />

nicht in die Vergangenheit, sondern in eine gewinnträchtige<br />

Zukunft, wenn sie nach Lösungen <strong>für</strong> die von ihnen diagnostizierten<br />

städtischen Probleme suchen. Wobei sie eigentlich<br />

gar nicht suchen, denn sie meinen zu wissen, dass mit ausreichend<br />

Daten die Verkehrsproblematik ebenso zu bewältigen<br />

wie eine effiziente Verwaltung zu garantieren und obendrauf<br />

noch das Gesundheits- und Wohnungswesen auf Vordermann<br />

zu bringen sei. Shannon Mattern weist in ihrem Beitrag <strong>für</strong><br />

diese Ausgabe nachdrücklich darauf hin, dass es ein Irrweg ist,<br />

die Stadt wie einen Computer zu denken, und zu meinen,<br />

mit automatisierter Informationsverarbeitung der urbanen<br />

Komplexität gerecht werden zu können.<br />

Passend zur aktuellen Hitzewelle mit über 30°C<br />

erzählt Rafael Kopper in seinem Beitrag die Geschichte des<br />

öffentlichen Badens in der Donau bei Wien und zeigt wie<br />

sie vom »mitunter gefährlichen Nutzgewässer zum beliebten<br />

Freizeitziel« wurde. Er schreibt über frühe Aneignungsprozesse<br />

der Bevölkerung, den entsprechenden Reaktionen<br />

der Politik und der Institutionalisierung der Bedürfnisse<br />

der WienerInnen.<br />

Quasi auf Auszeit hat sich auch Manfred Russo befunden,<br />

der nach einem guten Jahr Pause mit einer neuen Folge<br />

der Geschichte der Urbanität zurückkehrt und sich zum dritten<br />

Mal Henri Lefebvres Theorien zur Produktion des Raumes<br />

widmet. Das Kunstinsert stammt vom in Wien lebenden Künstler<br />

Aldo Giannotti, dessen wunderbare Zeichnung <strong>für</strong> <strong>dérive</strong><br />

sich um das Thema Demolition dreht.<br />

Und dann steht auch noch das bereits 8. urbanize!<br />

Festival vor der Tür: DEMOCRACitY – Demokratie und Stadt<br />

begibt sich von 6.10.–15.10.<strong>2017</strong> auf Erkundungsreise durch<br />

Theorie und Praxis einer umfassenden (Re-)Demokratisierung<br />

der urbanen Gesellschaft: Vom Versuch Stadt gemeinsam zu<br />

entwickeln und den von Barcelona ausgehenden Impulsen eines<br />

neuen Munizipalismus, über die Verteilung von Rechten und<br />

Möglichkeiten mittels Urban Citizenship- und Spatial Justice-<br />

Ansätzen, bis zu Chancen und Gefahren <strong>für</strong> die demokratische<br />

Aushandlung durch die Digitalisierung. Wie immer als volle<br />

10-Tages-Packung mit Vorträgen, Diskussionen, Filmen, Stadtspaziergängen,<br />

Workshops und Interventionen. Da hilft nur<br />

Kalender zücken und Zeit frei schaufeln: Programm-Details<br />

gibt es ab Mitte August <strong>2017</strong> auf www.urbanize.at.<br />

Einen schönen Sommer wünschen<br />

Elke Rauth und Christoph Laimer<br />

01


»Es ist wichtig,<br />

in unseren Städten<br />

Raum <strong>für</strong> vielfältige Methoden<br />

der Wissensproduktion zu schaffen.«<br />

Shannon Mattern, A City Is Not a Computer, <strong>dérive</strong> <strong>68</strong>, S. 44<br />

ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH*<br />

8 Ausgaben (2 Jahre) <strong>dérive</strong> um 48,–/<strong>68</strong>,– Euro (Österr./Europa)<br />

inkl. ein Exemplar von:<br />

Sarah Kumnig, Marit Rosol, Andrea*s Exner (Hg.)<br />

Umkämpftes Grün<br />

Zwischen neoliberaler Stadtentwicklung<br />

und Stadtgestaltung von unten<br />

Bielefeld: transcript, <strong>2017</strong><br />

2<strong>68</strong> Seiten, ca. 30 Euro<br />

Urbane Gärten sind aus vielen Städten nicht mehr wegzudenken.<br />

Gemeinschaftlicher Gemüseanbau wird dabei oft<br />

als rebellischer Akt der Stadtgestaltung von unten verstanden.<br />

Gleichzeitig taucht »urban gardening« immer häufiger<br />

in Stadtentwicklungsplänen und Werbebroschüren auf. Die<br />

AutorInnen des Bandes liefern eine kritische Analyse<br />

grüner urbaner Aktivitäten und ihrer umkämpften und<br />

widersprüchlichen Rolle in aktuellen Prozessen der Neoliberalisierung<br />

des Städtischen.<br />

*Solange der Vorrat reicht!<br />

Bestellungen an: bestellung@derive.at<br />

<strong>dérive</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtforschung</strong><br />

www.derive.at<br />

www.facebook.com/derivemagazin


Inhalt<br />

01<br />

Editorial<br />

CHRISTOPH LAIMER, ELKE RAUTH<br />

04 — 08<br />

TRUMP on Main Street<br />

FRANK ECKARDT<br />

09 — 13<br />

Wie das MIETRECHT die MIETEN<br />

treibt und was die POLITIK unternimmt<br />

Ein Kommentar zur Lage<br />

am Wiener Wohnungsmarkt<br />

JUSTIN KADI<br />

14 — 17<br />

Mehr LICHT als SCHATTEN<br />

Berliner Wohnungspolitik in Rot-Rot-Grün<br />

ANDREJ HOLM<br />

18 — 22<br />

LERNEN und VERSTEHEN<br />

Das Londoner Architekturkollektiv<br />

Assemble im Gespräch<br />

ANDRE KRAMMER, CHRISTOPH LAIMER<br />

23 — 27<br />

Wagenburgen, Hüttendörfer und SPOTS<br />

Informelle Siedlungen in Berlin<br />

NIKO ROLLMANN<br />

28 — 31<br />

WIEN im WASSER<br />

Kleine Geschichte vom Baden in der Donau<br />

RAFAEL KOPPER<br />

32 — 36<br />

Kunstinsert<br />

Aldo Giannotti<br />

demolition<br />

37 — 45<br />

A CITY is NOT a COMPUTER<br />

SHANNON MATTERN<br />

SERIE<br />

46 — 50<br />

Geschichte der Urbanität, Teil 52<br />

Henri Lefebvre, Teil 8. Die Produktion des Raumes 3<br />

Raum und Körper, Energetik und Spiegelung<br />

MANFRED RUSSO<br />

51 — 60<br />

BESPRECHUNGEN<br />

Der Schwedenplatz und die Raumbildung<br />

gesellschaftlicher Verhältnisse S.51<br />

Die schulische Vermittlung<br />

kritischen (Raum-)Denkens S.52<br />

Das gute Leben wagen S.53<br />

»Nein zur Verführung des Publikums« S.54<br />

Urbane Gärten als Schule<br />

demokratischer Konfliktkultur S.55<br />

Menschenwerkstatt S.56<br />

Probierpferd und Sodabrunnen S.58<br />

Ganz Wien S.59<br />

Journal der Bilder und Einbildungen S.60<br />

<strong>68</strong><br />

IMPRESSUM<br />

–<br />

<strong>dérive</strong> – Radio <strong>für</strong> <strong>Stadtforschung</strong><br />

Jeden 1. Dienstag im Monat von<br />

17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0<br />

oder als Webstream http://o94.at/live.<br />

Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235<br />

03


Frank Eckardt<br />

TRUMP<br />

on Main Street<br />

Kleinstadt, USA, Armut,<br />

Antiurbanismus, Deindustrialisierung,<br />

Idylle, Suburbanisierung, Trump<br />

Ouray/Colorado, 2013<br />

Foto: Alex Berger<br />

Die neue amerikanische Regierung hat vor allem Unterstützung außerhalb<br />

der Großstädte gefunden. Städte sind im Weltbild von Trump und seinen<br />

AnhängerInnen ein Ort von Problemen, Chaos und Gewalt. In konservativen<br />

Kreisen wird dagegen der amerikanische Mythos von der Main Street<br />

wieder belebt. Das wird die Bewohnerinnen und Bewohner der Großstädte<br />

weiter benachteiligen. Doch auch den KleinstädterInnen wird der Mythos<br />

nicht helfen.<br />

04<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>68</strong> — <strong>Sampler</strong>


Justin Kadi<br />

Wie das<br />

MIETRECHT<br />

die MIETEN<br />

treibt und was die<br />

POLITIK unternimmt<br />

Wohnkosten, Miete, Mietrecht, Gemeinnützigkeit,<br />

Immobilienmarkt, Wien<br />

Ein Kommentar zur Lage am Wiener Wohnungsmarkt<br />

Die Mieten in Wien steigen seit einigen Jahren rasant. Für Menschen<br />

mit niedrigen Einkommen – und zunehmend auch <strong>für</strong> DurchschnittsverdienerInnen<br />

– wird es immer schwieriger, leistbaren<br />

Wohnraum in der Stadt zu finden. Steigende Wohnkostenbelastung,<br />

Verdrängung in periphere Lagen bis hin zu Obdachlosigkeit<br />

sind die Folgen. Die Deregulierung des Mietrechts im Jahr 1994<br />

wirkt sich jetzt – in den Zeiten des Betongolds – auf die Höhe der<br />

Mieten besonders stark aus, ebenso wie die fehlenden Sanktionen<br />

bei mietrechtlichen Vergehen. Eine Reform des Mietrechts wird<br />

auf Bundesebene seit Jahren ergebnislos diskutiert, gleichzeitig<br />

droht der Wohnungsgemeinnützigkeit eine Aushöhlung.<br />

Der im Roten Wien erbaute<br />

Lassalle-Hof in Wien Leopoldstadt.<br />

Foto: <strong>dérive</strong>.<br />

Justin Kadi — Wie das MIETRECHT die MIETEN treibt und was die POLITIK unternimmt<br />

09


Andrej Holm<br />

Mehr LICHT<br />

als SCHATTEN<br />

Berliner Wohnungspolitik in Rot-Rot-Grün<br />

Berlin hat sich in den vergangenen zehn Jahren zur Hauptstadt der Wohnungskrise<br />

entwickelt. Der Mix aus demographischen Veränderungen, veränderten<br />

Investitionsstrategien und einem Kahlschlag der sozialen Wohnungspolitik<br />

hat nicht nur zu drastischen Mietsteigerungen geführt, sondern<br />

zu einer tatsächlichen Wohnungsnotlage mit einem Mangel an allem,<br />

was die Wohnungsversorgung einer Stadt braucht. Viele Berliner Initiativen<br />

kämpfen seit Jahren gegen diese Zustände, zahlreiche ihrer Vorschläge<br />

und Ideen haben nun Eingang in die Politik der aktuellen Berliner Koalitionsregierung<br />

gefunden.<br />

Die Wohnversorgung in Berlin hat sich von dem enormen Wohnungsüberhang<br />

Ende der 1990er Jahre (mit 108 Wohnungen<br />

je 100 Haushalte) in eine Mangelsituation verwandelt (95 Wohnungen<br />

je 100 Haushalte). Insgesamt fehlen schon jetzt mehr<br />

als 100.000 Wohnungen, um alle Haushalte zu versorgen. Noch<br />

größer ist das Defizit an leistbaren Wohnungen. Ausgehend<br />

von einer maximalen Mietbelastung von 30 Prozent des verfügbaren<br />

Haushaltsnettoeinkommens fehlen schon jetzt 150.000<br />

Wohnungen zu leistbaren Preisen <strong>für</strong> MieterInnen mit geringen<br />

Einkommen Durch das beschleunigte Auslaufen von Bindungen<br />

aus früheren Förderprogrammen fehlt es vor allem an<br />

mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnungen. 1 Angesichts<br />

der wachsenden Konkurrenz bei der Vermietung von Wohnungen<br />

greifen vielschichtige Diskriminierungsmechanismen<br />

bei der Wohnungsvergabe, sodass es eine wachsende Zahl an<br />

Gruppen gibt, die ohne Belegungsrechte 2 nahezu vollständig<br />

vom System der Wohnungsversorgung ausgeschlossen sind.<br />

Berlin braucht also dringend mehr Wohnungen, mehr leistbare<br />

Wohnungen und mehr Belegungsbindungen.<br />

Der kürzlich veröffentlichte Mietspiegel <strong>für</strong> Berlin weist<br />

erstmals eine durchschnittliche Bestandsmiete von über 6 Euro/m 2<br />

aus. Die Angebotsmieten – die fällig werden, wenn ein neuer<br />

Mietvertrag unterzeichnet wird, liegen im Durchschnitt bei fast<br />

10 Euro/m 2 . Die Wohnungssuche wir dadurch immer<br />

schwieriger, denn fast jeder Umzug (selbst in deutlich kleinere<br />

Wohnungen) ist mit einer höheren finanziellen Belastung<br />

verbunden. Die MieterInnen Berlins reagieren auf diese Entwicklung<br />

mit einem kollektiven Umzugsstreik. Die Zahl<br />

der Binnenumzüge hat sich zwischen 2007 (350.000 Umzüge<br />

innerhalb Berlins) und 2015 (275.000 Umzüge) trotz steigen<br />

der Bevölkerungszahlen deutlich verringert. Die zunehmende<br />

Spreizung zwischen Bestands- und Angebotsmieten stellt sich<br />

<strong>für</strong> die MieterInnen als Mobilitätsbremse und Zugangsbarriere<br />

dar. Aus der Sicht der VermieterInnen wiederum tut sich durch<br />

das Gefälle zwischen Bestands- und Neuvermietungsmiete<br />

eine wachsende Ertragslücke zwischen momentan realisierten<br />

und potenziell möglichen Mieterträgen auf. Selbst ohne zusätzliche<br />

Investitionen in die Wohnungen können in vielen<br />

1<br />

Im Februar 2003 beschloss<br />

der Berliner Senat »aufgrund<br />

der dramatischen<br />

Haushaltslage Berlins […]<br />

den Ausstieg aus der<br />

Anschlussförderung« von<br />

Wohnbauprogrammen (www.<br />

stadtentwicklung.berlin.de/<br />

wohnen/anschlussfoerderung/).<br />

Die 15jährige<br />

Anschlussförderung folgte<br />

auf die 15jährige Grundförderung.<br />

Viele Wohnungen aus<br />

Wohnbauprogrammen sind auch<br />

durch vorzeitige Rückzahlung<br />

der Landesdarlehen<br />

früher als ursprünglich<br />

gedacht aus der Bindung<br />

gefallen.<br />

2<br />

Mieter und Mieterinnen<br />

müssen ihren Anspruch auf<br />

eine mit öffentlichen<br />

Mitteln geförderte Wohnung<br />

durch einen Wohnberechtigungsschein<br />

nachweisen<br />

können. Die Voraussetzungen<br />

<strong>für</strong> den Erhalt beinhalten<br />

sowohl Einkommensgrenzen<br />

als auch eine Aufenthaltserlaubnis<br />

von mindestens<br />

einem Jahr.<br />

14<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>68</strong> — <strong>Sampler</strong>


Interview: Andre Krammer, Christoph Laimer<br />

LERNEN und<br />

VERSTEHEN<br />

Das Londoner Architekturkollektiv Assemble im Gespräch<br />

Eine Tankstelle, die ihren Betrieb eingestellt hatte, und die Idee daraus ein<br />

Kino zu machen, waren 2010 der Startpunkt <strong>für</strong> eine Gruppe von FreundInnen<br />

und Bekannten, die heute unter dem Namen Assemble bekannt sind,<br />

ein Architekturbüro zu gründen. Das Projekt hieß Cineroleum und fungierte<br />

<strong>für</strong> ganze sechs Wochen als Kino. Trotz der kurzen Dauer und des ephemeren<br />

Charakters ist Cineroleum bis heute ein prägendes Ereignis <strong>für</strong> die<br />

Mitglieder von Assemble geblieben, auf das sie immer wieder referieren.<br />

Assemble arbeitet nach dem Learning by doing-Prinzip. Die Lösung der<br />

Aufgabe wird in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Projekt – in<br />

Recherchen, Gesprächen und Experimenten – erarbeitet. Auf die Frage nach<br />

historischen Referenzen, nach Vorbildern und theoretischen Einflüssen antworten<br />

Assemble zurückhaltend, eher nebenbei wird erwähnt, dass es doch<br />

auch so etwas wie gesellschaftspolitische Prinzipien gibt, die ihrer Arbeit<br />

zugrunde liegen. Assembles Praxis ist auch insofern interessant, als dass das<br />

Kollektiv selbst ein organisatorisches Experiment ist. Alle Mitglieder des<br />

Teams, die großteils von Anbeginn dabei sind, sind gleichberechtigte Partner-<br />

Innen. Es gibt keine Hierarchien und keine fixen Aufgabenbereiche.<br />

Eines ihrer interessantesten und beispielgebenden Projekte ist Granby<br />

Four Streets, <strong>für</strong> das sie 2015 mit dem britischen Turner-Preis ausgezeichnet<br />

wurden, was ihren Bekanntheitsgrad schlagartig erhöhte. Granby Street<br />

war einst eine große ArbeiterInnensiedlung in Liverpool, die über die Jahrzehnte<br />

hinweg weitgehend zerstört wurde. Nur vier Straßenzüge sind<br />

übrig geblieben, <strong>für</strong> deren Erhalt die BewohnerInnen über zwei Jahrzehnte<br />

lang gekämpft haben. 2011 konnte die Siedlung in einen Community<br />

Land Trust (CLT) 1 eingebracht werden. Gemeinsam mit den BewohnerInnen<br />

entwickelte Assemble ein Sanierungskonzept.<br />

Derzeit läuft im Architekturzentrum Wien eine sehenswerte Ausstellung<br />

über die Arbeit von Assemble. Andre Krammer und Christoph Laimer<br />

haben die Gelegenheit genutzt und Maria Lisogorskaya und Lewis Jones von<br />

Assemble am Tag der Eröffnung <strong>für</strong> <strong>dérive</strong> zum Gespräch gebeten.<br />

Learning-by-Doing, DIY, Praxis, CLT,<br />

Organisationsmodelle, Nachhaltigkeit, Materialien<br />

1<br />

Ein CLT ist in der Regel<br />

eine private, gemeinnützige<br />

Gesellschaft, die Grundstücke<br />

mit der Absicht<br />

erwirbt, das Eigentum <strong>für</strong><br />

das Land langfristig zu<br />

halten. Der CLT sieht eine<br />

Nutzung des Landes durch<br />

langfristige Mietverträge<br />

vor. Die Pachtinhaber<br />

können ihre Häuser besitzen,<br />

es gelten jedoch Wiederverkaufsbeschränkungen.<br />

Das Eigentum am Land bleibt<br />

beim CLT, womit Spekulation<br />

unterbunden wird. Siehe<br />

dazu den Artikel Narratives<br />

of Urban Resistance. The<br />

Community Land Trust von Udi<br />

Engelsman, Mike Rowe und<br />

Alan Southern in <strong>dérive</strong> 65.<br />

18<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>68</strong> — <strong>Sampler</strong>


Niko Rollmann<br />

Wagenburgen,<br />

Hüttendörfer<br />

und SPOTS<br />

Informelle Siedlungen in Berlin<br />

Informelle Siedlungen, Berlin, Wagenplätze, Armut,<br />

Alternativszene, Protestcamps, Verdrängung<br />

Free Cuvry-Siedlung<br />

Foto: Niko Rollmann<br />

Seit den frühen 1980er Jahren gibt es in Berlin Wagenburgen. Wohnungsnot<br />

auf der einen und das Bedürfnis zusammen mit Gleichgesinnten<br />

alternative Lebensentwürfe umzusetzen auf der anderen Seite waren und<br />

sind die zentralen Gründe <strong>für</strong> ihre Gründung. Der Charakter der Wagenburgen<br />

und das Platzangebot, das in der Stadt <strong>für</strong> sie zur Verfügung steht,<br />

hat sich im Lauf der Jahre stark verändert. Unmittelbar nach dem Fall der<br />

Mauer gab es viel Platz und eine entsprechend starke Szene. 2012 dominierten<br />

die Protestcamps am Brandenburger Tor, am Oranienplatz und in der<br />

ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule die öffentliche Aufmerksamkeit. Im<br />

gleichen Jahr entstand am Spreeufer mitten im sogenannten MediaSpree-<br />

Gebiet die mittlerweile geräumte Cuvry-Siedlung. Heute lassen sich grob<br />

zwei Varianten informeller Siedlungen unterscheiden: Einerseits etablierte<br />

Orte, die von den Behörden meist geduldet werden und wilde Lager bzw. so<br />

genannte Spots, bei denen kein alternativer Lebensentwurf sondern die<br />

nackte Not Grund <strong>für</strong> diese Form des Wohnens ist.<br />

Niko Rollmann — Wagenburgen, Hüttendörfer, und SPOTS<br />

23


Rafael Kopper<br />

WIEN im<br />

WASSER<br />

Eine kleine Geschichte<br />

vom Baden in der Donau<br />

Obwohl die Donau bekanntlich an Wien vorbeifl ießt, statt durch Wien hindurch,<br />

ist die Geschichte der Stadt eng mit ihrem Hauptgewässer verbunden.<br />

Die Donau hat im Lauf der Zeit mehrere Phasen der Transformation<br />

erlebt, die sie vom mitunter gefährlichen Nutzgewässer zum beliebten Freizeitziel<br />

werden ließ. Die Geschichte des öffentlichen Badens erzählt<br />

auch von frühen Aneignungsprozessen der Bevölkerung und den Reaktionen<br />

der Politik.<br />

Wien, Donau, Baden, Freizeit,<br />

Sozialgeschichte, Stadtgeschichte<br />

Chalupna-Lacke 1930, oberhalb Floridsdorfer Brücke / Hubertusdamm<br />

(c) Wikipedia<br />

28<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>68</strong> — <strong>Sampler</strong>


Kunstinsert:<br />

Aldo Giannotti<br />

demolition<br />

Spätestens seit Ende 2016, als er mit dem Anerkennungspreis des STRABAG Artaward International<br />

ausgezeichnet wurde, ist Aldo Giannotti in Wien überaus präsent. Kurz davor wurde<br />

sein Projekt Buildings on Buildings am Yppenplatz in Wien Ottakring bei Kunst im Öffentlichen<br />

Raum Wien eröffnet. Bei Buildings on Buildings wurden in Wien an drei Orten reale Fassaden<br />

zum Untergrund seiner performativer Zeichnung: »Sein Anliegen ist es, eine Feedbackschleife<br />

zwischen dem Sujet der Zeichnung und dem Kontext zu erzeugen, in dem die Zeichnung eingebettet<br />

ist«, formuliert es Giorgio Palma in seinem Text zum Projekt.<br />

Aldo Giannotti legt in seinen Zeichnungen immer wieder soziogeographische Fragestellungen<br />

offen, die grundlegende Bezüge in der Architektur permanent hinterfragen. Kaum ein<br />

anderer Künstler bringt urbane und architektonische Fragestellungen mittels Zeichnung gegenwärtig<br />

so pointiert auf den Punkt. Obwohl Giannotti seinen Lebens- und Arbeitsschwerpunkt<br />

mittlerweile nach Wien verlegt hat, agiert er doch weitgehend international. Schon sein Studium<br />

führte den in Genua geborenen Künstler von der Accademia di Belle Arti di Carrara (I) über<br />

die Academy of fine arts in Wimbledon (GB) schließlich über München (Akademie der bildenden<br />

Künste) nach Wien.<br />

Ab 26. August ist Aldo Giannotti in Marseille bei Paréidolie, der International Contemporary<br />

Drawing Fair vertreten. In Wien können seine Arbeiten ab 29. Juni in der Ausstellung<br />

Counterpart #1: Aldo Giannotti & Peter Fritzenwallner im Extra Zimmer (kunstverein-extra.com)<br />

und von 26. August bis 28. September im Projektraum Viktor Bucher als Einzelausstellung<br />

gesehen werden. Letztere Ausstellung wird wie das Insert in <strong>dérive</strong> den Titel demolition tragen.<br />

Es gibt damit einen ersten Vorgeschmack auf diese Ausstellung.<br />

Auf der ersten Seite von Giannottis demolition üben sich Wreaking Balls in der Erwartung<br />

ein Bauwerke zu demolieren, was dann auf der folgenden Doppelseite durch gezielte<br />

Dekonstruktion (slow speed demolition) tatsächlich geschieht. Dekonstruktion versteht sich dabei<br />

nicht im Sinne des Dekonstruktivismus der 1980er Jahre, sondern vielmehr als konzeptionelles<br />

Verschwindens, das in The Magic und Denied Architecture fortgeführt wird. Die letzte Seite lädt<br />

zu Do-it-Yourself ein – also bitte Schere und Klebstoff organisieren.<br />

Barbara Holub/Paul Rajakovics<br />

32<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>68</strong> — <strong>Sampler</strong>


Shannon Mattern<br />

A CITY is<br />

NOT a COMPUTER<br />

Das Kontrollzentrum <strong>für</strong> die Stadtbeleuchtung von Seattle, 19<strong>68</strong>.<br />

Credit: Seattle Municipal Archives.<br />

Daten, Information, Wissen, urbane<br />

Intelligenz, Informationsverarbeitung, Smart City,<br />

Archiv, Bibliothek, Internet, Google<br />

Es scheint eine offensichtliche Tatsache, trotzdem müssen wir es laut und<br />

deutlich aussprechen: Urbane Intelligenz ist mehr als die Verarbeitung<br />

von Informationen.<br />

Unternehmen im Smart-City-Business wollen uns weismachen, dass dem<br />

Wohl und Glück unserer Städte nichts im Wege steht, gibt es nur genug auszuwertende<br />

Daten, um die urbanen Systeme zu optimieren. Google/Alphabet<br />

will das derzeit am Beispiel des Stadtverkehrs zeigen. Shannon Mattern<br />

weist darauf hin, dass Google in den USA urbane Infrastrukturen aufbaut,<br />

die das Rückgrat <strong>für</strong> die Totalübernahme des städtischen Verkehrs werden<br />

sollen. Der vorliegende Artikel nimmt diese Recherche als Ausgangspunkt<br />

und zeigt, dass in der Stadt immer schon Informationen gesammelt und<br />

gespeichert wurden. Gleichzeitig ist das Ökosystem der Städte weitaus komplexer<br />

und beruht nicht alleine auf Informationsverarbeitung. Shannon<br />

Matterns Beitrag ist sowohl eine Anklage gegen die postpolitische Rede<br />

von der Stadt als Computer als auch eine Aufforderung, die Stadt in all<br />

ihrer Vielfältigkeit wahrzunehmen und Daten nicht als objektive Tatsachen<br />

zu akzeptieren.<br />

Shannon Mattern — A CITY is NOT a COMPUTER<br />

37


Geschichte der URBANITÄT, Teil 52<br />

Henri Lefebvre<br />

Teil 8<br />

Die PRODUKTION des<br />

Raumes III: Raum und Körper,<br />

Energetik und Spiegelung<br />

Widerspiegelungstheorie, Energetik Körper,<br />

Raumtheorie, Differenz, Georges Bataille, Friedrich Nietzsche,<br />

apollinisch-dionysischer Kompromiss<br />

Seria<br />

Wir wissen, dass im Zentrum von Lefebvres Philosophie des<br />

Raumes der Körper steht und damit die Philosophie Nietzsches<br />

mit dem Willen zum Leib, die auf der Erkenntnis Schopenhauers<br />

beruht, dass das Leiden den Grundzug des Lebens bildet.<br />

Drücken wir es durch einige Nietzsche-Zitate des Zarathustra<br />

aus, die Lefebvre zwar nicht verwendet, die aber dem Sinn und<br />

der Tendenz seiner Gedanken zugrunde liegen dürften, wenn<br />

es von den Hinterweltlern tönt: »Glaubt es mir Brüder! Der<br />

Leib war’s, der an der Erde verzweifelte, – der hörte den Bauch<br />

des Seins zu sich reden.« (Nietzsche 1980, S. 36) Der Leib<br />

ist das Diesseitige, das Wirkliche, der aber erst verwirklicht<br />

werden muss, denn der aktuelle Körper ist ein krankhaftes<br />

Ding. Der gesunde Leib wird im Gegenzug zu den Vernunftvorstellungen<br />

der Metaphysik als das noch nicht verwirklichte<br />

Wesen des eigentlichen Menschseins gefordert. »Leib bin ich<br />

ganz und gar, und Nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort<br />

<strong>für</strong> ein Etwas am Leibe. Der Leib ist die große Vernunft, eine<br />

Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine<br />

Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine<br />

kleine Vernunft, mein Bruder, die du ›Geist‹ nennst, ein kleines<br />

Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft.« (a.a.O., S. 39)<br />

Lefebvre möchte aber diese Philosophie des Leibes noch<br />

komplexer fassen, indem er zunächst seine Raumtheorie<br />

darauf aufbaut und eine Synthese zwischen Naturwissenschaft<br />

und Philosophie herstellen möchte, die eine plausible Grundlage<br />

bieten kann, um die Unterdrückung der leiblichen Impulse<br />

besser zu kritisieren, und die in sein materialistisch-marxistisches<br />

Konzept integriert werden kann.<br />

Zunächst fragt Lefebvre, ob nicht der Körper mit seiner<br />

Kapazität zum Handeln und seinen zahlreichen Energien<br />

Raum erschaffen kann? Es gibt seiner Meinung nach immer<br />

schon eine unmittelbare Verbindung zwischen Raum und<br />

Körper, einerseits der Kräfteverteilung des Körpers im Raum<br />

und andrerseits der Besetzung des Raumes durch den Körper.<br />

Aufgrund der naturwissenschaftlichen Arbeiten von Hermann<br />

Weyl (1955) kann Lefebvre den Schluss ziehen, dass es Erhaltungskräfte<br />

in der Physik gibt, die von räumlichen Energien des<br />

Quantenfeldes gespeist werden und zur Bildung von sich selbst<br />

erhaltenden Körpern führen. Die Bewegung dieser Körper,<br />

die zu ihrer Existenz geführt hat und ihnen mitgegeben worden<br />

ist, führt aber nicht nur zur Selbsterhaltung der Körper,<br />

sondern auch zur Bildung des Raumes. Diese elementaren<br />

Kräfte des Quantenfeldes sind älter und stärker als die Objekte<br />

und bilden deren energetische Grundlage, ermöglichen erst die<br />

Objektbildung und deren Haltbarkeit.<br />

Ein weiterer Schlüsselbegriff bei Lefebvre ist die<br />

Energie. In vager Anlehnung an Weyl versucht er eine Art von<br />

Welttheorie zu skizzieren, der zufolge die Umsetzung des<br />

Energieinputs mittels Symmetrie und Spiegelung als Prinzip<br />

der Raumbildung konzipiert wird. Er versucht die materiell-physikalischen<br />

Bedingungen mit dem Bewusstsein der Menschen<br />

in Einklang zu bringen und völlig unterschiedliche<br />

Wissenschaftskonzepte zu konvergieren. Die Symmetrie stellt<br />

sich damit nicht nur als ein Begriff einer geometrischen und<br />

räumlichen Situation dar, sondern steht im Sinne Weyls in<br />

Zusammenhang mit einer bestimmten biophysikalischen Konstellation<br />

des Körpers, die Voraussetzung des Zellwachstums<br />

und damit jeden organischen Wachstums ist. Damit scheint<br />

ein Erhaltungsprinzip, das Raum und Körper zusammenhält,<br />

gegeben zu sein, das weit über die biochemische Anlage des<br />

Körpers hinausgeht. Allerdings ist damit zunächst nur das<br />

Kraftprinzip, nicht aber die Frage nach dem Sinn im Körper<br />

46<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>68</strong> — <strong>Sampler</strong>


Besprechungen<br />

Der Schwedenplatz<br />

und die Raumbildung<br />

gesellschaftlicher<br />

Verhältnisse<br />

Christoph Laimer<br />

Wien ist aus städtebaulicher Perspektive<br />

nicht gerade <strong>für</strong> seine Plätze berühmt.<br />

Der Karlsplatz ist bekanntlich eher eine<br />

Gegend als ein Platz, so urteilte angeblich<br />

zumindest Otto Wagner. Den Rathausplatz<br />

bekommt man als solchen kaum einmal in<br />

den Blick, weil darauf mehr oder weniger<br />

ganzjährig irgendwelche Events stattfi n-<br />

den. Der Reumannplatz fällt auch eher in<br />

die Kategorie Gegend. Der Yppenplatz<br />

hätte räumlich zwar das Potenzial zur<br />

Piazza, ist aber mittlerweile ein einziger<br />

Gastgarten. Der Praterstern ist eine Verkehrshölle,<br />

was ein Drama ist, denn der<br />

Platz hätte ungeheures Potenzial <strong>für</strong> einen<br />

fantastischen Ort.<br />

Ein weiteres Drama ist die mediale<br />

Berichterstattung über die Wiener Plätze:<br />

Sowohl der Karlsplatz und der Praterstern<br />

als auch der Schwedenplatz werden oder<br />

wurden teils jahrelang als gefährliche Orte<br />

gebrandmarkt, weil sich dort Menschen<br />

aufhalten, die den herrschenden Vorstellungen<br />

wie man auszusehen hat, sich<br />

zu benehmen hat, was man zu konsumieren<br />

hat und wie man seine Freizeit zu<br />

verbringen hat, nicht entsprechen. Die<br />

medial erzeugten Bilder verfestigen sich<br />

vor allem bei den Menschen, die die Plätze<br />

gar nicht kennen oder nutzen und haben<br />

immer wieder zu baulichen oder sicherheitspolitischen<br />

Maßnahmen geführt, die<br />

die Verdrängung unerwünschter Bevölkerungsgruppen<br />

zur Folge hatten.<br />

Der Schwedenplatz, dem die vorliegende<br />

Publikation gewidmet ist, ist insoferne<br />

<strong>für</strong> Wien typisch, als auch er nicht<br />

der Vorstellung eines Platzes entspricht, hat<br />

man einen klassischen italienischen Platz<br />

als Vorbild vor Augen. Auch er wurde jahrelang<br />

als Angstraum beschrieben, was<br />

sich irgendwann tatsächlich in den Köpfen<br />

festgesetzt hat, obwohl er diesbezüglich in<br />

der jüngeren Vergangenheit sein Topranking<br />

an den Praterstern abgeben musste.<br />

Den Schwedenplatz überhaupt als<br />

Platz wahrzunehmen, ist schon schwierig.<br />

Die Grenze zum Morzinplatz ist räumlich<br />

nicht wahrzunehmen und der angrenzende<br />

Franz-Josefs-Kai entspricht nicht<br />

dem klassischen Abschluss eines Platzes –<br />

vielmehr war der Schwedenplatz<br />

ursprünglich nicht mehr als eine Erweiterung<br />

des Kais. Die langgezogene Form des<br />

Schwedenplatzes ebenso wie die vielen<br />

Kioske, U-Bahn- sowie Parkgaragenaufund<br />

abgänge, Entlüftungsschächte, der<br />

Busparkplatz und die Straßenbahnhaltestellen<br />

verhindern das Raumgefühl, das ein<br />

klassischer Platz vermittelt. Seine heutige<br />

Form erhielt der Schwedenplatz erst in der<br />

Nachkriegszeit durch den Abriss einiger<br />

Häuser, die im Zweiten Weltkrieg stark<br />

beschädigt worden waren.<br />

Wenn der Schwedenplatz nicht durch<br />

seine städtebauliche Form punkten kann,<br />

so tut er das ganz sicher als lebendiger<br />

urbaner Ort. Kaum ein anderer Wiener<br />

Platz ist rund um die Uhr so bevölkert wie<br />

der Schwedenplatz. Das hat einerseits mit<br />

den beiden U-Bahn- und mehreren<br />

Straßenbahnlinien zu tun, die hier ihre<br />

Stationen bzw. Haltestellen haben,<br />

andererseits aber vor allem auch mit dem<br />

Umstand, dass in der Umgebung ein<br />

intensives Nachtleben herrscht und der<br />

Besprechungen<br />

Schwedenplatz die NachtschwärmerInnen<br />

24/7 mit Fastfood und Getränken<br />

versorgt. Nicht zufällig war er ursprünglich<br />

auch Abfahrtsort aller Wiener<br />

Nachtbuslinien.<br />

Rudi Gradnitzer hat sich <strong>für</strong> seine sozialräumliche<br />

Studie über den Schwedenplatz<br />

nicht eine Betrachtung des kompletten<br />

Platzes vorgenommen, sondern<br />

einzelne prototypische Aspekte ausgewählt.<br />

Das sind einerseits Gebäude: der<br />

Gemeindebau Georg-Emmerling-Hof,<br />

das Hotel Capricorn, der Raiffeisen-Tower<br />

und andererseits die Wiener Verkehrsbetriebe<br />

und die visuelle Kommunikation<br />

am Schwedenplatz und am angrenzenden<br />

Donaukanal.<br />

In seiner Studie geht es dem Autor »um<br />

die Dechiffrierung von architektonisch<br />

gestützten Machtstrukturen und historischen<br />

Prägungen am Beispiel des Schwedenplatzes.<br />

[…] In diesem Sinne ist die<br />

Untersuchung als kritischer Beitrag zum<br />

besseren Verständnis des Bestehenden zu<br />

lesen«, und weiter sich auf Adorno berufend,<br />

»mit dem ausdrücklichen Ziel seiner<br />

Beseitigung«. Zu diesem Zwecke bedient<br />

sich Gradnitzer bei Henri Lefebvre, der in<br />

seinen Schriften zu Stadt und Raum immer<br />

hervorhob, dass Raum nicht einfach existiert,<br />

sondern dass er produziert wird.<br />

Lefebvres Modell der Triade folgend,<br />

untersucht Gradnitzer jeweils den konzipierten,<br />

den materiellen und den gelebten<br />

Raum, was sich als sehr fruchtbarer Ansatz<br />

erweist. Neben diesem zwar in der Theorie<br />

in <strong>Stadtforschung</strong>skreisen mittlerweile weithin<br />

bekannten, aber praktisch eher selten<br />

angewandten Modell, ist die Breite der <strong>für</strong><br />

die Studie verwendeten Literatur als<br />

besonders bemerkenswert hervorzuheben.<br />

Sie umfasst architekturhistorische ebenso<br />

wie zeitgeschichtliche, gesellschaftspolitische<br />

wie stadttheoretische, philosophische<br />

wie biographische Werke. Das führt beispielsweise<br />

dazu, dass im Kapitel über den<br />

im Roten Wien errichteten Georg-Emmerling-Hof<br />

nicht nur das Rote Wien und die<br />

österreichische Architekturgeschichte<br />

Thema sind, sondern – die Ansätze vergleichend<br />

– ebenso über die parallelen<br />

Entwicklungen in der Sowjetunion zu lesen<br />

ist. Superblock, Gartenstadt, Wohnhaus-Kommune<br />

und die Revolutionierung<br />

des Alltagslebens kommen ebenso vor wie<br />

der Umstand Erwähnung fi ndet, dass das<br />

Parteilokal der SPÖ in den 1990ern<br />

51


DEMOCRACitY<br />

Demokratie und Stadt<br />

6.—15. Oktober <strong>2017</strong>, Wien<br />

www.urbanize.at


ane Intelligenz<br />

ehr als die<br />

rbeitung von<br />

rmationen.«<br />

ttern — A City Is Not a Computer, S. 38<br />

<strong>dérive</strong> – <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtforschung</strong> N o <strong>68</strong> <strong>Sampler</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtforschung</strong><br />

Juli — Sept <strong>2017</strong><br />

N o <strong>68</strong><br />

<strong>dérive</strong><br />

Informationsverarbeitung, Smart City,<br />

, Baden, Main Street, Antiurbanismus, Trump, Mietrecht,<br />

iegenschaftspolitik, Verdrängung, Learning-by-Doing,<br />

melle Siedlungen, Widerspiegelungstheorie, Körper, Energetik<br />

Juli — Sept <strong>2017</strong><br />

<strong>dérive</strong><br />

<strong>Sampler</strong><br />

MARSEILLE<br />

<strong>Sampler</strong><br />

Guy Debord<br />

Wohnen Berlin/Wien, Interview Assemble,<br />

Kunsthaus Graz<br />

Kleinstadtnostalgie/USA, Wagenplätze/Favelas,<br />

STREETART<br />

Stadt/Computer, Baden/Donau,<br />

CIT Collective & Gaswerk Leopoldau<br />

Produktion/Raum<br />

Krems/Lerchenfeld<br />

SECRETS & CRISES<br />

Marlene Hausegger<br />

Foucault/HETEROTOPIE<br />

ISSN 1608-8131<br />

8 euro<br />

<strong>dérive</strong><br />

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<strong>Heft</strong> <strong>68</strong><br />

Juli – September <strong>2017</strong><br />

72 Seiten, 8 Euro


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<strong>dérive</strong> – <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtforschung</strong><br />

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<strong>dérive</strong> – Verein <strong>für</strong> <strong>Stadtforschung</strong><br />

Mayergasse 5/12, 1020 Wien<br />

Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth<br />

ISSN 1608-8131<br />

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Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung<br />

von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den<br />

Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden<br />

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inter- und transdisziplinäre Ansätze finden.<br />

Grundlegende Richtung:<br />

<strong>dérive</strong> – <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtforschung</strong> versteht sich als<br />

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Wir danken <strong>für</strong> die Unterstützung:<br />

Bundeskanzleramt – Kunstsektion,<br />

MA 7 – Wissenschafts- und Forschungsförderung.<br />

Chefredaktion: Christoph Laimer<br />

Redaktion / Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas Fogarasi,<br />

Barbara Holub, Lennart Horst, Michael Klein,<br />

Andre Krammer, Silvester Kreil, Axel Laimer, Iris Meder,<br />

Erik Meinharter, Sabina Prudic-Hartl, Paul Rajakovics,<br />

Elke Rauth, Manfred Russo.<br />

AutorInnen, InterviewpartnerInnen und KünstlerInnen dieser<br />

Ausgabe: Thomas Ballhausen, Frank Eckardt, Aldo Giannotti,<br />

Ernst Gruber, Andrej Holm, Barbara Holub, Lewis Jones, Justin<br />

Kadi, Rafael Kopper, Silvester Kreil, Christoph Laimer, Antje<br />

Lehn, Maria Lisogorskaya, Shannon Mattern, Iris Meder, Peter<br />

Payer, Ursula Maria Probst, Paul Rajakovic, Elke Rauth, Niko<br />

Rollmann, Manfred Russo.<br />

Mitgliedschaften, Netzwerke:<br />

Eurozine – Verein zur Vernetzung von Kulturmedien,<br />

IG Kultur, INURA – International Network for Urban<br />

Research and Action, Recht auf Stadt – Wien.<br />

Die Veröffentlichung von Artikeln aus <strong>dérive</strong> ist nur mit<br />

Genehmigung des Herausgebers gestattet.<br />

<strong>68</strong><br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>68</strong> — <strong>Sampler</strong>


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