pflegeinformatik - Pflege-PBS.ch
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PFLEGEINFORMATIK<br />
Maria Müller Staub: <strong>Pflege</strong>klassifikationen im Verglei<strong>ch</strong><br />
Die Gefahr eines Verlustes von individueller Pfl ege dur<strong>ch</strong> eine standardisierte Fa<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>e<br />
wurde mehrfa<strong>ch</strong> diskutiert. Das Defi nieren, Klassifi zieren und Standardisieren von Pfl egediagnosen<br />
löst Widerstand aus. Neben der Kritik am Prozess und Produkt des Defi nierens und<br />
Klassifi zierens wird au<strong>ch</strong> die grundsätzli<strong>ch</strong>e Frage gestellt, ob dem Pfl egeberuf damit wirkli<strong>ch</strong><br />
gedient ist. Unzufriedenheit äußert si<strong>ch</strong> in der Kritik, dass die persönli<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te eines<br />
Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t mehr zähle, das standardisierte Denken, so wird geäußert, entpersonalisiere<br />
die Pfl ege (van der Bruggen, 2002). Patientinnen sollen dur<strong>ch</strong> Pfl egediagnosen ni<strong>ch</strong>t<br />
„s<strong>ch</strong>ematisiert“ werden.<br />
Wenn die Titel der Pfl egediagnosen den Patientinnen vors<strong>ch</strong>nell oder fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> unbegründet<br />
zugeordnet werden, besteht die Gefahr einer Etikettierung (Kean, 1999; Kesselring, 1999).<br />
Kesselring ordnet Klassifi kationssysteme im Sinne Max S<strong>ch</strong>elers (1874-1924) dem Beherrs<strong>ch</strong>ungswissen<br />
zu, wel<strong>ch</strong>es si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> auszei<strong>ch</strong>net, Phänomene oder Sa<strong>ch</strong>verhalte zu<br />
erklären, Zusammenhänge aufzuzeigen, Abläufe vorauszusagen und Interventionen zur Veränderung<br />
sol<strong>ch</strong>er Abläufe vorzugeben. Sie stellt die Frage, wie die Wissensnomenklatur der<br />
Pfl egediagnosen Pfl egenden helfen soll, klinis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungen zu treffen, wenn sol<strong>ch</strong>es<br />
Wissen der Beherrs<strong>ch</strong>ung diagnostis<strong>ch</strong>er Defi zite dient, die Spra<strong>ch</strong>e te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong> verkürzt und<br />
das Pfl egeverständnis normativ, das heißt in der Situation sinnentleert ist. Sie betont, dass<br />
der Gebrau<strong>ch</strong> von Pfl egediagnosen Situationen verdunkeln und die Wahrnehmungs- und<br />
Einfühlungsarbeit von Pfl egenden abstumpfen kann. Der Interpretationsraum für Vieldeutigkeiten,<br />
Ambivalenzen und ni<strong>ch</strong>t kausale Zusammenhänge mit Krankheitsfolgen werde<br />
einges<strong>ch</strong>ränkt. Klinis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungen jedo<strong>ch</strong>, die den Patientinnen zugute kämen, entstammten<br />
aus einer sehr genauen Interpretation von situationsspezifi s<strong>ch</strong>en Vieldeutigkeiten<br />
und Ambivalenzen (Kesselring, 1999). Powers untersu<strong>ch</strong>te in einer Diskursanalyse Fragen der<br />
Ma<strong>ch</strong>t und der Abgrenzung, wel<strong>ch</strong>e dur<strong>ch</strong> eine einheitli<strong>ch</strong>e Fa<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>e, die Eigenständigkeit<br />
der Pfl ege als Profession und dur<strong>ch</strong> die Bildung der Taxonomie I (NANDA) ausgedrückt<br />
werden.<br />
Die Ma<strong>ch</strong>t der Situationsdefi nition liegt bei denen, wel<strong>ch</strong>e diagnostizieren. Je mehr Diagnose<br />
und gelebte Realität auseinanderklaffen, desto größer wird das Ma<strong>ch</strong>tgefälle zwis<strong>ch</strong>en der diagnostizierenden<br />
Pfl egenden und der Patientin, bei der ein – oft vermeintli<strong>ch</strong>es – Defi zit aufgedeckt<br />
und von der erwartet werde, dass sie si<strong>ch</strong> einer Behandlung unterziehe (Kesselring,<br />
1999; Powers, 2000). Leininger äußerte Bedenken bezügli<strong>ch</strong> der individuellen Angepasstheit,<br />
der kulturellen Sensibilität und Übertragbarkeit der Pfl egediagnosen (Leininger, 1990). In<br />
der NANDA wurde diese Kritik aufgenommen und berücksi<strong>ch</strong>tigt. Die an der Entwicklung<br />
beteiligten Pfl egetheoretikerinnen J. Fitzpatrick, M. Gordon, I. King, M. Newman, D. Orem,<br />
R.M. Parse, M. Rogers und C. Roy setzten si<strong>ch</strong> bereits in den Jahren 1977-82 intensiv mit<br />
diesbezügli<strong>ch</strong>en Fragen auseinander. Als Resultat dieser Diskussionen wurden die Taxonomie<br />
I und die Diagnosetitel neu formuliert. Damit versu<strong>ch</strong>te die NANDA, die Taxonomie für<br />
kulturelle/philosophis<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>iede umfassend und mögli<strong>ch</strong>st breit anwendbar zu ma<strong>ch</strong>en.<br />
Die Ergebnisse der Auseinandersetzungen bezügli<strong>ch</strong> individueller, ganzheitli<strong>ch</strong>er und<br />
kultursensitiver Pfl ege fl ossen in die Defi nitionen von Pfl ege, von Pfl egediagnosen und in die<br />
Kriterien an den diagnostis<strong>ch</strong>en Prozess mit ein. Die Bedeutung der pfl egeris<strong>ch</strong>en Beziehung<br />
und eines individuellen, situativ angepassten und auf der Pfl egeethik basierenden Umgangs<br />
mit der Patientin als einzigartige Persönli<strong>ch</strong>keit gelten dabei als Kern qualitativ guter Pfl egediagnostik<br />
(Gordon, M., 1. Aufl age 1982, McFarland, G. & McFarlane, E., 1.Aufl age 1993).<br />
In den neunziger Jahren ers<strong>ch</strong>ienen in deuts<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>e Artikel, wel<strong>ch</strong>e einen kritis<strong>ch</strong>en<br />
Standpunkt zu Pfl egediagnosen einnehmen. Dabei fällt jedo<strong>ch</strong> auf, dass in diesen kein Bezug<br />
zur englis<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen Grundlagenliteratur genommen wird (Kesselring, 1999; Pape, 1996;<br />
S<strong>ch</strong>nepp, 1994; Siegenthaler, 1997). Ein Teil der Grundlagenliteratur zu Pfl egediagnosen<br />
wurde erst in den letzten Jahren übersetzt (Gordon & Bartolomeyczik, 2001; NANDA, 2002;<br />
Townsend, 2000; van der Bruggen, 2002) und ein großer Teil ist ni<strong>ch</strong>t übersetzt worden.<br />
Eine Literaturre<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>e ergab, dass von gesamthaft 1979 Studien zur Validierung der Pfl egediagnosen<br />
kaum sol<strong>ch</strong>e auf deuts<strong>ch</strong> erhältli<strong>ch</strong> waren (Müller Staub, 2001). Wieweit mag<br />
diese Tatsa<strong>ch</strong>e dazu beitragen, dass die Grundlagen des diagnostis<strong>ch</strong>en Prozesses, die Bedeutung<br />
der klinis<strong>ch</strong>en Urteilsbildung, differenzierte Assessmentverfahren und der Stand der<br />
Validierung von Pfl egediagnosen im deuts<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen Raum no<strong>ch</strong> wenig bekannt sind?<br />
Auf Gefahren der Pfl egediagnostik wird dur<strong>ch</strong> kritis<strong>ch</strong>e Stellungnahmen hingewiesen. Eine mangelnde<br />
Berücksi<strong>ch</strong>tigung der Individualität der Patientinnen, die Standardisierung der Pfl ege und<br />
das Ma<strong>ch</strong>tgefälle zwis<strong>ch</strong>en Pfl egender und Patientin werden dabei genannt. Die Kompatibilität der<br />
Pfl egediagnosen zum europäis<strong>ch</strong>en Kontext und zur Eigenständigkeit Pfl egender werfen Fragen<br />
auf. Bei einer Einführung von Pfl egediagnostik sind diese Punkte zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, es darf ni<strong>ch</strong>t<br />
zu einer oberfl ä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Umsetzung und „Etikettierung“ der Patientinnen kommen. Eine fundierte<br />
S<strong>ch</strong>ulung in klinis<strong>ch</strong>er Ents<strong>ch</strong>eidungsfi ndung, in der Anwendung spezifi s<strong>ch</strong>er Anamneseverfahren<br />
und zu pfl egeris<strong>ch</strong>er Kommunikation gelten in der Grundlagenliteratur als Basis der Pfl egediagnostik.<br />
Empiris<strong>ch</strong>e Studien, wel<strong>ch</strong>e die Umsetzung der Pfl egediagnostik evaluieren, sollten die oben<br />
erwähnten Punkte und mögli<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>teile überprüfen.<br />
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