Kontext - Scripten Nummer 6

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Kontext Scripten Nummer 6 Wolfgang Joop ist ein Narziss. Längst reicht es ihm nicht mehr, nur anderer Leute Schneider zu sein. Als Model führt er seine Mode selbst vor, er tritt als Unternehmer, Autor, Philosoph, Bon Vivant auf und ist neuerdings Filmschauspieler. Joop ist nicht der Einzige, der sich als Mehrfachtalent präsentiert. Modedesigner werden Schauspieler, Schauspieler werden Politiker, Politiker werden Models, Models werden Moderatoren, Moderatoren werden Sänger. Prominente wollen gesehen, gehört und angehimmelt werden, also verwandeln sie sich nach Bedarf. Der Narziss der aktuellen Popkultur versauert nicht einsam vor seinem Spiegel wie der Narziss der Mythologie. Er tritt auf Bühnen, vor Fernsehoder Filmkameras und feiert sein Ego. Wer allein zu Hause sitzt und sich mit Zweifeln, Ängsten und Selbsthass plagt, ist selbst schuld. Werbeprofis verkünden schließlich, analog den Managern von Stars, immer wieder, bunt und laut den rettenden Imperativ: Liebe dich und keinen so wie dich, und zeige es allen. Sei narzisstisch, und alle werden dich lieben. You never walk alone. Beliebtheitsrezepte sind frei verfügbar. Welche Produkte, Moden, Stile, Weltanschauungen auch den Normalverbraucher glänzen lassen, verbreiten alte, neue und immer wieder neue Medien. Das Geschäft mit dem Narzissmus boomt. Doch was Marketingstrategen oder Popmanager ihren „Künstlern“ als Anleitung zum Erfolg empfehlen und was Fans als die Exzentrik ihrer narzisstischen Idole bewundern, bewerten manche Scripten Nr 6 - Inhalt Dr. Gisela Schmalz Dr. Gisela Schmalz arbeitet seit dem Abschluß ihrer Promotion im Fach Volkswirtschaftslehre als freie Autorin für Web, Film- und Fernsehen in Berlin. Unter

<strong>Kontext</strong> <strong>Scripten</strong> <strong>Nummer</strong> 6<br />

Wolfgang Joop ist ein Narziss. Längst reicht es ihm nicht mehr, nur<br />

anderer Leute Schneider zu sein. Als Model führt er seine Mode<br />

selbst vor, er tritt als Unternehmer, Autor, Philosoph, Bon Vivant auf<br />

und ist neuerdings Filmschauspieler. Joop ist nicht der Einzige, der<br />

sich als Mehrfachtalent präsentiert.<br />

Modedesigner werden Schauspieler,<br />

Schauspieler werden Politiker,<br />

Politiker werden Models,<br />

Models werden Moderatoren,<br />

Moderatoren werden Sänger.<br />

Prominente wollen gesehen, gehört und angehimmelt werden, also<br />

verwandeln sie sich nach Bedarf. Der Narziss der aktuellen<br />

Popkultur versauert nicht einsam vor seinem Spiegel wie der<br />

Narziss der Mythologie. Er tritt auf Bühnen, vor Fernsehoder<br />

Filmkameras und feiert sein Ego. Wer allein zu Hause sitzt und sich<br />

mit Zweifeln, Ängsten und Selbsthass plagt, ist selbst schuld.<br />

Werbeprofis verkünden schließlich, analog den Managern von<br />

Stars, immer wieder, bunt und laut den rettenden Imperativ: Liebe<br />

dich und keinen so wie dich, und zeige es allen. Sei narzisstisch,<br />

und alle werden dich lieben. You never walk alone.<br />

Beliebtheitsrezepte sind frei verfügbar. Welche Produkte, Moden,<br />

Stile, Weltanschauungen auch den Normalverbraucher glänzen<br />

lassen, verbreiten alte, neue und immer wieder neue Medien. Das<br />

Geschäft mit dem Narzissmus boomt. Doch was<br />

Marketingstrategen oder Popmanager ihren „Künstlern“ als<br />

Anleitung zum Erfolg empfehlen und was Fans als die Exzentrik<br />

ihrer narzisstischen Idole bewundern, bewerten manche<br />

<strong>Scripten</strong> Nr 6 - Inhalt<br />

Dr. Gisela Schmalz<br />

Dr. Gisela Schmalz arbeitet<br />

seit dem Abschluß ihrer Promotion<br />

im Fach Volkswirtschaftslehre<br />

als freie Autorin<br />

für Web, Film- und<br />

Fernsehen in Berlin. Unter


Soziologen, Pädagogen, Philosophen oder Psychoanalytiker als<br />

Ausdruck einer sinnentleerten Erlebnis-Kultur. Soziologen entlarven<br />

die Sogwirkung narzisstischer Gesellschaften. Pädagogen erklären<br />

sich den Anstieg der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen mit<br />

deren Werte- und Orientierungsverlust. Analytiker diagnostizieren<br />

jedes Jahr mehr Patienten pathologischen Narzissmus. Trotz der<br />

Vielzahl an Angeboten zur Selbstverwirklichung leiden immer mehr<br />

Menschen in westlichen Gesellschaften am Gefühl, einsam, dumpf,<br />

nutz- und ziellos zu sein.<br />

Wie kann es sein, dass einige aufgrund ihres Narzissmus Ruhm<br />

und Reichtum erlangen und andere darunter bis zur<br />

Selbstverleugnung leiden? Narzissmus, Karriererezept oder<br />

psychische Krankheit? Narziss, Pop-Idol oder Analyse-Patient?<br />

Narzissmus<br />

"Und, soviel aus der Regung des schönen Mundes ich schließe,<br />

gibst du Worte zurück, die zu meinem Ohre nicht dringen. – Der da<br />

bin Ich! Ich erkenne! Mein eignes Bild ist's! In Liebe brenn' ich zu<br />

mir, errege und leide die Flammen!"<br />

Ovid, in: Metamorphosen<br />

Ovid zeichnet Narziss als schönen Jungen, der Echo<br />

zurückweist und sich in sein Spiegelbild in einer Quelle<br />

verliebt. Sein Begehren erfüllt sich nicht, und Narziss<br />

stirbt einsam am Wasser. Zurück bleibt eine Blume.<br />

Der deutsche Psychiater Paul Naecke gebrauchte<br />

erstmals den Begriff Narzissmus. Mit Narzissmus<br />

bezeichnete er die Abweichung von der sexuellen<br />

Norm, bei der das Individuum sich selbst liebt.<br />

Siegmund Freud griff Naeckes Gedanken 1914 auf und<br />

machte mit seinem Aufsatz "Zur Einführung des<br />

Narzissmus" den Sagenhelden Narziss zum<br />

zweitwichtigsten Protagonisten der Psychoanalyse<br />

nach Oedipus.<br />

anderem ist sie für<br />

Tomorrow, NetBusiness und<br />

ntv.de tätig.<br />

Fotos und Text:<br />

© Dr. Gisela Schmalz


Narzissmus ist "jenes Verhalten, bei welchem ein Individuum<br />

seinen eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt, wie sonst den<br />

eines Sexualobjektes, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen<br />

beschaut, streichelt, liebkost, bis es durch diese Vornahmen zur<br />

vollen Befriedigung gelangt."<br />

Siegmund Freud, in: Zur Einführung des Narzißmus, 1914<br />

Interessierte die Väter der Psychoanalyse am Narzissmus noch vor<br />

allem der Aspekt der erotischen Selbstbesetzung, so konzentrieren<br />

sich die Analytiker heute stärker auf die problematischen<br />

Objektbeziehungen als Folge eines gestörten Selbstwertgefühls.<br />

Sie nahmen dem Begriff also sein ursprünglich sinnliches und<br />

pejoratives Verständnis, um heute mit einem eher entsinnlichten,<br />

entsexualisierten und wertneutralen Narzissmus-Begriff zu<br />

operieren. Die bedeutendsten Narzissmus-Forscher der jüngeren<br />

Zeit, Otto Kernberg und Heinz Kohut, sind sich trotz aller<br />

Differenzen, darin einig, Narzissmus frei von moralischer Wertung<br />

definieren zu wollen. Psychoanalytiker gehen heute davon aus,<br />

dass jedes psychische Erleben sich zur Hälfte auf die eigene<br />

Person und zur anderen Hälfte auf Andere bezieht. Sie sprechen<br />

daher von Narzissmus schlicht als von der Besetzung des Selbst.<br />

"Jeder ist mit Selbstliebe geboren, die Hälfte des Handelns ist<br />

selbstbezogen. Narzissmus ist die pathologische Ausprägung<br />

davon."<br />

Herrmann Beland, Psychoanalytiker, Berlin 2001<br />

Die Grenzen zwischen normalem und krankhaftem Narzissmus sind<br />

fließend. Welches Maß an Selbstbezug noch gesund und welche<br />

Interaktion mit Anderen schon gestört ist, lässt sich nicht genau<br />

festlegen. Entscheidend sind hier ein Gefühl und die Antwort auf die<br />

Frage: Löst der eigene Narzissmus Lust und Leid aus?


Narziss - das Idol<br />

Stars<br />

"I’ve been using vodka to lighten my hair,"<br />

she says sadly. "Bongo got a whiff at the<br />

Donna Karan show and started muttering<br />

the Serenity Prayer." "Don’t sweat it, baby.<br />

Remember that all you have to do is say<br />

cheese about two hundred times a day.<br />

That’s it!"<br />

Brad Easton Ellis, in: Glamorama, 1998<br />

Leute wie Madonna oder Robbie Williams, Verona Feldbusch oder<br />

Wolfgang Joop haben eines begriffen: Wer etwas darstellen will,<br />

muss sich selbst darstellen – am besten 24 Stunden am Tag und in<br />

immer neuen Outfits, Posen, Situationen über alle möglichen<br />

Medien, und dieses penetrant, vielfältig, spektakulär. Öffentliche<br />

Präsenz zahlt sich aus. Zuschauerquoten, Fanbriefe und<br />

Kontostände sind zählbare Liebesbeweise. Aber Berufsnarziss zu<br />

sein, bedeutet harte Arbeit. Wer nicht in Vergessenheit und in<br />

Armut geraten will, muss seinen Narzissmus pflegen, füttern, ihn<br />

stets neu erfinden.<br />

Die Profis wenden vielfältige narzisstische Tricks an, um berühmt<br />

zu werden und berühmt zu bleiben. Ronald Reagan oder Wolfgang<br />

Joop vermarkten sich als Mehrfachtalente, David Letterman oder<br />

Harald Schmidt präsentieren sich als witziger und wortgewandter<br />

als ihre Gäste. Bertrand-Henri Lévy oder Marcel Reich-Ranicki<br />

wuchern mit ihrer Klugheit. Marilyn Manson macht auf skandalös,<br />

wenn er die Hosen fallen lässt, um seinen Fans von der Bühne ins<br />

Gesicht zu urinieren. Cher bleibt ein Star, weil sie jährlich jünger als<br />

ihre Enkelin und Michael Jackson, weil er jährlich heller als sein<br />

Unterhemd aussieht. David Bowie und Madonna sind seit<br />

Jahrzehnten angesagt, weil sie ständig ihr Image wechseln.<br />

Öffentliche Figuren setzen Trends oder führen neue Trends als<br />

Eigenerfindungen vor. Wer schneller als der Trend ist, diktiert den<br />

Trend.<br />

1 | 2 | 3 >><br />

Öffentliche<br />

Präsenz zahlt<br />

sich aus


<strong>Kontext</strong> <strong>Scripten</strong> <strong>Nummer</strong> 6<br />

Fans und Konsumenten<br />

Die 90er-Jahre gelten als die Zeit der vielfältigsten Stile,<br />

Strömungen und Revivals. Die Moden wechseln immer schneller,<br />

lösen einander ab, ergänzen oder mischen sich. Wer sich einer<br />

Jugendszene anschließen will, hat die Auswahl zwischen<br />

Hiphoppern, Skatern, Ravern, Computerfreaks, Punks, Neo-<br />

Hippies, Skinheads und vielen anderen. Voraussetzung zur<br />

Zugehörigkeit sind oft nur Äußerlichkeiten. Die richtige Modemarke,<br />

Musikrichtung und Moral, – und der Einzelne hat ein Zuhause, er<br />

weiß, wo er hingehört, sein Leben wird überschaubar. Stil prägt<br />

Identität und verspricht ein warmes Gruppengefühl. Stil gibt Halt.<br />

Den braucht der Einzelne angesichts der Reizüberflutung, des<br />

Erfolgs- und Leistungsdrucks, des Überangebots an Möglichkeiten,<br />

sich, das eigene Leben, die Arbeit und die Freizeit zu gestalten.<br />

Das Styling des eigenen Körpers, die Beschäftigung mit der<br />

eigenen Person bieten Schutz und Sicherheit. Selbstzentrierung,<br />

Selbstkontrolle, Selbstversuch, Selbstverwirklichung wirken auf das<br />

Individuum wie Chancen, dem beängstigenden Gefühl der<br />

Fragmentierung zu entkommen. Dabei merken einige nicht, dass<br />

der narzisstische Selbstbezug bereits institutionalisiert ist. Medien-,<br />

Werbe-, Kosmetik- und Modebranche leben vom Konsumrausch<br />

sinnentleerter Menschen, die glauben, dass bestimmte Waren,<br />

Vorbilder oder ein Look ihnen ein konsistentes Selbstbild und<br />

Beliebtheit verschaffen. Narzissmus ist eine<br />

Megamarketingmaschine.<br />

Möchtegern-Stars<br />

Und Narziss ist ein käufliches Produkt. Viel versprechende<br />

Jungnarzissten, wie die kleine Britney Spears, werden zu großen<br />

Stars aufgebaut und im Paket, mit Musik, Filmen, Mode und<br />

Merchandisingprodukten aller Art vermarktet. Aber Stars brauchen<br />

Fans und Fans brauchen Stars, wenn sich das Handelskarussell<br />

<strong>Scripten</strong> Nr 6 - Inhalt<br />

Narzissmus<br />

ist eine<br />

Marketingmaschine


drehen soll. Die Rollenverteilung ist klar: Stars, deren Bilder,<br />

Meinungen und Produktempfehlungen, dominieren die Fans. Was<br />

passiert, wenn ein Fan aus seiner Ohnmacht erwacht, den eigenen<br />

Narzissmus züchtet und sich selbst vors Publikum stellt? Für<br />

Feierabend-Narzissten gibt es ja Container-, Rate- oder<br />

Problemgespräche- Shows. Hier kann er vor laufender Kamera<br />

reales und idealisiertes Ich verschmelzen lassen und sich zu einem<br />

Idol stilisieren. Die Produzenten der Fernsehsendungen BIG<br />

BROTHER und POPSTARS schlachten einen Trend erfolgreich<br />

aus: das narzisstische Begehren des Normalbürgers, eine<br />

öffentliche Person zu werden. Mit der Erfindung von BIG<br />

BROTHER gelang ihnen ein Genie-Streich. Container- und<br />

Mitmach-Shows sind die Transzendenz der bewährten,<br />

fruchtbringenden Star-Fan-Liaison, sie kosten wenig und machen<br />

Quote. Wird aus jemandem wie BIG BROTHER-Zlatko ein Star,<br />

schließt sich der Marketingkreislauf wieder: Zuschauer werden<br />

Stars, Stars machen Zuschauer(-Quote)... Die Medienmaschine<br />

läuft und läuft. Der Unterhaltungsmarkt ist der ertragreiche<br />

Umschlagplatz von Menschen und Trends. So viele Trends es<br />

nebeneinander oder nacheinander gibt, über allem herrscht der<br />

Megatrend: Narzissmus. Dieser vereint sie alle, die Zuschauer,<br />

Konsumenten, Fans und Stars.<br />

Narziss – Der Patient<br />

Die Narzisstische Persönlichkeit<br />

Seit Christopher Lasch 1980 in "Culture of Narcisism" das traurige<br />

Bild vom einsam- ichzentrierten Solipsisten entwarf, hat sich einiges<br />

verändert. So scheint es. Denn während hier die Sternchen und<br />

Halbsternchen im Scheinwerferlicht funkeln, sitzen da immer noch<br />

Menschen im Dunklen, die, frustriert von der Umwelt, ihre Liebe und<br />

ihre Interessen auf sich selbst richten, ohne zu strahlen.<br />

Psychoanalytiker sprechen von pathologischen Narzissten als von<br />

Personen, die, oberflächlich betrachtet, gut eingegliedert und im<br />

Beruf möglicherweise sogar brillant sind, sich dabei aber selbst als<br />

traurig, verloren, verwirrt, neidisch, gierig oder wütend<br />

wahrnehmen. Der kranke Narziss hat ein mangelndes<br />

Selbstwertgefühl. Er ist unsicher und leicht zu kränken. Also läuft er<br />

mit einem falschen Selbst herum. Seine Umwelt und Partner dienen<br />

Luxus,<br />

Depressionen,<br />

Ängste ...<br />

Statussymbole,


ihm hauptsächlich als Lieferanten narzisstischer Bestätigung.<br />

Selbstverstärker wie Labels, Luxus, Statussymbole und Besitz<br />

federn sein labiles Ego ab. Sobald aber die Selbstaufblähung von<br />

Narziss bedroht oder durchschaut wird, zieht er sich zurück.<br />

Werden andere Menschen als zurückweisend wahrgenommen, ist<br />

es meist der narzisstische Charakter selbst, der andere abweist.<br />

Eher ist er dazu bereit, sich einzuigeln und sich sogar selbst zu<br />

verletzen, als sein grandioses Selbst aufzugeben. Seine Maxime<br />

"Ich brauche andere nicht" ist immer von der Klage begleitet:<br />

"Keiner liebt mich."<br />

Narzissmus-Patienten lassen sich mangels eines inneren Prinzips<br />

von Stimmungen, von Sinneseindrücken und vom Zufall eher leiten<br />

als von eigenen Plänen. Ihre Depressionen und Ängste, ihre<br />

Antriebslosigkeit und das zwanghafte, ängstliche Kreisen um die<br />

eigene Person steigern sich im schlimmsten Fall zu<br />

selbstzerstörerischen Handlungen, wie Essensverweigerung,<br />

Drogensucht oder Selbstmordversuchen. "Ich stimme völlig mit<br />

Kohut darin überein, dass man narzisstische<br />

Persönlichkeitsstörungen wann immer möglich, analytisch<br />

behandeln sollte."<br />

Otto Kernberg, in: Borderline-Störungen und pathologischer<br />

Narzißmus, 1983.<br />

Narziss und Komplementärnarziss


Im Wissen um ihre Ängste vor Trennung und Hilflosigkeit und um<br />

ihr brüchiges Selbst meiden narzisstische Persönlichkeiten Nähe<br />

und Partnerschaften, oder sie offenbaren, dass hinter der<br />

charmanten Fassade ein kalter, ausbeuterischer Egoist stecken<br />

kann. In engen Beziehungen kann es daher zu krankhaften<br />

Konstellationen kommen, in denen der narzisstische Charakter den<br />

anderen abwertet, ihn wie einen Spiegel oder einen Claqueur<br />

benutzt. Nur wenn der Partner seine kritiklose Bewunderung und<br />

absolute Loyalität zeigt, kann das fehlende Selbstwertgefühl<br />

kompensiert werden. Nicht selten sucht Narziss einen Partner, der<br />

ihm an Intelligenz, Bildung und sozialer Herkunft unterlegen ist, so<br />

dass er ihn schon deshalb leichter kontrollieren kann. Außerdem<br />

bleibt dem Unterlegenen der krankhafte Narzissmus eher<br />

verborgen, und so das narzisstisch-omnipotente Ich geschützt. Wie<br />

der Narziss, so verspricht sich auch der Komplementärnarziss von<br />

der Beziehung Vorteile. Dass er an der Seite eines Narzissten<br />

steht, den er schwärmerisch idealisieren und wie ein Groupie<br />

verehren kann, wertet sein geringes Selbstwertgefühl auf. Der<br />

Partner findet in der narzisstischen Persönlichkeit, ähnlich wie der<br />

Fan im Star, ein besseres Selbst, ein Ersatz-Selbst.<br />

>


<strong>Kontext</strong> <strong>Scripten</strong> <strong>Nummer</strong> 6<br />

Ichstärkung<br />

Übersteigerte Selbstliebe bis hin zur Autoerotik gilt als Reaktion auf<br />

traumatische Kindheitserlebnisse und auf eine als feindlich<br />

wahrgenommene Umgebung. In der Annahme, dass narzisstische<br />

Störungen auf der Erfahrung von Defiziten beruhen, versuchen<br />

Psychoanalytiker den in der Regel von Erziehungspersonen<br />

zugefügten Schaden zu reparieren. Hat keine gesunde Integration<br />

der Elternbilder stattgefunden und weigert sich ein narzisstischer<br />

Charakter, von der Kindheitsphase Abschied zu nehmen, geht es<br />

für ihn darum, seine Person realistisch beurteilen zu lernen, sowie<br />

Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen.<br />

Bei der Behandlung nutzen die Psychoanalytiker die dynamische<br />

Beziehung zwischen Patient und Analytiker. Sie forschen im<br />

Gespräch nach möglichen Ursachen für das gestörte Selbstbild und<br />

wenden die therapeutischen Mittel des Durcharbeitens, der<br />

Übertragung und des Ausagierens an. Dabei ist das übergeordnete<br />

Behandlungsziel der Analytiker die Ichstärkung. Sie ist die<br />

Voraussetzung dafür, dass der Patient<br />

sich wieder als wertvolles Mitglied<br />

einer Gemeinschaft begreift und offen<br />

wird für die Freuden und Leiden seiner<br />

Mitmenschen. Im Verlauf der<br />

Psychoanalyse soll dem Patienten klar<br />

werden, dass Beziehungen nicht<br />

immer mit Herrschaftsund<br />

Unterdrückungsmechanismen einher<br />

gehen. Der Patient soll wieder<br />

Vertrauen in sich und andere<br />

Menschen gewinnen.<br />

"Je sicherer ein Mensch sich seines eigenen Wertes ist, je gewisser<br />

er weiß, wer er ist, und je sicherer sein Wertsystem verinnerlicht ist-<br />

<strong>Scripten</strong> Nr 6 - Inhalt


um so mehr wird er mit Selbstvertrauen und Erfolg in der Lage sein,<br />

seine Liebe zu geben, ohne Zurückweisung und Erniedrigung<br />

übermäßig befürchten zu müssen."<br />

Heinz Kohut, in: Narzißmus, 1976<br />

Während der pathologische Narziss aufgrund seiner gestörten<br />

Selbstwahrnehmung vorwiegend störungsreiche Objekt- oder<br />

Fremdbeziehungen aufweist, hat das gesunde Selbst seine<br />

narzisstischen Anlagen in sein Selbst- und sein Weltbild integriert,<br />

und sieht sich somit als Teil eines sinnvoll strukturierten<br />

Beziehungsgeflechts an.<br />

Narziss – Idol und Analytiker<br />

Neben der Fähigkeit zum Mitgefühl wertet Heinz Kohut auch neue<br />

Anzeichen von Humor, Weisheit und Kreativität als Erfolgssignale<br />

der psychoanalytischen Behandlung. Obwohl öffentliche Narzissten<br />

schön, stark und gesund wirken, haben auch sie sicher ihre<br />

Probleme mit der realistischen Selbstwahrnehmung, der Integration<br />

in eine Gemeinschaft, mit Empathie und der Beantwortung der<br />

Sinnfrage.<br />

"Ich gehe oft in Lifesendungen als Zuschauer, und<br />

einmal war ich bei der WDR-Sendung 'Ich stelle mich'<br />

und da habe ich folgendes beobachtet: Die Sendung<br />

war zuende, und im Moment, in dem die Kamera<br />

ausgeschaltet war, fiel das Gesicht des Moderators<br />

runter, der Ausdruck, die Ausstrahlung, das Lachen<br />

war weg, alles Leben war raus aus dem Gesicht."<br />

Matthias Wellershoff, Psychoanalytiker, Köln 2001<br />

Humor, Weisheit und Kreativität -<br />

Erfolgssignale


Erfolgreiche Medienfiguren besitzen offenbar zusätzlich zu ihrem<br />

Narzissmus noch einige Portionen an Humor, Kreativität und<br />

vielleicht sogar Weisheit, die ihnen helfen, ihre Selbstliebe in<br />

Schach zu halten. Anstatt sich von ihrem Narzissmus unterkriegen<br />

zu lassen, therapieren sie ihn an der Öffentlichkeit und<br />

instrumentalisieren ihre Therapie. Sie machen ihre narzisstischen<br />

Störungen marktgängig. Prominente begnügen sich nicht mit dem<br />

selbstverliebten Blick in den Spiegel, sondern stellen ihre<br />

Grandiosität auf die Probe. Sie suchen sich Zeugen und<br />

Bewunderer, preisen sich, ihre Taten und Werke vor der Kamera<br />

und fühlen sich da gut aufgehoben. Denn die Kamera liebt<br />

narzisstische Leute. Das Publikum liebt sie auch. Denn sie<br />

beweisen ihnen, von Bühnen oder Bildschirmen aus, dass sie die<br />

Traurigkeit des mythologischen Narziss überwunden und ein gutes<br />

Leben in Saus und Braus und Blitzlichtgewittern führen. Die<br />

Narzissten unserer Kultur werden auch nicht einsam am<br />

spiegelnden Wasser sterben, sondern im Spiegel der Öffentlichkeit<br />

zu Grabe getragen, und zurückbleiben wird mehr als nur eine<br />

Narzisse. Filmstars, Popstars, Models, Künstler, Politiker oder<br />

Talkmaster hinterlassen den Fans viele Blumen in Form von<br />

Filmen, Platten, Bildern, Werken, Texten, Manifesten oder<br />

Autobiographien.<br />

"Du solltest immer ein Produkt in der Hand haben und nicht<br />

nur dich selbst verkaufen. Als Schauspielerin solltest du deine<br />

Theaterstücke und Filme zusammenzählen und als Model<br />

deine Fotos und als Schriftsteller deine Wörter und als<br />

Künstler deine Bilder, damit du immer weißt, wieviel du wert<br />

bist, und nicht irrtümlich annimmst, dein Produkt, das seist du<br />

selbst und dein Ruhm und deine Aura.<br />

Andy Warhol, in: Die Philosophie des Andy Warhol, 1991


Möglicherweise kennen öffentliche Figuren ihr narzisstisches<br />

Problem, in jedem Fall aber nutzen sie es, als Antriebskraft, die sie<br />

dazu bewegt, sich Ziele zu setzen und diese zu verwirklichen.<br />

Sollten Schwierigkeiten auf dem Weg zum Ruhm auftreten, wenden<br />

sich auch Stars bekanntermaßen an Psychoanalytiker oder<br />

Psychotherapeuten, die ihnen helfen, noch bessere, noch<br />

erfolgreichere Menschen zu werden.<br />

Mit seinen Modekreationen hat Wolfgang Joop bereits einige<br />

Blumen hinterlassen und mit dem erfolgreichen Parfum seines<br />

Namens, sogar eine, die duftet. Aber wieso nimmt er nun eine<br />

Filmrolle an? Damit offenbart er doch endgültig, wie narzisstisch er<br />

ist und liefert sich seinen Kritikern aus. Joop weiß, was er tut. Er<br />

betreibt so etwas wie selbstkritischen und kreativen Narzissmus.<br />

Denn im Film "Suck my Dick" von Oskar Roehler spielt er einen<br />

Psychiater.<br />

Berlin 2002<br />

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