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Erziehung & Schule<br />
«Ich wurde als Mutter<br />
disqualifiziert»<br />
Unsere Autorin Sandra Casalini war 15, als sich ihre<br />
Eltern trennten. Sie blieb nach der Trennung auf eigenen<br />
Wunsch beim Vater, der in der Folge auch das Sorgerecht<br />
für sie erhielt. In einem Mutter-Tochter- Gespräch erzählt<br />
ihre Mutter, wie das damals für sie war.<br />
Mama, ehrlich gesagt, kann ich mich<br />
kaum an die Zeit eurer Trennung<br />
erinnern. Gab es eigentlich einmal<br />
dieses «eine» Gespräch, in dem<br />
ihr meinem Bruder und mir gesagt<br />
habt, dass ihr euch trennt?<br />
Es gab so ein Gespräch, ja. Das war allerdings<br />
gar nicht mal als Trennungsgespräch<br />
gedacht, auch wenn uns allen<br />
die täglichen Streitereien zusetzten. Wir<br />
hatten uns nach fast zwanzig Jahren<br />
einfach unterschiedlich entwickelt.<br />
Alles, was ich zu dem Zeitpunkt wusste,<br />
war, dass ich mehr Raum brauchte. Wir<br />
haben diskutiert und debattiert. Und<br />
irgendwann bist du aufgestanden und<br />
hast gesagt: «Bitte, Mami, geh endlich!»<br />
Du warst 15.<br />
War von Anfang an klar, dass ich bei<br />
Papi bleibe?<br />
Du hattest das bereits so beschlossen.<br />
Auf meine Frage, was denn mit euch sei,<br />
wenn ich ausziehe, sagtest du: «Mein<br />
Bruder geht mit dir, ich bleibe bei Papi.»<br />
Dein Bruder brauchte Therapien und<br />
spezielle Unterstützung, das hätte dein<br />
Vater nicht gekonnt, das wusstest du.<br />
Aber du und er, das funktionierte. Es<br />
war aber wichtig, dass das von dir kam.<br />
Weisst du, warum ich bei ihm<br />
bleiben wollte?<br />
Du hast es mir später unter vier Augen<br />
gesagt: «Dich habe ich immer, egal, was<br />
passiert. Ihn werde ich verlieren, wenn<br />
ich nicht bei ihm bleibe.»<br />
Wie hast du reagiert?<br />
Ich bin fast verzweifelt daran, dass du<br />
dir selbst so viel Verantwortung aufgeladen<br />
hast.<br />
Du hast trotz meines eindeutigen<br />
Wunsches, beim Vater zu bleiben,<br />
das Sorgerecht für mich bean -<br />
tragt.<br />
Das heisst nicht, dass ich deinen<br />
Wunsch nicht respektiert habe. Ich war<br />
mir nur nicht sicher, ob du mit deinen<br />
noch nicht einmal 16 Jahren die ganzen<br />
Konsequenzen deines Entscheides abschätzen<br />
konntest.<br />
Wie hast du dich gefühlt, als mein<br />
Sorgerecht Papi zugesprochen<br />
wurde?<br />
Beschissen. Man kann sich nicht vorstellen,<br />
wie sehr ich angegriffen wurde,<br />
von Freunden, Verwandten, Arbeitskollegen,<br />
weil ich scheinbar nicht genügend<br />
um dich gekämpft hatte. Niemand<br />
akzeptierte, dass du das so wolltest. Ich<br />
wurde als Mutter disqualifiziert.<br />
Gab es das Besuchsrecht betreffend<br />
eine Regelung?<br />
Die gab es zwar, aber du hast das von<br />
Anfang an so gehalten, wie es dir gepasst<br />
hat. Manchmal bist du täglich bei<br />
mir reingeschneit, dann hast du dich<br />
eine Woche nicht blicken lassen. Dein<br />
Bruder war jedes zweite Wochenende<br />
beim Vater.<br />
Hast du mitbekommen, wie wir<br />
zurechtkamen?<br />
Du hast zwar nur selektiv erzählt, aber<br />
ich war auch dank der Besuche deines<br />
Bruders im Bilde, was wie läuft. Ich<br />
glaube, dein Vater hat das gut gemacht,<br />
auch wenn er zur grösseren «Gluggere»<br />
mutierte, als ich das je war. Aber er<br />
musste von 0 auf 100 Prozent die Verantwortung<br />
für dich übernehmen, das<br />
ist nicht so einfach. Speziell war, dass<br />
du mir jeweils erzählt hast, was du so<br />
entschieden hast in deinem Leben –<br />
und ich hatte rein rechtlich absolut<br />
nichts dazu zu sagen. Unsere Beziehung<br />
bekam dadurch eine andere<br />
Dimension. Ich konnte dich unterstützen,<br />
ohne die Verantwortung zu tragen.<br />
Würdest du rückblickend etwas<br />
anders machen?<br />
Nein. In dieser Situation war es das Beste<br />
für deinen Bruder und dich, auch<br />
wenn es für mich unglaublich hart war.<br />
Das ist jetzt 25 Jahre her, und ich<br />
fürchte, dass sich seither in den Köpfen<br />
der Leute nicht viel verändert hat. Man<br />
denkt immer noch, dass mit der Mutter<br />
etwas nicht stimmt, wenn ein Kind nach<br />
der Trennung beim Vater lebt, ohne die<br />
genauen Lebensumstände zu kennen.<br />
Diese Stigmatisierung der Mutterrolle<br />
ist bedenklich, da viele Väter diese Verantwortung<br />
übernehmen wollen und<br />
können. Wir wurden mit dieser Lösung<br />
als Familie im wahrsten Sinn des Wortes<br />
erwachsen.<br />
Bild: ZVG<br />
64 Juni/Juli <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi