Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Erziehung & Schule<br />
Es ist Sommer, in der Badi<br />
ordentlich was los. Der<br />
zehnjährige Marcel<br />
schlägt sich am Beckenrand<br />
den Zeh auf und<br />
blutet. «Oje, wo ist denn dein<br />
Mami?», fragt eine Frau besorgt.<br />
Marcel schaut sie an. Und schweigt.<br />
«Ich wusste nicht, was ich sagen<br />
soll», gesteht er verlegen. Denn ihr<br />
Mami sehen Marcel und seine siebenjährige<br />
Schwester Danielle nur<br />
jedes zweite Wochenende. Seit ihre<br />
Eltern sich trennten und ihre Mutter<br />
aus der gemeinsamen Wohnung<br />
auszog, leben die beiden bei ihrem<br />
Vater.<br />
Roger Baumeler war von Anfang<br />
an hauptsächlich für die Betreuung<br />
der Kinder zuständig. «Meine Ex-<br />
Frau hatte den besser bezahlten Job<br />
als ich und berufliche Ambitionen.<br />
Also haben wir uns nach der Geburt<br />
des ersten Kindes dafür entschieden,<br />
dass sie hundert Prozent arbeitet»,<br />
sagt der gelernte Informatiker. Er<br />
übernahm die Betreuung von Marcel<br />
und Danielle und ging freiberuflich<br />
diversen Nebenjobs nach, unter<br />
anderem im Vorstand einer Kinderkrippe.<br />
«Das stimmte so für alle.»<br />
Vor drei Jahren kam es zur Scheidung.<br />
«Man kann leider nicht sagen,<br />
dass die Trennung friedlich abgelaufen<br />
ist», sagt Roger Baumeler. Dass<br />
Nachdem Roger Baumeler<br />
das Urteil angefochten hatte,<br />
wurden die Kinder angehört.<br />
Ihre Aussagen waren deutlich.<br />
er nach wie vor die hauptsächliche<br />
Betreuungsperson seiner Kinder<br />
bleiben wollte, war für ihn klar –<br />
schliesslich war das sein «Job». Vor<br />
Gericht wurden Marcel und Danielle<br />
aber in einem ersten Verfahren<br />
der Mutter zugesprochen. Ein Urteil,<br />
das Roger Baumeler bis heute nicht<br />
versteht – und das später auch durch<br />
das Kantonsgericht Luzern gerügt<br />
wurde: «Ich hatte die Kinder immer<br />
zu Hause betreut, während ihre<br />
Mutter arbeitete. Offenbar ist das<br />
Vorurteil, dass Kinder in jedem Fall<br />
zur Mutter gehören, extrem stark,<br />
und die reale Gleichstellung von<br />
Mann und Frau ist in solchen Themenbereichen<br />
kaum angekommen.»<br />
Die Kinder selbst seien nicht gefragt<br />
worden. Roger Baumeler: «Ich fühlte<br />
mich total hilflos.»<br />
Väter haben grossen Respekt vor<br />
dieser Aufgabe<br />
Gut 2<strong>07</strong> 000 sogenannte Ein-Eltern-Familien<br />
gibt es laut Bundesamt<br />
für Statistik in der Schweiz. In 83<br />
Prozent dieser Familien leben die<br />
Kinder hauptsächlich bei der Mutter,<br />
in 17 Prozent wohnen sie beim Vater.<br />
Vergleichbare Zahlen aus früheren<br />
Jahren gibt es laut dem Bundesamt<br />
für Statistik nicht. In einer Publikation<br />
von 2009 («Kinder und Scheidung<br />
– Der Einfluss der Rechtspraxis<br />
auf familiale Übergänge»)<br />
schreiben die Rechtswissenschaftlerin<br />
Andrea Büchler und die Psychologin<br />
Heidi Simoni jedoch von<br />
8 Prozent der Kinder, die nach der<br />
Trennung beim Vater bleiben. Im<br />
Gegensatz zu 86 Prozent, die hauptsächlich<br />
von der Mutter betreut werden.<br />
6 Prozent wohnten alternierend<br />
bei beiden Elternteilen. Das lässt<br />
zwar erahnen, dass die Zahl der<br />
Väter, welche die Hauptverantwortung<br />
für ihre Kinder übernehmen,<br />
stetig steigt. Trotzdem sind sie auch<br />
heute noch eher die Ausnahme.<br />
Dass Mütter nach einer Trennung<br />
nach wie vor mehr Verantwortung<br />
übernehmen als Väter, liege sicherlich<br />
auch daran, dass die Männer<br />
grossen Respekt vor dieser Aufgabe<br />
hätten und sich überfordert fühlten,<br />
meint Christoph Adrian Schneider,<br />
Vorstandsmitglied von männer.ch<br />
(siehe Interview Seite 60). Aber<br />
nicht nur. «Wenn beide Elternteile<br />
die genau gleichen Voraussetzungen<br />
mitbringen, die Obhut über die Kinder<br />
auszuüben, muss man halt einen<br />
Entscheid fällen», sagt Charlotte<br />
Christener, Anwältin und Präsidentin<br />
der KESB Bern. «Ist die alternierende<br />
Obhut kein Thema, kann ich<br />
mir durchaus vorstellen, dass man<br />
im Zweifel die Kinder eher der Mutter<br />
zuspricht. Vielleicht spielt dabei<br />
eine Rolle, dass – rein rechtlich gesehen<br />
– immer sicher ist, wer die Mutter<br />
des Kindes ist, während beim<br />
Vater in den meisten Fällen kein<br />
Beweis vorliegt, dass er der biologische<br />
Vater ist», sagt die Juristin, und:<br />
«Wir bei der KESB Bern sind aber<br />
sehr bemüht, in jedem Fall genderneutral<br />
danach zu fragen, welche<br />
Lösung dem Wohl des Kindes am<br />
besten entspricht.»<br />
Den Alltag meistert das Trio<br />
problemlos<br />
Nachdem Roger Baumeler das Urteil<br />
des Richters angefochten hatte, wurden<br />
die Kinder angehört. Die Aussagen<br />
von Marcel und Danielle<br />
waren deutlich: «Wir wollen bei Papi<br />
wohnen!» Papi habe ja viel mehr Zeit<br />
für sie als Mami, erklärt Marcel. «Er<br />
macht Sachen mit uns, kocht und<br />
hilft bei den Hausaufgaben.» Klar<br />
vermisse er sein Mami manchmal.<br />
«Aber eigentlich ist es gar nicht so<br />
viel anders als vorher.» Jedes zweite<br />
Wochenende verbringen die Kinder<br />
bei ihrer Mutter. Die Übergabe findet<br />
nach wie vor mit einer Begleitung<br />
durch eine Fachstelle statt, koordiniert<br />
durch eine Besuchsrechtsbeistandschaft.<br />
Obwohl sich die Eltern<br />
das Sorgerecht teilen, funktioniert<br />
die Kommunikation zwischen ihnen<br />
nicht. «Aber das ist unser Problem,<br />
nicht das der Kinder, und ich gebe<br />
mir grosse Mühe, das zu trennen»,<br />
sagt Roger Baumeler. Den Alltag<br />
58 Juni/Juli <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi