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verloren. Gleichzeitig wurde dem<br />
Mädchen gesagt, dass dieser «Deal»<br />
natürlich nur für das freiwillige,<br />
zusätzliche Lesen gelte – und keinesfalls<br />
auf Pflichten wie die Hausaufgaben<br />
ausgedehnt werden könne.<br />
An den meisten Tagen entschied es<br />
sich für das Lesen und Aufbleiben.<br />
Im Weiteren wurde darauf ge <br />
achtet, dass die Leseübungen so<br />
gestaltet wurden, dass sie Spass<br />
machen. Mit zunehmender Lesefertigkeit<br />
war das Mädchen gewillt,<br />
grössere Abschnitte selbst zu lesen.<br />
Mit Beginn des neuen Schuljahrs<br />
wurde zudem der «Deal» umfunktioniert:<br />
Das Mädchen durfte auch<br />
während der Schulzeit 15 Minuten<br />
später das Licht löschen. Allerdings<br />
galt: Du musst bereits im Bett sein,<br />
darfst aber noch lesen.<br />
Dass sich die Haltung zum Lesen<br />
endgültig verändert hatte, bemerkten<br />
die Eltern einige Monate später,<br />
als sie ihre Tochter dabei erwischten,<br />
wie sie nach dem Lichterlöschen<br />
unter der Bettdecke mit der<br />
Taschenlampe weiterlas.<br />
In diesem Beispiel sehe ich<br />
Belohnungen als wertvolle Krücke.<br />
Das Lesen machte dem Mädchen<br />
aufgrund seiner Schwäche zunächst<br />
keine Freude. Es war anstrengend.<br />
Die Belohnungen erhöhten die<br />
Attraktivität des Lesens, bis die Fertigkeit<br />
so weit entwickelt war, dass<br />
das Lesen selbst Spass machte.<br />
Belohnungen können aber auch<br />
unerwünschte Nebenwirkungen<br />
haben.<br />
Zusätzliche Anreize können die<br />
Freude an einer Sache untergraben<br />
Mit Belohnungen sollte man zurückhaltend<br />
sein, wenn ein Kind etwas<br />
bereits von sich aus gerne tut. Eine<br />
zusätzliche Belohnung kann in diesem<br />
Fall die ursprüngliche, von<br />
innen kommende Motivation untergraben.<br />
Dieser Vorgang wird als<br />
Korrumpierungseffekt bezeichnet.<br />
Wenn ein Kind beispielsweise<br />
eine Sportart gerne ausübt, zunehmend<br />
besser wird und anfängt, Tur<br />
niere zu gewinnen, kann die Belohnung<br />
in Form von Turniersiegen<br />
wichtiger werden als die Freude an<br />
der Bewegung. Solange die Erfolge<br />
da sind, stellen sie eine zusätzliche<br />
Motivation dar. Bleiben sie plötzlich<br />
aus, kann es sein, dass das Kind<br />
nicht mehr die gleiche Begeisterung<br />
für den Sport empfindet wie zu<br />
Beginn. Das Problem tritt also auf,<br />
wenn eine zusätzliche Belohnung<br />
hinzugefügt wird, die ab einem<br />
bestimmten Zeitpunkt wieder entzogen<br />
wird.<br />
Noch negativer wirken sich Be <br />
lohnungen aus, wenn wir jemandem<br />
helfen möchten. Ein Beispiel dafür<br />
wäre das Kind, das seinen Grosseltern<br />
den Rasen mäht, weil es ihnen<br />
etwas zuliebe tun möchte. Geben<br />
ihm die Grosseltern dafür fünf Franken,<br />
kann es sein, dass das Kind von<br />
diesem Moment an den Rasen nicht<br />
mehr mähen wird.<br />
Mit dem Geld haben die Grosseltern<br />
das Kind für seine Arbeit «be <br />
zahlt» und so seine ursprüngliche<br />
Motivation, ihnen etwas zuliebe zu<br />
tun, durchkreuzt. Die Freude der<br />
Grosseltern und das Gefühl, eine<br />
gute Tat vollbracht zu haben, wären<br />
dem Kind den Aufwand wert gewesen<br />
– für fünf Franken ist ihm die<br />
Arbeit aber zu mühsam.<br />
Belohnungen können falsche<br />
Anreize setzen<br />
Belohnungen können auch falsche<br />
Anreize setzen. Gut geführte KMU<br />
können oft auf die Loyalität ihrer<br />
Mitarbeiter zählen. Sie motivieren<br />
durch ein Gefühl der Zugehörigkeit<br />
und gemeinsame Ziele und Werte.<br />
Grosse Konzerne, die auf Profitmaximierung<br />
aus sind, versuchen ihre<br />
Mitarbeiter über Boni zu halten und<br />
anzuspornen. Das hat oft zur Folge,<br />
dass jeder nur noch an sich denkt<br />
– und für einen grösseren Bonus<br />
auch gerne zur direkten Konkurrenz<br />
wechselt.<br />
Auf ähnliche Weise können Be <br />
lohnungssysteme in Familien und<br />
Schulen das Gefühl der Gemein<br />
Belohnen Sie Kinder nicht<br />
dafür, dass sie Ihnen etwas<br />
zuliebe tun – freuen Sie sich<br />
einfach und bedanken Sie sich!<br />
schaft untergraben. Viele Familien<br />
stellen nach einer motivierenden<br />
Anfangsphase mit Belohnungsplänen<br />
fest, dass die Kinder nur noch<br />
an ihre Punkte denken, immer grössere<br />
Belohnungen einfordern und<br />
– wenn sie um einen Gefallen ge <br />
fragt werden – fragen: «Was kriege<br />
ich dafür?»<br />
Kinder benötigen Eltern und<br />
Lehrpersonen, die mit ihnen in<br />
Beziehung treten und sie führen –<br />
wenn wir diese Aufgabe an ein Be <br />
lohnungssystem delegieren, schwächen<br />
wir unsere Rolle und die<br />
Beziehung zum Kind.<br />
Kurztipps zum Einsatz von<br />
Belohnungen<br />
• Gehen Sie sorgsam und sparsam<br />
mit Belohnungen um.<br />
• Achten Sie darauf, dass die Belohnung<br />
möglichst in einem Zusammenhang<br />
mit der Tätigkeit steht<br />
(wie beim Vorlesen).<br />
• Machen Sie Ihrem Kind bewusst,<br />
dass die Belohnung nur über eine<br />
bestimmte Zeit hinweg für eine<br />
ganz spezifische Situation eingesetzt<br />
wird.<br />
• Belohnen Sie Ihr Kind möglichst<br />
nicht zusätzlich für Dinge, die es<br />
sowieso gerne tut.<br />
• Belohnen Sie Kinder nicht dafür,<br />
dass sie Ihnen etwas zuliebe tun<br />
– freuen Sie sich einfach darüber<br />
und bedanken Sie sich.<br />
In der nächsten Ausgabe:<br />
Mein Kind vergleicht sich ständig mit anderen<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Juni/Juli <strong>2017</strong>55