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Monatsinterview<br />
«Kein Kind sollte gezwungen<br />
werden, Gemüse zu essen»<br />
Wie vermeidet man Kämpfe am Esstisch? Worauf müssen Eltern achten, wenn sich die<br />
Familie vegetarisch ernährt? Sollen Kinder beim Einkaufen mitbestimmen dürfen?<br />
Die Kinderärztin und Ernährungsexpertin Marguerite Dunitz-Scheer über schwierige<br />
Esser, Kinder, die plötzlich abnehmen möchten, und gesundes Essverhalten.<br />
Interview: Claudia Füssler Bilder: Regina Hügli / 13 Photo<br />
Frau Dunitz-Scheer, machen wir uns<br />
zu viele Gedanken ums Essen?<br />
Auf jeden Fall. Das liegt daran, dass<br />
wir unsere Intuition und den Alltag<br />
in Sachen Esskultur und Kochkultur<br />
verloren haben. Einerseits kochen<br />
wir weniger oft als jemals zuvor<br />
selbst, andererseits messen wir einzelnen<br />
Nahrungsmitteln so viel<br />
Bedeutung bei wie noch nie. Dieses<br />
Pendeln zwischen zwei Extremen<br />
Mal in einer Gesellschaft leben, in<br />
der die tägliche Beschaffung der<br />
Nahrung mit minimalstem Aufwand<br />
möglich ist: Tütchen kaufen, aufreissen,<br />
warm machen, essen – fertig.<br />
Wer nicht will, muss sich überhaupt<br />
keine Gedanken ums Essen machen.<br />
Dahinter steht der Verlust einer ganzen<br />
kulturspezifischen sinnlichen<br />
Welt.<br />
Kochkultur zu einem Event verändert,<br />
der oft nur einmal in der Woche<br />
stattfindet. Mama steht am Herd und<br />
kocht – das ist eine Ausnahme, nichts<br />
Normales.<br />
Wie sieht diese Normalität denn aus?<br />
Ganz unspektakulär: seinen Kindern<br />
ein abwechslungsreiches Essen hinstellen<br />
und mindestens einmal am<br />
Tag kochen. So lernen die Kinder<br />
nebenbei, was eine lustvolle und gute<br />
zeigt: Uns ist die Normalität beim<br />
Esskultur ist. Und natürlich das<br />
Essen abhandengekommen.<br />
«Wer ein<br />
Kochen. Aber fragen Sie mal Zehnjährige,<br />
wie das bei ihnen zu Hause<br />
Wie konnte das passieren?<br />
gutes Mittelmass<br />
Das hat viele Gründe. Schauen Sie<br />
ist. Die meisten können sich nicht<br />
sich die vergangenen 70 Jahre seit bei der Ernährung einmal ein Spiegelei braten oder Pasta<br />
für sich und ein Geschwisterkind<br />
dem Zweiten Weltkrieg an: Europa<br />
vorlebt, hat kaum<br />
hat sich zum ersten Mal in der Ge <br />
kochen. Später schickt man den<br />
schichte der Menschheit in eine essgestörte Kinder.» Nachwuchs in spezielle Kinderkochkurse.<br />
Nahrungsüberflussgesellschaft verwandelt.<br />
Die Nahrungsmittelindustrie<br />
ist notwendigerweise offensiv bis<br />
aggressiv. Sie füttert nicht nur die<br />
Supermarktregale mit Angeboten,<br />
sondern auch unsere Köpfe mit Ideologien<br />
und viel zu viel Information.<br />
Das führt dazu, dass die Menschen<br />
Nahrung als Religions- und Identitätsersatz<br />
sehen.<br />
Das klingt, als ob wir uns ziemlich<br />
absurd verhalten.<br />
Und ob. Dieses riesige Angebot führt<br />
Aber daran sind nicht nur die Lebensmittelhersteller<br />
schuld.<br />
Nein, natürlich nicht. Es sind zahlreiche<br />
gesellschaftliche Veränderungen,<br />
welche man keinem Einzelnen<br />
oder einer Gruppe allein zum Vorwurf<br />
machen kann. Als ich in den<br />
60er-Jahren in der Schweiz aufgewachsen<br />
bin, ist keine Mutter arbeiten<br />
gegangen. Heute bleiben vielleicht<br />
zehn Prozent der Mütter<br />
Da wird dann künstlich etwas<br />
in ihr Leben hineingebracht, was sie<br />
ganz automatisch daheim hätten lernen<br />
können.<br />
Die Familie ist also der Schlüssel zu<br />
einem gesunden Essverhalten?<br />
Unbedingt. Die Eltern – und nicht<br />
nur die Mutter – haben eine Rollenmodellverpflichtung.<br />
Wenn sie es<br />
schaffen, ein vernünftiges, lustvolles<br />
Mittelmass bei der Ernährung vorzuleben,<br />
haben wir kaum essgestörte<br />
Kinder. Die kulinarische Familienkultur<br />
aber auch dazu, dass wir zum ersten da heim. In der Folge hat sich die<br />
ist die erste soziale >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Juni/Juli <strong>2017</strong>33