06-07/2017

Fritz + Fränzi Fritz + Fränzi

12.06.2017 Aufrufe

Dossier >>> Geschwister kümmern», erläutert Peter Hausherr. «Und jetzt sollen sie plötzlich wieder ein Kind sein, für das gesorgt wird und an dessen Alltagserlebnissen Anteil genommen wird?» Eine verunsichernde Situation, die auf beiden Seiten grosse Spannungen auslösen kann. Die Ankömmlinge brauchen viel Zeit, um sich an ihre Rollen zu gewöhnen, um zu verstehen, wie die neue Familie «tickt» – und umgekehrt. Viele Mädchen und Buben sind zudem traumatisiert und weisen Entwicklungsrückstände auf. Finanzielle Unterstützung Das alles kann nicht nur nervenaufreibend, sondern auch sehr belastend für die Pflegeeltern und allenfalls auch für mit im Haushalt lebende leibliche Kinder sein. Darum begleitet die Fachstelle «ihre» Familien intensiv, vermittelt und zahlt Beiträge an Fortbildungen und Supervisionen, um die Zweitmütter und -väter und «Geschwister» zu stärken. Selbstverständlich erhalten die Ersatzeltern auch eine finanzielle Unterstützung von den leiblichen Eltern oder – an deren Stelle – von den Städten und Gemeinden, um ihre laufenden Kosten decken zu können. Hinzu kommt noch eine Entschädigung für die geleistete Erziehungsarbeit. Je nach Situation können so bei Dauerpflege auf den Kanton Zürich bezogen zwischen 900 und 2000 Franken pro Monat zusammenkommen. Ein zentraler Punkt ist die Beziehung zur Herkunftsfamilie. >>> Ein Pflegekind hat ein Recht darauf, möglichst viel über seine «echten» Eltern zu erfahren. Geduld statt Druck Doris Python, 52, ist Pflegemutter in der Bereitschaftspflege und lebt in Herisau. Die Kinder und Jugendlichen, die auf Doris Pythons Appenzeller Hof ankommen, wollen oftmals vor allem eines: vergessen. Vergessen, wie verfahren ihre Situation ist, das Vergangene hinter sich lassen, herausfinden, was ihnen guttut – und sich neu orientieren. Wer zum Biobauernhof will, muss sich auf die Suche begeben. Der Schotterweg, der von der Strasse abzweigt, führt immer tiefer in den Wald hinein. St. Gallen liegt nur wenige Autominuten entfernt, aber hier scheint die Zeit stillzustehen. Irgendwann taucht das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert auf. Es ist wie im Märchen: ein alter Garten, Obstbäume, Hühner, Pferde, zwei Pfauen, ein alter Hund und eine sehr grosse Katze. Doris Python arbeitet schon seit vielen Jahren in der sogenannten Bereitschaftspflege. Die 52-Jährige nimmt kurzfristig Mädchen und Buben auf, die aus den unterschiedlichsten Gründen im Moment nicht in ihrem gewohnten Umfeld leben können. Wer ein Zimmer auf ihrem Hof bezieht, hat in der Regel bereits viel hinter sich. Manche Kinder sind schon in einer Familie oder im Heim fremdplatziert, ecken dort aber an. Andere kommen direkt aus der Herkunftsfamilie, sind vielleicht psychisch angeschlagen und müssen stabilisiert werden. Der Aufenthalt funktioniert im Idealfall wie eine Auszeit. In den letzten zwölf Jahren hat Bussola, ein Anbieter im Be reich der Familienpflege, über 20 Kinder und Jugendliche auf den Biobauernhof vermittelt und begleitet. Da Doris Python eine Kleinheimbewilligung hat, kann sie bis zu fünf Pflegekinder gleichzeitig aufnehmen. Zimmer gibt es jedenfalls genug. Und einen sehr langen Tisch, an dem immer Platz für Neuankömmlinge ist. Früher sassen dort auch Doris Pythons Eltern und Grosseltern, ihr zwischenzeitlich verstorbener Mann und ihre mittlerweile erwachsenen Söhne. Heute nehmen dort neben der Hausmutter und den Kindern und Jugendlichen auch regelmässig Sonja Signer, ihre mitarbeitende Schwester, und weitere Hofangestellte Platz. Wenn ein junger Mensch in Not ist, dann überlegt das Team von Bussola, welche Pflegefamilie am besten helfen könnte, die Situation zu entschärfen, denn nicht alle Kinder würden vom Bauernhofidyll profitieren. Wenn es aber passen könnte, greift ein Mitarbeitender im Auftrag der Kindesschutzbehörde zum Hörer, schildert Doris Python die Situation und fragt nach, ob sie sich vorstellen könne, dem Mädchen oder dem Bubem ein Zuhause auf Zeit zu geben. Wenn die Pflegemutter einverstanden ist, geht es schnell. Zwei, drei Tage später sitzen die jungen Menschen bereits mit am Holztisch. Obwohl die meisten Pflegekinder im Teenageralter sind, kommt hin und wieder auch ein jüngeres Kind. Doris Python, ursprünglich Psychiatriepflegekraft, und ihre Schwester, gelernte Krankenpflegerin, strahlen beide Ruhe und Zuversicht aus – und sie bohren grundsätzlich nicht nach. Geduld statt Druck – für viele Teenager ist das eine neue Erfahrung. 22

Dossier Auf dem Biobauernhof können die Kinder zur Ruhe kommen und durchatmen. Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Juni/Juli 201723

Dossier<br />

>>> Geschwister kümmern»,<br />

erläutert Peter Hausherr. «Und jetzt<br />

sollen sie plötzlich wieder ein Kind<br />

sein, für das gesorgt wird und an<br />

dessen Alltagserlebnissen Anteil<br />

genommen wird?» Eine verunsichernde<br />

Situation, die auf beiden<br />

Seiten grosse Spannungen auslösen<br />

kann. Die Ankömmlinge brauchen<br />

viel Zeit, um sich an ihre Rollen zu<br />

gewöhnen, um zu verstehen, wie die<br />

neue Familie «tickt» – und umgekehrt.<br />

Viele Mädchen und Buben<br />

sind zudem traumatisiert und weisen<br />

Entwicklungsrückstände auf.<br />

Finanzielle Unterstützung<br />

Das alles kann nicht nur nervenaufreibend,<br />

sondern auch sehr belastend<br />

für die Pflegeeltern und allenfalls<br />

auch für mit im Haushalt lebende<br />

leibliche Kinder sein. Darum begleitet<br />

die Fachstelle «ihre» Familien<br />

intensiv, vermittelt und zahlt Beiträge<br />

an Fortbildungen und Supervisionen,<br />

um die Zweitmütter und -väter<br />

und «Geschwister» zu stärken.<br />

Selbstverständlich erhalten die<br />

Ersatzeltern auch eine finanzielle<br />

Unterstützung von den leiblichen<br />

Eltern oder – an deren Stelle – von<br />

den Städten und Gemeinden, um<br />

ihre laufenden Kosten decken zu<br />

können. Hinzu kommt noch eine<br />

Entschädigung für die geleistete<br />

Erziehungsarbeit. Je nach Situation<br />

können so bei Dauerpflege auf den<br />

Kanton Zürich bezogen zwischen<br />

900 und 2000 Franken pro Monat<br />

zusammenkommen.<br />

Ein zentraler Punkt ist die Beziehung<br />

zur Herkunftsfamilie. >>><br />

Ein Pflegekind hat ein<br />

Recht darauf, möglichst<br />

viel über seine «echten»<br />

Eltern zu erfahren.<br />

Geduld statt<br />

Druck<br />

Doris Python, 52, ist<br />

Pflegemutter in der<br />

Bereitschaftspflege und<br />

lebt in Herisau.<br />

Die Kinder und Jugendlichen, die<br />

auf Doris Pythons Appenzeller Hof<br />

ankommen, wollen oftmals vor<br />

allem eines: vergessen. Vergessen,<br />

wie verfahren ihre Situation ist, das<br />

Vergangene hinter sich lassen, herausfinden,<br />

was ihnen guttut – und<br />

sich neu orientieren. Wer zum Biobauernhof<br />

will, muss sich auf die<br />

Suche begeben. Der Schotterweg,<br />

der von der Strasse abzweigt, führt<br />

immer tiefer in den Wald hinein.<br />

St. Gallen liegt nur wenige Autominuten<br />

entfernt, aber hier scheint die<br />

Zeit stillzustehen. Irgendwann taucht<br />

das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert<br />

auf. Es ist wie im Märchen:<br />

ein alter Garten, Obstbäume, Hühner,<br />

Pferde, zwei Pfauen, ein alter Hund<br />

und eine sehr grosse Katze.<br />

Doris Python arbeitet schon seit<br />

vielen Jahren in der sogenannten<br />

Bereitschaftspflege. Die 52-Jährige<br />

nimmt kurzfristig Mädchen und<br />

Buben auf, die aus den unterschiedlichsten<br />

Gründen im Moment nicht<br />

in ihrem gewohnten Umfeld leben<br />

können. Wer ein Zimmer auf ihrem<br />

Hof bezieht, hat in der Regel bereits<br />

viel hinter sich. Manche Kinder sind<br />

schon in einer Familie oder im Heim<br />

fremdplatziert, ecken dort aber<br />

an. Andere kommen direkt aus der<br />

Herkunftsfamilie, sind vielleicht<br />

psychisch angeschlagen und müssen<br />

stabilisiert werden. Der Aufenthalt<br />

funktioniert im Idealfall wie eine<br />

Auszeit. In den letzten zwölf Jahren<br />

hat Bussola, ein Anbieter im Be reich<br />

der Familienpflege, über 20 Kinder<br />

und Jugendliche auf den Biobauernhof<br />

vermittelt und begleitet.<br />

Da Doris Python eine Kleinheimbewilligung<br />

hat, kann sie bis zu fünf<br />

Pflegekinder gleichzeitig aufnehmen.<br />

Zimmer gibt es jedenfalls genug.<br />

Und einen sehr langen Tisch, an dem<br />

immer Platz für Neuankömmlinge<br />

ist. Früher sassen dort auch Doris<br />

Pythons Eltern und Grosseltern, ihr<br />

zwischenzeitlich verstorbener Mann<br />

und ihre mittlerweile erwachsenen<br />

Söhne. Heute nehmen dort neben<br />

der Hausmutter und den Kindern<br />

und Jugendlichen auch regelmässig<br />

Sonja Signer, ihre mitarbeitende<br />

Schwester, und weitere Hofangestellte<br />

Platz.<br />

Wenn ein junger Mensch in Not<br />

ist, dann überlegt das Team von<br />

Bussola, welche Pflegefamilie am<br />

besten helfen könnte, die Situation<br />

zu entschärfen, denn nicht alle<br />

Kinder würden vom Bauernhofidyll<br />

profitieren. Wenn es aber passen<br />

könnte, greift ein Mitarbeitender im<br />

Auftrag der Kindesschutzbehörde<br />

zum Hörer, schildert Doris Python die<br />

Situation und fragt nach, ob sie sich<br />

vorstellen könne, dem Mädchen oder<br />

dem Bubem ein Zuhause auf Zeit zu<br />

geben. Wenn die Pflegemutter einverstanden<br />

ist, geht es schnell. Zwei,<br />

drei Tage später sitzen die jungen<br />

Menschen bereits mit am Holztisch.<br />

Obwohl die meisten Pflegekinder im<br />

Teenageralter sind, kommt hin und<br />

wieder auch ein jüngeres Kind.<br />

Doris Python, ursprünglich<br />

Psychiatriepflegekraft, und ihre<br />

Schwester, gelernte Krankenpflegerin,<br />

strahlen beide Ruhe und<br />

Zuversicht aus – und sie bohren<br />

grundsätzlich nicht nach. Geduld<br />

statt Druck – für viele Teenager<br />

ist das eine neue Erfahrung.<br />

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