Lernpaket Allen Jones - Völklinger Hütte
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Weltkulturerbe <strong>Völklinger</strong> <strong>Hütte</strong><br />
Europäisches Zentrum für Kunst und Industriekultur<br />
Generaldirektor Prof. Dr. Meinrad Maria Grewenig<br />
Der Schwerkraft trotzen<br />
von Marco Livingstone<br />
Balanceakte, wie der der Seiltänzerin in Hot Wire einem gleichermaßen leichtfüßigen wie<br />
imposanten Gemälde von 1970/71, mit denen er sein Publikum in atemlose Begeisterung<br />
versetzen möchte, sind das zentrale Thema im Schaffen des englischen Malers <strong>Allen</strong> <strong>Jones</strong>.<br />
Man könnte in der hier dargestellten Hochseilartistin einfach nur eine Akrobatin sehen,<br />
tatsächlich handelt es sich jedoch wie so häufig bei den Figuren in den Gemälden des<br />
Künstlers um eine Metapher, das heißt, die Figur steht für den Maler, der den Betrachter in<br />
seinen Bann zu ziehen versucht. Dass <strong>Jones</strong> hier stellvertretend eine weibliche Figur wählte<br />
– es könnte sich allerdings genauso gut um ein androgynes männliches Wesen handeln –, ist<br />
an sich bereits ein symbolischer Akt, zeigt der Künstler damit doch, dass er dem weiblichen<br />
Prinzip eine zentrale Bedeutung im Schöpfungsakt zuerkennt. Die balancierende Figur, deren<br />
Gewicht wie bei einer Balletttänzerin auf den Zehenspitzen ruht und die dabei in der Luft zu<br />
schweben scheint, lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die ebenso schön<br />
ausgearbeiteten kompositorischen und stilistischen Kräfte, die das Gemälde permanent in<br />
der Schwebe halten: hell gegen dunkel, volle Formen in einem leeren Raum von geringer<br />
Tiefe, Gefülltheit gegen Leere, Gegenständlichkeit und satte Farben versus Transparenz und<br />
Abstraktion. Die Kraftlinien, die auf den Drehpunkt – die Spitze des linken Fußes – zulaufen<br />
und zugleich in Form des Drahtseils und der gebogenen Stange in den Händen der Artistin<br />
dargestellt sind, setzen die Komposition und die gemalte Oberfläche mit der Metaphorik des<br />
Bildes und in der Folge auch mit dessen philosophischem und subjektiven Inhalt gleich.<br />
Artisten spielen eine zentrale Rolle im Schaffen des Malers, und sie stehen dabei stets<br />
stellvertretend für den Künstler selbst. Wie er nehmen Zauberer und Musikanten, Tänzer und<br />
Varietékünstler, Clowns und Zirkuskünstler für sich in Anspruch, Schöpfer von Illusionen und<br />
visuellen Fantasien zu sein. Und wie er versuchen auch sie, uns glauben zu machen, sie<br />
brächten ihre grandiosen Kunststücke mit einer Mühelosigkeit zuwege, die es zu einem noch<br />
größeren Vergnügen macht, ihnen bei ihrer Darbietung zuzusehen. Die Spannung, die sich<br />
einstellt, wenn man diesen Unterhaltungskünstlern zusieht, rührt zum Teil von dem damit<br />
verbundenen Nervenkitzel her, von der Tatsache, dass uns bewusst ist: Wenn etwas<br />
schiefgeht – wenn der Akrobat einen falschen Schritt macht, wenn der Zauberkünstler seiner<br />
hübschen Assistentin in der Kiste mit der Säge zu nahe kommt –, wäre dies nicht nur<br />
peinlich, sondern hätte geradezu katastrophale Folgen. Machte der Künstler jedoch zu viel<br />
Aufhebens um dieses Risiko, würde er seine Leistung dadurch schmälern, wirkte eine<br />
derartige Dramatisierung auf uns doch nicht sehr überzeugend, sondern vielmehr<br />
übertrieben theatralisch.<br />
Weltkulturerbe <strong>Völklinger</strong> <strong>Hütte</strong><br />
Europäisches Zentrum für Kunst und Industriekultur<br />
66302 Völklingen/Saar<br />
Redaktion: Peter Backes, Frank Krämer, Jeanette Wagner<br />
Tel. 06898/9 100 159, Fax 06898/9 100 111<br />
mail@voelklinger-huette.org Seite 67