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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Am 18. Mai 1911 hatte die Liebe seiner Jugend, Irma Seidler 8 , ihrem Leben durch ein Sprung von<br />

der Margarethenbrücke in die Donau ein Ende gemacht. In ihrer Handtasche befand sich ein kurzer<br />

Brief von Balázs, dessen Inhalt man <strong>am</strong> 19. Mai 1911 in der Zeitung, im deutschsprachigen Pester<br />

Lloyd lesen konnte: „Meine liebe Irma! Heute nachmittag kannst Du mich leider nicht besuchen. Ich<br />

habe es vergessen [dass der Zeitpunkt ungeeignet ist], weil ich wollte, dass Du mich besuchst. [...]<br />

Am S<strong>am</strong>stag bin ich von 6 bis 7 zu Hause. Herbert.“ 9<br />

Bis heute ist nicht bekannt, was genau sich im Mai 1911 zwischen Balázs und Irma Seidler<br />

zugetragen hatte, jener jungen Malerin, die Georg Lukács <strong>am</strong> 18. Dezember 1907 im Salon von<br />

Cecil Polányi, der Mutter von Karl und Michael Polányi, kennengelernt hatte und deren Liebe keine<br />

Erfüllung fand. Lukács konnte sich nicht für ein gemeins<strong>am</strong>es Leben, eine „bürgerliche Existenz“ mit<br />

Irma Seidler entscheiden. Eine flüchtig hingeworfene Notiz Anfang Juli 1908 spricht von der<br />

„Unmöglichkeit der Ehe“. 10 Wenige Tage zuvor, <strong>am</strong> 28. Juni 1908, hatte Lukács Irma Seidler aus<br />

seinem Essay über Rudolf Kassner 11 vorgelesen. Und dieser Essay wird schließlich auch <strong>am</strong> Beginn<br />

des Bandes Die Seele und die Formen 12 stehen, den Lukács Irma Seidler widmet und dessen Texte<br />

sich als Versuchsanordnungen, als Erprobungen des Verhältnisses von Leben und Werk lesen lassen,<br />

als „Neudichtung der Beziehung [...] als die Aufdeckung der Möglichkeiten der Beziehung“. 13 Leo<br />

Popper hatte in einem Brief an Lukács im April 1910 die praktische, fast therapeutische Seite dieses<br />

Verhältnisses von Schreiben und Leben betont: „So bleibt nun nichts anderes übrig, als meinem<br />

also, wo der Tod tatsächlich der dialektische Gegensatz von Leben ist, wo eine absolute Homogenität Tod und<br />

Leben umfaßt. Was kann aber der Tod für mich sein?“ (Lukács, Tagebuch, S. 39. Eintrag vom 22.10.1911)<br />

8<br />

Irma Seidler (1883-1911), Malerin. Studierte an der Wiener Kunstgewerbeschule, in Florenz, in Nagybánya und<br />

München. Sie heiratete 1908 den Maler Károly Réthy. Am 18.5.1911 nahm sie sich das Leben. Ihre Schwester<br />

Emmy heiratete Emil Lederer, der an der <strong>Universität</strong> Heidelberg die Professor für Volkswirtschaft übernahm und<br />

mit dem Lukács in seinen Heidelberger Jahren engen Kontakt pflegte.<br />

9<br />

Zitiert nach Júlia Bendl, Lukács György élete a századfordulótól 1918-ig [Georg Lukács’ Leben von der<br />

Jahrhundertwende bis 1918]. Budapest: Scientia Humana, 1994, S. 120.<br />

10<br />

Zwischen den Briefen von Irma Seidler, die er sorgfältig im legendären „Heidelberger Koffer“ in einer Schatulle<br />

separiert hatte, fand sich auch ein Zettel von Lukács mit dem Text: „‘Mein Nichtganzsein, Skrupel (Unmöglichkeit<br />

der Ehe), Eitelkeit, Furcht vor Enttäuschung war auf das Mich-Nichtwohlfühlen eingerichtet. Furcht vor<br />

vernichtender Wirkung des Glücks, Furcht davor, daß ich mich nicht zurechtfinden werde in einem Leben mit<br />

breiterem Fund<strong>am</strong>ent’. Gefunden <strong>am</strong> 15. Januar 1909. Geschrieben wahrscheinlich <strong>am</strong> 1.-3. Juli [1908]“ (zitiert nach:<br />

Lukács, Briefwechsel, S. 8).<br />

11<br />

Rudolf Kassner (1873-1959), Schriftsteller, Philosoph und Essayist, setzte sich insbesondere mit der<br />

Physiognomie menschlicher Gestalten auseinander.<br />

12<br />

Der Band erschien zunächst auf Ungarisch unter dem Titel A lélek és a formák (Kisérletek). Budapest: Franklin,<br />

1910, und ein Jahr später auf Deutsch: Georg von Lukács, Die Seele und die Formen. Essays. Berlin: Egon<br />

Fleischel & Co, 1911.<br />

13<br />

Agnes Heller, „ Das Zerschellen des Lebens an der Form: György Lukács und Irma Seidler“, in: Agnes Heller<br />

u.a., Die Seele und das Leben. Studium zum frühen Lukács. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>: Suhrk<strong>am</strong>p, 1977, S. 54.<br />

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