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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Seit Monaten haben die beiden sich nicht gesehen, nur miteinander korrespondiert. Am 27. Oktober<br />

1911 notiert Georg Lukács in seinem Tagebuch: „Ein Brief von H. 3 Woran liegt es, daß man gewisse<br />

Dinge nie glauben kann, oder daß sie (wenn als das rein Negative, als der Teufel) nie in uns lebendig<br />

werden können. Wenn mein Leben nicht so eingestellt wäre, daß alle meine Lebensprobleme auf ein<br />

unlösbares Schweigen, auf ein Gleichstehen der Waage zwischen Ja und Nein gestellt sind, dann<br />

würde ich hier hassen können - und wäre wieder ein Mensch, so wie ich es war, als Irma und Leo<br />

lebten und ihr Dasein mich lebendig machte. Oder ich könnte nichts glauben von dem was evident<br />

scheint: es wäre das alte Leben, diesmal mit diesem Mittelpunkt; als dem Einzigen, was mir geblieben<br />

ist. Oder ich könnte glauben - und die Tat aus dem Täter verstehen, mein Sein und ihr Schicksal in<br />

allem erblicken, nur bei mir Schuld sehen und frei sprechen: der Durchbruch zum Religiösen wäre<br />

vollzogen. Und der muß kommen, wenn es mit mir nicht zu Ende gehen soll. [...] Jetzt sehe ich so<br />

klar, wie nie vorher: der Heilige muß Sünder gewesen sein; er kann nur durch die Sünde, durch das<br />

Gesündigthaben hindurch das Sein absolut unter sich haben; und zugleich: nur dadurch kann er in<br />

Gott sein, daß er früher in der Sünde war. Die Kategorie ‘in’ ist ein Wesenszeichen der wesentlichen<br />

Verhältnisse. Ich war noch nie ‘in’ etwas.“ 4<br />

Fünf Tage zuvor war Lukács’ einziger wirklicher Vertrauter dieser Jahre, Leo Popper 5 , an<br />

Tuberkulose gestorben. Balázs hatte Lukács einen überaus verquälten Brief geschrieben, in dem er<br />

versuchte seine Gefühle zu erklären. „Ich habe Leo kaum gekannt [...]. Aber durch dich ist er zu<br />

einem meiner größten Erlebnisse geworden. Weil du so mystisch ähnlich zu ihm standest wie ich zu<br />

Zoltán [...].“ 6 Popper hatte die letzten Jahre seines kurzen Lebens immer stärker an seiner Krankheit<br />

gelitten und viele Monate in verschiedenen Sanatorien in der Schweiz verbracht. Schon seit einiger<br />

Zeit rechnete Lukács mit seinem Tod und spielte dabei mit dem Gedanken an Selbstmord 7 , so wie<br />

schon fünf Monate zuvor.<br />

3 Gemeint ist offensichtlich Herbert, also Béla Balázs.<br />

4 Georg Lukács, Tagebuch 1910-11. Berlin: Brinkmann & Bose, 1991, S. 39ff.<br />

5 Leo Popper (1886-1911), Sohn des bekannten Cellovirtuosen David Popper und engster Freund Georg Lukács.<br />

Poppers vielfältige musische Begabungen litten unter seiner schwachen körperlichen Konstitution. Einige seiner<br />

Essays über Kunst, Musik, Alltagsästhetik und Literatur erschienen in verschiedenen ungarischen, vor allem aber<br />

in deutschsprachigen Zeitschriften wie Die Fackel und Die Neue Rundschau.<br />

6 Balázs an Georg Lukács, 25.10.1911, in: Balázs Béla levelei Lukács Györgyhöz. Budapest: Archivum Füzetek,<br />

1982, S. 66. Lukács kann dieser Brief kaum gefallen haben. Balázs wirbt um Lukács’ Liebe, klagt darüber, alle<br />

Menschen um sich zu verlieren, und darüber, in Ungarn keine Bedeutung zu besitzen. „So arbeiten wir allein für<br />

Gott. Das habe ich mit einem so tiefreligiösen Schauder erlebt, dass ich mich niemals so sehr wie jetzt als deinen<br />

Bruder empfunden habe.“ (S. 67f.)<br />

7 „Soll man ein Ende machen? Ich habe gestern - bevor ich die Nachricht hatte - beinahe ununterbrochen daran<br />

gedacht. Es ist aber dennoch keine Lösung. Für Irma ja. Ihre Tragödie lag im Vitalen des Lebens. In einer Sphäre<br />

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