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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Entgegengesetztheit der Kunstwirkungen aufgebracht sind: das Meer wirkt durch Einfühlung des<br />

Lebens, die Alpen durch Abstraktion vom Leben“. 105<br />

Abstraktion, jenes „Gegenüber-des-Lebens“, ist hier - in den Begriffen, die Simmel bei Worringer<br />

entlehnt - nicht länger die entseelende Sachlichkeit der Geldwirtschaft, die blasierte Gleichgültigkeit<br />

des Großstädters, die Reizüberflutung der modernen Wahrnehmungswelt, sondern eine<br />

Ursprungswelt über der Welt des bloß Relativen des Lebens.<br />

Wilhelm Worringer hatte die Abstraktion als „Abstraktionsdrang des Menschen“ 106 anthropologisiert<br />

und dem „Einfühlungsdrang“ gegenübergestellt.<br />

Seine als Dissertation verfasste und schließlich in vielen Auflagen publizierte Studie sollte zu so etwas<br />

wie dem untergründigen Progr<strong>am</strong>mtext des Expressionismus werden. Und es war kein Zufall, dass<br />

Worringer es war, der 1920, wie Lukács schrieb, „dem Expressionismus eine tieferschütterte<br />

Grabrede“ 107 hielt. Sein Projekt, die Neubewertung von Gotik und Barock, ägyptischer und<br />

„primitiver“ Kunst und ihre Rettung gegenüber dem Primat von Klassik und Renaissance im<br />

„Klassizismus“, schien der Bewegung des Expressionismus erst substantielle Legitimation verliehen zu<br />

haben. Und, so meinte Worringer, es läge auch an ihm, diese Legitimation zu widerrufen. „Gotik,<br />

Barock, primitive und asiatische Kunst: sie alle gaben sich auf einmal zu erkennen, wie sie sich - das<br />

darf man wohl sagen - nie einer Generation vorher zu erkennen gegeben haben.“ 108 Wie nach einer<br />

Ekstase bleibt nach dem Krieg nur Ernüchterung über „Krise und Ende des Expressionismus“ 109 ,<br />

nach einem „tragische[n] Zwischenspiel“ 110 „wußten [wir] auf einmal mit aller unzweideutigen<br />

Gewißheit, daß all unser expressionistisches Bemühen nur eine traurige Philosophie Als Ob sei.“ 111<br />

105 Ebd. S. 116. Jürgen Habermas schreibt dazu: „Worringers Abstraktion und Einfühlung liefert ihm die<br />

Kategorien für die Naturästhetik der Meeres- und der Alpenlandschaft; die hellsichtige Antizipation der im<br />

Entstehen begriffenen expressionistischen Malerei erkennt er darin nicht. Simmel steht noch diesseits der Kluft,<br />

die sich zwischen Rodin und Barlach, zwischen Segantini und Kandinsky, zwischen Lask und Lukács, Cassirer<br />

und Heidegger auftun wird.“ (Jürgen Habermas, „Simmel als Zeitdiagnostiker“, in: Georg Simmel, Philosophische<br />

Kultur, S. 246)<br />

106 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 3.<br />

107 Georg Lukács, „‘Größe und Verfall’ des Expressionismus“ [1934], in: ders., Probleme des Realismus. Berlin:<br />

Aufbau, 1955, S. 146.<br />

108 Wilhelm Worringer, Künstlerische Zeitfragen, München: Hugo Bruckmann, 1921, S. 10.<br />

109 Ebd., S. 8.<br />

110 Ebd., S. 16.<br />

111 Ebd., S. 11. Worringer verband seine Absage an die Kunst als „Atelierangelegenheit“ (S. 7), den<br />

„Atelierexpressionismus“ (S. 11), freilich mit einer neuen Vision, der „schöpferische[n] Endleistung unserer Zeit“:<br />

„Visionen werden exakt. Denkprozesse werden sinnlich [...].“ (S. 29) Die Utopie einer „neuen Denksinnlichkeit“ (S.<br />

28), mit genialischer Verve hingeworfen, verwirft die Ästhetik der Bilder und feiert die Ästhetik des Geis tes, eine<br />

Verflüssigung des Denkens, die Kunst und Wissenschaft miteinander verschmilzt. „Hier ist jene<br />

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